Intelligenz und biblischer Glaube

 

Es ist ein tief eingewurzeltes Vorurteil: Zu viel Intellekt tue dem Glauben nicht gut. Vor allem Kirchenführer halten es am Leben. Nicht nur die Intellektuellen einer Gesellschaft gelten als gefährlich, weil sie „Unruhe stiften, kritiksüchtig und mit nichts zufrieden sind“. Auch kritische Theologen haben keine guten Karten. Sie sind, wie man oft hört, unkirchlich oder viel zu liberal. Sie entwerfen unhaltbare Hypothesen und bringen das Volk vom reinen Glauben ab. Sie frönen gar, wie Benedikt XVI. meint, der „Diktatur des Relativismus“. Gern beruft man sich dann auf den 1. Korintherbrief (1,18ff), der die Weisheit der Welt der Torheit des Kreuzes gegenüberstellt. Die Verkünder solcher Botschaften übersehen aber, dass Paulus anderes im Blick hat. Dort stehen sich nicht Intelligenz und Glaube gegenüber, sondern eine Weisheit und eine Torheit höchst praktischer Art. Dort wird ja nicht gefragt, wie dumm oder intelligent wir sind, sondern ob wir den Tod und unsere Vergänglichkeit akzeptieren. Von diesem Standpunkt aus drehen sich die Fähigkeiten geradezu um: Dumm ist, wer für die Grenzen der Menschen kein Gespür hat. Intelligent sind dagegen diejenigen, die mit hoher Sensibilität um ihre eigene Verletzlichkeit und um die Probleme der Mitmenschen wissen. Das ist ein echt biblischer Maßstab. Die Kirche hat diesen Unterschied lange gekannt. Von Ignatius von Loyola und anderen wissen wir: Im Zweifelsfall zogen sie einen intelligenten Beichtvater einem frommen vor.

Doch seit 150 Jahren haben sich die Pole vertauscht. Jetzt geriet Intelligenz unter kirchlichen Verdacht. Das ist absurd, denn gerade jetzt haben sich die Intelligenzanforderungen an die „einfachen“ Gläubigen, die früher nur nachzubeten hatten, massiv gesteigert. Gleich vier grundlegende Dinge sind seitdem passiert.

Erstens zwingt die wachsende Säkularisierung alle Christinnen und Christen, endlich selbst über den Sinn ihres Glaubens nachzudenken. Wir können nicht mehr glauben, weil es uns der Herr Pfarrer vorschreibt.

Zweitens stellen uns die Wissenschaften auf eine harte Probe. Wer als Gläubige etwa die Schöpfung oder den Menschen verstehen will, muss sich mit Kosmologie und Ch. Darwin, mit den Bausteinen des Lebens und kritisch mit dem beschäftigen, was wir heute noch „Seele“ nennen.

Drittens muss ein Christ seine Lebenswelt verstehen, sich täglich und ohne geistliche Anleitung in ihr korrekt und produktiv zurechtfinden, und sie ist hochkompliziert geworden.

Viertens lesen wir die Bibel heute mit anderen Augen, denn wir haben erkannt: Die Bibel ist kein Rezeptearsenal für tumbe und lebensuntüchtige Geister, sondern ein ausgesprochen intelligentes Buch. Jede Geschichte ist genauestens komponiert, jedes Jesus- und Prophetenwort bis auf den letzten Buchstaben austariert. Die Propheten waren die Intellektuellen ihrer Zeit. Die Bibel arbeitet mit Mitteilung und Phantasie, sie setzt Leidenschaft ein oder fordert Gelassenheit. Hier lehrt sie uns Ergebung, dort den Widerstand, hier wird gejubelt, dort bitter geklagt. Im Ijobbuch steht: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“. Der Galaterbrief erwartet, dass wir auch kein Quäntchen unserer Freiheit drangeben: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (5,1). Wann aber gilt was? Dies täglich neu zu entdecken, bleibt uns vorbehalten, und dazu ist die Bibel immer wieder zu studieren, wach zu analysieren, exegetisch zu erarbeiten. Biblischer Glaube fordert also den Kopf und das Herz, den Leib und deshalb auch den Verstand. Ein intelligenzfreier Glaube wäre abergläubischer Selbstbetrug.

Nun hat der Intellekt immer etwas Anarchisches an sich. Erkenntnis ist zwar immer vernünftig, aber wann sie aufblitzt und was sie offenbart, das lässt sich weder vorherberechnen noch kontrollieren. Obwohl der Verstand Gemeinschaft und Kommunikation ermöglicht, gehört er – von der Liebe nicht einfach zu trennen – zu unserem Personsein, unserem unverwechselbaren Subjekt. Das ist der Grund, weshalb sich Benedikt XVI. mit M. Luther, diesem hochsensiblen Denker, nie angefreundet hat. Wiederholt wirft er ihm mangelnde Objektivität und damit mangelnde Kirchlichkeit vor. Er reagiert wie ein Hausbesitzer, dessen Haus im Erdbeben zu wanken beginnt. In dieser Situation darf nichts umgebaut werden, sondern Stabilisatoren und Stützen, Kitt und Mörtel sind gefragt. Schon als oberster Glaubenshüter träumt er deshalb von einem Glaubensobjektivismus, der im Zweifelsfall das eigene Denken blockiert. Im Interesse einer statischen Glaubensmechanik misst er die vermeintlichen Abweichungen nie an intellektuellen Nuancen oder ihrem innovativen Potential (das hat ihn nie interessiert), sondern knallhart am geistlosen Buchstaben, den Stahlträgern seines kirchlichen Systems.

Leider hat er diesen kalten Rationalismus nicht aus sich, sondern aus der antireformatorischer Tradition des 19. Jahrhunderts, die sich die Moderne zu Feinden erkoren hat. Wie Alan Posener in seinem ausgezeichneten Buch „Benedikts Kreuzzug“ aufweist, ist Benedikt XVI. ein antimodernistischer, demokratie- und wissenschaftsfeindlicher Papst. Wir sprechen vom Antimodernismus; dessen Unfehlbarkeitswahn lässt grüßen. Seit jener Epoche, die wir mit dem Konzil für abgeschlossen hielten, wird eigenständiges Denken konsequent diskriminiert. Genauer: Natürlich war scharfsinniges Denken immer gefragt. Der Papst selbst gilt als brillanter und elegant formulierender Denker, auch wenn die Legende, er habe 99 Bücher geschrieben, wohl nicht stimmt. Aber, bitteschön, bei ihm und bei anderen hat dieses Denken gehorsam, ungefährlich, systemimmanent, machterhaltend zu sein. Es hat statisch zu sein, weil Grundsatzfragen das ganze Gebäude zum Einsturz bringen könnten. Ich nenne dies eine schwache Intelligenz.

Leider ist unter den Etablierten unserer Kirche diese schwache Intelligenz weit verbreitet. Außer der Karriere bringt sie es zu wenig, denn sie dreht sich in einem Kreis von Ängsten und Abhängigkeiten. Die unteren Kirchenränge machen ihr Denken vom Willen ihrer Bischöfe abhängig, die Bischöfe von Kurie und Papst. Kardinal Kasper ist der Prototyp für ein solch schmiegsames Verhalten. Bisweilen macht er sich so seine intelligenten ökumenischen Gedanken, aber er kritisiert nicht, sondern kittet lieber das Porzellan, das andere zerbrochen haben. Nie würde er seinem Chef widersprechen. Wie oft hätte er schon zurücktreten müssen, spätestens als den evangelischen Kirchen zum zweiten Mal ihre kirchliche Würde abgesprochen wurde. Der Chef selbst aber, dieser hochintelligente Mann, bindet sich an das Selbsterhaltungssystem Kirche, an deren absolutistische Wahrheiten. Er, dem juridisch als einzigem absolute Freiheit zustünde, ist ängstlicher als alle anderen zusammen. Vielleicht wurde er nur deshalb Papst. Jetzt stürzt unter dem Gewicht dieses Systems alle intellektuelle Brillanz und Brisanz ein, die hier versammelt sein sollte. Dieser Vorgang gleicht der Implosion all dessen, was wir normalerweise unter Rationalität, Intelligenz und Intellektualität verstehen. Wo für die römische Ideologie die strahlende Sonne aller Wahrheit leuchten sollte, verbirgt sich jetzt ein schwarzes Loch, das alle Eigenständigkeit in sich verschlingt und Außenstehende vor den Kopf stößt. Man denke an die Missgriffe gegenüber den Juden, den Muslimen und den evangelischen Kirchen, den lateinamerikanischen Indios und den mit AIDS bedrohten afrikanischen Frauen und Männern, neuerdings an die Anglikanische Kirchengemeinschaft, von der innerkirchlich katastrophalen Politik ganz zu schweigen. Wir haben darauf zu achten, dass wir in diesen Sog nicht hineingezogen werden und stattdessen auf Menschen mit starker Intelligenz, auf unsere eigene Erkenntnisfähigkeit vertrauen.

Übertreibe ich? Vielleicht. In jedem Fall sitzt mir seit der letzten Papstwahl der Schreck noch in den Knochen. „Ich bin ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn“ lautete jenes gewinnende päpstliche Wort. Unerwähnt blieb, was Bonaventura einst sagte: Wenn die Kirche in die Krise gerät, dann gelte kein Philosoph und Theologe, also keine starke Intelligenz mehr, sondern nur noch der „simplex et idiota“, der Einfache und der Ungebildete. Der junge Ratzinger hat darüber mit Zustimmung geschrieben. Er sieht die Kirche in einer schweren Krise, also ist mit eisernem Besen zu kehren. Nur noch jene Intelligenz gilt, die sich strikt an die päpstlichen Regeln und Blockaden hält. Damit schickt der Papst die Kirche erst recht in die Katastrophe, denn heute können uns nur noch Menschen weiterbringen, die – nach innen wie nach außen – stark, selbständig und mutig denken können. Die Angepassten haben schon genug ruiniert. Die kritischen Geister aber werden niedergehalten. Wir werden diesen Zustand durch gezielten Ungehorsam überwinden müssen.

(Erschienen in Pipeline 45 [2009], Nr 2, 77-80)