Am 13. März 2013 war die Überraschung perfekt: Ein argentinischer Jesuit, Jorge Maria Bergoglio, wurde Papst und wählte den Namen Franziskus. Für Insider steckten in dieser Nachricht gleich drei Sensationen: ein Argentinier wurde Bischof von Rom, ein Jesuit Papst. Dazu nahm er sich die Freiheit, sich Franziskus zu nennen.
Die drei Sensationen hängen zusammen und beschäftigen bis heute die Öffentlichkeit. In Rom treffen bislang unbekannte Besucherströme zusammen. Bei päpstlichen Ansprachen, Generalaudienzen und Gottesdiensten füllen sich der Petersdom (20.000), die Audienzhalle (25.000) und der Petersplatz (bis 500.000 Menschen) noch mehr als früher. Denn unerwartet kam da einer „von den Rändern der Erde“, der sich von den Mengen segnen lässt und ihnen eine gute Mahlzeit wünscht. Er kennt das unbeschreibliche Elend und die sozialen Missstände seines Landes, erlebte dessen brutales Terrorregime (1976-83). Er steht der Befreiungstheologie nahe und hat das Zeug, die an Besitz und Macht orientierte Mentalität der katholischen Kirche von Grund auf zu verändern. Sein „samaritanisches“ Programm wurde schon vielfach beschrieben.
Ein jesuitisches Franziskus-Programm
Dass ein Jesuit den Papstthron besteigt, galt bislang als ausgeschlossen. Seit Gründungszeiten gehört es zu deren Kernaufgaben, dem Papst auf jeden Wink zu gehorchen. Zugleich ist es ihnen verboten, hierarchische Ämter zu übernehmen. Natürlich konnte der Papst Ausnahmen, etwa die Bischofs- oder Kardinalsernennung eines Jesuiten anordnen. Wer aber kann einem Jesuiten befehlen, Papst zu werden? Und wie kann sich dieser Papst mit Franz von Assisi einen armen Bettler zum Vorbild nehmen, der sich von der Hierarchie konsequent fernhielt? Hier wurden die klassischen Regeln überschritten. Dass sich dieser regelwidrige Jesuit den „kleinen Armen“ (poverello) aus Assisi zum Maßstab macht, lässt noch mehr aufhorchen. Gewiss, die Zeit katholischer Ordenskonkurrenzen ist ebenso vorbei wie Franz von Assisi schon lange über die Tradition der Franziskaner und Kapuziner hinausgewachsen ist. Die alten Rollenspiele haben sich neu sortiert. Franziskus ist selbst außerhalb des Katholizismus interessant geworden. Umso klarer stellt sich die Frage, was Franz von Assisi der Sache nach für den neuen Papst bedeutet.
Papst Franziskus und die Überfigur aus Assisi
Der Lebensstil und die innere Haltung des italienischstämmigen Bergoglio zeigt – für uns Deutsche jedenfalls – viele franziskanische Züge. Er begegnet den Menschen unbefangen, strahlt Nähe aus und wirkt sympathisch. Manches daran könnte auch jesuitisch sein. Doch die Armut wie die eigene Schwester zu lieben, überschreitet jesuitisches Maß. Offensichtlich hat er das Fühlen mit den Armen in ernsten Situationen erarbeitet und so die Bedeutung seines Vorbilds aus Assisi kennengelernt. Sein Lebensweg hat ihn in mehr als eine Grundsatzentscheidung gedrängt, die seine Spiritualität bis heute prägt. Dazu gehören seine frühe Krankheit, sein Eintritt in den Jesuitenorden und die schweren verantwortungsvollen Jahre während des argentinischen Terrorregimes, die den jungen Mann oft an die Grenzen seiner Kräfte trieben.
Doch seine ignatianische Prägung blieb unverkennbar. Er lebt nicht wie der Arme aus Assisi aus einer kindlich-selbstverständlichen Verbundenheit mit Mensch und Natur, sondern nach langen Studien aus einer hochreflektierten Glaubens- und Kirchentradition. Seine Spiritualität ist nicht vom beginnenden 13., sondern mit Ignatius, dem Gründer des Jesuitenordens, vom vorangeschrittenen 16. Jahrhundert getragen, also nicht mehr eingebettet in mythisch-wundergläubige Erzählungen, sondern in eine sorgsam unterscheidende Spiritualität. Während Franz mit seiner Schwester Armut lebte, entdeckt Papst Franziskus sie als ein Ziel, das zu erarbeiten ist. Die vielen spirituellen Anklänge seines Interviews vom Sommer 2013 lassen den Unterschied erkennen. Papst Franziskus ist weniger ein Mann der Naturnähe als ein Mann der Selbst- und Fremdbeobachtung, des ständigen Nachdenkens und der Selbstkorrektur.
Auch seine päpstlichen Gesten, von denen die Berichterstattung lebt, sind grundehrlich und dennoch als Belehrung und Erziehung kalkuliert. Es ist eine paradoxe Bescheidenheit, weil sie zugleich die Öffentlichkeit liebt. Nie und nimmer hätte Franz von Assisi (anachronistisch formuliert) mit gleich zwei Heiligsprechungen einen Megapilgersturm auf Rom initiiert. Auf keinen Fall hätte er sich zum Papst wählen lassen. Das 13. Jahrhundert des poverello, das 16. des Ignatius und unser 21. Jahrhundert sind kaum vergleichbar.
Ignatius von Loyola – Brücke zur Gegenwart
Papst Franziskus ist ein gut ausgebildeter, doch konservativer Theologe, ein leidenschaftlicher und fortschrittlicher Seelsorger, ein zeit- und kirchenkritischer Beobachter. Am stärksten beeindruckt seine Spiritualität, die von Ignatius von Loyola (1491-1556) geprägt ist. Zwischen ihm und von Assisi zeigen sich erstaunliche Parallelen. Beide träumen zunächst von einer Karriere als kampfesfähige Ritter, werden jedoch aufs Krankenbett geworfen, das sie zur großen Revision ihres Lebens bringt. Mystische Erfahrungen stellen sich ein. Franz zieht sich oft in die Einsamkeit, Ignatius in seine Höhle bei Manresa zurück. Beide entdecken die Evangelien, entwickeln eine tiefe Jesusfrömmigkeit und die Idee der Nachfolge und scheitern schließlich mit ihrer Reise nach Jerusalem. Franz entdeckt seine Geschwister in der Natur, Ignatius findet Gott „in allen Dingen“. Es ist diese Mystik des Ignatius, die den Papst mit Assisi näher verbindet, als es ihm bewusst sein mag.
Dabei sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Der fromme, spontan reagierende Franz durchschaut intuitiv die Gefährdungen des Reichtums. 300 Jahre später denkt der zielführend agierende Ignatius rationaler, in Kategorien von Mittel und Ziel. In vitaler Direktheit empfängt Franz die Wundmale Jesu. Ignatius geht den Weg langer Studien. Franz erzählt das Evangelium weiter, Ignatius eignet sich die Evangelien in methodisch geregelter Weise an. Ignatius erreicht keine instinktive Aversion, sondern eine instrumentelle Distanz zu Reichtum und Macht. Der Eine hilft der Kirche, indem er schlicht Gottes Wort verkündet und lebt. Der Andere verschreibt sich einem Reformprojekt, das insbesondere das Papsttum stärkt. In der postmodernen Gegenwart werden diese Gegensätze verflüssigt, sodass sich Franz und Ignatius im Bergoglio-Papst neu treffen können.
Umkehr der Orientierung
Bei aller Nähe bleibt deshalb die Distanz des poverello zu den kirchenoffiziellen Strukturen erhalten. Umgekehrt hat Papst Franziskus schon im ersten Amtsjahr die kirchlich gehorsame Gesinnung seines Ordensgründers nachdrücklich eingefordert. Nur in der Kirche, so seine Behauptung, könne man wirklich an Christus glauben. An diesem Punkt kann sich der Papst mit dem Menschenfreund aus Assisi kaum treffen.
Wie also will und kann der Jesuit Franziskus konsequent zum Jünger des Franz von Assisi werden? Wie kann ein Papst dieses Franziskus-Programm zur Geltung bringen, ohne das römische Monopolsystem von Primat und Unfehlbarkeit nach innen und nach außen aufzubrechen? Früher oder später muss sich der Papst entscheiden.
Gewiss sind Ansätze zur Vermittlung vorhanden und in der Befreiungstheologie seines Landes vorbereitet. Dort geht es um die Frömmigkeit des armen und geknechteten Volkes. Aus dieser Sicht sind die katholischen Strukturen nicht einfach abzuschaffen, aber vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Bischöfe müssen zu Hörenden werden, die Impulse der Erneuerung von unten kommen. Papst Franziskus spricht von einer „Bekehrung“ der Strukturen und er stimmt sicher der These zu: Auch seine Kirchenführung verkümmert zur Symbolpolitik, wenn die konkreten Impulse zu einem erneuerten Leben nicht aktiv von den Gemeinden getragen und vorangetrieben werden. Die größte Gefahr, die dem franziskanischen Programm gegenwärtig droht, besteht in einer überhöhten Papstverehrung, die den Bergoglio-Papst zum Alibi ihrer eigenen Untätigkeit macht.
Konkrete Impulse
Die Kirchen Westeuropas kämpfen ums Überleben, doch die Krise kommt aus den wohletablierten Kirchen selbst. Die Wende, die Papst Franziskus initiieren will, lässt sich am päpstlichen Schreiben Freude am Evangelium vom November 2013 zeigen. In ihm redete er als jemand, der die Not von Menschen kennt, spricht Klartext über die Habgier der Menschen, den Fetischcharakter des Geldes und die tödlichen Wirkungen des aktuellen Wirtschaftssystems. Prompt reagiert die Weltpresse mit heftigen Grundsatzdiskussionen. Wer es anpackt wie dieser Papst, wird offensichtlich gehört.
Allerdings geht es nicht um Augenblickserfolge, sondern um langfristige Prozesse, die das „franziskanische“ Bergoglio-Programm auslösen könnte. Vier Aspekte seien genannt. Ich erwarte …
- einen starken, langfristigen Schub von geistlicher Erneuerung. Sie würde allen Kirchen gut tun, sie zu innerer Gelassenheit führen. Ich traue diesem Papst die Kraft zu, im Sinne des Franz von Assisi ein neues Bewusstsein für die spirituelle Tiefe des christlichen Glaubens und der Nachfolge zu schaffen. Diese Kraft könnte zur Quelle für zahllose Erneuerungen auf verschiedensten Ebenen werden.
- eine neue Öffnung der Kirchen zur Welt von einem entschieden christlichen Standpunkt aus. Der christliche Glaube birgt, wie Papst Franziskus zeigt, mächtige gesellschaftspolitische Potenzen, die die Welt mitgestalten können. Diese Neuorientierung könnte aus der Ursituation des Franz von Assisi erwachsen, der einem eigensüchtig agierenden Vater den Bettel vor die Füße wirft, um am Rand der Gesellschaft in eine Gegenwelt des geschwisterlichen Teilens zu ziehen. Die Befreiungstheologie könnte für weitere Konsequenzen einen ersten Ansatz bieten. Es geht darum, die gesellschafskritische aktuelle Relevanz des Franz von Assisi konkret zu leben.
- einen neuen Stil kirchlicher Präsenz in der Gegenwart. Johannes Paul II. hat die katholische Kirche zu einem medialen global player, sein eigenes Amt oft zu einem christlichen Showmaster hochstilisiert. Unter dieser glänzenden Oberfläche behielt die katholische Kirche eine unversöhnte, autoritär gesteuerte Innenwelt. Papst Franziskus hingegen zieht eine zerbeulte Kirche dem schönen Schein vor. Er spricht vom Lazarett, das die Verletzten versorgt. Gewiss, die verführerische Medienwelt hat es zu Zeiten des Franz noch nicht gegeben, aber es gab damals schon eine Prachtentfaltung von unglaublichem Ausmaß. Ähnlich wie Ignatius von Loyola widerstand ihr der Heilige von Assisi, indem er ihr die Kraft der Einsamkeit und der unmittelbaren Begegnung entgegenstellte. In diesem Sinn erhoffe ich mir Kirchen mit mehr Transparenz und Partizipation.
- eine erneuerte Erinnerung an einen der faszinierendsten Vorbilder, die die Kirchen je hervorgebracht haben. Diese Erinnerung muss von ihren romantisierenden und oft verkitschten Erinnerungen befreit werden. Es reicht nicht, den Sonnengesang mit Gitarrenbegleitung zu spielen. Franz von Assisi war einer, der – dem „Gottesknecht“ vergleichbar – in mystischer Dramatik am eigenen Leibe gezeigt hat, wie elend es um die Menschheit steht und wie sehr sie von solchen lebt, die ihre Wunden der Menschheit am eigenen Leibe tragen.
Ich halte solche tiefgreifenden Prozesse für möglich, weil sie einer ungestillten Sehnsucht vieler Menschen entsprechen. Das heißt aber: Ein Kirchenführer kann sie höchstens anstoßen und für sie einen Rahmen abstecken. Es ist Sache der Christinnen und Christen selbst, in hohem Respekt vor dem Papst, aber ohne alle Papstverehrung von unten zu beginnen. Dann hätte der Papst die Freiheit, sein eigenes Mega-Amt von allen Widersprüchen zu reinigen, die es sich durch die Jahrhunderte aufgeladen hat. Wir sollten nämlich nicht vergessen: Ein Franz von Assisi und ein unfehlbar absolutistisches Papstamt verhalten sich wie Feuer und Wasser. Man darf gespannt sein, wie Papst Franziskus diese hochdramatische Spannung lösen wird.
Ersch. in evangelische Aspekte 2/204, 20-23