Selbstverschuldete Taubheit

Joseph Ratzinger ist seit 40 Jahren bekannt für seine Angst um den Verlust des katholischen Glaubens. Als Jugendlicher ist er in heile kirchliche Verhältnisse eingebettet und während der Nazi-Zeit erfährt er seine Kirche als moralische Stütze. In der Liturgie fühlt er sich geborgen. Als ihm 1951 Kardinal Faulhaber zur Priesterweihe die Hände auflegt, steigt „ein Vöglein – vielleicht eine Lerche – vom Hochaltar in den Dom“ auf und trällert ein kleines Jubellied. Das ist ihm „wie ein Zuspruch von oben: Es ist gut so. Du bist auf dem rechten Weg.“ Als er seinen Primizsegen in die Häuser trägt, wird ihm klar, „wie sehr Menschen auf den Priester warten, wie sehr sie auf den Segen warten, der aus der Kraft des Sakraments kommt“. Dieser konservative, nahezu folkloristische Grundimpuls erhält sich bis heute. Der junge Professor hofft vergeblich, dass diese Welt nach dem Konzil neu aufblühen wird. Von dieser Enttäuschung erholt er sich nie. In seinen Erinnerungen „Aus meinem Leben“ gibt er davon freimütig Bericht.

Wachsende Polemik und Verbitterung

Kalt ist deshalb die Dusche, der er sich später ausgesetzt sieht. Seit 1968 verschärft sich sein Krisenbewusstsein. Ein heiliger Schrecken bleibt ihm vor dieser Studentenbewegung, aber auch vor der Politischen Theologie sowie vor J. Moltmanns Theologie der Hoffnung. Die Theologie werde radikal zerstört, im Sinn des Marxismus politisiert, Gott werde „ausgeschaltet“. Die nähere Begründung solcher Beleidigungen bleibt Ratzinger bis heute schuldig und über die Motive des neuen Aufbruchs denkt er nie wirklich nach. Wie er noch 1997 klagt, hat er „das grausame Antlitz dieser marxistischen Frömmigkeit unverhüllt gesehen“ (Leben 139/150). 1968 muss er Tübingen „aus heilbringenden Gründen“ (wie ein Mitarbeiter berichtet) verlassen. Auch von Regensburg aus kann er den Verfall nicht aufhalten: 1974 sieht er die Kirche in einem Stadium „schwerwiegender innerer Spannungen“. Schon damals beschäftigt ihn die umstrittene Konzilsaussage aus dem Jahr 1964: Die Kirche Christi „subsistiere“ in der katholischen Kirche. Die liberalen Interpretationen vieler Kollegen passen ihm nicht. Der Satz deute auf Gleichheit, aber dieses Gleichheitszeichen sei nicht mathematisch zu verstehen, „weil der Heilige Geist nicht in ein mathematisches Symbol gezwängt werden kann“ (Prinzipien 243). Seinen Kritikern wirft er einen festen, immer verfügbaren Vorrat an Phrasen vor. Und mit derselben Bitterkeit dekretiert er, weder Ross noch Reiter nennend, man verstehe die Wahrheit jetzt als Produkt der Praxis (Prinzipien 326). So nimmt seine Gesprächsfähigkeit mit anderen Positionen dramatisch ab. Selbstkritik gehe in Selbstzerstörung über, der Christusglaube werde der Fäulnis übergeben, das demütige und einfache Gottesvolk werde verachtet. Man beschwöre den Geist des Konzils, pflege aber einen Ungeist. Häresie werde mit dialektischen Kniffen als Glaubenslehre präsentiert. Warum nennt er nie Namen?

So verwundert es nicht, dass Ratzinger als Glaubenspräfekt (1981-2005) regelmäßig interveniert, Zensuren und Ermahnungen, Schweigegebote erteilt, für Absetzungen oder Berufsverbote sorgt und verborgene Stillhalteabkommen erzwingt. Die spektakulären Konfliktfälle sind wahrlich genug, aber wie ein Eisberg wirkt diese Institution zu 90 % unter der Oberfläche. Immer noch wird sein glühenden Eifer von Bitterkeit über neuere Entwicklungen begleitet. Dass auch andere vom Heiligen Geist beseelt und faire Konfliktregelungen heilsam sein können, kommt seinem autoritären Führungsstil nicht in den Sinn. So bewirkt er, was er verhindern will: Unfrieden, Polarisierungen, Kommunikationsmangel zwischen oben und unten, zwischen Europa und anderen Kontinenten, zwischen den Bewahrern überkommener Werte und den Erkundern einer neuen Sprache und Spiritualität. Die Neuentdeckung der Schrift wird des Protestantismus verdächtigt. Frauen bleiben Menschen zweiter Ordnung und wer in sozialen Kategorien über Unterdrückung nachdenkt, wird einer gottfernen Haltung verdächtigt. Die europäische Kultur wird zum Nabel der Welt.

Die große Ausnahme

Auch nach außen kennt Ratzinger keine Differenzierungen. Die Protesthaltung mancher Theologen führt er auf die des reichen Bürgertums zurück, das ohne Wirklichkeitskontakt Utopien destilliere. (Lage 17). Von Übel ist der Erfolg der oberen Mittelschicht, des neuen „Tertiärbürgertums mit seiner linksliberalen Ideologie individualistischer, rationalistischer und hedonistischer Prägung“. All diese Schreckensmeldungen, Warnungen und Polemiken, die Ratzingers Artikel und Bücher, die selbst sein Jesusbuch im Übermaß durchziehen, sind für sein Denken über die Situation von Kirche und Welt konstitutiv. Umso problematischer wiegt ihr pauschaler Charakter, der statt Inhalten nur Verurteilungen bietet, aber nichts zur Erhellung beiträgt.

Allerdings kennt Ratzingers pauschale Politik eine bemerkenswerte Ausnahme. In „Salz der Erde“ (1996) stellt sein Gesprächspartner Messori die entscheidende Frage: Während Rom nach ‚links’ hin oft eingegriffen habe, sei dies nach ‚rechts’ hin noch nicht in derselben Stärke erfolgt. Ratzinger verteidigt sich: Die beiden Typen des Widerspruchs trügen unterschiedliche Züge und die Bewegung Lefebvres habe eine deutlich umgrenzte rechtliche Ordnung, i. ü. müsse man gegenüber drohenden Spaltungen „ein Höchstmaß an Versöhnungsbereitschaft und ein Verstehen für die betroffenen Gruppen verhindern“ (Lage 30). Man ist erstaunt und empört zugleich, denn von Verstehen und Versöhnungsbereitschaft gegenüber ‚links’ war bislang auch nicht im Ansatz die Rede. Jetzt aber sprudeln geradezu die mildernden Gründe, die von Ratzingers eigenem Standpunkt genügend verraten. Schließlich seien diese jungen Männer „wahre“ Priester, sie seien von ihren Familien her geprägt und viele hofften auf Versöhnung. Über G. Gutiérrez oder L. Boff, H. Küng, E. Schillebeeckx oder E. Drewermann wurde solches noch nie gesagt, so als wären sie einfach von antirömischen Affekten geleitet. Aber Ratzinger nennt auch ein Argument, das für die Linken natürlich nicht gilt. Ratzinger denkt an die Enttäuschungen der Lefebvre-Leute mit der gegenwärtigen Kirche. Im Grunde gibt ihnen Ratzinger recht; er fühlt mit ihnen. Diese geheime Komplizenschaft erklärt manche römische Entscheidung der vergangenen Jahre. Man denke an die Rehabilitierung der lateinischen Liturgie, die Neuformulierung der Fürbitte um die Erleuchtung der Juden sowie an die Behauptung, dass die evangelischen Kirchen im eigentlichen Sinn nicht Kirche sind. Für einen Glaubenspräfekten und für einen Papst ist eine solche Parteinahme unerträglich.

Warum also reagiert der Glaubenspräfekt so einseitig? Genau gesehen weicht Ratzinger der Frage aus, weil er selbst noch nie über sie nachgedacht hat. Seine Frage lautete noch nie, ob da ein Grundzug der Schrift, die Situation eines Landes oder die Stimme der Menschlichkeit gegen eine kirchliche Gewohnheit spricht. Wann hätte sich J. Ratzinger je mit Sachargumenten der Befreiungstheologie auseinandergesetzt, Anliegen der Frauen nüchtern analysiert, das Phänomen der Homosexualität rational zur Kenntnis genommen? Wann hätte er sich je einem exegetischen Befund gestellt, der gegen seine Überzeugung spricht? Schon 1997 macht es die historisch-kritische Exegese als „Gesteinsanalyse“ lächerlich, die an den lebendigen Organismus nicht heranreicht (Leben 139). Er weicht vor Sachfragen aus und flüchtet in formalisierte Zusammenhänge. Das macht ihn – auch in Sachen Piusbrüder – kolossal weltfremd und naiv. Er muss dafür selbst die Verantwortung tragen, denn er hat die Situation systematisch herbeigeführt. Das möchte ich im Folgenden zeigen.

Immunisierungen

Bis weit in die Konzilszeit hinein präsentiert sich Ratzinger als offener und flexibler Denker, der sich neuen Fragen vorurteilslos annähert. Dann muss eine Zeit des Suchens und (wie ein Biograph schreibt) inneren Ringens begonnen haben; mit nachkonziliaren Entwicklungen will er sich nicht mehr versöhnen. Aus der Rückschau zeigt sich, wie er sich jetzt Schritt um Schritt ein Sicherheitssystem erarbeitet. In mindestens drei Etappen richtet er Grenzzäune auf, die er nie aufgeben wird.

Domestiziert denken

Grenzzaun eins betrifft die kirchliche Lehre. Ratzinger spürt wohl, dass seit den 1960er Jahren Erstaunliches geschieht. Die katholische Theologie gewinnt einen eigenen Zugang zur Schrift und erzielt damit eine epochale Annäherung an die evangelische Theologie. Gehen die Neuerer damit nicht zu weit? 1968 greift Ratzinger auf eine dezidierte Position früherer Jahrzehnte zurück. Nicht „die Schrift allein“ (wie Luther sagt), sondern die Schriftauslegung der Alten Kirche bestimmt den Interpretationsrahmen der Theologie. Zur Debatte steht die Epoche, in der die großen Entscheidungen zu Christologie und Trinitätslehre gefallen sind; sie wurde im Frankreich der 1940er und 1950er Jahre wiederentdeckt. Vor diesem Hintergrund besteht Ratzinger in seiner Tübinger Antrittsvorlesung auf der zentralen „Bedeutung der Väter für die kirchliche Lehre“. Zur Diskussion steht nicht die enorme intellektuelle Leistung dieser Theologen. Debattiert wird aber die Frage, ob und in welchem Ausmaß ihr griechisch geprägtes Denken für die Auslegung der Schrift heute noch Norm sein soll; spalten sie das hebräische Denken nicht ab? Ratzinger nennt Gründe für ihre bleibende Geltung. Diese Theologie repräsentiert als einzige noch die gesamte Kirche. Diese Auslegung hat in großer Unmittelbarkeit die Schrift zur Norm für die christliche Botschaft gemacht. Sie gibt also als erste eine umfassende und spirituell getragene Antwort auf das biblische Zeugnis.

Ratzinger argumentiert solide, aber zwischen den Zeilen spürt man sein Unbehagen: Für ihn wird diese altkirchliche, von ihm so hochgeschätzte Theologie zwischen der Schrift und einem aktuellen Glaubensverständnis zermahlen. Jetzt, nach dem Konzilsaufbruch, gerät sie noch mehr ins Hintertreffen. Nur eine neue Konzentration auf sie könnte aber die Einheit der Kirche wieder voranbringen. Auch die reformatorischen Kirchen müssen nicht nur zur theologischen Reflexion, sondern auch zur Grundgestalt der Alten Kirche zurückkehren. Die Brisanz dieses Vorstoßes haben damals nur wenige durchschaut. Ratzinger möchte nicht einfach die Theologie etwas bereichern. Ihm+ will, dass die Schrift endlich wieder domestiziert, vom antiken Denken her gelenkt wird. Er fordert die „Väter“ wieder als Repräsentanten einer überzeitlichen und unbestreitbar verbindlichen Lehre ein. Man kann das Ziel auch so umschreiben: Dem anarchischen Treiben der progressiven Schriftausleger sind Fesseln anzulegen. Später zeigt sich, wie rigide und stringent sich Ratzinger an diese programmatische Linie hält. Noch in Regensburg (2007) misst er geradezu+Wu. alle Kulturen streng an einer metaphysischen Gottes- und Christuslehre gemessen+; kontextuelle Theologien werden verbannt. In seinem Jesusbuch gerät die Bibel geradezu zum Vorboten altkirchlicher Dogmatik. Damit ist auch der reformatorischen Kernbotschaft der Kampf angesagt. Ratzingers Kirchlichkeit enthält schon damals antireformatorische und antimoderne Züge.

Strikte Loyalität

Grenzzaun zwei betrifft die katholische Lehrautorität. „Demokratisierung der Kirche?“ lautet Ratzingers Frage, die er 1970 zusammen mit Hans Maier in die Debatte wirft. Der Text lässt offensive Spannung spüren. In der deutschen Kirche brodeln Erwartungen. Studentengemeinden stellen Forderungen, die Würzburger Synode (1971-1975) wirft mit ihren Struktur- und Partizipationsfragen ihre Schatten voraus. Totale Demokratie werde gefordert, schreibt Ratzinger erregt. Er verwirft deren gemäßigte Formen gleich mit, befördert „Volk Gottes“, synodale Modelle und die Beteiligung von Laien auf den Müll ignoranter Ideologen. Das Amt solle möglichst lautlos funktionieren, es dürfe also nicht immer im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Ratzinger gibt sich als überlegener Kenner exegetischer und systematischer Hintergründe. „Volk Gottes“, das sei ein alttestamentlich überholter Begriff. Und gemäß der Eucharistie hätten nur Bischöfe und Priester leitende Befugnis. Die Begründung bleibt unklar, umso deutlicher die Behauptung. Den Laien bleibt nur die Akklamation. Nachdem Ratzinger zuvor schon die Schrift mit den Kirchenvätern domestizierte, domestiziert er jetzt die Laien mit dem bischöflichen Amt. Damals wurde dieser Artikel als Beitrag zu einer erregten Debatte begriffe. Heute wurde er zum klaren Programm. Bis hin zum Predigtverbot der Laien setzt Benedikt rigoros auch dieses Prinzip durch. Wird diese Demokratiekritik nicht überinterpretiert? Viele gingen davon aus, dass der „Geist“ des Konzils zu einer geschwisterlichen und offeneren Kommunikation führt. Aber dieser Entwicklung schiebt Ratzinger einen Riegel vor. Schon das Verlangen nach Kommunikation und Geschwisterlichkeit an sich verstoßen gegen die Ziele einer neuen Befriedung. Vor diesem Hintergrund wird der Kirchengedanke seit 1985 massiv sakramentalisiert und gegenüber demokratischen Ideen verschlossen.

Abgegrenzte Identität

Grenzzaun drei lässt sich schwerer durchschauen, ist aber tief in Ratzingers Denken eingebrannt. 1975 erscheint ein Büchlein mit dem unschuldigen Titel „Prinzipien christlicher Moral“. J. Ratzinger ist sein wichtigster Autor. Ob es eine spezifisch „christliche Moral“ gibt und was darunter zu verstehen ist, das wird damals heiß diskutiert. Quer durch alle Teilfragen stellt sich das Ideal einer rationalen, zugleich weltoffenen Humanität, verschärft durch das Glaubwürdigkeitsproblem eines Glaubens, der durch keine Praxis bestätigt wird. Die Diskussion wird durch die Befreiungstheologie mit angestoßen und verschärft. Aber statt die Diskussion kreativ mitzugestalten, wittert Ratzinger wieder einmal eine Krise und er präsentiert die Debatten nach seinem Gusto. Er konstatiert ein heilloses Stimmengewirr, in das Ordnung kommen muss. Nach Ratzinger begreifen die einen das Christentum nicht mehr als wahren Glauben (Orthodoxie), sondern einfach als richtiges Handeln (Orthopraxie). Die anderen, die Positivisten und Marxisten, sehen von der Gottesfrage ab und Wahrheit spielt für sie keine Rolle. Oder gibt es überhaupt keine christliche Moral, da Moral seit neutestamentlichen Zeiten aus der jeweiligen Umwelt übernommen wird? Autonome Moral, Politische Theologie, Befreiungstheologie und die Gedanken des Weltrats der Kirchen halten Ratzingers Erwartungen nicht stand.

Stattdessen präsentiert er den christlichen Glauben als eine konkrete Einheit, die äußere Impulse in oft dramatischen Prozessen übernimmt oder abweist. Schon im Gottesbild selbst sind moralische Vorstellungen verankert, die Bergpredigt lebt aus einer tiefen Gotteserfahrung; Christen sind letztlich „gesinnt wie Christus“. Christliche Moral, so Ratzingers Folgerung, entsteht nur im Leben der Kirche, zu der auch das Ermahnen und Zurechtweisen des Lehramts gehört. So findet er zu seinem Hauptanliegen zurück: Weil die christliche Moral aus der Gnade folgt, ist das Amt der Bischöfe auch heute „für die Kirche unverzichtbar“.

Die Tragweite der Ausführungen ist schwer zu durchschauen. Sie beginnen mit der Moral und enden mit dem kirchlichen Lehramt. Sie gehen auf die Anliegen der Kritisierten nicht ein und bringen Argumente ins Spiel, die die Kritisierten nicht leugnen. Der Schlüssel des Problems liegt in der neuen, für Ratzinger ungeliebten Gesamtsituation. Man entdeckt eine Vergangenheit, in der die christliche Praxis versagt hat (Imperialismus, Rassismus, Holocaust). Christen müssen sich mit ihrer Vergangenheit neu auseinandersetzen, um sie zu überwinden. Zugleich zeigt sich eine Gegenwart, die das Christentum nicht mehr aus sich heraus definieren und gestalten kann. Christen müssen mit Nichtchristen kooperieren. Ratzinger reagiert mit der Weigerung, den moralischen Definitionsanspruch der katholischen Kirche zu relativieren. Er wehrt sich gegen Glaubensgenossen, die die moralische Kompetenz mit anderen Menschen empathisch, solidarisch, demokratisch teilen.

Damit nimmt Ratzinger den Kreuzzug vorweg, den er später gegen Befreiungstheologie, kontextuelle Theologien und ein geschichtliches Verstehen der Religionen führt. Er gerät bisweilen zu einem Dauerkreuzzug, der das katholische Lehramt, der Rom also gegen die ganze Welt positioniert. Diese Welt muss moralisch nicht unbedingt schlecht sein, aber Benedikt hält sie für moralisch inkompetent. Deshalb wird er sie immer wieder von den Lücken her interpretieren. Umgekehrt muss kirchliches Handeln moralisch nicht unbedingt gut sein, aber die Kirche verfügt über eine moralische Gesamtkompetenz, die die Welt in die Schranken weisen darf; sie ist von der Gnade getragen. Nachdem Ratzinger die Bibel mit dem altkirchlichen Glauben und die Laien durch den Führungsanspruch der Bischöfe domestiziert hat, wird jetzt die gesamte, differenziert gewordene Welt durch den moralischen Definitionsanspruch Roms domestiziert. Der Glaubenspräfekt und spätere Papst setzt diesen Anspruch rigoros durch. Er wird einen Vernunftbegriff entwickeln, der auf der Fülle des christlichen Glaubens gegenüber der Welt besteht. In der konkreten Vernunft sieht er immer eine Mischung von dem „Scheinvernünftigen“ und dem, was „wahrhaft vernünftig“ ist. Wer aber kann beide beurteilen? Auch diese Antwort ist im hier besprochenen Text schon gegeben: Ratzinger interessiert die „Kommunikation des Glaubens mit der Vernunft“, weil darin die „Grenzen der Vernunft dem Glauben gegenüber“ zum Vorschein kommen. Das katholische Lehramt behält sich also vor, die notwendigen Unterscheidungen vorzunehmen. Weil Befreiungstheologie und andere Emanzipationstheologien auf einer eigenen Einsicht in die Not der Menschen bestehen, also dieses letzte Definitionsrecht des Lehramts bezweifeln, werden sie in höchste Ungnade fallen.

Vom Leben ausgegrenzt

Mit drei Grenzzäunen hat sich Ratzinger also abgeschirmt, die Schrift, die kirchliche Würde der Christen sowie ihren Handlungsanspruch domestiziert. Seitdem hat er die Theorie und die Praxis seines Monopolanspruchs konsequent ausgebaut, fortgeführt und weltweit abgesichert. Kein Papst hat je so konsequent, so umfassend und so effektiv in die Geschicke der katholischen Weltkirche eingegriffen wie Benedikt XVI. Nach außen handelt er freundlich, wenn auch nicht immer mit Geschick. Man denke an Regensburg, die Äußerung in Lateinamerika oder über Homosexuelle, den Affront gegenüber den evangelischen Kirchen, die Rehabilitation der lateinischen Liturgie, die Fürbitte um Erleuchtung der Juden. Aber seltsam genug: Alle diese Komplikationen lassen sich auf einen Überlegenheitsanspruch und eine Überlegenheitspraxis zurückführen, die Rom nie revidiert, sondern immer nur ausgeweitet hat. Auch die Wahl Benedikts XVI. war mit keiner Neubesinnung oder Selbstkorrektur verbunden. Vielleicht weil er schon zu alt war? Nein, denn es geht hier nicht um die Psychologie eines alten Mannes. Warum sollte ein so wacher Geist angesichts seiner neuen Aufgabe nicht hör- und lernfähig sein? Es geht hier um die Verhärtung einer Gesamtmentalität, die schon in den 1970er Jahren wieder konsequent in vorkonziliare Schablonen zurückgeglitten ist. Darin liegt der Grund, weshalb Ratzinger sich immer wieder gegen die Kategorien einer vor- und nachkonziliaren Epoche gestemmt hat. Freundliche Interpreten sagen, ihm liege an der großen Kontinuität der Kirche, die auch Einzelkonzilien übersteige. Dagegen lässt sich einwenden, dass Ratzinger die revolutionäre Kraft gerade der großen und gerne verdrängten christlichen Tradition übersieht. Ratzingers Hinweise auf das ineffektive 5. Laterankonzil (1512-1517) am Vorabend der Reformation lassen eher vermuten, dass er die Bedeutung des 2. Vaticanums nüchtern einschätzt. In Wirklichkeit propagiert Benedikt XVI. einen Stillstand, der schon lange eingeleitet war. Dagegen haben kritische Katholikinnen und Katholiken oft genug, aber erfolglos ihre Stimme erhoben. Diese Erfolglosigkeit ist schlimm, noch schlimmer ist die innere Verachtung, mit der diese ignoriert, als destruktive Kritiker diskriminiert, bisweilen mit Sanktionen belegt werden.

Nun hat die innerkirchliche Polarisierung zwischen Rom und westeuropäischen Ländern mit dem 24. Januar 2009 eine neue Stufe erreicht. Roms Versöhnungsversuch gegenüber den Piusbrüdern geriet zur Posse, die vatikanische Öffentlichkeitsarbeit zur Katastrophe. Selbst viele deutsche Bischöfe verschonten die Kurie nicht mit Kritik. Ihre Krisenstrategie lautete: Alles kann geopfert werden, nur nicht der Papst selbst. An das Tabu eines Papstrücktritts hat kaum jemand gerührt, aber die Frage haben sich viele gestellt. Dabei geht es um keine Strafsanktion oder den Schritt, den ein Verantwortlicher zu gehen hat. Es geht um die Frage, ob ein Mann seiner Generation überhaupt noch den ungeheuren Anforderungen einer so großen Weltgemeinschaft entsprechen kann.

Vorerst bleibt nämlich der Skandal. Der Papst hat die Wiederversöhnung mit den vier Bischöfen der Piusbruderschaft nicht aufgehoben. Nach wie vor darf sich dieser Holocaustleugner Katholik nennen. Er kann sich sogar auf die Wiederversöhnung mit einem väterlich fühlenden Papst berufen. Ärger genug brachte schon die Tatsache, dass diese Rekonziliation stattfand und man erklärte, der Papst habe von diesem Antisemitismus nichts gewusst. Aber die schlimmsten Erwartungen übertrifft, dass wir uns an diesen skandalösen Zustand gewöhnen sollen und der Papst sich zu den großen Aussitzern der Weltgeschichte gesellt. Solange hier keine Abhilfe geschaffen ist, darf es unter Katholikinnen und Katholiken keine Ruhe geben.

Was aber ist die konkrete Situation? Hat der Papst vom notorischen Antisemitismus der Piusbrüder wirklich nichts gewusst? Und wenn dies wirklich der Fall wäre, wie lässt sich das erklären? Kommen wir auf Ratzingers Abgrenzungen zurück, die man auch als Selbstabschottung deuten kann. Denn für Ratzinger und die in seinem Sinn treuen Katholiken sind damit drei Lebensorte fixiert. Ich meine
(1) den Ort kirchlichen Denkens, der die Räume katholischer Weltdeutungen und Visionen absteckt (Grenzzaun 1),
(2) den Ort kirchlicher Loyalität, der die Räume katholischer Verbindlichkeit und Treue bestimmt (Grenzzaun 2),
(3) den Ort sozialer Abhängigkeit und einer lebenspraktischen Identifikation, die die Räume katholischer Verhaltensweisen, Begründungen und Motivationen definieren (Grenzzaun 3).

Alle drei Räume sind alternativlos. Sie grenzen ein statt für unerwartete Perspektiven offen zu stehen: Christliches Denken und Schriftinterpretation werden ausschließlich von den „Vätern“ festgelegt, denn sie geben auf die Schrift eine unmittelbare und umfassende Antwort. Für spätere Deutungen ist ausschließlich das kirchliche Lehramt zuständig. Die These, dass die Bischöfe Nachfolger der Apostel seien und am späteren Wachstum der Offenbarung mitwirken, wird maximalisiert. Moralische Regeln und Motivationen erwachsen ausschließlich aus dem Leben der Kirche und aus einer vom Glauben gesteuerten Vernunft.

Seit den 1970er Jahren versucht Ratzinger mit äußerstem Nachdruck, Christen in diesen Netzen zu fangen. Seine Angst vor einer krisengeschüttelten Kirche lässt ihn für andere Weltdeutungen, Loyalitäten und Motivationen erblinden. Dieser Versuch hat integralistische Züge, denn ein richtiger Katholik ist nur, wer sich diesen Bedingungen in ihrer Gesamtheit unterwirft und außerhalb der Kirche durchsetzt. Er hat zugleich reaktionäre Züge, denn neuen Herausforderungen begegnet er nicht kreativ, sondern in negativer Abwehr. Überzeugend sind diese Strategien nicht, denn prinzipiell verwerfen sie anderslautende moderne Diskurse.

An diesem Punkt nun zeigt sich die Gefahr einer konstanten, sich selbst bestätigenden Egozentrik. Ratzingers Glaubensgemeinschaft verfügt über die fundamentalen Wahrheiten selbst, regelt konsequent ihre Weltdeutung und stellt selbst die Quellen für ein moralisches Verhalten bereit. So verdoppelt sie in sich die Welt, liest alles an ihrer eigenen Innenwirklichkeit ab. Im Grunde braucht sie diese Welt nicht mehr, die ja ohnehin gefährdet, wenn nicht gar böse, allenfalls zu missionieren ist. Natürlich tendiert jede Religion zur Nabelschau. Ratzinger macht sie zum Prinzip. Der Automatismus, der sich bei ihm einstellt, lautet: Wir kennen und garantieren die Lösung. Fragen und Antworten werden formalisiert. Die klassischen Formeln lauten: Kritik an der Welt und Abkehr von ihr, Ja zum katholischen Glauben, Akzeptanz der katholischen Moral, Gehorsam gegenüber dem Papst, im Falle des Irrtums demütige Unterwerfung. Mit diesen Prinzipien werden höchst autoritäre Mechanismen aktiviert, aber unter diesem Pontifikat haben sie neuen Glanz gewonnen.

An diesem Punkt fallen die Parallelen zwischen Kurie und Piusbrüdern in Sprache, Wertung und Neigung zur Formalisierung auf. Mit großem Pathos betonen auch sie ihr Ja zum katholischen Glauben, ihre Unterwerfung unter den Papst (von der in der Schrift nun wirklich nichts zu lesen ist), kritisieren auch sie Demokratie, Liberalismus, Relativismus, Progressismus und den Verfall der öffentlichen Moral. Der einzige Streitpunkt zwischen den beiden Kontrahenten sind einige Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: die Dekrete zum „Ökumenismus“, zur Kirche, zu den nichtchristlichen Religionen, zur Religionsfreiheit und zur „Kirche in der modernen Welt“. Natürlich spielen bei diesem Dissens hart und klar benennbare inhaltliche Dissense eine Rolle: Man ist dagegen, dass andere Kirchen und nichtchristliche Religionen als Partner ernstgenommen werden. Man sträubt sich gegen die Religionsfreiheit als Prinzip des persönlichen Gewissens und stattlicher Regelungen. Man lehnt die Relativierung der eigenen Kirche ebenso ab wie zuviel Nachgiebigkeit gegen der Welt. Das sind massive, inhaltlich fassbare Punkte und die Piusbrüder haben sie in vielen Äußerungen besprochen. Aber soweit ich die Gespräche zwischen Rom und Lefebvre bzw. der Piusbruderschaft an Hand öffentlich zugänglicher Dokumente verfolgen konnte, haben Rom und die Piusbrüder diese Inhalte nie als solche zur Diskussion gestellt, argumentativ verteidigt oder widerlegt.

Immer wieder geht es um Anerkennung und Form der Liturgie, um das Recht der Bischofsweihe, um die Anerkennung konziliarer Dokumente und den Gehorsam gegenüber dem Papst. Allerdings kommt auch die Angst Lefebvres vor einem Abkommen mit Rom zur Sprache; die Feindprojektionen sind enorm und therapiebedürftig: „Ich habe Angst vor diesem Abkommen; ich fürchte die List des Teufels, des Feindes.“ Es geht um Modernismus und ein verführtes Rom, um Lefebvres Gegner im Vatikan. Die extreme Formalisierung der Auseinandersetzung zeigt etwa die von Lefebvre am 5. Mai 1988 unterzeichnete Erklärung, die ein Gespräch zwischen Ratzinger und ihm zur Grundlage hat. (Lefebvre, 669). Man sprach nur noch formal über den Gehorsam gegenüber dem Papst oder über die Ablehnung der umstrittenen Konzilstexte, in diese Innenwelt – so die Illusion – sind alle Sachfragen eingeschlossen. In der Fixierung auf diese von Glaubensformen, Loyalität und kirchlicher Identifikation umgrenzten Kürzel hat man die weltlichen Inhalte komplett aus dem Blick verloren. Der Papst fällt in die Grube, die er zur Bändigung anderer nach dem Konzil neu ausgehoben hat. Ohne diesen Sturm der Entrüstung hätte sich der Papst, der dreimal Eingezäunte, mit einer formalen Akzeptanz der Konzilsdokumente begnügt.

Was aber hätte dies für die Welt, für die durchaus weltlichen Themen und Inhalte bedeutet? Für den Papst alles, weil seine Kirche gültig über Mensch und Welt zu urteilen weiß. Zugleich aber zeigt dieser Fall, wie wirklichkeits- und aussageschwach die innerkirchlichen Verhaltensschemata sind. Sie gleiten geradezu zum Zynismus ab, wenn Antisemitismus unter dem Deckmantel „nichtchristliche Religionen“ abgehandelt wird. Vergleichbares hat sich im Kreuzzug gegen die Befreiungstheologie ereignet, als die konkrete Situation der Armen hinter der Ablehnung von marxistischen Kategorien und der Aufarbeitung von bisher übersehenen Strukturen verschwand. So gesehen liegt der tiefere Zynismus der Versöhnung mit einem Holocaustleugner und mit Antisemiten nicht in der – unverzeihlichen – römischen Unachtsamkeit, sondern in der Nabelschau einer Kirche, die sich mit der Welt nicht wirklich abgibt, weil sie meint, die Welt müsse sich nach ihr richten.

Dieses Missverhältnis spiegelt sich auch in den Bestimmungen zur Exkommunikation. Exkommuniziert wird, wer einer Häresie anhängt oder die Kirche spaltet, wer ohne päpstliche Erlaubnis einen Bischof weiht oder den Papst tätlich angreift, wer als Priester mit einer Frau schläft und sie danach von dieser Sünde losspricht, wer ohne Priesterweihe eine Eucharistie feiert oder ohne Vollmacht die Beichte hört, wer das Beichtgeheimnis verletzt. Letztere Bestimmung macht Sinn, weil sie die menschliche Intimsphäre schützt. Aber für Diktatoren oder Kinderschänder, Massenmörder oder aktive Rassisten sind keine Sanktionen vorgesehen, es sei denn für wiederverheiratete Geschiedene, weil auch sie ein Sakrament verletzen. Natürlich hat Benedikt XVI. diese Verengung nicht erfunden. Er steht in einer langen Tradition, die den Ausschluss aus der Kirchengemeinschaft für kirchliche Interessen instrumentalisierte. Hätte er aber etwas demütiger auf die Gesprächslage seiner Kirche gehört, wäre ihm diese Diskrepanz schon lange aufgefallen. Vorerst beschäftigt sich die offizielle Kirche nur noch mit sich selbst. Sie bildet sich ein, sie beziehe sich dadurch auf Gott.

Zitierte Literatur:

  • Ratzinger und H. Maier, Demokratie in der Kirche. Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Limburg 1970.
  • Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982.
  • –, Zur Lage des Glaubens. Ein Gespräch mit Vittorio Messori, München 1995.
  • –, Salz der Erde, Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Stuttgart 1996.
  • –, Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927-1977), Stuttgart 1998.
  • Tissier de Mallerais. Marcel Lefebvre. Die Biographie, 2008.

(erschienen in: Til Galrev (Hg.), Der Papst im Kreuzfeuer. Zurück zu Pius oder das Konzil fortschreiben?, Münster 2009, 183-191.)