Freiwilliger und assistierter Suizid – Zur aktuellen Debatte

I. Freiheit – Geschenk oder unverzichtbarer Lebensraum?
Rom äußert sich zum selbstverantworteten Tod

Im Januar 2020 vom Papst genehmigt, im Juli vom Glaubenspräfekten unterzeichnet, am 20. November von der Glaubenskongregation veröffentlicht, so kompliziert geht es immer noch im vatikanischen Hofstaat zu. Das „Schreiben über die Sorge an Personen in kritischen Phasen und in der Endphase des Lebens“ trägt den schönen Titel Samaritanus Bonus (Der Gute Samariter) und nimmt Stellung zu gesellschaftlich höchst aktuellen Fragen wie zum menschlichen Umgang mit Kranken, der Verhältnismäßigkeit von Therapien sowie der Begleitung Sterbender, bis hin zu den schwierigen Fragen der Euthanasie. Ganz im Sinne von Papst Franziskus sprechen die ersten Kapitel empathisch über die Verletzlichkeit der Menschen. In Kapitel V. werden wir dann in rigider Weise mit einer moralischen Unantastbarkeit des menschlichen Lebens konfrontiert. So bricht das Dokument in zwei Teile auseinander, die nur schwer miteinander zu versöhnen sind.

1.1 Ein zwiepältiges Dokument

Die ersten drei der fünf Kapitel sind vom Denken des Papstes inspiriert. Im Mittelpunkt stehen die aktive Hinwendung zu den Schwachen und Sterbenden. Der Text beschwört eine ganzheitliche Zuwendung zu den Kranken sowie eine Ethik der Fürsorge. In diesem Sinne zeigt sich das menschliche Leben als ein „heiliges und unantastbares Geschenk“. Christ sein heißt, den „Schwächsten auf ihrem schmerzhaften Weg mit Barmherzigkeit zu begleiten.“ Gerne stimmt man den starken Passagen der ersten Kapitel zu, weil sie die heilende, zur Hilfe motivierende Kraft der christlichen Botschaft beleuchten. Das Wissen um die Verlassenheit des Gekreuzigten kann zur tröstenden Kraftquelle werden.

Doch unversehens schleichen sich auch christliche Überlegenheitstöne ein. Der Text spricht von der „übernatürlichen“ Nächstenliebe (I) und vom Verharren „in der heiligmachenden Gnade“ (II). Das Geheimnis des Leidens könne „niemals nur im Licht des menschlichen Denkens“ verstanden werden (Einführung, V/1). Die Kulturen hingegen (welche genau?) werden recht undifferenziert moralisierenden Vorwürfen ausgesetzt: „utilitaristische anthropologische Perspektive“, ein falsch verstandenes Mitgefühl, wachsender Individualismus, „Neo-Pelagianismus“[?] und „Neo-Gnostizismus“[?]. Geistliche und religiöse Aspekte sowie die „Beziehungsebene“ würden ignoriert (IV) und das Gute werde auf das Ergebnis einer „sozialen Vereinbarung“ reduziert. Es herrschten ein „wachsender Individualismus“, „Wegwerfkultur“ und – wie schon Johannes Paul II. erklärte ­ eine „Kultur des Todes“ (V). Natürlich sind diese Defizite nicht zu leugnen. Doch diese pauschalkritischen Töne helfen nicht weiter, Vielmehr bestärken sie den fatalen Eindruck, nur die römisch-katholische Kirche beschäftige sich mit der letzten Sinnfrage, nur sie schaue nach dem Guten und fördere einen besseren Umgang mit Leiden und Tod.

Zudem erschreckt der Stimmungsumschwung in Kapitel V. Es entfaltet ein kühl dogmatisches, letztlich empathiefreies Szenario, zelebriert reine Objektivität und beschränkt sich ohne jede Nuancierung auf die bekannten Kernsätze aus scholastischer Vorzeit. Jede Form der Euthanasie erscheint als „Verbrechen gegen das menschliche Leben“ und „jedwede direkte formelle oder materielle Mitwirkung bei einer solchen Handlung [als] schwere Sünde“ (V/1). Wer sich für einen Suizid entschieden hat oder einem Verein angehört, der Suizide ermöglicht, wird von den Sakramenten definitiv ausgeschlossen (V/10). Gewiss, unwiderleglich mögen abstrakte Ableitungen zu dieser Moral einer weißen Weste führen. Doch konkrete Lebensumstände verlaufen immer in einem Dickicht von unlösbaren Zweifeln und entlarven diese rigiden Handlungsmaximen als wenig hilfreiche Denkprodukte. In sich schon widersprüchlich sind da Aussagen wie: „Einen Kranken zu töten, der um Euthanasie bittet, bedeutet daher keineswegs, seine Autonomie anzuerkennen“ (V,4). Solche kategorischen Aussagen verschließen die zunächst geöffneten Diskussionsräume, bevor sie jemand überhaupt betreten hat. Der Gute Samariter wird vom Boten der Lebenshilfe zum Künder einer unbarmherzigen Moral.

1.2 Beispiel Hans Küng

Gerade für Christinnen und Christen gibt es respektable Gründe, diese Diskussionsräume zu betreten. Ein gutes Beispiel bietet die Programmschrift von Walter Jens und Hans Küng Menschenwürdig Sterben (1995). Gewiss: damals, als sie das Tabu des absoluten Suizidverbots hinterfragte wirkte sie wie ein Donnerschlag. So überhörte man die theologisch-philosophischen, juristischen und fachmedizinischen Einordnungen. Doch die kontroversen Reaktionen zeigen bis heute, dass die traditionellen Verbotsargumente widerlegbar sind und selbst die Bibel differenzierter spricht. Zudem hatte das engagierte Buch einen wunden Punkt getroffen. Hans Küng sprach aus bitterer Erfahrung, denn in den 1950er Jahren musste sein Bruder unter schrecklichsten Schmerzen an einem Hirntumor sterben, was der Überlebende noch heute als unmenschlich empfindet. Er und sein Mitautor wussten wohl, welche Last sie den Menschen auferlegten, doch sie verstanden diese als die unvermeidliche Rückseite einer Enttabuisierung, die auch ohne Küng und Jens schon im Gange war.

Hans Küng entschloss sich 2009 zur Neuausgabe der Schrift erst auf ausdrückliche Bitten hin. Für sie, so die ihn beratenden Ärzte, sei dieses Buch sehr wichtig, denn zwar nehme es ihnen nicht die Last der Verantwortung, wohl aber die Last einer Generalverurteilung und auch die Entlastung ihres Gewissens, wenn sie sich in ausweglosen Fällen zu unkonventionellem Handeln verpflichtet sahen. Noch einmal machten sie ihm nachdrücklich klar: In vielen Fällen können sich die Mediziner überhaupt nicht mehr neutral verhalten. Dann nämlich können sie ein Leben nur aktiv verlängern oder aktiv verkürzen; ein Drittes gibt es nicht. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Entscheidung zum freiwilligen Tod und eine Assistenz dazu als wirklich letzter, vielleicht auch einsamer Schritt in der Konfrontation mit dem eigenen irdischen Leben. Im Buch Glücklich sterben? (2014) erhielt der Titel dann ein Fragezeichen und die Thematik wurde konkreter mit menschlichen Alltagserfahrungen konfrontiert.

In Küngs Sämtlichen Werken (Band 10) sind die einschlägigen Veröffentlichungen mit der Abhandlung Ewiges Leben? (1982) zusammengefasst. Dies macht den noch umfassenderen Horizont klar, von dem aus der christliche Theologe immer schon argumentierte: Für Christen muss der Tod nichts Angstbesetztes sein, obwohl in ihm Vieles auf dem Spiel steht. Dabei war für Küng schon immer klar: Er will nicht die einzig gültige Wahrheit propagieren, sondern erreichen, „dass die Frage der Selbstverantwortung des Menschen für sein Sterben nüchtern, würdig und moralisch-ernsthaft neu verhandelt werden kann – ohne Rechthaberei und fundamentalistisches Räsonnieren.“

Der Ethiker Dieter Birnbacher fasst diese Position wie folgt zusammen: „Das Bekenntnis Hans Küngs zur ethischen Zulässigkeit der Sterbehilfe … wurzelt letztlich in einem bestimmten Gottesverständnis, einem das geeignet ist, Vertrauen auf Gott zu begründen. Wenn Gott Vertrauen begründen soll, kann er es dem Menschen nicht verwehren, über sein Leben zu verfügen, sofern er keinen anderen Ausweg aus unerträglich gewordenem Leiden sieht.“ So finde Küng einen Weg der Mitte, der eine Sterbehilfe unter strengen Bedingungen für vertretbar hält: „Nicht nur Situationen in Todesnähe, wie es viele christliche Stimmen fordern, sondern auch Zustände, in denen unheilbare, nicht tödliche, aber schwere und scherzhafte körperliche Gebrechen als unerträglich empfunden werden“.

1.3 Freiheit nach Ignatius von Loyola und Martin Luther

Dieses Beispiel zeigt: Zu simpel wäre es, eine demütige Unterwerfung unter Gottes Willen einem selbstherrlichen Freiheitspathos entgegenzustellen. Vermutlich rührt die hoch emotionale Gesprächsblockade zwischen beiden Positionen von zwei unversöhnten Freiheitsmodellen, die vor ziemlich genau 500 Jahren im konfessionellen Streit entwickelt wurde.

Einerseits lohnt es sich, an das Gebet Sume et suscipe zu erinnern, in dem die ignatianischen Exerzitien (1522) kulminieren und das seitdem die katholische Spiritualität geprägt hat: „Nimm, Herr, und übernehme meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen. All mein Haben und mein Besitzen, du hast es mir gegeben; dir, Herr, gebe ich zurück …“. Freiheit erscheint also als ein Vermögen und eine feststehende Gabe, die ich Gott übereignen kann, diese Freiheit erhält einen nahezu dinglichen Charakter. Dagegen präsentierte Martin Luther 1517 ein anderes Modell. Bei ihm wird die Freiheit eines Christenmenschen zu einem dynamischen Projekt. Wir sind „freier Herr“ aller Dinge und zugleich ihr „dienstbarer Knecht“; erst in dieser Spannung entsteht Freiheit und wird es sinnvoll, von Freiheit zu reden. Sie ist ein Handlungsraum. Täglich muss ich mich in ihm auch dann orientieren wenn ich mich Gott ganz übereigne. Auf diese Art von Freiheit und Verantwortung kann ich nie verzichten, wenn ich überhaupt als Mensch leben will. Natürlich gehört dazu die Last einer Verantwortung, die ich an niemanden mehr, auch nicht an Gott delegieren kann, denn im Extremfall bin ich nicht auf Gott, sondern auf die Stimme des eigenen Gewissens, also der ureigenen Lebens-Verantwortung zurückgeworfen.

Leider bietet Samaritanus Bonus zu diesem existentiellen Freiheitsmodell keine Brücke. Es lebt aus einem vormodernen Konzept und bietet für das unlösbare Ineinander von Geschehenlassen und eigenem Handeln kein Gespür, nämlich dafür, dass wir bei dieser Selbst-Konfrontation in ein unlösbares Dilemma von ersehnter Hingabe und unverzichtbarer Verantwortung geraten können. Es ist ein Dilemma, dass wir nicht mehr moralisch in gut und böse aufteilen können. Die Geschichte vom Guten Samariter aber, die solche Moralisierungen überwinden will, wird zur Inszenierung eines empathielos kategorischen Suizidverbots missbraucht.

1.4 Was ist kirchliche Gesinnung?

Ich weiß, dass diese Argumentation die Freunde einer ignatianischen Spiritualität kaum überzeugt. Sie sehen in Ignatius gerade keinen vormodernen Traditionalisten; denn für sie öffnet die ignatianische Kunst der Unterscheidung – von Papst Franziskus so intensiv aufgegriffen – die Türen für eine neuzeitliche, geradezu moderne Spiritualität, da sie Gottes Willen persönlich und konkret zu erkunden weiß. Man erkennt dies an der Sensibilität des Papstes für die Armen, seiner scharfen Klerikalismuskritik und seiner Lust, den globalen Akteuren der Sozial-, Wirtschafts- und Machtpolitik immer wieder die Leviten zu lesen. Doch zugleich macht sein häufiges Zögern in Sachen Kirchenreform auch eine massive Blockade deutlich; man denke an die kirchliche Stellung der Frauen, den Pflichtzölibat, den Umgang mit Geburtenregelung und Homosexualität. Regelmäßig versucht er dann, die aufbrechende Kluft mit dem Aufruf zu einem barmherzigen Verhalten zu überbrücken. Dies aber biete keine Heilung, denn sie räume die Zuschreibung von Schuld nicht aus dem Weg.

Auch diese Diskrepanz ist jesuitischen Ursprungs, denn derselbe Ignatius fordert auch eine „kirchliche Gesinnung“ ein, deren Kernsatz lautet: „Was meinen Augen weiß erscheint, halte ich für schwarz, wenn die hierarchische Kirche so entscheidet.“ Die ignatianische Geisterscheidung setzt also den autoritären Rahmen der katholischen Hierarchie voraus. Aus diesem vormodernen Vorbehalt erklärt sich der große Mangel nahezu aller römischer Dokumente: Außerhierarchische Diskurse werden schlicht ignoriert. Dies gilt auch bei den höchst sensiblen Fragen von Sterben, Sterbebegleitung und einem selbstverantworteten Tod. Nimmt man diese monologische Stimme noch ernst? Das öffentliche Echo auf Samaritanus Bonus ist erstaunlich schwach. Für das öffentliche Problembewusstsein ist das kein gutes Zeichen. Vielleicht wird Ferdinand von Schirachs Stück Gott abhelfen. Es greift die Frage des selbstverantworteten Todes auf und wird am 23. November im Fernsehen ausgestrahlt. Das Publikum wird anschließend um Stellung gebeten.

(Erschienen in Querblick 40. Ökumenisches Netzwerk Initiative Kirche von unten, Dezember 2020 S. 23-25, abgedr. in ND-Rundbrief Region Aachen – Niederrheim 2021/1, 5-8.)

II. Hart aber fair: Fragen an Bischof Dr. G. Bätzing

Sehr geehrter Herr Bischof,

am 23.11.2020 nahmen Sie an der Diskussionsrunde Hart aber fair zu Fragen der Sterbehilfe in Deutschland teil. Über Ihre persönliche Überzeugung habe ich nicht zu urteilen und natürlich wurde eine hochkomplexe, auch sehr sensible und gesellschaftlich höchst problematische Frage verhandelt, die zu einer Vielzahl von Reaktionen führt. Ferdinand von Schirach hat im vorangehenden Film Gott die Fülle der Aspekte und Positionen in umfassender, sehr präziser und seriöser Weise zusammengefasst und auch die Figur des Bischofs ohne alle Häme dargestellt. Umso enttäuschender fand ich, dass Sie diese Lösungskonzepte nicht aufnahmen, um sie produktiv in die Runde einzubringen. Gestatten Sie mir bitte zu Ihren Ausführungen folgende Bemerkungen.

2.1 Ohne jede Differenzierung

Faktisch traten Sie mit dem Anspruch auf, über die Grundfragen des Lebens kompetenter und verbindlicher zu sprechen als die anderen Gesprächsteilnehmer, bei aller Verbindlichkeit haben Sie den Ton eines Besserwissenden angeschlagen. Von Schirachs Film qualifizierten Sie als „karikatural“, „fingiert“ und als „Suggestion“ ab. Dabei haben Sie übersehen, dass von Schirach einen Protagonisten wählte, der sich hinter keinen Schutzwall derer verstecken konnte, denen man das Problem aus Mitleid viel eher abnimmt. Als einziger nahmen Sie im Namen Ihrer Glaubensüberzeugung Gott als Herrn über ein Leben und einen Tod in Anspruch, über die wir nicht verfügen könnten. Warum unter bestimmten Bedingungen eigentlich nicht?

Gegen Schluss schlugen Sie noch einen Bogen vom Lebensbeginn zum Lebensende und unterstrichen dadurch noch einmal Ihr Problem: In einem Feld von Fragen, die seit Jahrzehnten ernsthaft diskutiert werden, sind Sie und Ihre Kirche noch immer zu keinerlei Differenzierung fähig. Völlig ausgeschwiegen haben Sie sich zu den offiziellen römisch-katholischen Begründungen, die im Film korrekt vorgetragen und entkräftet werden: fehlende biblische Begründung, fragwürdige Argumentationen aus der Spätantike (Augustinus) und dem Mittelalter (Thomas von Aquin), ein durch und durch pessimistisches Menschenbild, das Leiden zu einem heilbringenden Zustand glorifiziert. Als katholischer Theologe halte ich diese Zurückhaltung für äußerst problematisch.

2.2 Bundesverfassungsgericht

Sie zeigten sich über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 empört und fanden sie „unerhört“, mussten sich aber von Frau Prof. Bettina Schöne-Seifert eines Besseren belehren lassen. Ihre Behauptung, das Bundesverfassungsgericht habe sich zur Partei gemacht, verdeckte nur die Tatsache, dass Sie sich über alle Parteien erhaben glauben. Zu Recht hat man dieser Behauptung widersprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat einen prinzipiellen Rahmen gesetzt, der für einen weltanschaulich neutralen Staat in jedem Fall zu gelten hat. Sie jedoch haben mit einem unausgegorenen Begriff von menschlicher Freiheit argumentiert (s. Anhang).

Wie anderen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen ist es auch der römisch katholischen Kirche unbenommen, innerhalb dieses Rahmens ihre eigenen Lösungen zu definieren und dafür zu werben. Außerdem ist der Gesetzgeber noch in der Pflicht, den im Februar gesetzten Rahmen konkret auszufüllen. Dass das keine einfache Aufgabe sein wird, bestreitet niemand. Dass Sie aber meinen, über dieses Gerichtsurteil den Stab brechen zu müssen, zeigt nur, dass Sie sich noch immer als der oberste Lehrherr der deutschen Rechtsprechung verstehen.

2.3 Lehre der Kirche

Selbst innerhalb der eigenen Reihen kann Ihre Berufung auf die „Lehre der katholischen Kirche“ nur noch bedingt überzeugen. Deshalb hat mich erstaunt, mit welch unreflektierter Selbstverständlichkeit Sie eine überkommene Lehrtradition als gegenwärtige Wahrheit vortragen. Auch Sie müssen doch die Erosion des hierarchischen Lehramtsanspruchs erkennen. Haben Sie noch nie über die Gründe dieser Entwicklung nachgedacht? Schauen Sie doch nur auf die Diskussionen beim Synodalen Weg, der angesichts der Unbeweglichkeit der Bischöfe und ihrer Angst vor Rom zum Scheitern verurteilt ist.

Diese Erosion hat, wie auch Sie wissen, nicht nur soziologische, sondern auch innerkatholische Gründe. Anerkanntermaßen ist das monolithische „authentische Lehramt“, eine Erfindung der römischen 1860er Jahre und die Unfehlbarkeitsdefinition der größte Sündenfall des neuzeitlichen Katholizismus. Nach 1418 hat Rom erfolgreich die Streichung des Konstanzer Konzilsdekrets Haec sancta (1415) aus dem Kanon kirchenverbindlicher Texte betrieben, ein unerhörter Vorgang. Solange Sie das aber für richtig halten, muss für Sie heute auch die Streichung der Bulle Pastor aeternus (1870) möglich sein. Kurz gesagt, in einer kirchlich so labilen Gegenwart stünde den Bischöfen mehr Bescheidenheit, Gesprächsbereitschaft und Respekt vor anderen innerkirchlichen Positionen an. Dazu gehörte vor allem der Respekt vor der normativen Bedeutung der Schrift. Warum machen Sie damit keinen Anfang?

2.4 Evangelische Kirchen

Von Ihrer kirchenautoritären Grundhaltung zeugen auch Ihre für mich unerträglichen Bemerkungen zu den Evangelischen Kirchen. Nie und nimmer wollte der evangelische Bischof Ralf Meister (Hannover) seine Ausführungen zum selbstgewählten Suizid relativieren, sondern eine Diskussion eröffnen, die Sie gerne in der „Grauzone“ halten. Auf nähere Nachfragen zeigen Sie keinerlei Gesprächsbereitschaft mit Vertretern der evangelischen Kirchen. Statt inhaltliche Gespräche anzukündigen, drohen Sie gegebenenfalls ein „Auseinandergehen“ an. Diese in der Sache empathielose Haltung entspricht genau den Schlussfolgerungen des entsprechenden katastrophalen römischen Schreibens vom 20.10.2020.

2.5 Drohung mit dem Dammbruch und Warnung vor niederländischen Zuständen

Ihre Drohung mit einem Dammbruch ist ein pures Angstargument. Sie glauben doch nicht, man könne eine Entwicklung mit „Grauzonen“ aufhalten.

Um des Ernstes der Sache willen bitte ich Sie auch dringend, die niederländische Situation nicht tendenziös, sondern mit der angemessenen Differenzierung darzulegen. Die Wanderlegende, dass ältere Leute aus Angst vor Tötung niederländische Altenheime und Krankenhäuser meiden, ist die Frucht primitivster, von reaktionären Katholiken entwickelter Polemik. Sie geistert schon seit 20 Jahren herum, und hätte es auch nur einen solchen Fall gegeben, wäre er der Öffentlichkeit bekannt geworden. Dass ausgerechnet Sie als Bischof diesen Verschwörungsmythos weiterkolportieren, zeigt nur, in welcher Argumentationsnot Sie sich befinden. Niemand bestreitet, dass über die konkrete Ausgestaltung entsprechender Regelungen auch in den Niederlanden zu wachen ist; von Anfang an ist das so geschehen. Aber mit diesem „Argument“ haben Sie Ihre Glaubwürdigkeit endgültig untergraben.

Zwei Bemerkungen haben mich besonders beeindruckt. Zum einen sagte Olaf Sander gegen Schluss: „Nie, auch wirklich nie wird mit den Augen derer geguckt, die leiden.“ Damit hat er auch Ihr Verhalten gemeint und Sie an einer empfindlichen Stelle getroffen. Deshalb konnten auch Ihre Verweise auf pastorale Erfahrungen oder die Enkelkinder des Sterbewilligen niemanden überzeugen. Dies alles, auch Ihre Verweise auf Hospize und die Fortschritte der Palliativmedizin, diente nur der ablenkenden Verharmlosung. Zum anderen antworteten Sie auf die Frage, warum die katholische Kirche es so schwer hat, ihre Positionen zu verteidigen, vielleicht sei sie „langsam“. Damit haben Sie ungewollt zugegeben, wie unbeweglich und rechthaberisch sie agiert und erst wieder auf die Spur findet, wenn es zu spät ist. Sie aber werden, indem Sie diese Taktik übernehmen, mit zum Totengräber für eine überzeugende christliche Botschaft.

Mit freundlichen Grüßen
Hermann Häring

Der Brief vom 25.11.2020 blieb bis zum 21.12.2020 ohne Antwort