Müssen die Kirchenreformer umdenken?
Ich erinnere mich noch gut: Ende der 80er Jahre fragte mich ein Student während der Vorlesung, wann denn das 2. Vatikanum gewesen sei. Er hatte es ans Ende des 18. Jh.s verlegt, soviel Feudalismus und Selbstherrlichkeit fand er in seinen Texten. Und ich erinnere mich an die Ansprache einer niederländischen Publizistin. Als Tochter eines kirchengeschädigten Elternpaars las sie ihrem reformgesinnten Publikum die Leviten, weil es nach wie vor im Selbstmitleid verharrt, masochistisch seine Frustrationen pflegt, sich aber den kirchlichen Regeln unterwirft, ohne Veränderungen zu erzwingen. Es gleiche einem Zahnpatienten, der lieber Schmerzen erträgt, als zu einem anderen, fraglos besseren Zahnarzt zu gehen. Auch sie hatte recht. Ein Grund der aktuellen Misere liegt darin, dass uns das Konzil ein zwiespältiges Text- und Beschlusspaket hinterließ. Daraus folgt ein zweiter: Die meisten Reformerinnen und Reformer ließen sich von diesem Zwiespalt überlisten.
Das Konzil produzierte Papiere:
Beginnen wir mit dem Konzil und seinen Texten, von deren Masse kaum etwas zitiert wird. Das Hauptproblem ist sattsam bekannt und wird oft leider verdrängt: In vielen Texten reiht sich Kompromiss an Kompromiss oder Aussagen werden von Gegenaussagen konterkariert. Die Kirchenkonstitution kann dafür als Musterbeispiel gelten. Ihr 3. Kapitel über Bischöfe und Hierarchie hat schon vergessen, was zuvor über das Volk Gottes gesagt wurde. Noch immer stehen die Bischöfe der Herde an Gottes Stelle vor; die Primats- und Unfehlbarkeitsdoktrin wurde vorbehaltlos übernommen. Die Quittung für das Rätselwort, die Kirche Christi sei in der Katholischen verwirklicht, präsentierte J. Ratzinger (2000 als Glaubenspräfekt, 2006 als „Oberhaupt“): die Protestanten mögen ihr Kirchesein bitte abschminken. In Ziel und Gedankenführung wirklich klar finde ich nur die Erklärung zur Religionsfreiheit und die zu den nichtchristlichen Religionen. Wer sich auf das Konzil beruft, sollte also genau sagen, was er damit meint.
Derselbe Zwiespalt betrifft den Ablauf der Konzilsjahre. Gestützt auf Archive und Akten neigt die Konzilshistorie zu Beschönigung und einem harmonischen Bild. Die Erinnerungen von Küng (Band I) reden anders: Keine Woche ohne Machenschaften und Flügelkämpfe, die sich schon vor der Eröffnung austoben. Eine Rechtswende nach dem Tod Johannes XXIII. verfinstert das Gesamtbild und die ersten Hoffnungen sind schon zerschlagen. Fragen zu Sexualität und Zölibat sind verboten; der Papst meutert gegen die Kirchenkonstitution und treibt aller Communio-Euphorie die Idee der Gleichberechtigung aus. Er erklärt unwidersprochen: „Der Papst als höchster Hirte der Kirche kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben.“ Als Hans Küng 1970 kommentiert, der Papst könne halt tun, was er will, bricht bei den Fortschrittlichen unter den Theologen ein Sturm der Entrüstung aus.
Es entließ seine Kinder:
Die aktuelle Polarisierung der römisch-katholischen Kirche spiegelt genau die innere Polarisierung der offiziellen Texte, mehr noch die Spaltung, von der damals schon die Konzilsteilnehmer beinahe zerrissen wurden. Doch im Gedächtnis bleiben nur noch einige Glanzpunkte übrig: der Mut, mit dem man zu Beginn die kurialen Entwürfe und Kommissionen vom Tisch fegte, die denkwürdige Kurienkritik durch Frings (mit einem Ratzingertext als Grundlage), Gestalten wie Döpfner oder wie Bea, der sein Ökumeneprojekt unbeirrt durchzog. Den Rest haben wir vergessen oder verdrängt. Aber durchgesetzt hat sich genau jene Ambivalenz, die auf den angesagten Reformen nie konsequent, sondern immer nur halb bestand, mit dem Vorbehalt des frommen Gehorsams und immer in der Hoffnung, wir bekämen verständige Hierarchen, die es für uns richten. Entweder haben wir nicht folgerichtig gedacht oder nicht konsequent gehandelt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen trifft diese Kritik auf alle Konzilskämpfer meiner Generation zu. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, wir hätten es nicht besser verdient.
Der Gedanke mag unbarmherzig sein. Zunächst meine ich auch nicht die Männer und wenigen Frauen in der Gemeindeleitung, die Mitarbeiter/innen im pastoralen Dienst und die Ehrenamtlichen in wichtigen Funktionen. Sollten sie unabsehbare Konflikte vom Zaun brechen, die noch niemand so richtig verstand? Schon eher denke ich – wiederum von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – an meine Kollegen, zunehmend auch an manche Kollegin vom theologischen Fach, deren Produktion nur noch aus Grundsatzthesen, Differenzierungen, Vermittlungen und der Kreation von komplizierten Worten besteht. Warum sagen sie nicht offen, welchen Unsinn die kirchliche Amtstheologie enthält und wie fundamental sie den simpelsten Glaubensprinzipien widerspricht? Warum heißen sie nicht offen die zahllosen Regelübertretungen gut, die in unseren Gemeinden von Tag zu Tag zunehmen, aber meistens versteckt werden? Warum wagen sie es auch 2011 noch nicht, unverblümt die Ordination von Frauen zu fordern? Warum stellen sie nicht die Frage, ob der Durchschnitt unserer Bischöfe überhaupt eine kirchliche Autorität beanspruchen kann? Verdienen sie denn ihre altwehrwürdigen Titel? Was tun mit einer Oberhierarchie, die – geschichtlich gesehen – mit schöner Regelmäßigkeit für Kirchenspaltungen sorgt und trotz Konzil keinen Schritt weiter will? Sind eine Reihe von ihnen nicht schlicht und ergreifend Mietlinge, um das biblische Wort für unsere Zeit zu benutzen? Warum werden nicht die Fälle besprochen, gewürdigt und mit Argumenten legitimiert, in denen Widerstand die einzig christliche Lösung bedeutet?
Dieser Dienst wird den getauften Mitkatholik/innen bis heute kaum angeboten; auch von dieser Kritik nehme ich mich nicht aus. Stattdessen sind das bischöfliche Verwaltungswesen, römische Verordnungs-, Ernennungs- und Sanktionspraxis mit Hilfe des CIC dabei, das noch bleibende Leben unserer Gemeinden und Gemeinschaften zu reglementieren, d.h. zu ersticken. Von Menschenrechten, geregelten Rechtsverfahren und Verwaltungsabläufen keine Spur! Der nachkonziliare Versuch, ein Grundgesetz einzuführen, ist nach mehrmaligen Anläufen am kurialen Widerstand gescheitert. Aktuell ist die Kirchenleitung dabei, die letzten Nachwirkungen des Konzils zu beenden.
Und hat doch seine Spuren hinterlassen:
Umso erstaunlicher, dass dennoch eine neue Erfahrung von Christsein entstanden ist. All meinen Lamenti zum Trotz gebe ich deshalb gerne zu: Trotz aller Enttäuschungs- und Schrumpfungsprozesse gibt es vitale Gemeinden. Sie handeln selbständiger, vielfältiger und demokratischer als früher. Unabhängig von der purpurn glänzenden Überwelt hat das Konzil noch ganz andere Effekte erzielt. Von unten hat es zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt. Gemeinschaften und weltweit agierende Aktionsgruppen finden ihre Wege. Auch die verschärfte Repression lässt die Kritik nicht verstummen; die mediale Prachtentfaltung des Papstes verstellt den Blick auf die Marginalisierten nicht. Die engagiert kundige Beschäftigung mit der Bibel, zu Konzilszeiten angestoßen, wurde ebenso zum Selbstläufer wie die regelmäßige Begegnung mit nicht-katholischen Gemeinden, das Beten und Handeln mit ihnen. Ökumenisches Bewusstsein hat Hochkonjunktur und ist schon lange in eine interreligiöse Spiritualität hineingewachsen.
Müssen Reformer umdenken?
Vielleicht sollten wir unsere Strategien ändern. Wer vom Konzil spricht, sollte genauer sagen, was er damit meint. Der Konzilsmythos als solcher hat ausgedient und seine Erinnerung verblasst. Wer ein Anliegen verteidigt, sollte dies mit aktuellen Sachargumenten tun. Sie müssen sich selber tragen, seien sie biblisch, theologisch, schlicht menschlich oder aus persönlicher Erfahrung gewachsen. Wir leisten den guten Intentionen des Konzils keinen besseren Dienst, als wenn wir es im Gefecht des Alltags vergessen. Den Bischöfen muss klar werden, dass sie im Glauben einer Gemeinde relativ unwichtig sind, dass ein Gottesdienst – die Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung eingeschlossen – vor Gott notfalls auch ohne prädestinierte Amtsleiter funktioniert. Es genügt die Gemeinschaft in Jesu Namen. So gesehen kann der aktuelle Zusammenbruch der Pastoral – ich wage die These – den Gemeinden nur nützen. Sie werden sich endlich aus ihrer Bevormundung, diesem Relikt aus einer feudalen Reichskirche, befreien. Dass damit kein separatistisches, gar häretisches oder „unkatholisches“ Wort ausgesprochen ist, versteht sich von selbst.
Wer sich so vom Konzilsmythos befreit hat, kann von Konzilsthemen wieder reden. Erinnerungen und Visionen halten lebendig, gerade dann, wenn deren kritische Potentiale geweckt werden, – die Erinnerung etwa, dass selbst zu Konzilszeiten die leidenschaftlichsten der Bischöfe in die Katakomben abtauchten, um sich dort über eine christliche Lebenspraxis klar zu werden, auch das eine antikonziliare Konzilserinnerung.
Am meisten bedrängt mich die Tatsache, dass nachfolgende Generationen bei uns nur mäßig Anschluss finden. Was haben wir falsch gemacht? Wir laborieren an einer nicht offen bewältigten, autoritär gebundenen Mentalität. Diesen Zahn müssen wir uns endlich ziehen lassen, um dann mit den Jüngeren eigene Wege zu gehen. Finden wir also zur inneren Freiheit, die manche außerhalb römisch-katholischer Mauern, andere in Zwischenzonen, viele aber innerhalb ihrer angestammten Kirche finden. Diese Freiheitsarbeit nimmt uns niemand ab. Aber gemeinsam können wir sie schaffen.
(Publik Forum, Mitglieder-Rundbrief Dez. 2011, 12-15)