1900 Jahre wie ein Tag – Eindrücke zu Kardinal Müllers katholischen Projektionen

Müllers Buch Was ist katholisch? müsste für alle Reformwilligen ein Weckruf sein. Es sticht nicht nur durch die Arroganz seiner Theorien heraus, vielmehr ist sein autoritäres Kirchenbild auch seit 150 Jahren bei den Kircheneliten zu Hause. Die Impulse des 2. Vatikanischen Konzils (1662-65) haben sich nur wie ein abwaschbarer Firnis darübergelegt.

Unseren Herren Kardinälen mangelt es nicht an Selbstbewusstsein. Schon Kardinal Kasper eröffnete sein Buch zur Katholischen Kirche (2011) mit einer Autobiographie von 50 Seiten.[1] Kardinal Müllers Papstbuch übertraf ihn mit 90 Seiten; locker könnte er der nächste Papst sein.[2] In seinem jüngsten Buch präsentiert er ein „Selbstexperiment“ (176-199); es kultminiert in Gerhard, dem Musterdozenten für Kirchenlehrer. Wie ist das möglich?[3]

1. Geschichtsferne Egozentrik

Müller stellt sich in der Tat vor, er lebte 1900 Jahre früher, wäre also im Jahr 47 geboren und hätte um 96 den ersten Klemensbrief nach Rom überbracht. Ferner ist er sich sicher: Der Märtyrer und Philosoph Justinus (ca. 100-165) hätte „mein akademischer Schüler sein können, als er …den einen Altar als Symbol der Einheit … beschreibt“ (187f). Wie glücklich mag Justin über diesen späten Lorbeerkranz sein! Mit welchem Recht aber vergleicht Müller jene spätantike und unsere spätmoderne Epoche, ohne auch nur einen Gedanken über die geistesgeschichtlichen Wandlungen zu verschwenden, die keinen Stein auf dem anderen ließen? Mehr noch, dem um 19 Jahrhunderte gealterten Müller würde sich zeigen: Die Eucharistie war schon „nach dem gleichen Schema aufgebaut wie heute in allen katholischen Riten“; im Übrigen glaubten wir heute vom „Realgedächtnis des Opfers Christi und der Realpräsenz nichts anderes …, als was in der Heiligen Schrift bezeugt ist.“ Dieses Missverständnis kann nur Autoren passieren, die die exegetische Diskussion von 150 Jahren unbeeindruckt an sich vorbeiziehen ließen.

Als Krönung seiner skurrilen Phantasie stellt sich Müller vor, im Jahr 78 hätte ihm Kardinal Volk (1903-1988) als leibhaftiger Apostel die Hände auferlegt (182). Man mag sich über so viel klerikale Phantasie amüsieren, doch bestürzend finde ich, dass das ganze Buch von einer geschichtlichen Distanzlosigkeit durchzogen ist, die Ihresgleichen sucht. Es reduziert das „Katholische“ auf ein System von dogmatisch definierten Sätzen, die seit 2000 Jahren dieselben geblieben sind. Selbst die biblischen Schriften werden auf diesen Steinbruch reduziert. Müller vermittelt auch nicht den Hauch einer Ahnung davon, dass der christliche Glaube nicht mit dogmatischen Festlegungen, sondern mit Sprachlosigkeit, dann textend mit Erinnerungen und Erzählungen begann [vgl. 289].

Doch diese Distanzlosigkeit folgt zwingend aus Müllers selbstherrlichem, von Kurzschlüssen durchzogenem Kirchenbild. „Wo Jesus ist, da ist die katholische Kirche“, steht schon zu Beginn des Buches (9) und später heißt es ohne jede Differenzierung, die Kirche sei „Gottes Stiftung“ (101), „leibhaft-reale Präsenz der Gnade Christi in der Welt“ (239). Wer gerettet sein will, müsse am katholischen Glauben festhalten (167). Die Kirche unterstehe nicht dem „weltlichen Gesetz der politischen Macht“. Sie habe „keine anderen Interessen als das Heil … bei Gott“ (268). Kein irdischer Machtwille bestimme sie (245), sie bilde ja „keinen Staat im Staat“. In gequälter Rabulistik wird dann erklärt, der heutige Vatikan sei auch „kein Kirchenstaat im historischen Sinn“, er habe nur die Absicht, „die Unabhängigkeit des Papstes gegenüber den Staaten zu sichern“ (202 Anm. 137). Für wie naiv hält der Kardinal seine Konsumenten? Enthält Roms Wille zur Unabhängigkeit keine Faktoren der Macht, die Rom vor und nach 1870 im Übermaß ausgespielt hat?

Wer dieses unkritische, geschichtsferne und narzisstische Kirchenbild vertritt, muss die großen Störfaktoren einer jeden Geschichte verdrängen: Geschichtliche Entwicklungen, Horizontveränderungen, Paradigmenwechsel, Kontext- oder Ideologiekritik; nur ein enggeführter Verstand kann sich im 21. Jahrhundert noch über die verschlungenen Wege wundern. In der Gegenwart engagierte Menschen können Müllers Ausführungen nicht mehr verstehen, geschweige denn akzeptieren. Sie lesen sich wie das komplexe Kunstprodukt in einer Sprache, die Wünsche und Absichten, Hoffnungen und naive Phantasien gleichermaßen als nackte Wirklichkeit präsentiert, deshalb auch keine innere Wandlung, keine kulturelle Metamorphosen oder schöpferische Dynamik zulässt. Müllers autoritär ausgedorrte Sprache gibt vor, sie hebe sich ins Überzeitliche. In Wirklichkeit bestätigt sie sich selbst und dreht sich schwindelerregend durch produzierte Zirkel. Vom Dialog mit der Wirklichkeit ist keine Rede mehr. Müllers Kirche hat sich seit 1900 Jahren nicht geändert. Weder vor 1900 Jahren noch heute ist sie so, wie sie sich Müller vorstellt.

2. Selbstgerechte Ökumene

Aus diesen Gründen wirkt Müllers Buch zunächst auf mich langweilig. In den ersten drei Kapiteln zur Identität des Katholischen enthält es keinen Satz, den ich nicht schon in meinen Studienjahren (kurz vor dem Konzil) gehört hätte, als ich noch den Grundriss der Katholischen Dogmatik von Ludwig Ott (1952) auswendig lernte und der Meinung war, im Grunde seien alle theologischen Probleme für immer gelöst, nur ein paar mariologische Probleme seien noch offen. Zum Katholischen gehören für Müller immer noch der Gehorsam (insbesondere gegenüber dem Papst), die Beichte und die Messe, die Orden und ihre Gelübde, Reliquien und Fasten (211). Aus seiner Perspektive kann das nicht anders sein, denn für ihn kann sich am Katholischen nie etwas geändert haben. Es ist für ihn der Inbegriff von Unveränderlichkeit, statischer Identität und endloser Rechthaberei. Es ist festgemauert wie Schillers Glockenmantel, wie ein erratischer Block für alle Zeiten eingesenkt in die Weltgeschichte, für 1,3 Milliarden Menschen (25) zum Felsen „petrifiziert“ (256). Müllers Behauptungen und Begründungen sind schon in der vorkonziliaren, patristisch aufgehübschten Neuscholastik zu finden.

Eine Ausnahme bildet Kapitel 4 über die Ökumene (241-281). Zunächst argumentiert es differenziert. Viele Anliegen der Reformation werden positiv dargestellt und als verständliche Reaktion auf damalige kirchliche Missstände gewürdigt. Der Autor arbeitet die positiven Intentionen der evangelisch-lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften heraus (249; 254f). Dem peinlichen Klischee vom groben und schimpfenden Luther verfällt er nicht. Auch bescheinigt der Autor den Kirchen der Reformation ein hohes Maß an Kontinuität im wahren Glauben.

Unter diesen Voraussetzungen hätte Müller auch zum Meister des ökumenischen Gesprächs werden können. Umso katastrophaler wirken sich auch hier seine dogmatistisch distanzlosen Selbstdarstellungen aus. Faktisch wird der real existierende Katholizismus zum normativ Katholischen. Verschwunden sind jedes geschichtliche Denken, jede Ideologiekritik, jede Sensibilität für irritierende Kontexte und jedes Gespür für den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Grund dafür ist frappierend einfach: Gemäß dem Autor duldet die als letztverbindlich definierte römisch-katholische Lehre keinerlei Interpretation, es sei denn, das Lehramt interpretiert sich selbst[4]. Ausgerechnet das Petrusamt soll die „Petrifikation“ des Buchstabens vermeiden, ausgerechnet das abgehobene und dialogfeindliche „Lehramt der Bischöfe und des Papstes“, das seit Jahrhunderten die Stimme des Gottesvolkes zu ignorieren pflegt und seit 160 Jahren die Theologie verachtet. Ausgerechnet dieses Lehramt soll nach Müller teilhaben „an der Aktualität[!] des Glaubensbewusstseins“ (256).

Deshalb kann Müller hochdifferenziert von den Positionen der Reformatoren sprechen, ohne den absoluten Wahrheitsanspruch seiner eigenen Kirche in Frage zu stellen. Über die Irrtümer der Reformation belehren uns letztlich nicht die Schrift, sondern das Tridentinische (258f) und das 1. Vatikanische Konzil (256). Schließlich wissen die Katholiken definitiv – in jedem Fall besser und anders als die Reformation ‑ Bescheid über Rechtfertigung und Gnade, die Mitwirkung der Menschen an Gottes Heilsplan, vor allem über die sieben Sakramente, und erneut preist Müller den ungeschminkten Vollmachtsanspruch Roms als letzte Bescheidenheit an: Das Lehramt sage nicht, was die Laien nach seinem eigenen Gutdünken und Geschmack behaupten. „Papst und Bischöfe können und dürfen nicht ihr Privaturteil … dem Rest der Kirche oktroyieren. Ihre Autorität liegt in der Vollmacht, den Glauben der Kirche allen ihren Gliedern inklusive sich selbst als geoffenbart vorzulegen“ (256). Zur Krönung dieser Selbstlegitimation wird das Ratzinger-Dekret Dominus Iesus (2000) zitiert, das feststellt, dass „die Einzigkeit der [von Christus] gestifteten Kirche als Wahrheit des katholischen Glaubens fest geglaubt werden muss.“(265)

Katholisch ist gemäß einem Untertitel: „eine nur um [sic!] Glauben zu erfassende Eigenschaft der Kirche Christi“ (246). Da wird nicht mehr argumentiert, sondern dekretiert. Der Autor spricht von der „klassische[n] katholische[n] Hermeneutik“; sie besagt, dass „die Offenbarung größer ist als die Schrift.“ (259) Damit legitimiert er aber eine Hermeneutik, die spätestens in der Romantik (katholische Tübinger Schule) stehen geblieben ist und für die der Konservatismus etwa von Kardinal W. Kasper steht. Emanzipatorische Aspekte, Fragen der Kontextualität, Gendertheorie oder Ideologiekritik sowie der vielfachen Funktionen der Sprache (in ihrer Vermittlungsfunktion von Deutung, Mehrdeutigkeit und Setzung neuer Wirklichkeit, Aufforderung und Beschreibung, Hinweis auf die Realität und Eröffnung eines symbolischen Überschusses) spielen da keine Rolle. Mit seinem historischen Reflexionsstand ist Müller beim Konzil von Trient, in seiner ideologischen Prägung beim 1. Vatikanum stehen geblieben. Deshalb lässt es keine substantiellen Fortschritte zu und die Protestanten sind nach wie vor Christen zweiter Klasse.

Das Glaubensverständnis Müllers, dieses Kirchenfürsten ohne Amt, leidet an einem Konfessionalismus, der sein Denken wie einen blinden Fleck verfolgt. Faktisch definiert er das Katholische als anti-protestantischen Marker. Dabei fällt erneut die Distanzlosigkeit auf, mit der er die katholische Kirche mit dem Göttlichen bzw. bestimmten Glaubensinhalten identifiziert (235-240). Da steht z.B.:
– Gott selbst[!] lege seine übernatürliche Offenbarung „irreversibel aus in den letztverbindlichen Entscheidungen … des kirchlichen Lehramts (des Gesamtepiskopates mit dem Papst an der Spitze)“.
– Die „kirchliche und sakramentale Heilsvermittlung in der katholischen Kirche folge direkt[!] aus der Inkarnation,
– Jesu[!] Leib sei „in seinem sakramentalen Leib‚ ‚wahrhaft, wirklich und wesentlich‘“ gegenwärtig,
– der Katholik [sic!] bekenne sich zur „hierarchisch-sakramentale[n] Verfassung der pilgernden Kirche“, die in Simon Petrus zusammengefasst[!] ist und dessen Vollmacht auch in seinen Nachfolgern gilt (petrinisches Prinzip),
– der Katholik glaube an Gott … „in der jungfräulichen[!] und mütterlichen Geistesverfassung“, in der Maria ihren göttlichen Sohn empfangen und geboren hat (marianisches Prinzip).

Mit solchen Bestimmungen trifft Müller den wunden Punkt, der die römisch-katholische Kirche und die reformatorischen Kirchen bis heute trennt. Zu Recht sprach Luther der Alten Kirche das Recht ab, sich vorbehaltlos, dogmatisch und rechtlich zwingend, also vorbehaltlos mit der Sache des Christlichen zu identifizieren. Dass diese Erkenntnis auch Jahrzehnte nach dem Konzil noch nicht in der römischen Kirchenprominenz angekommen ist, erfahre ich als eine Schande.

Das ist das bitter enttäuschende Ergebnis des Ökumenekapitels, das so hoffnungsvoll begann. Der Katholizismus bleibt einseitig auf seine Sakramentalität konzentriert. Vom „Wort“, dem klassischen Bezugspunkt reformatorischen Denkens, ist weniger als vor 55 Jahren zu spüren. Das katholische Weiheamt beansprucht einen Weltrang, den sonst keine Institution erreicht.

3. Von Überheblichkeit und Angst getriebene Weltsicht

Das letzte Kapitel stellt die Frage, die uns alle bewegt: Quo vadis, wohin gehst Du, katholische Kirche? Jetzt zeigt sich die Gesamtstrategie des Buches. Es geht um eine Generalabrechnung mit der aktuellen Kirchensituation in Deutschland, mit ihren Reformbemühungen und dem Synodalen Weg. Im Ökumene-Kapitel geißelte der Autor die „Abfalltheorie“, von der die protestantische Kirchengeschichte lange bestimmt war, und schließt die erhellenden Forschungen zum Frühkatholizismus in seinen Verriss als einer „runderneuerten Abfalltheorie“ mit ein (261). Offensichtlich hat er übersehen, dass die von ihm selbst entwickelte Abfalltheorie alle früheren Maße sprengt. Ich kann sie mir nur als die Frucht einer maßlosen Angst vor der Gegenwart erklären, als eine weitere Steigerung des Antimodernismus, der das (in seinem Sinne) katholische Denken seit 150 Jahren bestimmt. Das Schwarz-Weiß-Tableau seiner Karikaturen lässt sich kaum mehr steigern und man fühlt sich erinnert an Ratzingers defätistische Artikel über ein geistig und im Glauben zerfallendes Europa; ihm sei schon lange die Fäulnis eingeschrieben, weil es seinen katholischen Ursprung verlassen habe.

Nach Müller begann es um 1620 mit der „Neuen Wissenschaft“ des Francis Bacon (285) und setzte sich fort mit dem „Phänomenalismus von I. Kant, der eine „Humanitätsreligion“ propagierte (286). Die Aufklärung zwang die Kirche in das ruhelose Pendeln zwischen Freiheit und Totalitarismus, Supranaturalismus und Rationalismus, Integralismus und Modernismus, konservativer und liberaler Theologie“ (287). Dann häufen sich die Schlagworte bis zur sinnlosen Steigerung: „Schöne neue Welt“, „Mythos des 20. Jahrhunderts“, „homo homini Deus“, Gier und Wollust, Religion ohne Gott. Die Kirche muss sich hingegen ermahnen lassen, ihre Themen seien „nicht abschmelzende Gletscher, die globale Erderwärmung oder der europäische Migrationspakt“ (288). Der metaphysische und moralische Relativismus müsse überwunden werden (J. Ratzingers „Diktatur des Relativismus“ lässt grüßen); die Ortlosigkeit des modernen Menschen brauche die Orientierung der Offenbarung.

Dann folgt wieder ein Satz, der Müllers Weltferne und sein mangelndes Gespür für Religion zeigt: Die Lehre der christlichen Offenbarung sei „kein fluider Bedeutungszusammenhang narrativer und poetischer Welterschließung, sondern eine affirmativ-dogmatische Zusage Gottes“ (289). Weg also mit den Erzählungen Jesu und der Poesie, die die Heiligen Schriften durchzieht?

Ich erspare den Interessierten hier die Horrorszenarien der letzten Seiten, die nicht vor Zynismus etwa in folgender Form zurückschrecken: „Ohne Scheuklappen manipuliert man die öffentlichen [sic!] Meinung und spannt zur Durchsetzung der synodalen Agenda Politikerinnen ein, die mit den unterdrückten Frauen in der Kirche und den vom [sic!] dem Zölibat deformierten Priestern ‚echt fraulich mitfühlen‘. Mediale Kampagnen und politische Druckmittel sind aber kirchenspalterisch. Sie befördern die innere Resignation der treuen Katholiken in der eigenen Gemeinschaft oder den offenen Ungehorsam gegen das Wort Gottes und die Rebellion gegen den Papst und die Bischöfe in Gemeinschaft mit ihm.“ (305) Diese Ausführungen können hier kommentarlos stehen bleiben, denn sie verurteilen sich selbst.

4. Ein Buch zum Ärgern, das man aber lesen sollte

Ich wurde gefragt, ob sich die Rezension dieses von Überheblichkeit und unbelehrbarem Stolz berstenden Buchs überhaupt lohnt. Ist es sinnvoll, sich mit diesem von Gegenwartsangst und –hass bebenden Buch überhaupt noch auseinanderzusetzen? Ist es nicht – entgegen seiner Ankündigung – ein Totengräber der Katholischen? Doch so einfach liegen die Verhältnisse nicht. Die ersten Kapitel zeichnen eine kundige Selbstdarstellung der offiziellen Kirchenlehre, die in Rom und in den meisten „katholischen“ Ländern noch unbestritten propagiert wird, denn auch in unseren Breiten bestimmen die hier versammelten Ideologien ‑ zumindest unterschwellig ‑ das offizielle Kirchenhandeln. Hierarchen beugen sich ihnen notorisch und ein Großteil der Theologie will ihre Ruhe haben, wehrt sich also nicht, wo ein lautes Schreien geboten wäre. Diese Lehre begreift sich als eine objektive, neutrale, alle Abweichungen überragende Wahrheit, deshalb zieht sie noch immer viele Menschen in ihren Bann. Sie wähnt sich unangreifbar und bei vielen Zweifelnden und Fragenden wird sie so wahrgenommen.

Nehmen das die Reformbewegungen ernst? Wer sich mit diesem Buch auseinandersetzt, kann entdecken (und das ist mir wichtig), warum unsere Reformbemühungen in hierarchischen Augen naiv wirken. Sie sind noch immer der Meinung, das Volk da unten habe die wahre Glaubenslehre noch nicht begriffen. Die von Müller vorgetragenen Grundüberzeugungen werden von einem in sich stolzen, herzlosen, machtförmigen und empathiefreien Rechtssystem getragen, für das Barmherzigkeit ein Fremdwort ist. Dies zeigte ausgerechnet das „Jahr der Barmherzigkeit“ (2015/16), das die Härten der vermeintlich christlichen Lehre abmildern und lebbar machen wollte; man denke an das Eherecht. Wer in der katholischen Kirche deshalb grundlegende Reformen durchsetzen will, sollte sich weder in freundliche Reden noch in spirituelle Anmutungen flüchten, sondern über die dogmatischen Prinzipien Tacheles reden. Kritisch und genau sind die letztentscheidenden Grundlagen der offiziellen römischen Kirchenlehre abzuklopfen.

Müllers Buch kann zeigen, dass das formal ein schwieriges Geschäft ist, denn diese Argumente, seit Jahrhunderten gewachsen und erprobt, greifen wie die Rädchen eines komplizierten Uhrwerks höchst detailliert und präzise ineinander. Oft muss man sie mit der Lupe suchen, doch ihre Ergebnisse sind massiv. Wer diesem scholastisch machhungrigen Denken einmal verfallen ist, kann sich nur mit Mühe von ihm befreien und wird immer geneigt sein, die Kritik zu verhöhnen.

Zum Leidwesen kirchlicher Erneuerung ist schließlich zu vermerken, dass sich auch Papst Franziskus nicht von dieser alten Dogmatik gelöst hat. Bei aller Hochschätzung der Spiritualität müssen wir über sie hinausgehen. So reicht es nicht, den Klerikalismus als Haltung zu kritisieren. Es ist dafür zu sorgen, dass der dogmatische Satz vom Wesensunterschied zwischen Klerikern und Laien ebenso destruiert wie der magische Priestermythos mit biblischen Argumenten aufgelöst wird.

Anmerkungen

[1] Walter Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg 2011

[2] Gerhard Müller, Der Papst. Sendung und Auftrag, Freiburg 2017

[3] Gerhard Kardinal Müller, Freiburg 2021

[4] Damit liegt Müller ganz auf der Linie der römischen Erklärung Mysterium Ecclesiae (1973) zum Problem der Unfehlbarkeit. Nachdem das Dokument die Notwendigkeit ständiger Interpretation auch von Glaubenstexten zugegeben hat, schlägt es diesen gordischen Knoten mit der schlichten Behauptung durch: „Der Sinn der dogmatischen Formeln selbst aber bleibt in der Kirche immer wahr und stimmig, auch wenn er mehr erhellt und vollständiger erkannt wird.“ (DH 4540) Im Klartext lautet dies: Das Lehramt weiß immer schon, wie eine dogmatische Formel zu verstehen ist; dazu bedarf er keine weiteren Hermeneutik. Seit 1965 ist das die Quintessenz aller reaktionären Glaubensinterpretation.