Es ist ein außergewöhnliches Buch. Außergewöhnlich sind sein Rigorismus und intellektueller Scharfsinn, außergewöhnlich die Präzision seiner historischen Recherchen, außergewöhnlich auch seine sprachliche Virtuosität, obwohl sich manche Begriffe überdrehen und zu selbstgefälligen Kunstprodukten stilisieren. Wir bewegen uns im Raum der römisch-katholischen Kirche Deutschlands, deren beispiellose Krise der Erklärungen bedarf. Lüdeckes These über die Unaufrichtigkeit bischöflicher Erneuerungsversprechen ist so überzeugend wie für die Bischöfe vernichtend: Die „Laien“ (Frauen wie Männer), die beharrlich um Erneuerung kämpfen und unermüdlich hoffen, wurden noch nie ernst genommen; das sind immerhin 99,95% dieser Glaubensgemeinschaft. Wieso hat die Anmaßung der restlichen 0,05% Kleriker, genauer: der residierenden 27 Bischöfe noch immer solchen Blockadeerfolg?
Lüdecke führt die Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Hauptakteure dieses unaufrichtigen Spiels vor. Seit 70 Jahren simulieren die Hierarchen eine aktive Beteiligung des Kirchenvolkes am Kirchengeschehen, dies mit dem Ziel, es bei der Stange zu halten und extremen Frustphasen ihren explosiven Charakter zu nehmen. Er demonstriert dies an der Gründung des ZdK (1953), an der Würzburger Synode (1972-75), dem „Gesprächsprozess“ (2011-2015) und dem aktuellen „Synodalen Weg“ (ab 2020). Ein weiteres Kapitel rundet die vielschichtige Verhältnisbestimmung ab und zum Schluss wird die Frage gestellt, ob und warum dieses Spiel so weitergehen kann.
Trotz aller Brillanz wird Lüdeckes Endurteil der komplexen Gesamtsituation nur teilweise gerecht. Zwar kann man den einzelnen Kapiteln und den Folgerungen unbedingt zustimmen, dennoch bleibt die letzte Frage offen, warum denn so viele Frauen und Männer trotz ihrer Enttäuschung mit der Hierarchie kooperieren, in dieser Institution verbleiben und gute Miene zum bösen Spiel machen. Als Schlussantwort reicht Lüdeckes Psychiaterwitz nicht aus. Er berichtet von einem Mann, der seinen Kollegen zwar für verrückt hält, ohne dessen irreale Versprechen aber nicht leben will. Wie also kann es sein, dass sich das ZdK in regelmäßigen Abständen durch unaufrichtige Argumentationen in unangemessene Grenzen verweisen lässt, ohne das Handtuch zu werfen? Eine Analyse der vom Autor nachgezeichneten Rechts- und Machtverhältnisse ist wichtig, doch ein weiterführender Aspekt verdient noch Erwähnung.
1. Die vergessene Vorgeschichte
Schließlich gibt es da eine Vorgeschichte. Wir wissen, dass schon die antrainierte Selbstunterwerfung in der Zeit des Kulturkampfs (1871-1878) bleibende Konturen schuf. Auf verschiedensten kulturellen und politischen Sektoren wurde seit 1803 eine Trennung von Kirche und Staat vorangetrieben. Sie war besonders schmerzlich für den Katholizismus und mit der Gründung des Deutschen Reichs (1870) wurde dieser zur politischen Minderheit. Bismarck, Reichskanzler von 1871-1890, tat ein Übriges. Zu nennen sind der berüchtigte Kanzelparagraf, das Jesuitenverbot und die Einführung der Zivilehe, noch schärfere Bestimmungen im Bundesland Preußen, daraus folgend das Exil eines Bischofs und Gefängnisstrafen für zwei weitere Bischöfe, Prozesse gegen zahllose Priester sowie viele vakante Pfarrstellen. All dies erfuhr die katholische Bevölkerung als Bedrohung einer gemeinsamen Glaubenswelt.
Zudem wurden schon seit 1848 Deutsche Katholikentage abgehalten. Auf ihnen traten die „Laien“ mit hohem Selbstbewusstsein auf und ihre Unterordnung unter die Hierarchie wurde in einer monarchischen Gesellschaftordnung noch nicht als Problem thematisiert. Später erstarkte die katholische Deutsche Zentrumspartei unter der Führung von Ludwig Windhorst (1812-1891) zu einer selbstbewussten Kraft; die katholischen „Laien“ fanden ihr eigenes politisches Spielfeld. So hielt sich trotz der konfliktgeladenen Beschlüsse des 1.Vatikanischen Konzils eine innerkatholische Spaltungsbewegung (etwa zu den „Altkatholiken“) in Grenzen. Im Gegenteil, angesichts des von Preußen ausgehenden Drucks erfuhr man das Papsttum als eine geistige Schutzmacht, unter der sich das katholische Volk versammeln konnte. Das hat bis heute seine Nachwirkungen.
Diese Erfahrung des Zusammenhalts wirkt noch im beginnenden 20. Jahrhundert. Zunächst lautete die Kernfrage: Soll der deutsche Katholizismus nach wie vor den streng antimodernistischen Leitvorstellungen Roms folgen oder kann sich eine katholische Kultur entwickeln, die sich aktiv in den kulturellen Sprachraum Deutschlands integriert? Doch auch der jetzt aufblühende „Kulturkatholizismus“, der sich unter Karl Muth (1867-1944) in der Zeitschrift Hochland (gegr. 1903) ein weithin anerkanntes Organ schuf, sah keinen Grund, die eigenständigen Rechte der „Laien“ gegenüber den Bischöfen zu thematisieren. Im Gegenteil, je mehr später das moralische und politische Desaster des Faschismus offenkundig wurde, umso mehr übernahmen Hierarchie und Papsttum ‑ in den Augen der katholischen Öffentlichkeit – die Rolle des moralischen Felsens, der diese apokalyptische Zeit unbeschädigt überstand. Der autoritäre Lehr- und Regierungsstil Pius‘ XII. (1939-1958) wurde akzeptiert.
Vor diesem Hintergrund gestaltete sich auch nach 1945 das Verhältnis zwischen Hierarchie und Laientum nach dem Modell gottgewollter Unterordnung. Das moralische Gewicht der Bischöfe war viel zu stark, als dass sich ein Potential von Kritik und Widerstand hätte entwickeln können. Auch die einflussreichen theologischen Gestalten der ersten Nachkriegszeit hinterließen keine Spur von grundsätzlicher Kritik. Die Theologien etwa eines Romano Guardini (1885-1968), eines Hugo Rahner (1900-1968), der neu aufblühenden liturgischen Bewegung und der katholischen Jugendkultur waren durchzogen von einem romantischen Geist der Natürlichkeit, einer ritterlichen Weltordnung, der Rückkehr zu altkirchlichen Quellen und der Orientierung an großen Gestalten. Papsttum und Hierarchie blieben von nostalgischen Emotionen umkleidet; repräsentierten das alte Ideal eines christlich wohlgeordneten Europas.
Selbst Karl Rahner (1904-1984) wird später zu Unrecht zum „Kirchenrebellen“ hochstilisiert, denn auch seine Kirchenkritik ließ die dogmatisch theologische Einordnung von Papsttum, päpstlichem Primat sowie bischöflicher Lehr- und Amtsautorität unangetastet. Seine Kritik blieb im Unverbindlichen stecken. Das zeigt sich paradigmatisch an der großen Empörung, mit der er 1970 auf die Unfehlbarkeitskritik von Hans Küng reagierte. Er wollte auch nicht im Ansatz verstehen, worum es dem ungeliebten Newcomer ging. Damit hat er die Erneuerungsbewegungen um Jahrzehnte zurückgeworfen. Auch J.-B. Metz (1928-2019) wich den dogmatisch festgelegten Strukturfragen aus, sodass seine an sich fruchtbaren Impulse zur christlichen Hoffnung für viele zum Alibi gerieten; bis heute fühlen sie sich über die bürgerlich-kircheninternen Beschwerden erhaben.
So lebte der deutsche Katholizismus ‑ nach den ersten Irritationen über die Beschlüsse des 1. Vaticanum und bis weit in die vergangenen Jahrzehnte hinein ‑ in einer Atmosphäre der selbstverständlichen Zuwendung zur Hierarchie und eines vorbehaltlosen Vertrauens in die vom Geist Christi geleitete Kirche. Dieser Katholizismus blieb durch und durch antiprotestantisch, also hierarchiefreundlich geprägt. Über aller Kritik an den absoluten Lehr-, Leitungs- und Rechtsansprüchen lag immer ein Schleier der Unentschlossenheit; man wollte die Grenzen zu einem protestantischen Glaubens- und einem säkularen Politikverständnis nicht verwischen. Noch heute stehen die offiziellen Gespräche mit den Kirchen der Reformation unter diesem Bann.
Zugegeben, erste Risse erhielt dieses geradezu kindliche Hierarchievertrauen durch das 2. Vatikanische Konzil. Das „Volk Gottes“ wurde zum theologisch geeichten Begriff, die Schrift gewann an Gewicht, evangelisches Gedankengut wurde ernster genommen und der kirchlichen Nabelschau wurde die Weltverantwortung gegenübergestellt. Die Zukunft sollte ökumenisch und die Bedeutung der Nichtordinierten und Nichtbeachteten, insbesondere der Armen und Frauen gestärkt werden. Zwar hat Lüdecke für die Relativierung dieser Impulse gute Gründe und sieht, dass dieses Konzil auch den Keim zu späteren Polarisierungen in sich trug; es entfaltete also eine ambivalente Wirkung. Doch insgesamt übersieht er die Langzeitwirkung einer neuen, im Untergrund wirkenden Bodendynamik. Es baute sich, wie er selbst sagt, ein „beachtlicher Reformerwartungsdruck“ auf, dem die späteren kircheninternen Entwicklungen nicht mehr folgten.
So blieben in den Folgejahren die Rezeption und konkrete Umsetzung dieser Grundintuitionen merkwürdig dünn. Verfolgen kann man diese Ausdünnung etwa bei den offiziellen ökumenischen Gesprächen, die sich in merkwürdig ungreifbare, seifenblasenartige Ergebnisse verflüchtigten, dies bis hin zur Konsenserklärung zur Rechtfertigungsfrage zwischen Vatikan und Lutherischem Weltbund (1999), die folgenlos blieb. Niemand kann sein Ergebnis mehr griffig darstellen.
Zu gleicher Zeit bereitete das römische „Lehramt“ munter die Rückkehr zu einer hierarchiebetonten, autoritären und vorkonziliaren Glaubenslehre vor, wozu Joseph Ratzinger, der Professor, Glaubenspräfekt und Papst unverzichtbare Dienste leistete. Unbekümmert um das neu entdeckte Gottesvolk, die neue Einheit im Gemeinsamen Priestertum, die neuentdeckte Weltsolidarität, eine neue Spiritualität des Dienens und das neue Gewicht der Ausgeschlossenen und Entrechteten (die Frauenfrage eingeschlossen) wurde diese Rückkehr zum früheren Absolutismus schlicht wieder von einer traditionellen, in amtlicher Unfehlbarkeit kulminierenden Dogmatik geleitet, galt es doch immer noch als das zeitlos gepriesene Fundament unbeugsamer Wahrheit. Sie wurde zur wirksamen Orientierung eines regressiven Regimes, das die hoffnungsvollen Öffnungen wieder wirksam verschloss.
2. Die verdrängte Wegscheide
Deshalb wundert mich sehr, dass Lüdecke – ähnlich wie Hubert Wolf in seinem Unfehlbarkeitsbuch ‑ eine unübersehbare Wegmarke der nachkonziliaren Entwicklungen einfach übergeht. Zwar reflektiert er mit wachem Bewusstsein die emotionalen Wellenschläge, die auf die Enzyklika Humanae Vitae (1968) folgten. Doch zu ihnen gehörte und gehört auch der Konflikt um Hans Küngs Unfehlbarkeitskritik. Auch sie wurde durch diese Enzyklika ausgelöst, die die Lebensgestaltung von Eheleuten einschneidend regulierte. Warum ist man dieser dogmatisch hochsensiblen Frage ausgewichen? Natürlich verwundert es nicht, dass diese Thematik von einem Schweizer Theologen aufgerollt wurde, dem die Eingewöhnung in eine papstfreundlich ultramontane Ergebenheitskultur eben nicht anerzogen war. Man hätte aber von ihm lernen können. Ich behaupte: Eine schärfere Berücksichtigung der dort gestellten Gretchenfrage zum päpstlichen Selbstverständnis (Primat und Unfehlbarkeitskompetenz) hätte die wachsende Unschärfe und Verflachung späterer Reformdiskussionen verhindert. Mit ihr sind wir, wie Lüdecke beschreibt, bis heute konfrontiert.
Wer in dieser Diskussion Fortschritte erreichen will, kann es also nicht bei der eigenen Befindlichkeit und moralischen Empörung belassen; er muss sich auch um die kirchenoffiziellen Blockaden kümmern. Diesen geht es letztlich ja nicht um die Diskriminierung von Frauen, von Homosexuellen oder um die Zweiständeordnung, so wichtig diese Fragen sind. Es geht nicht einmal um das diffuse Festhalten von archaischen Machtstrukturen oder die nostalgische Pflege einer – im buchstäblichen Wortsinn – über-irdischen Hierarchie, auch nicht um die Rechthaberei einiger Kirchenführer oder eine degenerierte Kirchensprache, die der konkreten Wirklichkeit ausweicht. Zu streiten ist endlich wieder um den dogmatisch ausformulierten Grund dafür, dass alle diese Hürden trotz jahrzehntelanger Diskussion wie festgemauert in der Erde stehen.
Konkret geht es um eine merkwürdige doppelte Ambivalenz. Zwar kämpfen engagierte Reformwillige und erlesene Laienvertreter darum, dass sie endlich auf gleicher Augenhöhe respektiert und ihre Beschwerden ernstgenommen werden, doch wiederholt lassen sie sich auf Experimente ein, deren Ergebnisse zum Scheitern verurteilt sind; vor dem Rütteln an den letzten Fundamenten scheuen sie zurück. Umgekehrt lassen sich die Bischöfe mit wohlwollender Miene auf Gespräche, Vermittlungen und Solidaritätsbekundungen ein, ohne aber die Eckpunkte zu nennen, die aus unfehlbar dogmatischen Gründen für sie und ihre hierarchische Identität unverrückbar sind. Sie wagen es nicht mehr, die Eckpunkte ihrer Überzeugungen anzusprechen. Diese doppelte Inkonsequenz, die aufeinander trifft, sorgt schließlich für unsägliche argumentative Verrenkungen sowie zur Destruktion einer sachbezogenen Sprache, die die Dinge beim Namen nennen könnte. Der Grund dieser katastrophalen Entwicklung liegt beiderseits in der grandiosen Verdrängung dieses Wahrheitsknotens, der sich inzwischen zum destruktiven Familiengeheimnis der Kirche gemausert hat.
Vielleicht muss auch die Unfehlbarkeitsdebatte ‑ über die aktuellen hermeneutischen Überlegungen hinaus ‑ noch um eine Stufe weitergetrieben werden. Denn offensichtlich verdrängen die harten „Infallibilisten“ und die flexiblen Relativierer in gleicher Weise die Frage, was es eigentlich mit göttlicher Wahrheit und göttlichem Handeln auf sich hat. Offensichtlich hat Karl Rahners „transzendentales“ Denken für Generationen eine gefährliche Fährte gelegt. Er fragt im Sinne Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit unserer Wahrheitserkenntnis und postuliert damit, eine „anthropologische Wende“. Dieser stellt er sich aber nur inkonsequent, denn er konstatiert – ohne jede geschichtliche Vermittlung ‑ eine „Selbstoffenbarung“ Gottes, die unter anthropologischen Bedingungen schlicht unmöglich ist. Denn auch der christliche Gott ist und bleibt in unzugänglichem Licht, kann sich also nicht in unfehlbar wahren bzw. untrüglichen Aussagen inkarnieren. „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“ (Ex. 33, 20). Viele Gläubige aus katholischem Hause meinen im Grund ihres Herzen eben doch, wenigstens unsere Apostelnachfolger könnten diese Wahrheit ganz durchschauen. Sehr eindrücklich schildert Lüdecke in einem Höhepunkt seines Buchs (176f.), wie die Bischöfe uns dieses Bewusstsein mit dem „liturgietextilen Zwiebelschalenprinzip“ ihrer gottesdienstlichen Kleidung – von der Albe bis zum Krummstab – einbrennen. Wer sich unkritisch dieser Symbolik überlässt, hat schon verloren.
Dieser diffuse, antiprotestantisch verstärkte Respekt vor geheiligten Amtsträgern sowie eine irrationale Hoffnungsrhetorik („jetzt endlich wird der Heilige Geist wirken“) aktivieren endlos ein Hoffnungspotential darauf, gerade dieses Mal nicht enttäuscht zu werden. So weiß man jetzt schon, dass sich die Bischöfe beim „Synodalen Weg“ eine knallharte Sperrminorität gesichert haben. Man hofft aber, dass ihre Herzen gerade jetzt angerührt und erweicht werden. Ich möchte mich nicht über diese Vertrauensleistung erheben, doch ebenso wenig kann man sich der hellsichtigen reformatorischen Grundintuition verschließen, die schon damals im hierarchischen Selbstanspruch eine geradezu blasphemische Selbstüberhöhung erkannt hat.
Wo soll eine wirkliche Reform also ansetzen? Sie hat sich endlich der Unfehlbarkeits- und Primatsfrage zu stellen; ohne ihre Auflösung kommen wir nicht weiter. Auch eine weitere Ursünde des westlichen Katholizismus ist zu korrigieren, das ist die Verwerfung der Konstanzer Beschlüsse, die den Papst dem Konzil unterstellen (Haec Sancta, 1415). Die christliche Wahrheit zeigt sich geschichtlich, d.h. korrekturoffen und als gemeinsame Erfahrung, d.h. hierarchiekritisch. Solange sich diese Erkenntnis nicht durchsetzt, kommen unsere Reformerwartungen nicht voran.
Die Folgerungen lauten also: Revision und Pluralisierung. Seit der Verurteilung von Hans Küng, die im Januar 1980 unter römischem Diktat alle residierenden deutschen Bischöfe schriftlich bestätigten, ist für mich die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche nur noch dadurch möglich, dass mein Protest gegen dieses Verhalten dokumentiert ist, ich ihn bis heute aufrecht erhalte und die offizielle Lehrerlaubnis (missio canonica) nie erhalten habe. Da es kein richtiges Leben im falschen gibt, scheint mir dieses Nein zu dogmatisch-hierarchischer Selbstherrlichkeit unverzichtbar. Dazu gehört die Rehabilitierung aller Männer und Frauen, die seit 1965 zu Unrecht mit entsprechenden Sanktionen belegt wurden.
Auch die Folgerungen, die auf dem Synodalen Weg zu ziehen sind, sind klar. Unverzichtbar ist gerade jetzt die schonungslose Erkundung der offiziellen dogmatischen Grundlagen, von denen sich Rom und die Hierarchie leiten lassen. Sich dieser Erkenntnis noch immer zu verschließen, kommt einer Selbstaufgabe gleich. Letztlich sind sie es, die über unsere spirituellen Selbstbesinnungen, biografischen Zeugnisse, hoffenden Beschwichtigungen, moralischen Erwägungen und juristischen Verortungen befinden. Das offizielle Lehrsystem ist im Lichte der ursprünglichen Botschaft und des gegenwärtigen Bewusstseins von Wahrheit und Menschlichkeit endlich neu aufzuarbeiten. Zwar sind moralische und menschenrechtlich orientierte Appelle unverzichtbar, doch die innerkirchlich orientierte Auseinandersetzung können sie nicht ersetzen.
3. Ob der Synodale Weg gelingt?
Die Frage ist ernst. Prof. Agnes Wuckelt sieht im Synodalen Weg vielleicht die letzte Chance, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, und Anna-Sophie Kleine (beide Teilnehmerinnen am Synodalen Weg) warnt vor den Folgen, falls keine Reformen beschlossen und umgesetzt werden. Angesichts der im Anhang formulierten Bedingungen für eine tragfähige Erneuerung stehen die Erfolgschancen schlecht. Das jetzt noch zu leistende Minimum ist eine kritische Begleitung des Unternehmens, dessen strukturelle und inhaltliche Mängel in der inhaltlichen Gestaltung leicht zu erkennen sind.
Kürzlich hat der ND-Arbeitskreis „Erneuerung der Kirche“ die Forderung geäußert, „das Beschlussverfahren zu demokratisieren, sich mit den Reformforderungen der überwältigenden Mehrheit der Gläubigen zu solidarisieren und alles dafür zu tun, dass sie in Rom Gehör finden und hierzulande umgesetzt werden können.“
Zu Recht fordern die Reformwilligen, die Bischöfe sollten auf die Erwartungen, Sehnsüchte und Argumente der vorandrängenden Basis eingehen. Doch die Blockaden sind verhärtet. So fühlt sich Kardinal Woelki laut Pressemeldung (18.08.2021) noch immer von vielen Mitstreitenden unterstützt und von Rom sind nur widersprüchliche Signale zu hören. Vielleicht tragen auch die Voranstürmenden zu dieser Erstarrung bei. Deshalb schlage ich vor, dass sich die Reformwilligen unter uns einmal ernsthaft auch um die Argumente der Konservativen kümmern. Wenn sich nämlich die Bischöfe mit der Welt der Erneuerungsbewegten beschäftigen sollen, dann bitte auch die Erneuerungsbewegten mit der dogmatisiert bischöflichen Welt. In gewissem Sinn sind auch sie Opfer ihrer Indoktrinationen.
Auf Dialog und frischen Gesprächsschwung kann nur hoffen, wer auch auf die offiziell dogmatischen Argumente eingeht und (wie Hans Küng es vorbildlich tat) den Bischöfen und Blockadestrategen ihre Widersprüche auf ihrer Denkebene vorführt, dies mit offenem Visier und in ungeschminkter Konfrontation. Sollte dies nicht gelingen, die Diskussion also noch weiter im Morast der Unehrlichkeit und Gesprächslosigkeit versinken, dann ist noch häufiger damit zu rechnen, dass die Enttäuschten guten Gewissens aus dem Satz Adornos ihre Konsequenzen ziehen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, also auch keinen Glauben in einer erstarrten Kirche. Norbert Lüdecke ist dafür zu danken, dass er in seinem jüngsten Buch die Augen dafür öffnet.
4.Sanierung der Fundamente (Anhang)
Was ist zu tun? Das Gewicht der fundamentalen Fehlentscheidungen innerhalb der römisch katholischen Kirche hat eine enorme regulative und lebenspraktische, auch destruktive Bedeutung; sie berührt die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündigung, ihres Feierns und ihres Handelns. Eine Sanierung der Fundamente ist überfällig, denn es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das verlangt nicht nur den Einsatz von Herzblut, sondern auch intellektuelle Kärrnerarbeit, also die Korrektur von steuernden Fundamentalsätzen, die Revision von amtlich gestützten Lehrbehauptungen, die Neujustierung inhaltlicher Kernthemen sowie eine umfassende ökumenische Kooperation.
4.1 Revision von steuernden Fundamentalsätzen
Deshalb ist ein schrittweiser, aber nachhaltiger Ausweg aus der aktuellen Täuschung und Unaufrichtigkeit nur möglich, wenn zunächst die steuernden Fundamentalsätze des kirchlichen Lehrsystems revidiert werden; sie erklären, worin im römisch-katholischen Sinne die Glaubenswahrheit und Glaubensgewissheit besteht, sind in diesem Sinn also metadogmatisch. Dies verlangt eine mühsam abstrakte Reflexion, die allerdings zu recht konkreten Ergebnissen führt. Dazu gehören …
(a) der vom 1. Vatikanum definierte absolute Primatsanspruch des Papstes sowie der analog konzipierte Machtanspruch der bischöflichen Leitungsämter, darin eingeschlossen die Kumulation von legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt der Leitungsämter des Papstes,
(b) der vom 1. Vatikanum definierte päpstliche Unfehlbarkeitsanspruch sowie der analog konzipierte verbindliche Lehranspruch der Konzilien sowie der Gesamtheit der Bischöfe, darin eingeschlossen das sanktionierte Modell eines unfehlbar gültigen, d.h. unveränderlichen und unwiderruflichen Wahrheitsanspruchs auf den genannten Ebenen,
(c) der wesenhafte, sakramental begründete und unwiderrufliche Vorrang ordinierter Personen gegenüber den „Laien“, der die Kirche zur absoluten und unwiderruflichen Zweiständegemeinschaft macht.
Die Revision dieser Fundamentalaussagen hat gegenüber weiteren Einzelfragen unbedingten Vorrang, andernfalls würden alle anderen Korrekturen im Raum dogmatischer Geltung neue und unauflösbare Widersprüche produzieren. Erst wenn die aktuellen Fundamentalbestimmungen ihre absolute Geltung verloren haben, entfallen die Grundblockaden für eine Erneuerung anderer Lehraussagen und der kirchlichen Struktur. Diese Phase ist durch die Rehabilitierung entsprechend verurteilter Fundamentalsätze bzw. Personen zu beglaubigen.
4.2 Revision von amtlich gestützten Lehrbehauptungen
Im Anschluss an diesen Prozess sind alle lehramtlich (genauer: dogmatisch) gestützten Lehrbehauptungen zu revidieren, sofern sie klar dem Geist der ursprünglichen Botschaft sowie einer zeitgemäßen Verkündigung widersprechen und die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft beschädigen. Dazu gehören nach gegenwärtigem Bewusstseinsstand …
(a) der oft verschwiegene, aber unbedingte und ausschließliche Heils-, Wahrheits- und Geltungsanspruch des christlichen Glaubens bzw. der (römisch)-katholischen Kirche (extra ecclesiam nulla salus),
(b) die prinzipielle Herabstufung nichtkatholischer Kirchen zu bloßen „kirchlichen Gemeinschaften“. In erster Linie gilt das für alle Kirchen, die sich auf die Schrift berufen, sich zur Nachfolge Jesu als dem grundlegenden Maßstab ihrer Verkündigung und ihres Handelns bekennen sowie die Bedeutung der grundlegenden Sakramente (Taufe, Abendmahl, Vergebung) und kirchlicher Ämter akzeptieren,
(c) die sakramental konzipierte Begründung kirchlicher Leitungsämter durch eine unmittelbare göttliche Berufung bzw. einen historischen Stifterwillen Jesu,
(d) die monopolistisch monokratische Konzeption des „authentischen Lehramts“, das eine aktive Beteiligung anderer Gruppen (insbesondere der Theologie) sowie anderer Charismen (prophetische Rede, Weisheitsrede) ausschließt und sich jeder Kontrolle entzieht,
(e) das Verbot der Frauenordination,
(f) eine vom Kirchenrecht dominierte und vormodern konzipierte Normierung von Sexualität, Ehe und Familie einschließlich der aktuell gültigen Rechtsregelungen.
Auch dieser Prozess ist durch die Rehabilitierung entsprechender Lehrbehauptungen bzw. Personen zu bekräftigen.
4.3 Justierung inhaltlicher Kernthemen
Im Zuge der Revision von (1) und (2) liegen die neue Justierung und Verortung inhaltlicher Kernthemen nahe. Dazu gehören …
(a) eine glaubwürdige Konsonanz von überzeugender Kirchenwirklichkeit und christlicher Botschaft. Letztlich richtet sie sich nicht an die Glaubensgemeinschaft, sondern an Menschheit und Welt,
(b) eine plausible Verhältnisbestimmung von Schrift, Tradition und zeitgemäßer Glaubensbotschaft, die die absolute Geltung des aktuellen Lehramts auf Schrift und Aktualität hin angemessen relativiert. Die Verabsolutierung kirchlich genannter „Traditionen“ stellt das Haupthindernis für ein zeitgemäßes Weiterwirken der Jesuserinnerung dar.
(c) Verständigungen über kirchliche Macht sowie den kirchlichen Umgang mit benachteiligten und diskriminierten Menschen und Gruppierungen. Die autoritäre, von Macht geprägte und alle Denominationen übergreifende Grundform christlicher Verkündigung wird zu wenig in den Blick genommen.
(d) ein neues Verständnis von Spiritualität und Sakralität. Die inneren schriftfremden Deformationen der Sakralität, die etwa das traditionelle Priestertum und die Gestalt der „Weiheämter“ prägen, haben noch keine angemessene Aufmerksamkeit gefunden.
(e) das Verhältnis von Kirche und säkularisierter Gesellschaft. Die Kirchen müssen lernen, das vielfältige Phänomen der Säkularisierung nicht als Entchristlichung, sondern primär als Entfremdung von Kirchen zu begreifen, die sich durch eigene Schuld ent-weltlicht, wenn nicht gar ent-leibt haben.
4.4 Umfassende ökumenische Kooperation
Offensichtlich haben bislang auch die reformatorischen Kirchen keine zeitgemäße angemessene Dynamik zur Entwicklung einer zeitgemäßen Glaubenspraxis entwickelt. Deshalb reicht es nicht, das ökumenische Gespräch als interkonfessionelle Unternehmung mit dem Ziel gegenseitiger Annäherung zu führen. Das Projekt einer neuen Glaubenswirklichkeit lässt sich nur ökumenisch, wenn nicht gar interreligiös entwickeln. Deshalb müssen wenigstens die Kirchen der Reformation auch in die innerkatholischen Reformgespräche einbezogen werden, denn nur gemeinsam kann es gelingen, einen wirksamen Erneuerungsprozess in Gang zu setzen, der das Weltgespräch im Sinne der Botschaft Jesu beeinflussen kann.