„Wir lesen dem Papst die Propheten …“ – Ansprache während einer Mahnwache

Während des Deutschlandbesuchs von Benedikt XVI. vom 22.-25, September 2011 wurde in römisch-katholischen Kirchen viel Kritik laut. Eine Gemeinde in Nordbaden hat sich dazu entschlossen, dem Papst „die Popheten zu lesen“.

Freundinnen und Freunde,
Mitkämpferinnen und Mitkämpfer,
Schwestern und Brüder im Glauben an einen Gott der barmherzigen Güte

„Weh euch, ihr Schriftgelehrten, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich.
Weh euch, ihr Schriftgelehrten, ihr Heuchler! …Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele.
Weh euch, ihr Schriftgelehrten, ihr Heuchler!“

Jesus hat eine frohe, eine glücklich machende Botschaft verkündet, aber oft vergessen wir die Leidenschaft, aus der diese Frohbotschaft hervorsprudelt. Es ist eine ur-jüdische und zugleich die ur-jesuanische Leidenschaft für Gerechtigkeit, für das leiblich und soziale Wohl der Menschen, der Gemeinschaften und ganzer Gesellschaften, eine Leidenschaft für die Zukunft der ganzen Welt. Biblischer Glaube kann nur auf diesem Boden gedeihen und nur mit dieser Leidenschaft wird sie eine Zukunft haben.

Wenn sich dieser Horizont zurückzieht oder verschwindet, wird der christliche Glaube zur Ideologie. Deshalb gehört zu dieser Leidenschaft auch die Empörung gegen alles, was Menschen ausschließt und diskriminiert, was Solidarität verhindert und was Barmherzigkeit zu Menschen blockiert, wer und wie auch immer sie sind. Denn Barmherzigkeit meint kein überlegen-gnädiges Hinwegsehen über Fehler und Schwächen, gar ein mitleidiges Herabsehen auf sie, sondern Kampf für Menschen, die in Not oder Sackgassen geraten sind. Nicht die Sünde, sondern die oft aussichtlose Situation von Menschen ist es, von der Jesu Güte, seine Gesetzeskritik und sein „Wehe“ gegen die Schriftgelehrten angetrieben wird. Seine Barmherzigkeit lebt aus der Erkenntnis, dass allen Menschen die Gemeinschaft mit Menschen, und das heißt zugleich: die Gemeinschaft Gottes zusteht. Niemand ist rechtlos vor Gott.

„Weh euch, ihr Schriftgelehrten, ihr Heuchler!“ Ich übergehe hier bewusst den Zusatz „ihr Pharisäer“, den vermutlich schon Matthäus oder seine Vorgänger in den Text eingefügt haben. Denn dieser Zusatz deutete Jesu Warnungen leider schon früh auf eine Gruppe um, die nicht mehr zur jungen Christengemeinde gehörte, und auf die man die Aggressionen abladen konnte, ohne sich selbst anklagen zu müssen. Gerade die Pharisäer bildeten in ihrer Zeit eine breite Gruppe von Frommen, die sich redlich nicht nur um Gottes Willen, sondern auch um das Wohl der Bedürftigen kümmerten. Gerade deshalb hatten sie im Volk einen starken politischen und religiösen Einfluss. Sie suchten, wie wir heute wissen, eine barmherzige Auslegung ihrer jüdischen Tradition, also der Thora. Thora und Barmherzigkeit, beides war urjüdisch. Einerseits galt diese enorme Anhäufung von alten Sitten, Gebräuchen, Verhaltensregeln und göttlichen Geboten, andererseits setzte sich – zumal bei den Propheten – immer wieder diese unbändige Leidenschaft der Barmherzigkeit durch, die für gerechte, wir würden heute sagen: für menschenwürdige Verhältnisse stritt.

Also übersetze ich: „Weh euch, ihr Theologen und Kirchenführer! Ihr seid es, die den Menschen erneut ihren Weg zu ihrem Glück, zu einem gelungenen Leben verschließen!“ Natürlich darf das nicht zur oberflächlichen Anklage werden. Denn sie fangen ja alle mit gutem Willen an. Getreulich studieren sie die Schrift, Theologie und die kirchliche Überlieferung. Auch sie möchten am Anfang, dass alles besser, lebendiger wird und sich aus seiner Starre löst, dass über Gottes Willen wieder Klarheit herrscht. Aber irgendwann fallen viele von ihnen zurück auf den Buchstaben dessen, was sie gelernt haben, schwarz auf weiß nach Hause nehmen können. Sie vergessen den Geist und die großen Motive, von denen her die alten Sanktionen, Bestimmungen, Moral- und Wahrheitsregeln zu verstehen sind. Allmählich beginnen sie, Monologe zu führen, für die Institution an sich zu kämpfen und an der Dynamik unserer Kultur zu verzweifeln. Sie vergessen den Geist der Schrift, die Leidenschaft für Recht und Gerechtigkeit.

Zu welchen zornigen Reaktionen, gar zu welchen Wutausbrüchen diese Entwicklung schon damals geführt hat, können wir bei den Propheten und beim urjüdischen Propheten Jesus von Nazareth lesen. Haben wir das Recht, die harten Worte Jesu und der Propheten auf unsere Gegenwart zu übertragen? Werden wir mit solcher Kritik nicht überheblich und selbst unbarmherzig? Wir haben dazu nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht. Denn es zeigt sich, dass es wieder einmal an dieser Leidenschaft für Gerechtigkeit und ein menschliches Zusammenleben fehlt. Deshalb haben wir nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, über den Zorn und die Wut zu sprechen, die sich bei uns angesammelt hat; ich sage das als katholischer Christ und im Blick auf die römisch-katholische Kirche.

Schon vor beinahe 50 Jahren wurden auf dem 2. Vatikanischen Konzil die Segel für die Erneuerung gesetzt. Das Boot der Kirche sollte erneut in die Weltmeere stechen. Damals haben wir dieser Kirche zugetraut (und wir trauen es ihr noch immer zu), dass sie in den Stürmen gerade nicht untergeht, sondern sich im Einsatz für eine friedliche Zukunft und die großen weltethischen Ziele bewährt. Dafür sollte sie sich auch innerhalb der eigenen Reihen rüsten, neu fahrtüchtig werden.

Zugleich wussten wir, um das Bild weiterzuführen, dass dieses eine Kirchenschiff eigentlich auseinandergebrochen war. Wir fahren auf einem kaum noch seetüchtigen Wrack, dem zwei Drittel, wenn nicht gar mehr, fehlen. Es ging (und es geht) deshalb darum, die einzelnen Stücke des Schiffs wieder zusammenzuholen und so miteinander zu vertäuen, dass wieder ein großes, wenn man so will: hochseetaugliches Schiff entstehen kann. Die Ökumene wurde als eines der entscheidenden Ziele erkannt und die Arbeit an ihr haben wir als einen wichtigen Auftrag erfahren, der nicht immer wieder verzögert, verhindert, als Bedrohung des Glaubens erfahren werden darf.

Deshalb sind wir nicht nur traurig, sondern auch zornig über die Art, in der der Papstbesuch bislang abgelaufen ist. Fahrt in die Weltmeere? Zwar hat die päpstliche Rede vor dem Bundestag bedenkenswerte Akzente gesetzt. So wies er darauf hin, dass wir Menschen uns nicht selbst gemacht haben und die Natur ihre eigene Würde hat. Aber auf konkrete Anwendungen, wirklich weiterführende Gedanken warteten wir vergebens; ein zukunftsweisender Impuls ging von dieser Rede nicht aus. Wirklich enttäuschend war der Tag in Erfurt. Zwar besuchte der Papst das Augustinerkloster und sprach über Luthers leidenschaftliche Suche nach Gott. Aber zu dessen reformatorischem Durchbruch sagte er kein Wort. Die Frage nach einer ökumenischen Annäherung schob er auf die Ebene politischer Aktionen und erklärte, wir hätten unseren Glauben nicht selbst gemacht. Wie Recht er hat! Aber er vergaß, die Frage zu beantworten, wer denn die Kirchenspaltung verursacht hat. Es liegt an uns, den Glauben gerade deshalb wieder zukunftsfähig zu machen, weil er uns geschenkt wurde und wir nicht so selbstgerecht mit ihm umgehen dürfen.

Diese ökumenische Enttäuschung kann unsere Wut über einen unbeweglichen Kirchenapparat, aber auch unsere Leidenschaft für eine erneuerte und zukunftsfähige Kirche nur noch verstärken. Bei der Enttäuschung kann es nicht bleiben. Deshalb muss Erfurt 2011 zum Signal für einen Neubeginn, einen entschlossenen Aufbruch werden. Nach gut vier Jahrzehnten des Wartens ist das Vertrauenspotential gegenüber den Amtsträgern erschöpft. Viele reformwillige Frauen und Männer unserer Kirche haben ein beklemmendes Gefühl: Wir leben in einem vorrevolutionären Stadium, denn so geht es nicht weiter. Wir können uns nicht mehr an eine Gehorsamspflicht gegenüber den Amtsträgern binden oder einfach auf die Lehren des Katechismus (wie der Papst in Berlin forderte) festlegen lassen. Wir alle haben intensiv über die Schriften nachgedacht und über die Frage, was unsere Gesellschaft von Christen erwartet. Täglich begegnen wir evangelischen Mitchristinnen und Mitchristen; wir teilen viele spirituelle und gottesdienstliche Erfahrungen mit ihnen. Deshalb gehen wir unsere Wege nicht aus reiner Willkür, sondern aus geistlicher Erfahrung und aus einem christlich orientierten Gewissen. Die von Paulus proklamierte Freiheit der Christenmenschen steht auf dem Spiel: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht erneut unterjochen.“ (Gal 5,1)

Der Papst nahm in Berlin einige wichtige Symbole in Beschlag, die wir uns nicht nehmen lassen. Er sprach von einem „hörbereiten Herz“, das auf Gottes Stimme hört. Das wollen wir tun. Aber wir hören Gottes Stimme auch aus dem Mund der Propheten und vieler Mitmenschen, die unsere Hilfe brauchen. Er sagte, es sei Zeit, „die Fenster aufzureißen“. Wir erinnern uns daran, dass Johannes XXIII. schon zu Beginn des 2. Vatikanischen Konzils die Fenster öffnete, damit der Wind des Geistes durch die alten Mauern bläst. Warum will man den Wind von damals draußen halten? Der Papst sprach in Erfurt von der höchst aktuellen Frage M. Luthers nach einem „gnädigen Gott“. Wir stimmen ihm vorbehaltlose zu. Wir sehen aber, dass viele aktuelle Regeln der katholischen Kirche diesen Weg zu Gott eher behindern als zur Sprache bringen. Der Papst sagt uns immer wieder, wir sollten bescheidener werden und uns vom Gedanken verabschieden, dass alles organisierbar und machbar sei. Auch darin hat er Recht, aber wir sehen mit Schrecken wie unbescheiden, wie überorganisiert und überinszeniert der aktuelle Besuch verläuft. Deshalb müssen wir auch die inneren Widersprüche unserer eigenen Kirche offen legen. Wir tun dies nicht aus zwanghafter Kritiksucht, sondern weil dies auch unsere Kirche ist und bleiben soll; wir möchten zu ihr stehen und sie als eine offene, versöhnungsbereite, friedliebende und ökumenisch verbindende Gemeinschaft erleben. Deshalb ist uns auch das Erfurter Wort von Frau Göring-Eckart, Synodenpräses der EKD, wichtig. Nach ihren Worten sind wir als Getaufte dazu ermächtigt, an der Einheit der beiden Kirchen weiterzubauen und uns einander als Kirchen endlich anzuerkennen.

Die Erneuerung einer ökumenefähigen Kirche fängt ja mit Gemeinden an, die – gewiss, im Einvernehmen mit leitenden Organen – ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln können. Dazu zählt das Wort des Galaterbriefs: „Da gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau.“ (Gal 3,28) Und ein christlicher Geist kann in diesen Gemeinden nur wachsen, wenn alle Gaben der Gemeindeglieder wirklich zur Geltung kommen und anerkannt werden. Paulus spricht von den Charismen.

Die Erneuerung einer ökumenefähigen Kirche kann sich nur durchsetzen, wenn die Leitungsämter vom Gemeindeleiter bis zum Repräsentanten der Gesamtkirche funktional gestaltet und auch relativiert werden. Wir verweigern diesen Ämtern unseren Respekt nicht. Im Gegenteil, die katholische Tradition hat auf sie immer besonderes Gewicht gelegt. Aber ihnen steht keine unnahbare Heiligkeit und Unberührbarkeit zu; Heilige Väter haben bei Christen nichts zu suchen. Wenn Paulus von den „Heiligen“ spricht, meint er immer die gesamte Gemeinschaft von Christen, die an einem Ort versammelt sind. In Gott geheiligt ist also das christliche Gesamtprojekt, dem wir uns verschrieben haben, nennen wir es Suche nach dem Gott Jesu Christi, Leidenschaft für eine menschlichere Gesellschaft, lebenspraktischer Einsatz für die Verlorenen und schließlich die Solidarität mit allen, um die sich niemand mehr kümmert. Darum geht es und deshalb schulden selbst die höchsten Leitungsämter der Basis Rechenschaft für ihre Überzeugungskraft und ihre Leitungsqualitäten, für ihr Handeln und ihre Fähigkeit, mit Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen Kontakte zu knüpfen. Genau genommen sind Amtsträgerinnen und Amtsträger wie in der Kirche der ersten Jahrhunderte zu wählen. Nur so wird unsere Kirche in ihren Frontstellungen, Diskussionen und Entscheidungen wieder transparent.

Aber der wichtigste Punkt muss noch genannt werden: Er ergibt sich aus der Frage: Wofür ist die Kirche überhaupt da? Jesus hat, wie wir wissen, nie und nirgendwo eine Kirche angekündigt und die Evangelien entscheiden sehr genau zwischen der Kirche, also der Gemeinschaft der Nachfolge, und dem Reich, dem Willen und Herrschaftsbereich Gottes, also jener universalen Zukunft, die alle Menschen umfasst und in der Gottes Gesetze herrschen: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Friede und Versöhnung. Die Gleichnisse Jesu erzählen nicht von der Kirche, sondern von Gottes Reich, und wenn Matthäus Schwierigkeiten der frühen Kirche zur Sprache bringt, stellt er zum Beispiel ein Kind in die Mitte seiner Anhänger und segnet es: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3). Diese Nähe zum Himmelreich erfordert nicht mehr Kirchlichkeit, sondern Umkehr.

Sie kennen sicher das Wort des französischen Bibelkenners A. Loisy: „Jesus kündigte das Gottesreich an, doch was kam, war die Kirche.“ Das war kein ironisches, sondern ein historisch durchaus korrektes Wort. In der Regel nehmen wir die Kirche zu ernst. Zwar bestimmt sie unseren Glaubensweg in hohem Maße mit, aber zum Ziel unseres Lebens wird sie nicht. Soeben hat mich eine Frau mit der Bemerkung angesprochen, ich solle Gott bitte nicht kritisieren. Als ich mit der Gegenfrage reagierte, wann und wo ich denn Gott kritisiert hätte, antwortete sie: „Wer den Papst kritisiert, kritisiert Gott.“ Gründlicher könnte man den Sinn einer Kirchengemeinschaft nicht missverstehen, die doch ständig der Reform bedarf, weil sie sich immer neu am Gottesreich auszurichten hat: „Dein Wille geschehe“, nicht der Wille der Kirche. Gottes Reich überschreitet den Sinn der Kirche um ein Unendliches. Wir können ihre Aufgabe nicht schlimmer verfehlen, als wenn wir sie mit Gottes Reich verwechseln. Gewiss, Gottes Reich beginnt hier und jetzt; Jesus brennt darauf, dass wir mit ihm endlich beginnen. Aber es beginnt dort, wo wir die Welt verändern, deren Menschlichkeit suchen und sie zukunftsfähig machen.

Liebe Schwestern und Brüder in Christus. Von Bruchsal geht im Augenblick ein starkes ökumenisches Signal aus, das überall gehört werden muss. Unsere Botschaft erschöpft sich nicht in frustrierter Kritik, sondern lebt (so hoffen wir) aus dem Geist der Propheten, von denen wir soeben kräftige Kostproben hörten. Deshalb muss das Signal von Bruchsal überall dort gehört werden, wo Christen verschiedener Konfessionen zusammenkommen und sich um eine gemeinsame Lebenspraxis bemühen. Nicht für uns selbst tun wir das, denn den alten Gewohnheiten zu folgen wäre immer einfacher. Wir haben einem wichtigen Ruf zu folgen. „Wo Gott ist, da ist Zukunft!“ Diesem Motto des Papstbesuchs stimmen wir vorbehaltlos zu. Genau deshalb stellen wir heute Nachmittag all diese Fragen, die auf den Transparenten, in unseren Worten und Liedern, in unseren Herzen verzeichnet sind. Im Augenblick streiten wir vielleicht mit dem Papst, aber gewiss für Gott und für die Botschaft Jesu. Wir streiten für Menschen um eine bessere und mit sich versöhnte Welt. So stellen wir uns Gottes Verheißung, dem alle Zukunft gehört.

(Ansprache am 25.09.2011)