Die einen nennen die Erbsünde eine Lachnummer, die anderen verharmlosen sie zum „kollektiven Unheilszusammenhang“, in dem wir doch alle leben (Joachim Negel in Publik-Forum 16/2022). Das ist unbestritten und es gibt genügend Grund, sich aus christlicher Perspektive intensiv damit zu beschäftigen. Doch es wird endlich auch Zeit, die destruktiven und traumatisierenden Anteile des Erbsündendogmas zu entdecken und entschieden zurückzuweisen. Nur so lässt sich die aktuelle Kirchenkrise nachhaltig überwinden. Auch der Synodale Weg kann seine Schwierigkeiten ohne grundsätzliche Überlegungen zum kirchlichen Menschenbild nicht lösen.
I. HINTERGRÜNDE – WARUM DAS THEMA „ERBSÜNDE“ AKTUELL IST
1. Relevanzverlust der Kirchen
In einem unumkehrbaren Prozess werden die Kirchen zunehmend bedeutungslos.
Erklärung:
In unserem Kulturkreis verlieren die Kirchen massiv an öffentlicher Bedeutung. In Deutschland binden sie inzwischen weniger als 50% an sich; die Rede von „Entchristlichung“ macht die Runde. Unabhängig von der massiven Vertrauenskrise im römisch-katholischen Bereich trifft diese Entwicklung die evangelischen Kirchen insgesamt noch härter. Deshalb ist es sinnvoll, gemeinsam hinter einzelne Symptome zu schauen und den wirklichen Gründen nachzugehen.
2. Kirchliche Selbstkritik
Die Kirchen sollten die Gründe für diese Entwicklung bei sich selbst, nicht einfach in einer säkularisierten Gesellschaft suchen.
Erklärung:
Diese Faktoren sind komplex. Schon lange werden sie soziologisch, psychologisch, religionskritisch und geisteswissenschaftlich unter dem Begriff der Säkularisierung diskutiert. Dahinter stehen selbstkritisch-theologische Untersuchungen zurück: Wie verstehen und präsentieren die Kirchen ihre Botschaft? Wie reden sie von den Menschen und dem Lebenssinn, vom Scheitern und Unheil, von der Hoffnung auf Rettung? Sind die Kirchen fähig, ihre Botschaft und Praxis aus überholten Vorstellungen zu lösen? Ist ihnen klar, dass mancher Glaubensverlust durch massive Enttäuschungen an den Kirchen zustande kommt?
3. Gefahr des Konservatismus
Die Kirchen sind zwar Teil ihrer Gesellschaft, berufen sich aber auf überzeitliche Ausgangspunkte.
Erklärung:
Zur Diskussion stehen wohl keine Prozesse, die die Kirchen zu hilflosen Opfern machen. Zum Einen sind auch die Kirchen Teil ihrer Gesellschaft und gestalten diese mit, tragen also in Aktion und Interaktion wesentlich zu gesellschaftlichen Entwicklungen bei. Zum Andern können ChristInnen und NichtchristInnen von den Kirchen erwarten, dass sie kreativ und angemessen auf neue Entwicklungen reagieren, wie es auch andere gesellschaftliche und kulturelle Gruppen tun. Ein selbstkritischer Blick auf die eigene Tradition ist also unverzichtbar. Dazu gehört die Frage, ob und in welchem Maße sich die christliche Botschaft erneuern und von prägenden Elementen ihrer Glaubensüberzeugungen trennen lässt, denn viele stoßen auf intellektuelle, spirituelle und lebenspraktische Kritik.
4. Erbsündenglaube
Langfristig wurde der Bedeutungsverlust der Kirchen durch den Erbsündenglauben ausgelöst.
Erklärung:
Eine Schlüsselrolle spielt das kirchliche Menschenbild, das seit 1600 Jahren von der Theorie der „Erbsünde“ geprägt ist. Sie lebt vom Versuch, die Existenz und verheerende Bedeutung des Bösen in Menschheit und Welt rational zu erklären und in den Glauben an einen gütigen Gott einzuordnen. Die aktuelle Erbsündentheorie besteht aus mindestens vier Schichten:
– dem Bericht vom Fall im Paradies,
– der paulinischen These, alle Menschen hätten gesündigt,
– der These Augustins, wir alle seien von Geburt an Sünder vor Gott, Gott sei uns also keine Rechenschaft schuldig und
– dem katholisch-evangelischen Rechtfertigungsstreit der Reformation.
II. WIE DIE ERBSÜNDENTHEORIE DAS CHRISTLICHE MENSCHENBILD VER- GIFTETE
5. Ausgangspunkt
Der Mythos vom Urfall der Stammeltern spiegelt eine Grunderfahrung der Menschheit.
Erklärung:
Der Urfallmythos (Gen 3,1-24) liefert keinen historischen Bericht, sondern entfaltet eine dramatische Erzählung. Sie stellt in symbolischer Sprache die menschliche Grundsituation von Verfehlung und Unheil dar, von Warnung, Verführung und verschmähter Verantwortung, von Orientierungsverlust und der Mühsal des Lebens sowie vom Tod. Dieser Mythos steht für viele Interpretationen offen und spricht in verschiedensten Zusammenhängen für sich selbst. Er lässt sich lesen als kollektives Menschheitsgeschick oder individuelle Selbstentfremdung, als Gottes- oder Sinnverlust, als existentielle Bedrohung menschlicher Freiheit, als Zwiespalt des menschlichen Lebens. Klar ist, dass es dem Menschen nie einfach gut gegangen ist oder gut geht. Er ist auf Hoffnung und Visionen angewiesen. So gesehen thematisiert der Mythos vom Urfall ein religiöses und existentielles Thema der Menschheit überhaupt. Der Zustand des beständigen Glücks ist und bleibt den Menschen verwehrt und sie müssen sich immer nach ihrem eigenen Anteil an diesem Paradiesverlust fragen.
6. Erweiterung des Paulus
Paulus bestreitet prinzipiell, dass Menschen sich selbst erlösen können; für die christliche Heilsbotschaft ist das eine gefährliche, weil missbrauchbare Grenzaussage.
Erklärung:
Die Ausführungen des Paulus (Röm 1,18-3,20) haben einen polemischen Charakter, denn er muss sich gegen Angriffe judenchristlicher Kreise verteidigen. Nach ihrer Überzeugung müssen sich Christen an die jüdische Thora halten. Leidenschaftlich wird dies von Paulus geleugnet. Nach ihm haben alle Menschen gesündigt, deshalb ist vor Gott niemand kraft eigener Leistung gerecht. Dabei fallen die Urteile über den „Fluch des Gesetzes“ grenzwertig und missverständlich aus. Diese und vergleichbare Aussagen lassen sich leicht aus dem Zusammenhang rücken und antijüdisch bzw. antisemitisch verstehen.
Gefährlich ist auch die (ebenfalls mythische) Gegenüberstellung von Adam und Jesus Christus, den Paulus zum „zweiten Adam“ stilisiert. Während von Adam der Tod ausging, gehen von Christus Erlösung und neues Leben in Gott aus. Sobald diese Antithese einschichtig ausgelegt wird, verfehlt sie ihre Präzision. Denn es lässt sich nicht einschränkungslos behaupten, Adam sei der Bringer des Todes. Schließlich ist er der Urvater der Menschheit.
Aus heutiger Sicht ist diese Idee nicht zu Ende gedacht, denn sie verliert alles Interesse am eigenen Vermögen des Menschen zum Guten und dem, was Gott an den Menschen wohlgefällig ist; Abram wird auf Grund seines eigenen Verhaltens gerechtfertigt und von einer Sünde Abrams ist keine Rede (Gen 15,6). Die Frage nach den Milliarden von Menschen, die weder die Thora des Moses noch Christus kennen, wird nicht gestellt. So bleibt eine offene Diskrepanz zwischen der einen Behauptung, faktisch hätten alle Menschen gesündigt (Röm 3,23, 5,12), und der anderen Behauptung, dass sie alle ihrem Ursprung gemäß sündigen mussten. Der Gesamtzusammenhang entwickelt in den kommenden Jahrhunderten eine unglückliche Dynamik.
7. Zuspitzung durch Augustinus
Augustinus erklärt alle Menschen zu Sündern, da sie „in Adam“ gesündigt haben. Damit wird das christliche Menschenbild mit einer unmenschlichen Bürde belegt, dem Menschen vor Gott alle eigene Würde genommen.
Erklärung:
Der einflussreiche Theologe und Bischof Augustinus folgt der oben genannten Dynamik.
– Der Neuplatoniker in ihm verlegt alles Handlungspotential in die freie Selbstentscheidung der menschlichen Seele;
– der Manichäer in ihm sucht einen Weg, um das Böse Als allgegenwärtig zu begreifen, also in diese geistige Mitte des Menschen hinein zu verlegen;
– der Theologe in ihm will Gott gegen alle Vorwürfe verteidigen, sodass Ihm absolut nichts zur Last gelegt werden kann.
Die Fehlübersetzung des lateinischen Schrifttextes (Röm 5,12) hilft ihm. In einem Text vom Jahr 397 ist zum ersten Mal die Rede von Adam, „in dem“ (in quo) alle gesündigt haben. Der Adamsmythos wird historisiert, Adam zum ersten menschlichen Individuum uminterpretiert und jeder Mensch vom Augenblick seiner Existenz an zum Sünder gestempelt, dem (so der offizielle römisch-katholische Katechismus) jede Gerechtigkeit und Heiligkeit fehlt. Wir Menschen, so Augustinus, sind „nichts und Sünde“, eine „verdammte“ Sündenmasse, „die ihre Strafe durch die göttliche und höchste Gerechtigkeit verdient, und es nicht ungerecht ist, diese Strafe einzufordern oder zu erlassen wird.“ (Ad Simpl. I,2,16) Ab jetzt wird ein masochistischer Unterton immer mitschwingen. Spätestens seit 431 (Konzil von Ephesus) gilt die Erbsünde als offiziell definiertes Dogma. Die Taufe zur Vergebung der Sünden wird zu einem heilsnotwendigen Ritus, ohne die die Verdammung droht.
Damit ist das kirchliche Menschenbild vergiftet und tritt in eine intensive Wechselwirkung mit der wachsenden Bedeutung des Opfer- und Sühnetods Christi ein. Zugleich fördert dieser Zusammenhang ein sakrales Priesterbild, das die ersten Jahrhunderte noch nicht kannten. Der Priester allein kann die von Christus erworbenen Gnaden zugänglich machen und die Sakramente machen die Menschen abhängig von der Heilsinstitution Kirche. In der jetzt entstehenden Zwei-Stände-Gesellschaft entsteht ein Sog zur geistlichen Macht, die ihrerseits meint, sie müsse den sündigen „Laien“ ständig zu Hilfe eilen. Tatsächlich entsteht ein Kirchensystem von ständiger Kontrolle und Übergriffigkeit mit den bekannten destruktiven Konsequenzen.
8. Der Befreiungsschlag der Reformation
Der reformatorische Impuls Martin Luthers führt zu einer Entklerikalisierung des Sündenbewusstseins. Doch der Erbsündenglaube wird nicht überwunden, sondern in verinnerlichter Form weiter entwickelt.
Erklärung:
Martin Luther bricht die geistliche Übermacht des Klerus über die Kinder Adams, die geborenen Sünder. Er stärkt das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und relativiert so die Bedeutung der kirchlichen Ämter, hebt also die Zwei-Stände-Gesellschaft von Klerikern und Laien auf; die Priesterweihe verliert ihren sakramentalen Stellenwert. So gibt er der fundamentalen Würde aller Getauften den Vorrang, betont den hohen Stellenwert des Wortes gegenüber den Sakramenten und die Unmittelbarkeit der Gläubigen gegenüber Gott. Sakrale Ämter und Funktionen verlieren so ihre magische und heteronome Funktion.
Damit sind wichtige Schritte zur geistlichen Befreiung der Getauften gesetzt, doch es bleiben die Entmündigung der Nichtgetauften sowie ein verinnerlichtes Sündenbewusstsein, das oft mit einer gesteigerten Angst vor dem Verlust eines gnädigen Gottes einhergeht. Gemäß dem Augsburger Bekenntnis (1530), Art. 2, leben die Menschen „ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen auf Gott und mit Begierde“. Bisweilen wird dieses Sündenbewusstsein massiv gesteigert, oft psychologisiert und in die Gefühlswelt verlegt. Die Texte der Passionen von Bach können dies eindrücklich illustrieren: Wir sind es, die Christus verspottet, gemartert und getötet haben.
Dagegen sichert das Konzil von Trient (1545-63) die katholische Heilspraxis durch die kirchlichen Ämter und Sakramente neu ab, doch zugleich gilt: „außerhalb der Kirche kein Heil“. Die Reformation besteht umso entschlossener darauf, dass wir „allein durch Glauben, Schrift, Christus und die Gnade“, also nicht durch Ämter und Sakramente, das Gebet oder den Ablass, die wahre Lehre und den Gnadenschatz der Kirche gerettet werden.
So hält sich zwischen den Konfessionen nahezu 500 Jahre lang eine unentschiedene Dialektik die Waage: zwischen einer verinnerlichten und einer institutionalisierten Heilsuche . Diese zur Kultur gewordene Dialektik zwischen den Konfessionen verhindert lange die Entdeckung des gemeinsamen neuen Problems, das sich im Lauf der Neuzeit immer mehr verstärkt.
III. ERBSÜNDE HEUTE
9. Unbegründet und schädlich
Das Erbsündendogma ist aus exegetischen, historischen und theologischen Gründen nicht haltbar und beschädigt die Frohbotschaft massiv.
Erklärung:
Die Entwicklungsschritte der kirchlichen Erbsündentheorie zeigen, dass diese bei Paulus, Luther, durch die christlichen Opfertheorien und durch Trient zum Nachteil des Menschen kontinuierlich verschärft wurde. Aus einem realistisch- mythischen Narrativ wurden Elemente hinzugefügt, die das ursprünglich biblische Menschenbild konstant verdüsterten und dem Menschen seine Würde nahmen. Die verschärfenden Elemente mögen in ihrer jeweiligen Epoche ihren Sinn gehabt haben; darüber sei hier nicht geurteilt. Doch die Rückschau lässt erkennen: Die ursprüngliche Aussage wurde jeweils von neuen zeitbedingten Kontexten und Interessen eingefärbt und damit verfremdet. Die Güte Gottes wurde auf Kosten der Menschen verteidigt. Weitere verfälschende Kontexte kamen hinzu, z.B. Sexualphobie und Frauenhass, Freiheits- und Weltangst, Angst vor Selbständigkeit und Autonomie. Diese Kontexte haben heute keine bindende Bedeutung mehr.
10. Misstrauen und Gewalt gegenüber Menschen und Welt
Der Glaube an die Erbsünde führt zu einem ständigen, weil prinzipiellen Misstrauen gegen Menschen, Gemeinschaften und Welt. Sie hat eine zutiefst destruktive und traumatisierende Wirkung.
Erklärung:
Für den kirchlichen Erbsündenglauben gilt: Individuen, Gemeinschaften, Kulturen und Welt sind nicht nur von Irrtum und Sünde bedroht, sondern auch in Besitz genommen. Deshalb ist ihnen grundsätzlich zu misstrauen. Dies führt zu einem Menschenbild, das die sündigen Mitmenschen in und außerhalb der Kirche von höherer Warte aus steuern muss. Sie werden bevormundet, in ihrer Freiheit beschränkt, ihre Gewissenfreiheit wird kritisch beäugt.
Wo wird etwa in der katholischen Liturgie der ursprünglichen Bitte um die Hilfe Gottes (Kyrie eleison) das Schuldbekenntnis vorgeordnet („meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld“). Papst Franziskus nennt die Kirche nicht eine Gemeinschaft der freien Kinder Gottes, sondern eine Gemeinschaft „der geretteten Sünder“. Wie können Babies und Kleinkinder „gerettete Sünder“ mit angeborener Bosheit sein? Wie die Kirchengeschichte zeigt, hat diese Unterordnung regelmäßig zu Welt- und Menschenverachtung, brutaler Gewalt, Vernichtung von Leben und zu brutalen Kriegen geführt. Mit dem Erbsündenglauben lässt sich selbst der Ukraine-Krieg rechtfertigen.
11. Katholischer Klerikalismus
In der römisch-katholischen Kirche hat der Erbsündenglaube in Lehre und Struktur zu einem massiven Klerikalismus geführt. Seine nachhaltige Überwindung setzt notwendig ein Ende des Erbsündendogmas voraus.
Erklärung:
Die katholische Kirche pflegt noch immer ein ungebrochenes Verhältnis zu Sakramenten und den kirchlichen „Weiheämtern“ von Bischof und Priester. In diesem Rahmen ergeben sich aus der Erbsünde naturgemäß klerikale Strukturen, eine klerikale Mentalität und klerikales Verhalten, denn eine Elite von Menschen muss herausgehoben sein, um kraft ihres Amtes die Getäuschten zu belehren, die Verirrten auf den rechten Weg zu führen und den Entheiligten ihre Gnade zu vermitteln. Daraus ergeben sich für die Heilsbringer, die ebenfalls erbsündig bleiben, innere Widersprüche. Wie sollen sie sich als Sünder über andere als Sündenbefreier erheben?
Diese Widersprüche führten zur unwürdigen (wenn nicht gar sündigen) menschlichen und strukturellen Unterwerfung der „Laien“ (insbesondere zur Diskriminierung von Frauen) und öffneten für unterschiedlichste Formen des übergriffigen Missbrauchs Tür und Tor. Willige oder verunsicherte Opfer überspielten diese Situation mit Loyalitätsbekundungen, Unterwerfungs- und Demutsgesten.
Gegenwärtig dokumentiert die Hierarchie, dass sie die Gründe für diese vertuschte Überheblichkeit auch nicht ansatzweise erkannt hat; sie ist blind für die Zeichen der Zeit. Eine nachhaltige Überwindung dieses unbelehrbaren Klerikalismus setzt die Abschaffung des Erbsündenglaubens voraus.
12. Evangelische Verinnerlichung
Die Kirchen der Reformation haben zwar den theologischen Klerikalismus, nicht aber die traumatisierende Heilsangst von Augustinus und Mittelalter überwunden. Auch ihr Bekenntnis zur Erbsünde ist abzuschaffen.
Erklärung:
Der reformatorische Ruf „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ hat zwar die kirchlich-sakramentalen Institutionen entmächtigt, nicht aber die traumatisierende Angst vor einem selbstverschuldeten Gottesverlust überwunden, denn die Menschen gelten nach wie vor als geborene Sünder. Vielleicht konnten sich die Kirchen der Reformation auch nicht von vielen klerikalen „Überresten“ befreien, die sie in einer feudalen Epoche mit ihren Fürstentümern übernahmen. Doch wichtiger ist: Mit dem Verlust der sakralen Institutionen (Sakramente im Amt) ist der Stellenwert des Individuums und seines Freiheitsrisikos gewachsen. Die Angst vor diesem Risiko ließ das Erbsündentrauma virulenter werden. So stehen auch die Kirchen der Reformation vor der Aufgabe, ihr christliches Menschenbild zu korrigieren.
IV. ÜBERWINDUNG DES ERBSÜNDENYNDROMS
13. Intellektuelle und mentale Arbeit
In Liturgie und Frömmigkeit sowie in vielen emotionalen Reaktionen ist das Erbsündensyndrom allgegenwärtig. Daran ist – auf intellektueller, mentaler und spiritueller Ebene ‑ konsequent und offensiv zu arbeiten.
Erklärung:
Zum eigenen Vorteil haben die Kirchen (und die christliche Botschaft) ihre kulturelle Dominanz verloren. So werden sie gezwungen, sich umfassend dem öffentlichen Gespräch und den aktuellen Herausforderungen, ihrer Verantwortung vor Ort und gegenüber den allgemeinen Werten unserer Gesellschaft zu stellen. Zwar geriet die Erbsündenlehre als ausdrücklicher Glaubenssatz weitgehend in Vergessenheit; man tritt gerne positiv und menschenfreundlich auf. Doch in der Tradition und in den kirchlichen Emotionen ist der Erbsündenglaube noch tief verankert, in diffuser und verstörender Weise gegenwärtig.
– Man denke an liturgische Texte und Kirchenlieder, das dominante Bekenntnis einer (weithin ungenannten) Schuld, die gängige Kritik am „Zeitgeist“ oder die Neigung von Kirchenleitungen, die Gesellschaft eines Besseren zu belehren.
– Man denke auch an die religiösen Minderwertigkeitskomplexe, die Selbsterniedrigung und den Unterwerfungsgeist vieler Menschen, an ihre Angst vor Mündigkeit und innerer Freiheit.
Diese Spannungen wirken meist unbewusst, haben aber eine zerstörerische Wirkung. Übrig bleibt ein allgemeines Unbehagen an der kirchlichen Botschaft, die von der christlichen nicht unterschieden wird. Dies verursacht schon durch Generationen hin irrationale Abwehrreaktionen und diffuse Ängste. Es ist Aufgabe der Fachleute, auch die religiösen Gründe für diese Problemfelder in den Blick zu nehmen und zu klären.
14. Menschenbild der Gegenwart
Die Kirchen können im Weltgespräch der Gegenwart nur bestehen, wenn sie ihr Menschenbild von allen prinzipiellen Schuldzuweisungen und von jeder Selbsterniedrigung befreien. Es geht ausschließlich um die „Freiheit der Kinder Gottes“.
Erklärung:
Das aktuelle Weltgespräch hat zu einem höchst sensiblen Bewusstsein von Menschenwürde und Menschenrechten, von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Fürsorge, von einem solidarischen Weltethos geführt. Die schrecklichen Gewalterfahrungen des 20. und des begonnenen 21. Jahrhunderts, der erstarkte ökonomische, interkulturelle und interreligiöse Austausch auf Weltebene sowie die globalen Herausforderungen der Ökologie und der Welternährung lassen keine Halbheiten mehr zu.
Deshalb müssen auch die Kirchen alle störend inhumanen Kontexte aus ihrem Menschenbild eliminieren, die sich in ihrer Geschichte angesammelt haben. Dazu gehören die antijüdische Polemik des Paulus, der zwanghafte Dualismus des Augustinus, die überheblichen Heilsansprüche des Katholizismus sowie die demütigende Heilsangst, die sich in manchen reformatorischen Kreisen eingenistet hat. „Wo Gott ist, entscheidet nicht mehr die kirchliche Dogmatik, sondern die Praxis der Menschlichkeit.“ (H. Halbfas, Tischgemeinschaft, 101).
Einziger Ausgangspunkt des christlichen Menschenbildes ist eine ungeschmälerte Freiheit und Selbstermächtigung, die sich in der Dialektik Luthers bewegt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Anderen vorbehaltlos dienen kann nur, wer dies in voller Freiheit und Zuwendung tut.
V. SCHLUSS
15. Die Botschaft Jesu
Der entscheidende christliche Grund für einen offensiven Abschied vom Erbsündendogma ist das zukunftsoffene, befreiende und solidarische Menschenbild, das uns die Erinnerung an Jesus von Nazareth vermittelt. Deshalb kann sich das Nein zum Erbsündendogma auf Jesus berufen.
Erklärung:
Nach allem, was wir wissen, ging Jesus unbefangen auf die Menschen, auch auf Kinder und Frauen zu. Er wandte sich ab von den Strafandrohungen, die Johannes der Täufer verkündete. Sein Gottesreich konnte hier und jetzt bedingungslos beginnen, weil er den Menschen vertraute. Mit dem Erbe Israels, zu dem sich Jesus bekannte, ging er souverän um. Er vergab bedingungslos und legte niemanden auf seine Schuld fest.
An die paulinische Rechtfertigungslehre erinnert allenfalls der Gleichnis vom selbstgerechten Pharisäer, der Gott dafür dankte, dass er nicht so ist wie der Zöllner neben ihm: Jesus setzt sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, für die Ausgeschlossenen und die Verlorenen ein. Diese Haltung kostete ihm schließlich sein Leben.
Diese jesuanische Haltung verträgt sich nicht mit den erniedrigenden und destruktiven Beigaben des Erbsündendogmas. So spricht auch das konsequente Nein zur Erbsünde den Intentionen Jesu und für ein zeitgemäßes Christentum.
16. Eine Revision von gut 1600 Jahren
Die kritische Arbeit am kirchlichen Menschenbild berührt letztlich auch die Lehre von Gott, von Christus und christlichem Heil, da sie alle miteinander verwoben sind. Diese Arbeit kann nur in ökumenischer Kooperation geleistet werden.
Erklärung:
Im verdunkelten Menschenbild der Kirchen und in seinen Fehlentwicklungen spiegeln sich die großen kulturellen Epochen, die das Christentum durchlaufen hat: die von Aristoteles und vom Platonismus geprägte Antike, das von Sündenbewusstsein, von Opfer- und Sühnetheorien geprägte Mittelalter sowie die von konfessioneller Rechthaberei bestimmte Neuzeit. Die Kirchen müssen es endlich lernen, auch mit ihren Traditionen souverän (d.h. kontext-, kultur- und ideologiekritisch) umzugehen, statt sich als unverbrüchliche Hüterinnen vergangener Entscheidungen zu präsentieren. Wenn sie sich dieser Aufgabe versagen, wird ihr Bedeutungsverlust noch dramatischer. Diesem Urteil der Gesellschaft haben sie dann nichts mehr entgegenzusetzen.
S. auch H. Häring, Ein beschädigtes Menschenbild, in: Christ in der Gegenwart 49/2022, 3f.