Was macht die Corona-Pandemie mit uns, der Gesellschaft und der Kirche?

 

Einleitung:

  • Bislang liefert die Corona-Krise keine speziellen Einsichten, die es ohne Corona nicht gäbe. Als Katalysator hat sie aber bestehende Versäumnisse, Spannungen und Brüche offenkundig gemacht und verschärft. Hinzu kommt, dass sie zugleich mit anderen Krisenerfahrungen (Klimakrise, Wetterkatastrophen, politische Krisen) die Öffentlichkeit und das private Leben nachdrücklich und weltweit bestimmt. Deshalb können wir dieser Konfrontation nicht ausweichen.
  • Auch sind keine spezifischen Glaubenskrisen oder theologischen Erkenntnisse erkennbar. Die Folgen der Corona-Epidemie zeigen aber: Unsere Sinnfragen bzw. religiösen Herausforderungen sind ungelöster und akuter denn je. Sie betreffen nicht nur das religiöse Leben, sondern auch den profanen Alltag nahezu aller Menschen. Religiöse und säkulare Probleme überkreuzen sich.

I. Verlorene Sicherheit

  • Die Corona-Krise hat uns als Individuen zutiefst verunsichert, zu Kontrollverlusten geführt. Das gilt auch für unsere Gemeinschaften und Gesellschaften in allen ihren Sektoren auf ihren globalen Makro- und lokalen Mikroebenen: Bildung und Erziehung, Wirtschaft, Politik, Kultur und Kommunikation, Verkehr und Freizeit, insbesondere den Lebensstil vieler Familien, die ohnehin unter Dauerstress stehen.
  • Doch wir sind noch nicht fähig, diese Verunsicherung angemessen zu erfassen. Deshalb sollten wir mit eindeutigen Schlussfolgerungen vorsichtig sein.
  • Wie können wir Abhilfe schaffen und wo müssen wir uns den Gegebenheiten beugen? Klar ist nur, dass unser gesamter Lebensstil zur Diskussion steht.

II. In die Natur verwoben

  • Die Corona-Krise demonstriert uns unsere vitale Verbundenheit mit der Natur. Auch das ist keine neue Erkenntnis, aber es ist endlich Zeit, die Folgerungen konsequent durchzuspielen, mindestens zu erproben. Erkenntnisse zur Evolutionstheorie und zur ungeheuren Bedeutung der Mikrobenwelt für menschliche Organismen sind kein bloßer Bestandteil der höheren Bildungswelt, sondern maßstäblich für unser Selbstverständnis und unsere Lebensführung.
  • Mit unserer Körperlichkeit und unserem Handeln sind wir ihr dynamisch-integraler Teil der Natur. Wir sollten sie also nicht ignorieren.
  • Das traditionelle Modell der Naturbeherrschung ist überholt, es muss auch in allen christlichen Kreisen überwunden werden. Die Enzyklika Laudato sí ist ein ausgesprochen zeitgemäßes Dokument.

III. Angewiesen auf Gemeinschaft

  • Die Corona-Krise und die daraus folgenden gesellschaftlichen Verwerfungen konfrontieren uns mit den schon bestehenden Brüchen unserer außengeleiteten und hyperbeschleunigten Wir haben keine Zeit mehr, zu uns selbst zu kommen, Probleme in Ruhe zu lösen und intensiv mit unseren Gemeinschaften (Familien, Kommunen, Vereinen, zivilgesellschaftlichen Organisationen) zu leben (Jean-Pierre Wils, Der große Riss). So fehlt uns auch zu einer angemessenen Auseinandersetzung mit der Corona-Krise der Atem.
  • Das Tempo dieser Gesellschaft ist auf ein humanes Maß zu reduzieren. Doch dafür sind noch keine sichtbaren und durchsetzungsfähigen Modelle sichtbar (vgl. James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation).
  • Die Erreichung dieses Ziels setzt eine strenge Selbstdisziplin im Umgang mit unserer technischen, wissenschaftlichen und politischen Macht voraus. Wir sind angewiesen auf die Stärkung gemeinsamer Werte und die Herausbildung innerer Haltungen (vgl. Projekt Weltethos). Christliche Kirchen und Religionen können und sollten dafür gangbare Wege entwickeln und vorleben.
  • Anders als in früheren Epochen verfügten wir früh über Impfstoffe zur Bekämpfung der Infektion. Nach aller bisherigen Erfahrung bieten sie einen hohen Selbst- und Fremdschutz. Abgesehen von diagnostizierten Gegenindikationen ergibt sich daraus eine hohe moralische Impfpflicht, die gegebenenfalls vom Staat durchgesetzt werden kann. Doch ist die öffentliche Diskussion darüber stark verkoppelt mit dem folgenden Punkt.
  • Vermutlich wird die diffuse Bewegung der Querdenker und vergleichbaren Gruppen gefördert
    (a) durch ein schon länger schlummerndes Misstrauen gegen Politik und Wissenschaften,
    (b) durch eine elitäre Grundhaltung gegenüber Mitbürger/innen bzw. Mitchrist/innen, wie man sie in bestimmten pietistischen und anthroposophischen Kreisen finden kann (nicht ohne Grund geht die Bewegung von Stuttgart aus),
    (c) durch die wachsende Bedeutung isolierter Informationsflüsse in sozialen Medien,
    (d) durch eine tiefe, von Misstrauen begleitete Vereinsamung von Menschen, die ihre Antworten in Verschwörungstheorien suchen und, auch andere Ideologien empfänglich sind. Diese sind mit religiös orientierten Sündenbocktheorien früherer Epochen durchaus vergleichbar (Gottesstrafen, Teufel, Hexen, Juden …).
  • Alle drei Theorien rufen Christen zu einer selbstkritischen Mitverantwortung für diese bedenkliche Entwicklung in privaten Kreisen, Medien und in der Öffentlichkeit auf.

 

IV. Irritationen der Kirche

  • Die etablierten Kirchen unseres Kulturraums waren auf die religiöse Herausforderung der Corona-Krise nicht vorbereitet. Zunächst sind sie verstummt, danach haben sie sich nur zögerlich, kaum zielführend zu Wort gemeldet. Dies zeigt, wie sehr sie ihre Nähe zum gesellschaftlichen Diskurs verloren und sich zu „besseren“ Elite-Gesellschaften entwickelt haben. Sie denken mehr paternalistisch für die (nichtkirchlichen) Mitmenschen als solidarisch mit In den finanziell massiv abgesicherten Kirchen Deutschlands wird diese Fehlentwicklung besonders deutlich. Sie hängt auch mit dem Missverständnis der „Säkularisierung“ zusammen, die nicht als Prozess einer folgerichtigen Entkirchlichung, sondern als Prozess einer abzulehnenden Entchristlichung gedeutet wird.
  • Zur Debatte stehen ein überdeterminiertes Gottesbild, das die Enthüllung aller Geheimnisse vortäuscht, sowie eine moralisierende Erlösungslehre, die (wie die Theodizeefrage zeigt) schon lange scheiterte (vgl. A. Camus, Die Pest). Den Kirchen tut mehr Bescheidenheit not, denn Gott ist ein „Sehnsuchtswort“ ( Striet, Theologie im Zeichen der Corona-Krise), kein rundes Lösungsangebot aller Menschenrätsel.
  • Deshalb ist eine umfassende selbstkritische Glaubensdiskussion unverzichtbar; sie ist in der Theologie schon lange vorbereitet, wird aber noch immer aus den offiziellen Diskussionsräumen abgedrängt.
  • Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind bis Anfang März 2021 weltweit mehr als 2,5 Millionen an oder mit Corona verstorben; in Deutschland wurde am 26. November 2021 die Grenze von 100.000 überschritten. Menschen. Damit verbindet sich eine vielfache Anzahl von betroffenen Hinterbliebenen und Trauernden, die oft auf sich und ihre Einsamkeit zurückgeworfen sind. Das kann einer Gesellschaft nicht gut tun. Deshalb stehen nicht nur die Kirchen, sondern alle Religionen und gesellschaftlichen Institutionen in der Pflicht, dem Totengedenken und der Sorge für die Hinterbliebenen einen höheren Stellenwert einzuräumen, als dies bisher geschehen ist ( Moltmann). Wir brauchen Trauerfeiern, Trauer- und Therapiezentren sowie die Unterstützung von Selbsthilfegruppen. Dies hilft nicht nur den betroffenen Individuen und Familien, sondern auch dem psychischen Gesamtzustand unserer Gesellschaft.
  • Für die katholische Kirche sind die Erschütterungen der gängigen liturgischen Praxis ein Anlass, über die einseitige Konzentration auf das sakramentale Kirchengeschehen nachzudenken. Die unerwartet kreativen Neuansätze im Raum der digitalen Medien sind wohlwollend weiter zu entwickeln.

V. Die Grenzen des Lebens

  • Die wiederholten Indikationswellen, die unbeherrschbaren Erkrankungen, die Überlastung des Gesundheitswesens und das tiefe Leid der Hinterbliebenen zwingen uns prinzipiell dazu, uns wieder in einen versöhnungsbereiten Umgang mit den vielfachen Grenzen des Lebens einzuüben. An alte „Tugenden“ und „Übungen“ der Religionen ist zu erinnern. Dazu gehören gemeinsames Gedenken, Ruhe und innere Konzentra-tion sowie Orientierungspunkte, die den Raum des Alltags überschreiten. Meditative Elemente können unseren überhitzten Lebensrhythmus strukturieren. Die Religionen kennen die Übung des Gebets.
  • Aus christlicher, religiöser und allgemein menschlicher Perspektive sollten wir uns letztlich die Frage stellen: Welche Lebens- und Zukunftsvisionen prägen unser persönliches und gemeinsames Leben? Was hilft mir, über den Tellerrand hinauszuschauen? Es ist wichtig, Gottesdienste und zivilgesellschaftliche Feiern mehr als gewohnt von dieser Frage her zu gestalten.
  • Die Zukunftsvisionen ändern sich von Generation zu Generation. Deshalb können die Älteren sie nicht für die Jugendlichen entwickeln. Bei der Bewältigung des Coronakrise hat vornehmlich die Jugend das Wort.

Schluss: Worauf können wir letztlich vertrauen?

  • Die religiösen Antworten auf diese Frage haben oft Jahrtausende überstanden. Dennoch musste sie jede Generation neu durchbuchstabieren. Neue Übersetzungen sind dringender denn je. Sie müssen sich an den Verunsicherten und Zweifelnden orientieren.
  • In einer weithin säkularisierten Gesellschaft muss klar sein: Diese implizit religiöse Frage wird oft als säkulare Sinnfrage gestellt. Wer und was gibt meinem Leben einen bleibenden Sinn? In den Antworten tritt eine transzendente Instanz oft in den Hintergrund; in den Vordergrund treten Mitmenschen, biographische oder ethische Werte.
  • Umso wichtiger ist, dass betroffene Menschen auch auf uns vertrauen können. So werden sie zu unseren „Nächsten“. Die Geschichte vom ertrinkenden Petrus, den Jesus rettet, ist ein Ursymbol, das auch für unser solidarisches Handeln steht, und es mach Sinn, nach vergleichbaren Geschichten und Symbolen Ausschau zu halten.

          Diese Thesen gehen auf ein Referat vom 10. November 2021 zurück.