Vom Kampf um die Symbole, oder: Wer öffnet die Fenster wirklich?

Zur Rede Papst Benedikts XVI. vor dem Bundestag

Am 22. September 2011 hielt Benedikt XVI. seine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen Bundestag. Im Glanz seiner Worte gelang es ihm weithin, die streng konservative Ausrichtung seiner Gedanken zu verschleiern.

„Abstrakt und philosophisch, Reflexionen eines Professors“, so die Erstreaktionen von politischen Journalisten. Ihnen folgten wohlwollende, zum Teil noch wortkarge Reaktionen von Parlamentariern, die jeweils ihre eigenen Auffassungen bestätigt sahen und unter denen Volker Beck durch seine Sachkunde zu Naturrecht und Thomas von Aquin herausstach.

Was war passiert? In der Tat hielt der Papst eine intellektuell anspruchsvolle Rede, unterfütterte sie mit historischem Wissen und kulturphilosophischen Deutungen, kokettierte aber zum Vergnügen aller auch mit seinem Alter von 84 Jahren, in denen man auch noch Intelligentes sagen könne. Um es vorweg zu sagen: Für die Kenner von Ratzingers Schrifttum hörte man kaum Neues. Ein pessimistischer Grundton prägte seine Gedanken, Europa kommt bei ihm nie gut weg. Nur seine Zurückhaltung bei konkreten Hinweisen fiel auf, wenn man von seinem Lob der Ökologie mal absieht.

Was also hatte er gemeint? Er sprach von Recht und Gerechtigkeit, vom Gewissen mit seiner subjektiven und objektiven Seite, von der Vernunft und der Natur als den Quellen des Rechts. Und er prägte das schöne und bedenkenswerte Wort: Der Mensch macht nicht sich selbst. Für ihn ist das der erste Ansatz für eine religiös getragene und moralisch verantwortete Entscheidungsfähigkeit. Der Papst muss aber auch wissen, dass daraus nicht jeder Abgeordnete dieselben Schlüsse zieht, gewiss nicht aus Orientierungslosigkeit, sondern weil die Wirklichkeit komplex geworden ist. Auch wird man seiner Feststellung zustimmen, dass wir der Natur in Ehrfurcht zu begegnen haben und eine Ökologie des Menschseins entwickeln sollten.

Was aber folgt daraus? Mein erster Gedanke war: Jetzt endlich bekommen – wenn es um das Ja zur Natur geht – die Homosexuellen das Recht, gemäß ihrer Veranlagung zu leben. Doch meint der Papst eher das Gegenteil; sie mögen sich bitte an die Regeln der menschlichen Natur halten. Was also meint der Papst konkret, wenn er von „Natur“ oder „Rationalität“, von einem subjektiven und einem objektiven Gewissen und davon spricht, dass es zu hören hat? Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht eben nicht der konkrete – immer einzelne und oft vereinzelte – Mensch, auch nicht die pralle Vielfalt rationaler Ansätze. Er geht noch immer von einer normativen Idee des Menschseins aus, das schon in der Antike auf seine normativen Grundlagen und Handlungsgrundsätze hin untersucht wurde. Das spricht der Papst nur indirekt aus, und genau deshalb bleibt er hinter den Standards einer modernen westlichen Demokratie zurück, muss er zurückbleiben.

Deshalb gehen nicht nur die Diskussionen um J. Ratzingers Moralprinzipien weiter (von deren Konkretisierung er in Erfurt mehr verlauten ließ), sondern auch die Fragen nach seinem programmatisch verkündeten Einsatz für Recht und Gerechtigkeit in der eigenen Kirche. Gelegentlich dreht er die Forderung nach Recht und Gerechtigkeit ja förmlich um, wenn er die Ungleichstellung der Frau ebenso in Gottes gerechtem Willen begründet wie seine spezielle Sexualmoral. Er akzeptiert den eigenständigen Stellenwert des Gewissens ohne jeden Vorbehalt, aber er bindet es ebenso vorbehaltlos an objektive, vorgegebene Normen, die Sexualität etwa an die Zeugung von Nachkommen. Genau darin liegt der vormoderne Kern seiner modern argumentierenden Rede.

Deshalb fällt es dem Papst auch schwer, mit Parlamentariern auf gleicher Augenhöhe zu reden. Gewiss ist es wichtig, im Parlament einmal so prinzipielle Töne zu hören. Aber Ratzingers Grundmelodie mit ihrer einschichtigen Kritik an der Moderne, ihrem engstirnigen Positivismus und Machbarkeitswahn erweckt doch den Eindruck, als seien das unbekannte Gedanken. Sind die Politiker denn alles orientierungslose Positivisten? Sind wir denn einfach gottvergessen, wie Woelki freundlicherweise Berlin nannte? Statt das Hohe Haus zu belehren, hätte der Papst auch an einige Sternstunden der deutschen Parlamentsgeschichte erinnern können, zuletzt an die höchst verantwortliche, alles andere als positivistische Debatte über die Präimplantationsdiagnostik vom vergangenen April. Er hätte auch unsere Demokratie preisen können, weil sie sich vorbehaltlos an vorgegebene Werte bindet, die auch kein Parlament aushebeln darf oder will. Das schöne Wort vom hörenden Herzen hätte man nicht als die Mahnung eines Idealisten, sondern als das Signal eines tiefen Einverständnisses verstanden. Daraufhin hätte er die wirklich spannende Frage besprechen können, wie die hehren Prinzipien einer Grundsatzmoral auf hoch komplexe Situationen anzuwenden, im interkulturellen Diskurs zu ermitteln und im Dialog zwischen Weltanschauungen zu konkretisieren sind. Das ist auch nicht im Ansatz geschehen.

Allerdings kann man die Rede auch als Kampf um Symbole verstehen. Gelingt es dem päpstlichen Diskurs, sich das Wort von der Bewahrung der Natur für seine eigenen Vorstellungen anzueignen, so dass bei diesem Wort jeder an das katholische Naturrecht denkt? Versucht der Papst etwa, das Bild vom aufgerissenen Fenster seinem Vorgänger Johannes XXIII. zu entwinden, sodass es nicht mehr vom frischen Kirchenwind, sondern vom Gehorsam gegenüber höheren Normen kündet? Und wird er die ökologische Bewegung zum „Schrei nach frischer Luft“ relativieren können? Nein, Ratzingers Botschaft: „Wo Gott ist, da sind klare Normen“ ist nicht unfehlbar. Eher meine ich: Wo Gott ist, da ist Freiheit, denn noch nie sind die Normen unvermittelt vom Himmel gefallen. Sie sind uns vielmehr, wie Benedikt mit Paulus sagt, in Herz geschrieben. So gesehen hat der Papst auch zu Unrecht mit seinem Alter von 84 Jahren kokettiert, denn der vom Papst zitierte Rechtstheoretiker Kelsen ist nicht rühmenswert, weil er etwas Intelligentes, sondern weil er in diesem Alter etwas Neues sagte. Allerdings müsste der Papst, wollte er zu dieser Größe gelangen, zuerst die Tiara, das Zeichen eines höchsten Herrschaftsanspruchs, aus seinem Staatswappen verbannen.

(26.09.2011)