Nicht heilig, sondern katholisch II

II. Nabelschau einer Konfession

„Vatikan bremst Bischöfe aus“, titelte die deutsche Presse. Einen Tag vor Beginn der Frühjahrskonferenz der deutschen Bischöfe in Augsburg (18.02.2024), sorgte ein Brief aus Rom für eine unerwartete Blockade. Zur Konstituierung des Synodalen Ausschusses, über den sich der “Synodale Weg“ im vergangenen Jahr geeinigt hatte, wurde kein Beschluss gefasst. Dieser Ausschuss hätte in aller Form eine erste verbindliche Kooperation von Bischöfen und Nichtbischöfen zu Reformfragen der Kirche in Kraft gesetzt. Diese römische Aktion führte unter Reformwilligen zu Entsetzen und Empörung, zu Recht. Doch dieser Eingriff konnte die Insider nicht wirklich überraschen, denn diese Blockade (man kann sie auch Ohrfeige nennen) folgte perfekt den Vorstellungen der exzellenten und eminenten Hardliner mit Wohnsitzen vor allem im Vatikan, ferner in Deutschland, schließlich auch in anderen Ländern bzw. Kontinenten. Allerdings haben sie keinerlei Unrechtsbewusstsein, wie ich hier zeigen möchte. Im Gegenteil, sie verteidigen schlicht die kirchliche „Staatsraison“, die sich seit den Gregorianischen „Reformen“ im 11. Jdt., wenn nicht gar seit den byzantinischen Kaisern kontinuierlich entwickelt und das römisch-katholische Denken bis in die letzten theologischen, pastoralen und juristischen Verästelungen durchdrungen hat und bis heute durchdringt.

Was aber sind dafür die tieferen Gründe? Wie kann ausgerechnet der kollegial gesonnene Bischof von Rom seinen „Mitbrüdern“ so unsensibel, demütigend und autoritär gegenübertreten, ihnen sogar ein Gespräch verweigern? Mehr noch, wie ist es zu erklären, dass die deutschen Reformkräfte den harten Widerstand Roms noch nie in ihr Kalkül einbezogen haben, also hilflos reagieren? Warum fiel ihnen diese tiefsitzende römische Verhärtung nicht schon früher auf?

Im Folgenden markiere ich einige massive institutionelle Verfremdungen, die früh begannen, auch bei aktuellen Erneuerungsideen noch nicht überwunden sind. Das fällt nur Wenigen auf, weil (wie in Teil I ausgeführt) das aktuelle spirituelle Konzept der „Unterscheidung“ von ihnen ablenkt, statt sie konstruktiv aufzuarbeiten. Vor allem werden die dogmatischen Prämissen unterschätzt, die keine Spiritualität ersetzen kann. Langfristig reicht es eben nicht, wenn zwar wohlwollende Amtsträger ihre innere Verbundenheit mit dem Kirchenvolk bezeugen, aber offiziell auf ihren festgeschriebenen Rollen und Machtstrukturen beharren, also (wie gelegentlich praktiziert) höchstens in einer freiwilligen Selbstverpflichtung auf einige sensible Befugnisse verzichten und Transparenz versprechen. Strukturell fragwürdige Entscheidungsregeln werden nicht dadurch gut, dass die Befugten eine untadelige Spiritualität präsentieren. Umgekehrt sind es umgekehrt die festliegenden Strukturen, welche die Mentalität und das Verhalten der Amtsträgerinnen und Amtsträger nachhaltig prägen. Gegen eine sachbezogene Spiritualität ist nichts zu sagen ist, doch sie setzt die Entwicklung von sachgemäßen Kirchen-Reformen voraus. Dazu gehört eine differenzierte, hermeneutisch abgesicherte Kenntnis der Schrift sowie eine differenzierte Einsicht in die inneren Zusammenhänge und Entwicklungen von Lehre, Kirchenordnung und ihrer Verwaltung.[1]

Ich konzentriere mich auf drei Entwicklungen, die einander bestätigen, überlagern, ihr Überleben ermöglichen und die nichts an Vitalität eingebüßt haben. Aus dem gemeinsamen Glaubenskonsens wird eine Glaubensregulierung von oben (Nr. 6). Das Lehramt mutiert zu einer hochnervösen, übersteigerten Lehr- und Kontrollaktivität (Nr. 7) und die Hüterin der christlichen Botschaft erklärt sich zum sakramentalen Christusleib (Abs. 8). Zur Überwindung dieser Fehlentwicklungen sind Konflikte unvermeidlich und heilsam (Nr. 9). Daraus ergeben sich für die bisherige Arbeit gravierende Mängel (Nr. 10).

6. Vom Konsens zur Regulierung

Beginnen wir mit der wohl bekanntesten, im römisch-katholischen Raum wirksamsten und eingängigsten Glaubensregel, die seit dem 5. Jdt. drei Dimensionen des menschlichen Lebens zu einer Einheit bündelt; sie beschäftigt sich mit der Zeit, dem Raum und der Glaubensgemeinschaft: Katholisch ist, was überall, immer und von allen geglaubt wird (Vinzenz von Lérins). Aus diesem ganzheitlichen Ansatz lebt der hohe Anspruch der Regel und ihr bleibender Charme. Doch welche Umstände hat diese Formel im Blick, auf welche Wirklichkeit reagiert sie, wie wurde sie also konkret gefüllt?

Vergessen wir nicht: Schon zu Paulus Zeiten waren heftigste theologische Diskussionen an der Tagesordnung; der Glaube musste erst seine Grundmodelle und seine Sprache finden. Die Auseinandersetzungen müssen oft heftig und interessant gewesen sein, wurden bisweilen sogar auf den Marktplätzen ausgetragen, denn Meinungsvielfalt und eigenes Denken galten viel. Zudem bildeten sich innerhalb der Reichskirche fünf, in hohem Maße selbständige Patriarchate, die eifersüchtig auf ihre Eigenständigkeit achteten.[2] Nicht einmal die klassischen, philosophisch reflektierten, bald hochkomplizierten Lehren von Christus und Trinität führten je zu einem umfassenden Konsens. Bis ins 7. Jdt. hinein übte der Arianismus, der den Satz von der göttlichen Natur Jesu nicht akzeptierte, einen starken Einfluss aus; bis heute sind Grundfragen nicht restlos geklärt und mit hoher Wahrscheinlichkeit spiegeln sie sich auch in der muslimischen Polemik gegen die Trinitätslehre wider. In der Alten Kirche schlossen also die räumliche, zeitliche und institutionelle Einheit im Glauben eine spannende Vielfalt und bleibende Diskussionen ein. Genau dieser Sinn für leidenschaftliche Debatten auf hohem Niveau geriet in späteren Perioden in Vergessenheit.

Denn nach der großen Trennung zwischen Ost und West (1054) änderte sich der Wind. Im Westen geriet Meinungsvielfalt immer mehr in Misskredit und schrittweise setzte sich ein von Rom gesteuertes Glaubensmodell durch. Es übernahm autoritäre und verrechtlichte Züge. Immerhin wurden die ersten Kirchentraktate im 12. Jdt. von Kanonisten geschrieben. Faktisch waren es juristische Abhandlungen, die dogmatische Positionen ins Schlepptau nahmen, nicht umgekehrt.[3] Aus diesem Ursprung leiten die Kanonisten bis heute ihre vermeintlichen Geltungsansprüche ab. Auch der damals beginnende Zentralismus verhinderte weder starke theologische Schulen[4] noch einflussreiche Gegenbewegungen, die dem herrschenden Kirchensystem gefährlich werden konnten.[5] Zwar entwickelten sich seit dem 13. Jdt. von Spanien die ausgeklügelten, grausamen Verfahren der Inquisition, doch prinzipiell operierte diese gegen eigene Kirchenmitglieder.

Als die westliche Kirche im Zeitalter der Reformation auseinanderbricht, gerät diese Suche nach der gemeinsamen Lehre in ein anderes Licht, denn jetzt erklärt sich Rom zum alleinigen Hort und Garanten der Wahrheit. Wichtige Fragen werden weniger in die Zusammenhänge eines theologischen Diskurses eingeordnet, sondern primär auf ihre kirchliche Gesinnung hin getestet; das zeigen die von Papst Franziskus so hochgeschätzten ignatianischen Regeln. Innere Vielfalt und Dissidenten (Frauen wie Männer) werden argwöhnisch beäugt: Ist das frisch Gesagte noch katholisch? So erhält die Exkommunikation Martin Luthers von 1521 eine exemplarische Bedeutung. Nachdem Luther – trotz schärfsten politischen Widerstands im deutschen Reich – nicht mehr als katholisch gelten durfte, verengte sich die Formel des Vinzenz von Lérins. Sie steuerte nicht mehr eine ökumenisch umfassende, kontinuierlich andauernde und gemeinschaftlich verbindende Einheit, sondern garantierte eine eng umrissene, von oben geschützte und strafbewehrte Orthodoxie. Jetzt war die katholische Kirche zu einer Konfession geworden. Sie misst sich an ihrer eigenen Identität und definiert sich in wachsendem Maße von ihrem Gegensatz zu den reformatorischen Kirchen her. Den DissidentInnen wird jetzt schnell ihre kirchliche Würde abgesprochen. Das ist bis heute so geblieben.

Unter diesen neuen Maßstäben erstarkt die Vorstellung von der einen legitimen Tradition, die den einen Glauben repräsentiert. Der antireformatorische Sprachstil, den die Katechismen, die Verkündigung und die Theologie übernehmen, kennt Überlieferung nur noch im Singular. Die dynamische Regel der Alten Kirche, die früher zur Suche nach dem einen wahren Glauben aufrief, mutiert zur konfessionellen Identitätsgarantie, die den amtlichen Interessen der Kirchenleitung dient. Das reduziert den Glauben noch gezielter auf objektivierbare, offiziell fixierte Formeln und zeitigt identitäre Auswüchse. Alles, was noch nicht eingebürgert ist, gerät schon deshalb unter Verdacht, weil es neu, eben eine gefährliche Neuerung ist.[6]

Dies zwingt auch die Verdächtigten bei ihrer Selbstverteidigung zu konservativen Strategien. Sie müssen zeigen, dass sie nie und nimmer eine Neuerung einführen wollen. Wer das Gegenteil zugibt, verurteilt sich ja selbst. Deshalb beugen sich die Angeklagten in der Regel der kirchlichen Autorität, wenn sie die Chance zum Freispruch erhalten wollen. Sie haben sich der schon immer bestehenden „Theologie der Vorzeit“ (J. Kleutgen) zu beugen. Gehorsam wird zur kirchlichen Regeltugend. Die Standardformel, die man von den reuigen Verirrten erwartet, lautete bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein, er habe sich „demütig unterworfen“ (humiliter se subiecit). Der Glaube erweist sich im Kotau und er prägt massiv das, was das Gottesvolk unter Glauben versteht. Es gibt bis heute keine Anzeichen dafür, dass im Kirchenregiment die Hardliner von dieser Mentalität abgewichen sind. Sie bleiben treue Schüler dessen, was sie einmal mit der Milch ihrer frommen Denkungsart eingesogen und sich als karrierefreundliches Verhalten antrainiert haben. So hat man es ihnen in ihrem Studium eingetrichtert.

Dabei bilden das Konzil von Trient (1545-63) und das 1. Vatikanische Konzil (1870) signifikante Grenzmarken eines Konfessionalismus, der Roms aggressive Sprung- und Bremsbereitschaft vielfach legitimiert. Lehren, Sakramente und Jurisdiktion werden veramtlicht und kurzschlüssig mit der Anerkennung des offiziellen römischen Lehramts verkoppelt. Unter den Piuspäpsten gibt es kaum eine Enzyklika, aus der Rom keine Rügen, Absetzungen oder die Verbannung von verdächtigen Theologen abgeleitet hätte. Die Älteren unter uns wissen noch von den misstrauischen Umtrieben, die die Enzykliken Pius‘ XII. nach sich zogen. Manche Professoren erfuhren aus der Zeitung von ihrer Absetzung. Wer sich heute über den Umgang der Römer mit ihren vermeintlichen Vasallen wundert, sollte sich an diese gängige Umgangskultur von damals erinnern.[7] Nestbeschmutzer werden wohl mehr verbannt, aber gegebenenfalls können sie aus dem Gedächtnis verschwinden.

Wie konnte man die römische Lehrtreue programmieren? Schon den Erstkommunionkindern wurde eine einfache Maxime eingeflößt. „Fest soll mein Taufbund immer stehen, ich will die Kirche hören“.[8] Als wahr gilt, so einfach lautet die entscheidende Kurzformel noch heute, was die katholische Kirche lehrt. So aber schrumpft das Katholische bei wachsendem Alter zu einem inhaltsleeren, jesusvergessenen Kirchenbekenntnis zusammen; denn die Bedürfnisse einer sich selbst verteidigenden Konfession blieben aktiv. Und was wir nicht vergessen sollten: Die Ketzerriecherei hat erst unter Johannes Paul II. und seinem bayerischen Nachfolger (also erst Jahrzehnte nach dem 2. Vatikanum), eine letzte Steigerung erreicht. In Erinnerung bleibt das Exempel, das Rom und die deutsche Hierarchie gegen Hans Küng 1979/80 statuiert haben. Sämtliche deutschen Bischöfe haben sich in einem (von allen Hirten unterzeichneten) Hirtenbrief gegen ihn gestellt. Es war ein „gnadenloser“ Akt destruktiver Hilflosigkeit.

Doch zugleich begannen in diesen Jahren digitale Kontroll- und Verbreitungsmöglichkeiten, die alten restriktiven Aktivitäten zu intensivieren. Offensichtlich schlugen verdrängte Erinnerungen zwanghaft und mit neuer Intensität zurück. Erst die Missbrauchs- und Vertuschungsskandale haben ein vorsichtiges Umdenken eingeleitet. Zu oft wurden die genannten Skandale noch als bedauerliche Ausnahmen, nicht als Symptome eines verhärteten Narzissmus gedeutet. Da viele Kirchenleiter die römischen Restriktionen noch immer rechtfertigen, bleiben die alten Regeln wie ausgehöhlte Kürbisköpfe in verhärteten Mentalitätsblasen zurück.

Was bleibt also übrig? Ein nahezu nichtssagender, argumentations- und dialogresistenter freier Begriff von Tradition, aus der man auch eine wissenschaftskritische und kirchenloyale[9] Schriftauslegung ausgerichtet hat. So kulminiert auch das offizielle Schriftzeugnis in einer kritiklosen Amtsloyalität und noch einmal gerät die Formel von „Schrift und Tradition“ zum formelhaften Kürzel. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn sie unter solchen Vorzeichen das öffentliche Interesse verlieren. Leider prangern die Bischöfe diese Entwicklung als Säkularisierung an, statt in ihr die instinktsichere Abkehr von petrifizierten Glaubenshülsen zu erkennen.

7. Übersteigerte Lehr- und Kontrollaktivität

Seit dem 19. Jdt. spielt sich das römische Lehramt noch dominanter in den Vordergrund. Unter Pius IX. (1864-1878) und Pius X. (1903-1914) werden theologische „Irrtümer“ systematisch inventarisiert, umschrieben und verurteilt, die ersten Angriffe auf den „Modernismus“ lanciert. Leo XIII. (1878-1903) verfasst nicht weniger als 86 Enzykliken, darunter 7 zur Marienverehrung. Noch unter Pius XII. beantwortet die Inquisitionsbehörde regelmäßig (teils bestellte) Anfragen zu Ethik und Glauben aus aller Welt. Die Antworten sind verbindlich und werden in der gesamten Kirche durchgesetzt.

Auch mischt sich Rom immer aufdringlicher in das Geschäft der professionellen Theologie ein. Die römische Textproduktion nimmt enorm zu und die katholische Theologie gewöhnt sich daran, wird mehr und mehr zur Befehlsempfängerin von höheren Weisungen. An sich schätzen engagierte KatholikInnen lange Zeit diese Entwicklung, denn die wachsende Religionskritik, die erfolgreichen Natur- und Sozialwissenschaften, der Darwinismus, die Psychoanalyse sowie weltweite autoritätskritische und demokratische Entwicklungen schaffen Verunsicherung. Doch der Vatikan reagiert wohl zu nervös und mit aufdringlicher Aktivität. Programmatisch will er gegen die Moderne Dämme zu bauen und die KatholikInnen weltweit vor der Flut der Irrtümer abschirmen. Hoch aufragende Sakralbauten wie Sacré Coeur (Paris), Sagrat Cor (Barcelona) oder die übermächtige Christusstatue Cristo Redentor (Rio de Janeiro) sowie zahlreiche nachempfundene Monumente in Europa und Lateinamerika verbinden diesen erregten Wahrheitsanspruch mit einem geistigen Machtanspruch, der auf politische (lange Zeit antikommunistische) Folgerungen zielt.

Der Umfang der römischen Lehrdokumente, die in den letzten 175 Jahren in Rom entstanden sind, beträgt etwa die Hälfte aller Lehrdokumente, die sich seit Beginn der Kirche überhaupt dokumentieren lassen.[10] Dieses krasse Übermaß demonstriert das in Rom ausgebaute Übergewicht. Es führte zu einer Allgegenwart römischer Entscheidungen und nahm dem Rest katholischer Kreativität den Atem. Zudem wurde das Denunziantentum systematisch geschützt. Unter jeder Kanzel konnten und können Spione sitzen. Schon unter Pius X. waren gegen 1000 offizielle Spitzel im Einsatz, die oft unter Pseudonym arbeiteten. Man kann den Nachklang dieser als fromm geltenden Unkultur noch heute erleben.

Dieser monokratische Zentralismus wird seit dem 2. Vatikanum nicht gezügelt. Im Gegenteil! Eine weitere Ebene römischer Einflussnahme beginnt bei Johannes Paul II. mit seiner atemberaubenden nationalen und internationalen Reisetätigkeit. Die Auslandsreisen sind meist großzügig, bisweilen bombastisch inszeniert, mit großräumigen Programmen ausgestaltet, oft an die Jugend der Welt gerichtet, bei internationalen, gar interkontinentalen Flugreisen von ganzen Pulks offiziell akkreditierter Journalisten begleitet. Auch dem bescheidenen Papst Franziskus bereiten fliegende Presskonferenzen ein hohes Vergnügen.[11]

Die Ziele sind eindeutig: Verkündigung des christlichen Glaubens, aber doch in der typisch pontifikalen Version. Unabhängig von ihrer religiösen Tradition sollen die besuchten Länder wissen, dass der Stellvertreter Christi zu ihnen kommt und höchste Wegweisung zu bieten hat. Zu oft Hunderttausenden strömt die Bevölkerung auf die beschallten Lagergelände und kehrt in einer Mischung aus Jubel und heiligem Schauer mit dem hehren Gefühl zurück, etwas Erhabenes erlebt zu haben. Ob sich die PolitikerInnen der besuchten Länder das Gehörte zu Herzen nehmen, bleibt in der Regel offen; dass der Papst aus Polen auch Politisches bewegte, ist jedoch neidlos anzuerkennen.

Dieses kaum steigerungsfähige Bedürfnis nach Mitteilung und Einfluss musste zur Frage führen: Wie kann denn das römische Lehramt alle seine neuen Definitionen und Verurteilungen, Anwendungen und Regelungen mit einer letzten Verbindlichkeit belegen? Gemäß der Neuscholastik erklärt sich diese Belehrungsfreude aus der Gewissheit, dass der Heilige Geistes die päpstlichen Institutionen lenkt. Bis heute verfehlt die höchst ambivalente Unfehlbarkeitsaura von 1870 ihre Wirkung nicht, die weit über päpstliche Sonderentscheidungen hinausreicht.

Zugleich wird dieser Belehrungseifer mit der Theorie von der Dogmenentwicklung unterbaut. Zuvor hatte man neue Positionen streng aus früheren biblischen Berichten, bisweilen aus Legenden, auch aus Glaubenssätzen und theologischen Thesen deduziert, mit ihnen „bewiesen“. Doch bei wachsendem historischen Bewusstsein wurde diese Praxis fragil; man entdeckte unangemessene Simplifizierungen und Geschichtsklitterungen. Nehmen wir etwa die päpstliche Unfehlbarkeit, die Siebenzahl der Sakramente, die Unbefleckte Empfängnis Mariens, ihre Himmelfahrt oder das Ordinationsverbot von Frauen: wie will man sie denn biblisch begründen? So setzt sich im 20. Jahrhundert die Überzeugung durch, dass sich Glaubenssätze nicht in starren Definitionen erschöpfen. Vielmehr stehen sie in einer geschichtlichen Entwicklung und Kontinuität, unterliegen dabei unerwarteten Verwandlungen, weil sie auf neue Fragen und kulturelle Konstellationen zu reagieren haben.

Dieser Verweis auf die „Geschichtlichkeit“ des Glaubens (eine ansonsten selbstverständliche Perspektive) wird im katholischen Raum bis weit ins 20. Jdt. hinein als enormer Fortschritt gepriesen, mit ihr habe man einen starren Konservatismus überwunden.[12] Doch sind auch an dieses Modell kritische Fragen zu stellen, weil es methodisch unterbestimmt und dehnbar bleibt, sich ideologiekritischen Rückfragen verschließt und deshalb die Türe für willkürliche Interpretationen öffnet. Zudem bleibt oft nur wenig übrig von einem wirklichen Respekt vor dem biblisch bezeugten Gotteswort, auch formal bleibt das Kriterium des kirchlichen Lehramts dem Kriterium der Schrift vorgeordnet. Nach wie vor gilt das offizielle Lehramt auch als der legitime, letztgültige Interpret der Schrift und den Papst umgibt nach wie vor die Atmosphäre einer Christusnähe, die man in früheren Epochen nicht kannte.

8. Sakralisierung der Kirche

Heute schiebt die römisch-katholische Fachwelt das spirituelle Versagen der neuzeitlichen Kirche gerne einer verflachten und rationalistischen Neuscholastik in die Schuhe. Doch eine innere Erneuerung, leider lange Zeit verkannt (so etwa W. Kasper) habe schon im frühen 19. Jdt. mit der Katholischen Tübinger Schule begonnen.[13] In der Tat hatte sich damals ein intensives, wenn auch romantisch eingefärbtes Geschichtsbewusstsein entwickelt.

Für diese Tübinger Schule ist die Kirche nicht nur Botin und Verkünderin der christlichen Botschaft, die treu zu vermitteln ist, sondern ein lebendiger Organismus von übernatürlicher Qualität. Er trägt die christliche Wahrheit sozusagen organisch in sich. Er ist ein Leib voll göttlichen Lebens, eben der reale „fortlebende Christus“. Die paulinische Leib-Metapher wird, von einer eucharistischen Deutung unterfüttert, also zur unmittelbaren Wirklichkeit, die Kirche zu einem Zeichen, das – gemäß dem 2. Vatikanum – mit seiner beabsichtigten Wirkung identifiziert werden kann.[14] Dabei werden die Schlüsselrolle und die Begrenzungen, die das Wort der Schrift vorgibt, massiv relativiert. So kann das kirchliche Lehramt in unmittelbarer Direktheit Wahrheiten aussprechen, die von Gott verbürgt sind. Faktisch wird die Schrift zur Illustratorin des Dogmas herabgestuft.

Das scheint mir nicht in Ordnung, denn die sakramentale Dimension wird überdehnt, zum katholischen Monopol und Alleinstellungsmerkmal erhoben. Kirche wird als eine über-natürliche Wirklichkeit mystifiziert. Das neuscholastische und das „geschichtliche“ Wahrheitskonzept werden so nicht überwunden, sondern in einen heiligen Schrein eingesenkt, geradezu unangreifbar gemacht.

Daraus folgte, was folgen musste: Die kirchliche Nabelschau geriet zur kirchlichen Loyalitätspflicht und trotz aller ökumenischen Absichtserklärungen hat der konfessionelle Katholizismus nachhaltiger denn je gesiegt. Johannes Paul II konnte in der letzten seiner Enzykliken in höchster Einseitigkeit, aber unwidersprochen erklären, die Kirche lebe von der Eucharistie.[15] Ökumenische Gottesdienste an Stelle einer priesterlichen Eucharistiefeier werden erneut verboten. Dies geschah nahezu 40 Jahre, nachdem sich die katholische Kirche auf dem 2. Vatikanum zu einer ökumenischen Geschwisterlichkeit verpflichtet hatte. Von der Kirche als dem Geschöpf des Wortes (creatura verbi) ist kaum mehr die Rede und faktisch wird die römisch-katholische Kircheninstitution zumindest den Reformations- sowie den Freikirchen übergeordnet.

Im Prinzip hat diese antiprotestantische Abgrenzung auch Jahrzehnte nach dem Konzil nichts an Schärfe verloren und bei wachsender Säkularisierung unserer Gesellschaft gewinnt diese Akzentsetzung an Gewicht. Die in Rom geeinte Glaubensgemeinschaft präsentiert sich jetzt in neuer und ungeahnter Weise als die Garantin des Heiligen nicht nur im christlichen Kulturkreis, sondern in der Welt.[16]

Trotz seiner Bescheidenheit spielt auch Papst Franziskus die aufwändigen römischen Spiele mit, die diesen Vorrang sichtbar machen: Selig- und Heiligsprechungen, prunkvolle Kardinalsernennungen, überdimensionierte Bischofsauftritte bei prächtigen Gottesdiensten, die schon genannten aufsehenerregenden Papstreisen sowie 10 Jahre lang die pathetische Verehrung eines emeritierten Papstes, der immer noch päpstlich gekleidet war, nach wie vor im Vatikan wohnte, um dort eine bislang unbekannte Sonderstellung zur Schau zu stellen. Ratzingers Privatsekretär Gänswein räumte seinem Chef auch nach dessen Rücktritt einen geistigen Anteil am Papstamt ein. Wenn das nicht einer Häresie gleichkommt!

Man unterschätze die enorme Tiefenwirkung dieser Entwicklung nicht. Alles, was da vorgetragen und inszeniert wird, ist von einem mystischen und triumphal gestylten Glanz überzogen, der mehr überwältigen will als er überzeugen kann. Noch immer wird die Gemeinschaft der Hirten und Lehrer statt der Gläubigen gefeiert. Sie feiern sich selbst und diese Momente der Selbstverherrlichung wirken nach. Von einem geheiligten, synodal mitwirkenden Gottesvolk bleibt bei solchen Momenten nicht viel übrig. Nach wie vor fiebert das Volk applaudierend etwa auf dem Petersplatz, um sich von vorn und von oben vom geheiligen Stellvertreter begeistern zu lassen, einen Blick vom Papamobil zu erhaschen. Verständlich, dass man sich bei diesen Hintergründen noch immer in eine barocke Megalomanie flüchtet und die Sonderstellung dieser Überwelt mit seinen Emotionen aufsaugt.

Nach wie vor lebt diese selbstherrliche Prachtentfaltung von einem verengten Konfessionalismus. Er fühlt sich zu nahe am Glanz der göttlichen Selbstoffenbarung; auch über dieses Konzept wäre kritisch nachzudenken. Die Mystik einer vergöttlichen Kirche ist also nach wie vor präsent. Henri de Lubac SJ (1896-1991), immer noch ein hochverehrter und häufig gelesener Theologe der Konzilszeit (dem das Konzil schließlich zu fortschrittlich war), überschlägt sich in seiner Kirchenmeditation im Lobpreis der Kirche, der einzig wahren Mutter der Lebendigen.[17] Johannes Paul II. identifizierte sich so vorbehaltlos mit seinem Stellvertreteramt, dass er einen möglichen Amtsverzicht mit dem Herabstieg Jesu vom Kreuz verglich. Sein Nachfolger erklärte kurz vor seinem Abschied vom Amt, in seiner Christusnähe sei ein Papst nie allein. Wirklich?

Deshalb wirkt jeder Hierarchentadel auch bei vielen heute noch blasphemisch, denn die neue Kirchenmystik hat eine neue Mystifizierung der Ämter zur Folge und gerät zwangläufig zur Ideologie. Hierarchenkritik wird dann mit mangelnder Loyalität zur Kirche gleichgesetzt und kirchliche Überidentifikation ist überall zu spüren. So sind etwa 20% von Kardinal Kaspers Kirchenbuch (2011) biographisch geprägt; so wird Kirche nahezu distanzlos zur von ihm erfahrenen (und mitgestalteten) Kirche.[18] Erst kürzlich erklärt er in pathetischer Sprache, „Kernaufgabe der Bischöfe“ sei es, „das Evangelium und die Lehre der Kirche zu bezeugen“, deshalb dürfe das Gottesvolk ihn nie überstimmen. Zugleich ruft er zusammen mit Kardinal Schönborn „eindringlich dazu auf, die Einheit mit Rom und in der Kirche nicht aufs Spiel zu setzen“.[19] Er verurteilt das Konzept des „Synodalen Rats“, der die bischöfliche Vollmacht beschränke. Dabei soll dieser Rat die Kirchenleitungen ja nicht blockieren, sondern sie unterstützen, ihnen aus der gegenwärtigen Krise helfen. Zudem gehört das Zeugnis des Glaubens zum Recht und zur Pflicht aller Getauften, wie auch die Binde- und Lösegewalt nicht nur Sache des Petrus, sondern auch die Aufgabe einer jeden Gemeinde ist (Mt 18.18). Kaspers christliche Botschaft verträgt sich offenbar nicht mit einer Gesinnung der ungeschmälerten Teilhabe und konsequenten Synodalität.

9. Konflikte unvermeidlich

All diesen Konflikten weicht das Orientierungspapier des „Synodalen Wegs“ konsequent aus. Gewiss, die anderen Papiere konzentrieren sich auf das Krisensymptom des Missbrauchs; aber auch sie ließen den dogmatischen Unterbau der kirchlichen Lehre unberührt. Inzwischen wird klar: Bei dieser Blickverengung kommen die Risse des umfassenden Fundaments nicht in den Blick. So aber ist der erhoffte Mentalitätswechsel nicht zu erreichen. Auch wenn der „Synodale Weg“ die Rolle der Frau, das Zölibatsproblem und die Sexualethik mit ins Schlepptau nahm, er unterschätzt das Ausmaß der anstehenden Reformen und der Widerstände, welche in vielem verirrte, verkürzte, bisweilen auch verfälschte Tradition gegen sie aufbietet.

Die in Rom organisierte Weltsynode geht zwar prinzipieller ans Werk, doch auch sie lenkt ihren Blick von den dogmatisch fixierten Institutionen weg, um sich auf spirituelle Aspekte zu richten. Gut ignatianisch lässt Papst Franziskus die dogmatischen Grundlagen auch dort unberührt, wo sie dem Geist der Schrift offensichtlich widersprechen oder aus überholten kulturellen Kontexten erklärbar sind. Jedenfalls wird diese Fragestellung nicht offen besprochen,

So verfehlen beide je auf ihre Weise den Blick auf die Schlüsselprobleme des römischen Katholizismus. Beide Reaktionen sind sach- und wirklichkeitsfremd. Bei beiden Ansätzen bleiben die Versäumnisse, die aufzuarbeiten wären, im Schatten und werden zu destruktiven Familiengeheimnissen. Von außen gesehen aber gleicht die Kirche in dieser Situation eher einem Friedhof als einer vitalen Gemeinschaft, die sich engagiert für eine bessere Welt einsetzt und in eigenen Reihen dem Reich Gottes näherkommen will. So gleicht die katholische Kirche der Mitternachtssonne, die zwar nicht untergeht, aber in einem vereisten, lebensfeindlichen Klima keinerlei Kraft mehr entfaltet, kein neues Leben mehr zeugt.

Zu fragen ist deshalb: Warum werden die Grundfragen ausgeklammert? Die konzeptionellen Mängel beider Ansätze treffen sich in einer massiven Konfliktangst, der Frucht eines uralten Triumphalismus, der seinen eigenen Erfolg schon immer herausgestellt hat, aber sein Versagen großzügig übersah und jede Kritik als Nestbeschmutzung diskriminierte.

Irritiert mögen Erneuerungswillige einwenden: Wir brechen auf zu neuen Ufern, „lasst die Toten die Toten begraben, du aber verkündige das Reich Gottes“ (Lk 9,60). Mit großer Intensität entwerfen sie Visionen der Zukunft. Das mag wichtig sein und verdient Respekt. Es erzielt aber keine Erneuerung, denn die fehlgeleiteten Traditionen, denen man entfliehen will, werden so nicht korrigiert, sondern nur (soweit es geht) verdrängt. Umso ungenierter und unangefochtener leben sie weiter: in nostalgischen Erinnerungen und im Konservatismus zahlloser Rückwärtsgewandter, im kollektiven Bewusstsein der Kirchengemeinschaft sowie in einer vielfältigen kirchlichen Praxis, außerhalb Westeuropas vielleicht intensiver und unreflektierter als bei uns.

Die Fehlentwicklungen haben sich nicht nur in der Vernunft, sondern auch in den Herzen, in der Spiritualität sowie in einer breiten religiösen Erfahrung festgesetzt. Sie zeigen sich als Ideologie, als entfremdeter Frömmigkeitsstil, als zeitfremde Religiosität, ästhetisch im Kanon des Erhabenen, der oft zum Kitsch umschlägt. Zwiespältige Entwicklungen zeigen sich in allen Schichten des Gottesvolkes, in seinen sozialen Schattierungen und politischen Idealen, in allen Kulturen und auf allen Kontinenten.

Zudem hatte das Christentum (zumal in der westlichen Welt) hinreichend Zeit, sich den römischen Erwartungen geschmeidig anzupassen, kulturelle Brüche zu glätten. Theologisch, liturgisch, pastoral und in der Volksfrömmigkeit sind auch die seltsamsten Phänomene bis ins Detail aufeinander abgestimmt. Auch Unarten haben sich verselbständigt, bilden ihre eigenen Blasen und führen ihr eigenes Leben. Notfalls haben sich Frömmigkeit und Theologie sogar gegen ihre inneren Widersprüche immunisiert.

Bei vielen gilt dieses oft unausgegorene Gemisch des kirchlichen Milieus als eine Selbstverständlichkeit, die keiner Begründung mehr bedarf, denn die Kirche gilt als sakrosanktes Institut. Auch wenn es bisweilen belächelt wird, bleibt es vielen liebenswert, erhalten vielleicht als sympathische Erinnerung an die liebe Oma oder an den verehrten Priesteronkel, als Folklore zwischen anderen Volksbräuchen oder als religiöses Brauchtum, das bisweilen in frommen TV-Programmen präsentiert (und gut finanziert) oder in privaten Zirkeln betrieben wird.

Unsere farbentragenden Bischöfe liefern dafür ein gutes Beispiel. Laut werden sie den Vorwurf eines Männerbundes von sich weisen, doch an ihren männerbündischen und quasifeudalen Riten halten sie tapfer fest: am imperialen Purpur und Rot, am herrscherlichen Hirtenstab und feudalen Wappen, an der ehrfurchtgebietenden Mitra, am wertvollen Brustkreuz, an der kontinuierlichen Segensspende bei Umzügen und Prozessionen. Hinzu kommen das Zingulum, dessen Symbolik niemand mehr versteht, und der Pileolus, der das Haupt bedeckt, während der Messe irgendwann ab-, dann wieder aufgesetzt wird. Und völlig entzieht sich den Interessierten die Frage, bei welcher Gelegenheit sie in der farbigen, der filettierten, der ganz schwarzen Robe oder im zivilen Anzug auftreten. Das aus der Zeit gefallene Pallium (ein zum breiten Halsband geschrumpfter Mantel) soll die erzbischöfliche Macht dokumentieren, auch wenn sich diese schon lange verflüchtigt hat.

So zeigen sich die hohen Herrn als unumstrittene Sonderklasse in einem heiligen Schauspiel. Hat das Methode? Sollen sie als Klasse aus einer anderen Welt wahrgenommen werden? Können sie es sich leisten, aufsehenerregende Fehlentscheidungen nur selten zurückzunehmen oder in aller Form zu bereuen: die Verbrennung von Marguerite Porete (1310 in Paris), oder von Jan Hus (1415 in Konstanz), die Exkommunikation von Martin Luther (1521), oder im Jahr 1908 des bahnbrechenden Exegeten und „Modernisten“ Alfred Loisy (1857-1940), mit dem jeder Umgang verboten war.

Bis in die letzten Jahre türmen sich die beschämenden Exempel römischer Machtdemonstration auf, etwa gegen Hans Küng, Hubertus Halbfas, Eugen Drewermann, Leonardo Boff, gegen feministische Theologinnen, eigenständige Nonnen und Seelsorgerinnen dort, wo niemand anders hingehen möchte. Man denkt schon nicht mehr an die zahlreichen einzelnen Opfer, sondern an eine unheilige Tradition, die bis heute das Wahrheitszeugnis der Kirche beschädigt. Die unerbittliche Regelsucht des Glaubens und die übersteigerte Amtsautorität mögen heute vielleicht auch bei Kirchenleitern Befremden hervorrufen. Doch man murrt höchstens und vorgehaltener Hand, kritisiert sie aber nicht öffentlich, weil dies der mystischen Sakralität der Heiligen Mutter Kirche schaden könnte. Das Heilige – nein, das Katholische – ist schließlich unantastbar.

So wundert man sich nicht, dass sich der römische Zugang zur Wirklichkeit der Menschen trotz gegenteiliger Beteuerungen kaum geändert hat. Noch am ersten März 2024 geißelt Papst Franziskus (so nebenbei) die „Genderideologie“ als „die hässlichste Gefahr der heutigen Zeit“. Wie bitte? Offensichtlich hat es der Oberhirte nicht nötig, sich über den wissenschaftlichen Diskussionsstand zu informieren und differenziert zu äußern, sich bei Fachleuten abzusichern. Warum? Weil er sich, aller Solidaritätsbekundungen zum Trotz, noch immer als den höchsten Repräsentanten eines vom Geist geleiteten Lehramts sieht und hinwegblickt über die Abertausend Charismen seiner Kirche, die anderer Meinung sind, anderes erfahren, gar erlitten haben. So behält in dieser beharrenden Kirche alles seine Geltung, was nicht ausdrücklich zurückgenommen, kritisiert und delegitimiert wird,

Deshalb sollte als eine Grundmaxime der Kirchenerneuerung gelten: Was zu überwinden ist, soll nicht ignoriert, sondern muss ausdrücklich, auch in seinen Begründungen kritisiert, offensiv angeprangert und in Trauer widerrufen werden, denn im großen und komplexen Zusammenhang der Kirche bedeutet Schweigen immer auch Zustimmung.

Zudem sollten wir nicht vergessen: Die deutsche Kirche bildet im Rahmen der Weltkirche eine Minderheit von 1,51%. Die massive Kritik aus anderen Ländern (für die selbst der Papst zu progressiv sein kann) muss von uns ernstgenommen, durchgearbeitet und immanent widerlegt werden. In unserer Minderheitensituation helfen keine plakativen Forderungen. Da helfen nur vollzogene Widerrufe und differenzierte Argumente, die sich in aller Form und offensiv mit den konfliktträchtigen Positionen der Andersdenkenden auseinandersetzen und ihnen zeigen, dass man ihre Positionen verstanden und ihre Begründungen durchschaut hat. Kein freundliches Schweigen, sondern nur eine differenzierte Auseinandersetzung kann Brücken schlagen, die Kirchengemeinschaft zusammenführen, zumindest isolierte Blasen öffnen und ein Auseinanderbrechen verhindern. Bei lebendigen Demokratien könnte man dabei in die Schule gehen.

10. Defizite der Neuorientierung

In falsch verstandener Friedensbereitschaft weicht (wie schon gesagt) der Orientierungstext des Synodalen Wegs (Auf dem Weg der Umkehr und der Erneuerung, Febr. 2022) den hier angedeuteten Konflikten aus. Er will methodische Anweisungen für die Erneuerungsarbeit des Synodalen Wegs präsentieren, doch auf weite Strecken bleibt er allgemein, ohne konkrete Positionierung; Kontexte bleiben offen. Er handelt von den sog. Orten der Theologie. Gemeint sind normative Schnittpunkte, an denen sich Glaubenssprache und Theologie überprüfen, in Konfliktsituationen auch erneuern lassen. Doch diese Schnittpunkte übernehmen gut eingeübte, allgemein unbestrittene Perspektiven. Das Papier spricht von der Schrift, der Tradition, den „Zeichen der Zeit“, dem allgemeinen Glaubenssinn, dem Lehramt und der Theologie. Doch statt die aktuellen Kontroversen auch nur anzudeuten oder ungelöste Streitpunkte zu umreißen, zieht er sich auf Formeln zurück, die im Grunde sach- und richtungsleer sind. So spiegeln sie Neutralität vor, setzen aber die autoritären Lösungsmodelle der Vergangenheit voraus.

Charakteristisch dafür ist für mich ein Schlüsselsatz zum Verhältnis von Schrift und Tradition, der eigentlich die gesamte Konfliktgeschichte (vom frühen Apostelkonzil bis zur Gegenwart) umfassen müsste. Was gäbe es da alles zu nennen und zu illustrieren, wie dramatisch könnte man endlose Geschichten ständiger Auseinandersetzungen darstellen, wie spannend könnte man von verschiedenen Schriftkonzepten und noch mehr Traditionen sprechen, von den Möglichkeiten und Überschätzungen des Lehramts, seinen Erfolgen und Niederlagen. Wie interessant wäre es also, etwa die wissenschaftlich recherchierte „Kriminalgeschichte“ von Karlheinz Deschner zu Rate zu ziehen[20], sich also auch offen den Abgründen der Kirche zu stellen. Mehr noch, in einer ersten Phase der Positionsgewinnung wäre ein ganzes Kompendium von Studien nötig, um zunächst die (synodale) Vielfalt des Phänomens Christentum zu ermessen. Erst dann wären erste Versuche einer Synthese sinnvoll.

Doch das vorliegende Dokument fasst dieses hochdramatische Thema von Schrift und Tradition in dem aussagearmen Schlüsselsatz zusammen: „In der Tradition erschließt sich der Sinn der Schrift, in der Schrift der Sinn der Tradition. Deshalb gilt es, die Heilige Schrift im Licht der Tradition und die Tradition im Licht der Heiligen Schrift zu lesen und zu deuten.“ Wirklich? Sollen denn Schrift und Tradition sich in einem Prozess der gegenseitigen Spiegelung so schiedlich-friedlich aufheben? Gibt es da keine klassischen Hindernisse, Stolpersteine und Lösungen? Hat denn Pius IX. im Jahr 1870 etwa den Sinn der Schrift erschlossen und sollte der bahnbrechende Exeget Alfred de Loisy, als modernistischer Erzketzer verschrien, vielleicht nichts von ihr verstanden haben? Warum stößt eine schriftgemäße Theologie seit Jahrzehnten auf den massiven Widerstand der offiziell kirchlichen Institutionen und warum weiß sich Kardinal Woelki mit seiner Kirchenkritik im Recht? Wie war es möglich, dass Michael Schmaus oder Karl Adam ihren Antisemitismus dogmatisch rechtfertigten und Pius XII. erklärte, als Sohn Davids habe Jesus den Adelsstand geehrt? Warum hat Benedikt XVI., der sich mit seinen Jesusbüchern empfiehlt, das Schlagwort von der „Diktatur des Relativismus“ hoffähig gemacht, als ob die Schrift aus festgehämmerten Thesen bestünde?

Ähnliches gilt für die Anweisungen zu den „Zeichen der Zeit“. Schon diese Benennung lädt dazu ein, aus den Zeitphänomenen sorgsam auszuwählen. Gewiss, der Orientierungstext wendet sich einigen konkreten Zeichen zu, doch streng genommen sind auch sie nicht neu, sondern dem Konzilsdokument Gaudium et Spes entnommen, also aus einem Dokument geschöpft, das vor 60 Jahren geschrieben wurde. Von späteren emanzipatorischen und kontextuellen Theologien ist keine Rede.

Warum diese Zurückhaltung? Weil die „Neuerer“ des Synodalen Wegs alle Angriffsflächen vermeiden wollten. Sie kannten die Front der „Bewahrer“, kalkulierten aber ganz nüchtern ihre konkreten Chancen auf amtliche Zustimmungen durch. So beschränkten sie sich darauf, ihre Anliegen möglichst sanft und freundlich zu formulieren. Doch schlug diese Taktik der Angleichung in eine entscheidende Schwäche um. Sie verschwiegen ihre Reaktionen auf die gegenläufigen Argumente, denn schon das hätte eine Konfrontation bedeutet und die Bischöfe zu klaren Stellungsnahmen herausgefordert.

Zum Schluss:

Seit der Reformation ist der katholischen Mentalität diese Scheu vor Konflikten und Auseinandersetzungen eingeimpft und seit den 1980er Jahren hat sie erneut zu einer tiefgreifenden Sprach- und Denkblockade, einer veritablen Geschichte des Verdrängens und Verschweigens geführt. Gegen eine offene Kritik türmen sich auch bei ReformerInnen innere und äußere Barrieren auf. Sie sind noch nicht überwunden. Doch war die Arbeit des Synodalen Wegs nicht umsonst, denn sie hat die Grenzen des eines konfliktscheuen Vorgehens demonstriert.

Warum jetzt nicht erst recht ein konfliktbereites, unbedingt wahrhaftiges Projekt in den Stiel stoßen, das sich nicht auf Teilprobleme beschränkt, sondern selbstkritisch unsere gesamte Glaubensgeschichte in den Blick nimmt? In Teil III möchte ich einige Hinweise darauf geben, wie man das Projekt „Erneuerung der Kirche“ grundsätzlicher anpacken und gestalten könnte.

Anmerkungen

[1] Schon im ersten Teil dieses Essais rief ich einige Zusammenhänge in Erinnerung, die weniger bekannt sind und vielleicht nur Insider interessieren. Einige haben das kritisch vermerkt. Dies wird im zweiten Teil – zum wirklichen Verständnis der Missverständnisse und Konflikte – noch mehr der Fall sein. Wer sich also nur für die Ergebnisse der Überlegungen interessiert, kann unmittelbar zu Nr. 10 (Defizite der Neuorientierung) übergehen.

[2] Die fünf Patriarchate der Alten Kirche waren Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Es waren und sind Kirchen mit jeweils eigenem Jurisdiktionsbereich. Dem Patriarchen von Rom kam, wie bekannt, nur ein Ehrenvorrang zu. Sein schärfster Konkurrent war der Patriarch von Konstantinopel/Byzanz, dem Sitz des oströmischen Kaisers. Nicht zu vergessen sind die Kirchen außerhalb des Römischen Reichs: die Assyrische, Armenische, Georgische, Syrische und Äthiopische Kirche.

[3] Zu nennen ist die epochemachende Kirchenrechtssammlung, das Decretum Gratiani (bezeichnenderweise auch concordantia discordantium canonum genannt), das um 1140 von Gratian in Bologna zusammengestellt und zur Grundlage der Rechtsschule von Bologna, also an der vielleicht ältesten Universität Europas wurde.

[4] Man denke etwa an die schulbildenden Einflüsse von Augustinus, Duns Scotus, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, an die unterschiedlichen Positionen zur Rechtfertigungsfrage sowie an die Via antiqua und Via moderna (Konservative und Modernisten), die bis hin zur Reformation bisweilen das gesamte akademische Leben spaltete.

[5] Zu erinnern ist an die Katharer (Albigenser) und Lollarden, an John Wyclif und Jan Hus, schließlich an die wiederholten Spaltungen zwischen dem Anhang von Päpsten und Gegenpäpsten.

[6] Res Novae (= neue Dinge) assoziiert das Latein schon sprachlich mit Neuerungen, Umsturz, Revolution. Vgl. den Beginn der bekannten Sozialenzyklika Rerum Novarum von Leo XIII. (1891).

[7] Nur ein Beispiel soll die autoritäre Mentalität Roms illustrieren: Der heute hochberühmte Teilhard de Chardin wurde wiederholt aus Frankreich verbannt und starb 1955 in einem Jesuitenhaus in New York. Ein damaliger Novize berichtete mir, wie er und seine Mitnovizen zur Teilnahme der Beerdigung dieses unbekannten ausländischen Mitbruders verpflichtet wurden. Yves Congar, auch er zweimal aus Frankreich verbannt, verglich in seinem Tagebuch die römischen Glaubensbehörden mit der Gestapo (und er wusste, was das bedeutet).

[8] In den aktuellen Gesangbüchern kursiert u.U. die Version: „Fest soll mein Taufbund immer stehen. Zum Herrn will gehören“.

[9] Euphemistisch spricht man von „kanonischer Exegese“.

[10] Ich beziehe mich auf die allgemein anerkannte Sammlung von H. Denzinger-Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg, letzte Aufl. 2017, 1860 S. Die biblischen Schriften sind nicht berücksichtigt.

[11] Während Paul VI. mit insgesamt 11 Reisen die Praxis päpstlicher Reisen initiiert und symbolisch wichtige Orte besucht, ist Johannes Paul II. insgesamt 208 Mal unterwegs und bringt es pro Jahr auf gut 8 Reisen, Benedikt XVI. bricht 50 Mal auf. Bei Franziskus pendelt sich die Reisefrequenz auf 7 pro Jahr ein. Die physische Überforderung dieser Tätigkeit soll ein wichtiger Grund für seinen Rücktritt gewesen sein.

[12] Gepriesen werden u.a. John H. Newman, die katholische Tübinger Schule, Karl Rahner und seine Schule sowie die Nouvelle Théologie.

[13] Wichtige Figuren dieser Schule waren J.S. Drey (1777-1854) und J. A. Möhler (1796-1838). Genannt werden ferner der Regensburger Bischof J. M. Sailer (1751-1832) und der englische Kardinal J.H. Newman.

[14] „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der Menschheit.“ (Lumen Gentium, 1)

[15] Johannes Paul II., Enzyklika Ecclesia de Eucharistia vom 17. April 2003.

[16] G. Müller erklärt noch 2017: „Nur die Römische Kirche ist Mutter und Lehrerin aller Kirchen … Es ist nicht gesagt, um unangemessen Ansprüche zu erheben, sondern den anderen Kirchen ein Vorbild zu sein.“ (Was ist katholisch? Freiburg 2017, 303).

[17] Die Kirche, so de Lubac, macht die Eucharistie und umgekehrt. Er nennt die Kirche eine keusche, fruchtbare, allgemeine, ehrwürdige, geduldige, achtsame, liebende, brennende, weise, schmerzensreiche, starke und unerschrockene, von uns allen zu preisende Mutter; sie flößt uns lauteren Glauben ein. Sie ist lebendige Arche, Pforte des Ostens, fleckenloser Spiegel für das Wirken Gottes. Ihr Andenken ist süßer als Honig, und wer sie hört, wird niemals zuschanden. „O du Große Mutter! Heilige Kirche, wahrhaftige Eva, einzig wahre Mutter der Lebendigen“ (Betrachtung über die Kirche, S. 135, 209, 238, 248-250).

[18] Ähnliches gilt von Kard. G. Müller (Der Papst. Sendung und Auftrag, Freiburg 2017), der die ersten 110 Seiten über das Papsttum seiner eigenen Biographie widmet. Charakteristisch für diese Erinnerungsarbeit scheint mir folgende Passage: „Im Empfangsraum des Pfarrhauses sahen wir, die angehenden Ministranten, ein Ehrfurcht gebietendes Bild von Pius XII, der auf einem Betstuhl kniet und seine Hände zum Gebet gefaltet hat. Daraus entnahm ich die Einsicht: Auch der Papst bekennt seine Kleinheit vor dem ewigen und allmächtigen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Im Gebet fleht er um Gottes Gnade und Beistand.“ (41)

[19] Dabei ist nicht zu erkennen, worin sich sein Gegenvorschlag („Rottenburger Modell“ genannt) wirklich unterscheidet. Ich erkenne den Unterschied nur darin, dass der Bischof seine eventuelle Ablehnung der Vorschläge aus dem Kirchenvolk nicht begründen muss. Diesen Gedanken im Rahmen einer Debatte um Synodalität vorzubringen, ist geradezu absurd.

[20] Kriminalgeschichte des Christentums, 10 Bde. Reinbeck 1986-2014, mit einem Sach- und Personenregister von Hubert Mania.