Der Löwe des Vatikan

Nach der Papstwahl vom 8. Mai 2025 schrieb mir ein guter Freund, wie sehr er sich über den Namen des neuen Papstes freue. Löwe, das sei doch eine kraftvolle, selbstbewusste und naturverbundene Metapher. Möge sich, gut biblisch gesehen, der neue Papst doch zu einem wahrlichen Löwen von Juda, genauer: zum wahren Löwen der römisch-katholischen Kirche entwickeln, der den Vatikan stärkt und unüberhörbar macht. Doch wenige Tage später erschreckte mich dieser Gedanke, als Netanjahu seinen Angriff auf den Iran unter das Motto des rising lion stellte: „Ein Volk wie ein Löwe, der aufsteht, wie ein Raubtier, das sich erhebt. Es legt sich nicht hin, bevor es die Beute gefressen und das Blut der Erschlagenen getrunken hat.“ (4 Mos 23,34), – ein abscheulich bluttrunkenes Bild. Wollen wir wirklich ein solches Monster als obersten Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche?

1. Leo XIII. und die Folgen

So hat sich mein Freund gründlich geirrt. Selbst aufrechte Jüdinnen und Juden haben da ihre Vorbehalte. Warum wusste er nichts von Leo dem Großen, der 440-461 in Rom mit starker Hand regierte, die päpstlichen Machtansprüche nach Kräften vorantrieb, zudem seit gut 270 Jahren auch als Kirchenlehrer gilt? Warum dachte er nicht an Leo XIII. (1878-1903), der politisch, theologisch und spirituell, also vielseitig engagiert war und mit seinen 86 Enzykliken diese Textform zum aktuell wichtigsten Medium päpstlicher Kommunikation entwickelte? Und natürlich kennt auch der neue Papst dessen originale Sozialenzyklika Rerum novarum (1891), die sich heute noch sehen lassen kann.

Bei seiner Namenswahl dachte Robert Prevost wohl weniger an den ersten Leo, gewiss aber an den dreizehnten, der 1903 im Alter von 93 Jahren (als jemals ältester regierende Papst) verstarb und – nach der offiziellen Erstbestattung im Petersdom – seine letzte Ruhestätte in der Lateranbasilika San Giovanni fand.

Bemerkenswert finde ich, dass sich in seinem Pontifikat gleich mehrere Linien kreuzen, die den Katholismus bis heute prägen. Nach dem Verlust des Kirchenstaates (1870) erkannte er, dass er zu einer neuen, sich emanzipierenden Welt positive Kontakte finden muss. Die belasteten Beziehungen zu Staaten wollte er normalisieren, Kulturkämpfe beenden und theologische Streitthemen entschärfen. Daraus ergab sich sein starkes politisches, auf Frieden und Versöhnung gerichtetes Engagement und so trug er viel zur Entstehung der modernen, in ihrem Sinne weltoffenen Kirche bei. Schon in den Titeln seiner Enzykliken tauchten zahlreiche Länder auf.[1] So wurde er als politisch wacher, an den Geschicken der Welt orientierter Papst verstanden.

2. Erfolgreiche Selbstbehauptung

Doch paradoxerweise versuchte er, die Wege zur Öffnung nicht mit fälligen Selbstkorrekturen zu verbinden, sondern mit Belehrungen nach außen und einer strammen Restauration des klassischen Katholizismus nach innen. Die hochmittelalterliche Gesellschaftsordnung wurde ihm zum Ideal. Beim Kirchenbau förderte auch er die Neugotik mit ihrer restaurativen Logik. Streng verurteilte er alles, was zu innerkirchlichen Veränderungen, gar Revolutionen führen könnte. Er förderte die Marienverehrung und widmete dem Rosenkranzgebet insgesamt sieben Enzykliken. Nach Kräften trieb er die Verehrung des Herzens Jesu voran und machtbewusst weihte er Ihm die gesamte Menschheit. Nachhaltig und mit durchschlagendem Erfolg bekräftigte er die philosophische und theologische Lehre des Thomas von Aquin, genauer: die aufblühende Neuscholastik, die um einiges selbstbewusster, schmalbrüstiger und rational trockener als ihr großes Vorbild daherkam. Sie sollte zur unbestrittenen und unerbittlichen Grundlage der römisch-katholischen Glaubenslehre, also auch des katholisch-theologischen Regelstudiums werden und dies bis zu den 1960er Jahren bleiben. Er verstand sie gar als die einzige universal gültige Philosophie, die alle vernünftigen Menschen auf Grund ihrer geradezu durchkalkulierten Rationalität bitteschön zu akzeptieren haben.

An dogmatischen Einzeldefinitionen schien er weniger Interesse zu haben, wohl aber am streng geordneten Gesamtsystem sowie am absoluten Wahrheitsmonopol einer von Rom gesteuerten Kirche. Dazu gehörte auch  die kritische Analyse (gerne auch Verurteilung) zeitgenössischer weltanschaulicher Strömungen. Unmissverständlich verwies er sie in die Schranken, so etwa das Freimaurertum und (in missglückter Analyse) einen häretischen, in Rom erfundenen „Amerikanismus“.

Immerhin steckte dahinter auch sein Interesse an unterschiedlichen geographischen und lebenspraktischen Kontexten, auch wenn er sie genau kontrollieren und die Römische Kirche als Weltkirche etablieren mochte. Dazu gehören ein offener, geradezu neugieriger Blick auf die Naturwissenschaften (1891 erfolgte die Neugründung der Vatikanischen Sternwarte) sowie der Aufruf zu einer neuen und wissenschaftlich verantworteten Erforschung der Schrift, also einer neuen, wenn auch noch inkonsequenten Belebung der Exegese, die nach wie vor den überholten Vorstellungen des Lehramts zu folgen hatte.

Sein Engagement in der Soziallehre, in Politik und Friedensfragen gelten bis heute als vorbildlich, nur zum Teil wurden sie von späteren emanzipatorischen Entwürfen abgelöst und langfristig setzen sich in Bistümern und Ordensgemeinschaften die monokratischen Interessen seiner Politik klar durch. So konnten weitergehende Prozesse einer konsequenten römischen Zentralisierung und Globalisierung angestoßen werden. Noch heute kennen wir die selbstverständlichen, religiös hoch aufgeladenen Pilgerfahrten nach Rom mit ihrer intensiven Papstverehrung, die im August 2025 erneut um eine Million Jugendlicher auf die Beine gebracht hat. So konnte er damals als lebendiger, geradezu unkonventionell erfrischender Kopf gelten. In der gegenwärtigen Literatur ist von einem Schlüsselpontifikat oder auch vom Prototyp des modernen Papsttums die Rede.

3. Komplex, doch stabil

Allerdings wurden ihm die neuen Zugriffe nicht schwer gemacht, konnte er doch auf den Grundlagen seines Vorgängers weiterbauen. Der Anspruch einer absoluten und universalen Lehr- und Regierungsvollmacht war schon 1870 höchstinstanzlich abgesichert. Was sein Vorgänger dogmatisch und kirchenrechtlich geklärt hatte, musste nur noch spirituell und in der Alltagsfrömmigkeit stabilisiert werden. So bildeten Pius IX. und Leo XIII. zusammen den Grundstein für ein neu stabilisiertes, gegen die Welt abgesichertes und geachtetes Kirchentum, das auch vom 2. Vatikanum nicht einfach abgelöst wurde.[2]

Man unterschätze nicht diese breit ausladende Wirkungsgeschichte, die bis heute nachhallt. Es ist – so jedenfalls die damalige historische Projektion – nur die alte, vielfältig wirksame, sozusagen allgegenwärtige Gegenwart des Papstes, der die unterschiedlichsten Themen besetzen, wenn nicht gar neu konstituieren kann. Die mahnenden Erinnerungen an ihn wirken oft unterschwellig, sozusagen anonym, eben wie eine naturgesetzliche Normalität. Man braucht über sie nicht immer neu zu diskutieren, denn wie selbstgesteuert ziehen sie sich seitdem durch die Weltkirche, deren römische Identität schließlich bekannt war. Im kirchlichen Alltag präsentiert sich unser Zentralismus ja bis heute als biblisch vorgegeben und deshalb indiskutabel. Wer kann gegen diese wachsende, fest in Traditionen verankerte  Weltkirche mit ihren 1,4 Milliarden Mitgliedern etwas anhaben? Die Schrumpfungsprozesse unseres Kulturraums empfehlen sich nicht gerade als zukunftsfähige Speerspitze. Wie aber lässt sich dieses Ineinander von Vielfalt und Einheit nachvollziehen?

In der Tat war es schon im Mittelalter gelungen, die geradezu verwirrende Vielfalt katholischer Theorie und Praxis als Zeichen einer inneren Einheit darzustellen. Faktisch verstand sich Rom in der Kirche des Westens als die entscheidende Kontrollinstanz. Unter Leo XIII. wurde diese Kontrolle unter neuen Vorzeichen erneuert, in den vergangenen 60 Jahren entschieden modernisiert und höchst effektiv umgesetzt. Was sich seit Leo XIII. da neu miteinander vernetzte, gegenseitig interpretierte und ergänzte, das belebte nur die vitale Kontinuität eines globalisierten Kirchenkosmos. Dabei ging es nie einfach um herausgehobene Einzelpositionen, gar dogmatische Spitzensätze, sondern um deren komplexe Gesamtheit, um immer vielschichtige und dynamisch interagierende Konstellationen.[3]

Genau besehen findet sich ja in allen kulturellen Regionen der Welt diese eine Kirchenwirklichkeit, aufgeladen mit ihren weltüberschreitenden Inhalten, sprachlichen und sinnlich fassbaren Symbolen. Die Kirchenrealität ist konsequent in die offiziellen Leitungsämter integriert. Sie ist eingebunden in ein spirituelles, intellektuelles und kirchenpraktisches Milieu. Seine Bekenntnissprache lässt sich überprüfen und seit 325 sanktionieren. Wer die über 5.000 Nummern der verbindlichen, offiziell dokumentierten Lehrtexte einmal eingesehen hat[4], kann die gesteigerte Regelungsmanie auch seit Leo XII. nachvollziehen. Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt die Weltkirche insgesamt keine Anzeichen für den Zusammenbruch dieses genialen Weltsystems.

Westeuropa, die weithin säkularisierte Ausnahme, bestätigt heute nur die Regel. Dies wird in westlichen Reformkreisen gerne übersehen: Aufs Ganze gesehen ist die Sensibilität für innere Brüche, gar Zusammenbrüche, noch gering. Auch progressive Kräfte wissen sich noch stark an blockierende Regeln gebunden; man möchte loyal bleiben. Noch heute sehen Konservative wie Progressive im 2. Vatikanum die große Stunde einer umfassenden Erneuerung, obwohl seine inneren Widersprüche immer noch Spaltungen produzieren und stabilisieren.

4. Das katholische „Sowohl-als-auch“

Worin aber hat dieses Monopol mit seinen belebenden und zugleich zwanghaften Zügen seinen Grund? Es ist der enorme, geradezu mythische Stellenwert  von Einheit und Universalität auch dann, wenn viel von Pluralität, Partizipation und Synodalität die Rede ist. Es sind die zahllosen, geradezu archaischen Signale, die dank sozialer und digitaler Medien noch effektiver wirken als vor hundert Jahren. Man denke etwa an die Hunderten von Bischöfen, die auf dem Petersplatz gerne in gleichgestalteten (teuer fabrizierten) Gewändern und Mitren auftauchen, geradezu im Gleichschritt ihre stumme Rolle absolvieren. Wir sollten diesen mächtigen Antrieb auch bei seinen Nachfolgern, insbesondere beim Wojtyla- und dem Ratzingerpapst, nicht vergessen. Er wird nicht nur eingefordert und gepriesen, sondern auf allen kirchenpraktischen Ebenen eingeübt, dies in der gehobenen römischen Sprache, den erhaben stilisierten Massenliturgien, dem berechnenden Farbenspiel von Purpur und Gold, einem leuchtenden Rot und blendenden Weiß.

Diese Atmosphäre gibt sich inklusiv, schließt aber das Fremde aus. Faktisch setzt sie alle Individualität unter Druck. Sie belässt es nicht bei einem prädefinierten Denken, nicht bei unerbittlichen Verpflichtungen und strikten Schweigeregeln. Vielmehr sind immer letzte und höchst verbindliche Sinnschichten aktiviert, sozusagen ideologisch zu einem großen Schauspiel gemischt. Die internen Spannungen werden von mächtigen Transzendenzerfahrungen überrollt, die doch das „ganz Andere“ thematisieren.

Dass bei römischen Ereignissen (etwa bei Synoden oder Papstwahlen) qualitativ mehr ablaufe als ein demokratischer Mehrheitsprozess, das hat auch Papst Franziskus mit großem Pathos betont. Die machtvolle Signale addieren sich zu einem Gesamtkosmos. Neben diesem befreienden, zutiefst menschlichen „Sowohl-als auch“ wirkt das protestantische (von Reformkräften übernommene) „Entweder-oder“ plötzlich wie eine Verengung, wie ein Mangel an Spannkraft und Weite. Katholikinnen und Katholiken können eben einen strengen Christusglauben und die herzerwärmende Marienverehrung ebenso miteinander vereinbaren wie die Erlösung durch Jesus Christus und die Heilsvermittlung durch ein kirchliches Amt, die strenge Ausrichtung auf einen erlösenden Gott und die Anrufung der zahllosen Heiligen, die augustinische, im absoluten Heilsverlust versinkende Tendenz des erbsündigen Menschen und die starken und selbstbewussten, selbstmächtigen Einschläge eines sich selbst rettenden Pelagianismus, der kontinuierlich an seiner Selbsterlösung arbeitet. Den „einfachen Gläubigen“ wurde und wird das nie zu kompliziert, denn Vertrauen verdient schlicht alles, was die Amtskirche bis heute rechtfertigt und empfiehlt. Die Kirche wird zum entlastenden Signal. Bis heute hat sich das für die große Mehrzahl der Kirchenmitglieder nicht geändert. Genau dafür steht bis heute das von Leo XIII. neu koordinierte System. Unsere programmatischen Reformcodes, die von sälularisierten Modellen inspiriert sind,  bilden da die Ausnahme; sie sind in der Minderheit.

5. Kirchliche Gesinnung?

Neu ist dieses Denkschema nicht und zu Beginn der Neuzeit wurde es in den ignatianischen Regeln über die kirchliche Gesinnung klassisch definiert. „Indem wir jedes eigene Urteil beiseitesetzen, müssen wir unseren Geist bereit und willig halten, in allem der wahren Braut Christi, unseres Herrn, zu gehorchen, die da ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche“. Dies führen dann die weiteren 17 Regeln aus. Zu loben sind u.a. Beichte und Kommunionempfang, Messebesuch und Ordensgelübde, Reliquienverehrung und Kirchenschmuck, Kirchliche Verordnungen und Kirchengebote, Sakramente, Unfehlbarkeit und gute Werke. Bis heute ist hier ein Kosmos wirksam, den kein organisches Wachstum und planloses Wuchern zerstören konnte. Erfolgreich sozialisierte Katholiken der ganzen Welt fühlen sich hier zu Hause, denn mit ihrer Grundorientierung ordnen sie unbewusst alles allem zu: die Höllenängste dem Auferstehungsgeheimnis, die Marienverehrung der Dreifaltigkeit, die schwebenden Schutzengel dem Sakrament der Eucharistie. Als Element der Gott lobenden Schöpfung lassen sich (wie in Barcelona) sogar die Gänse dem heiligen Spiel zuordnen.

Ich möchte dieses traditionell katholische Konzept nicht mit einem Supermarkt vergleichen, wohl aber auf die unbefangene, bisweilen unausgegorene Fülle von eingespielten Gewohnheiten, historischen Entwicklungen und genialen Ideen verweisen. Anzuerkennen ist zwar, dass zahllose magische und abergläubische Praktiken aus dem Mittelalter überwunden wurden. Doch geblieben ist die Lust an einer undefinierten Vielfalt, die einfach die staunende Phantasie anregt und dem Verlangen nach Heil und Erfüllung Orte gibt, derer man sich gerne erfreut.

Unbestritten hat dieser Glanz etwas Verführerisches. Er demonstriert den „Triumph der Gnade“ und handelt in pädagogischer Absicht. Zugleich wird seit dem 19. Jahrhundert diese Lust an tröstlichen Überlieferungen neu mit einer Lehrüberzeugung unterfüttert, die auch bei Ignatius schon grundgelegt ist. Die Aura kirchenamtlicher Unfehlbarkeit hüllt alle diese theoretischen und praktischen Glaubensprodukte in eine Atmosphäre der unverbrüchlichen Wahrheit. Das Wort von Pius IX. „Die Tradition bin ich“ ist nicht nur der Ausdruck seiner Überidentifikation mit der Kirche, sondern auch der verdeckte Kernpunkt eines neu stimulierten Katholizismus mit seinem ungeheuren Erwählungs- und Sendungsbewusstsein. In weitesten Kreisen der Weltkirche ist er bis heute er nicht überwunden.

6. Dispositive der Macht

Allerdings können diese stabilisierenden Effekte nicht den entscheidenden Mangel verdecken, den diese Glaubenshilfen begleiten. Sie stärken nicht nur unsere Bejahung des Lebenssinns, einen geradezu spielerischen Umgangs mit ihm, sondern schränken unsere Glaubensfreiheit auch massiv ein, denn in erster Linie geben sie uns zunächst bestimmte Symbol- und Sprachwelten vor, bevor wir zu ihnen Stellung beziehen können: Lebenspraktiken und Gemeinschaftserfahrungen, Erwartungsräume und ethische Vorstellungen, sowie normative Wissensbestände und Interpretationen unserer Lebenswelt. Wir leben nie in neutralen Aktions- und Denkräumen, gerade unsere Freiheit zum christlichen Glauben ist machtvoll vorstrukturiert. Sie wird ganz wesentlich von der konkreten christlichen Glaubensgemeinschaft und ihren kulturellen Formen geprägt, in die wir hineingeboren sind. Dabei haben unsere eigenen freien Entscheidungen nur sekundären Charakter, da sie immer schon auf die vorgegebenen Dispositionen reagieren.

Dabei drängt sich mir die Gedankenwelt des französischen Phlosophen Michel Foucault (1926-1984) auf. Er untersucht zahllose Faktoren, die unser Wissen und unsere Überzeugungen „disponieren“, sowie die enorme Macht, die sie auf uns ausüben; er nennt sie „Dispositive der Macht“ und analysiert sie als „eine Struktur, die Machtverhältnisse organisiert und steuert, indem sie Diskurse anregt, die wiederum bestimmtes Wissen hervorbringen, das das Denken und Verhalten von Menschen beeinflusst“ (so zutreffend in Wikipedia zu lesen). Konkret bestehen diese Dispositive auf einem „heterogenen Ensemble aus verschiedenen Elementen wie Institutionen, Praktiken, Regeln, Gesetzen, Aussagen und Diskursen, die sich ständig verändern und neu positionieren“. Wen erinnern solche Ausführungen nicht an das dichte Netzwerk von den inneren Strukturen, Wissensbeständen, Loyalitäten und Kontrollmöglichkeiten der römisch katholischen Kirche? Fördert es nicht wie andere gesellschaftlichen Regeln die Illusionen einer subjektiven Freiheit, die letztlich in ein streng gesteuertes Wohlverhalten mündet? Vielleicht kann dies auch erklären, warum auch zeitgenössische Reformideen auf so massiven Widerstände stoßenund stößen müssen.

Seit dem Zweiten Vatikanum trat diese klassische Wahrnehmung des „Sowohl als auch“ (also des stabilen Gesamtkonglomerats von solchen Dispositiven) in den Hintergrund. In unseren Breiten agieren auch traditions- wie reformorientierte Gruppierungen vornehmlich mit Einzelforderungen und isolierten Alternativen. Vermutlich haben auch erneuerungsfreundliche Päpste und Hierarchen diese Wende nicht verstanden. Selbst Papst Franziskus ließ sich auf vorgetragene Alternativen nicht wirklich ein. Die Rolle der Frauen behandelte er ebenso inkonsequent wie die Lockerung des Pflichtzölibats, die Beurteilung der Homosexualität und die Utopie einer synodalen Kirche. Die Reformdiskussionen hingegen spitzten sich immer mehr (vielleicht auch immer oberflächlicher) auf wenige Alternativen zu, die im öffentlichen Diskurs ihrerseits meist mit ethischen, keinen wirklich biblischen oder theologischen Gründen untermauert wurden.

So hat sich gegenwärtig das Diskussionsfeld in merkwürdiger Weise verengt. Selbst die hermeneutische und ideologiekritische Basis vorhergehender Jahrzehnte wurde verabschiedet. Zudem wirken auch viele Reformstimmen inkonsequent. Zu oft hoffen sie, eine abgemilderte Kritik, ein freundlich gewinnender Ton, die sanfte Formulierung der Erwartungen und eine Rhetorik der „Hoffnung“ auf weitere Schritte könnten die Hierarchen zu mehr Zugeständnissen bewegen. So aber lässt sich die egozentrische Permadecke eines inklusiven Kirchenbildes nicht aufbrechen. Weiter und zur Klärung der Konflikte hilft nur ein ungeschöntes Ja-Ja und Nein-Nein.

Auch hilft es nicht, Rom und die Bischöfe um Reformen zu bitten. Nein, auf sie haben wir ein Recht und die innerkirchlichen Machthaber haben dies einzulösen. Falls sie es aber nicht tun, ruinieren sie ihre eigene Autorität so lange, bis das Volk zu eigenen Maßnahmen greift. Warum etwa werden die vielen, gemäß katholischem Ritus geweihten Priesterinnen und Bischöfinnen noch immer unter der Decke gehalten? Warum feiern noch immer so wenige Gemeinden und Glaubensgemeinschaften selbstbewusst und offen auch dort die Eucharistie, wenn es an einem ordinierten Amtsträger mangelt? Warum gelingt es den Bischöfen noch immer, weltweit den Pflichtzölibat so konsequent durchzusetzen? Weil wir alle noch von der beschriebenen inklusiven Glaubenstheologie und Glaubenspraxis durchdrungen sind, uns den machtvollen Dispositiven beugen.

So leben auch unsere Hierarchen noch immer in einem autoritären Modell. In der Regel erkennen sie in den aktuellen Reformpostulaten keine Schlüsselforderungen einer zukunftsfähigen Kirche. Vielmehr ordnen sie diese Forderungen unkritiosch in den gewachsenen römisch-katholischen Gesamtkomplex ein; dieser liefert auch schon die gebotene (entschärfte und harmonisierende) Bibelauslegung mit, von der keine neuernden Impulse mehr ausgehen.

7. Verweigerung denken und praktizieren

Kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück: Warum nennt sich dieser Papst erneut Leo? Weil er – bei allem Willen zur Erneuerung – noch immer in einer bruchlosen und milieukonformen Synthese der systemstützenden Machtdispositive denkt (man beschreibt sie als „die Tradition“). Deshalb stehen Reformkräften nach wie vor harte Zeiten bevor, denn eines ist zu Beginn des neuen Pontifikats zur Kenntnis zu nehmen: Der uniformierende Druck der traditionellen Dispositive ist nach wie vor enorm und keiner der bisherigen Päpste war sich dessen hinreichend bewusst oder gar willens, ihnen konsequent zu widerstehen oder sie zu brechen.

Vielleicht wäre es deshalb besser, auch mit dem päpstlichen Namenskult zu brechen. Denn gleich, ob Pius, Johannes, Paul, Benedikt oder Leo, sie führen uns alle in ein Reich von rückwärtsgerichteten Assoziationen, statt uns aus verführerischen Überlieferungen zu befreien. Die Kirchenpresse ist unverzüglich wieder auf den alten, selbstverliebt kitschigen Stil „kirchlicher“ Berichterstattung eingeschwenkt. Wir werden (wie interessant!) informiert über Leos schwarzes, aber elegantes Schuhwerk, aufgeklärt (wie wichtig!) über seine Sprachkenntnisse, zu Betrachtern (wie aktuell!) eines geschenkten Tennisschlägers oder (wie trendy!) kundig gemacht über die Frage, wie viele Sommertage Leo XIV. demnächst in Castel Gandolfo verbringt.

In dieser autistischen Atmosphäre kann Bischof Stefan Oster seinen USA-Kollegen Robert Barron als beispielhaften Prediger preisen und Trumps schamlose Machtpraxis erscheint plötzlich als akzeptable Folie einer christlichen Weltgestaltung. Der altautoritäre Katholizismus bleibt noch immer resilient und ich fürchte, dass sich daran auch in den kommenden Jahren nur wenig ändert. Deshalb sollten reformorientierte Frauen und Männer endlich lernen, ihre Kirchenlehre und Kirchenpraxis, dieses unendlich dichte Gemeinschaftsgeflecht,bewusst, durch Loyalitätsbrüche und Unterbrechungen erkennbar zu machen, durch gründliche Verweigerungen und bewusste Bejahungen zu realisieren.

Hier seien dem 14. Leo-Papst kein böser Wille, weder eine Täuschungsabsicht noch ein verhärteter Konservatismus unterstellt, wie wir ihn im deutschen Sprachraum von manchen Hierarchen kennen. Im Gegenteil, unter den gegebenen Umständen will er seine Kirche erneuern; dafür verdient er den persönlichen Respekt aller.

Doch ihm sollte endlich klar werden, von welch massiven Gegenkräften eine jede Erneuerung immer schon blockiert ist, mit welchen Verblendungen sie zu kämpfen hat und dass zur deren Überwindung allen Betroffenen ein Recht der Gegenrede zusteht; denn täglich stellen sich alle unbewussten, immer schon vorgängigen, deshalb machtvollen Prägungen taub mit dem Ruf: „Ick bün all hier“. Wenn wir dieser Dynamik nicht endlich die Stirn bieten, könnte in unserer Kirche der elementare Jesusimpuls – der schon seit dem 4. Jahrhundert unter massivem Amtsdruck steht – irgendwann verschwinden, weggespült „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (M. Foucault).

Der neue Löwe des Vatikan sollte also wissen: Die Machtdispositive des Katholizismus, die sich raffiniert unter seiner großen Geschichte, hinter intellektuellen Hochleistungen und mit großartigen Inszenierungen zu verbergen wissen, sind aus ihren Verstecken zu holen und ins Visier zu nehmen. Es ist geboten, dass wir die aktuellen Reformprojekte endlich aus ihren hierarchischen Vorurteilen befreien und mit neuer, zur Not schmerzhafter Gründlichkeit durchbuchstabieren. Angesagt ist eine konsequente, keine absolutistisch zurechtgeschneiderte Synodalität in wirklich jesuanischem Geist. Umso besser, wenn sich ein Papst mit dem Mut eines Löwen nicht althergebrachten Programmen, sondern der neuen Aufgabe stellt.

Anmerkungen

[1] Ausdrücklich thematisiert werden Belgien, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Bayern, Irland, Portugal, Böhmen, Vereinigte Staaten, Böhmen und Mähren, Ungarn, Polen, Peru, Brasilien, Schottland und Ecuador.

[2] Jörg Ernesti, Leo XIII. Papst und Staatsmann, Freiburg 2019.

[3] Kunst- und architekturhistorische Dokumente können diese (im Mittelalter schon stark visualisierten) Zusammenhänge gut illustrieren. Eindrucksvoll lassen sie sich in der altehrwürdigen Kathedrale von Barcelona entdecken. Da steht im barrio gotico ein mächtiger Kirchenbau aus dem 13.-15. Jahrhundert. Man tritt ein in einen geschlossen wirkenden, doch weiten und hohen Raum, überreich geschmückt mit himmlischen und irdischen Gestalten, gotischem Maßwerk und kunstvoll geschnitzten Chorstühlen. Nach oben findet er seinen Abschluss in einem filigran gegliederten Gewölbe. Zwischen den aufstrebenden Fenstern erblickt man zahllose Heiligenfiguren mit ihren Geschichten und Legenden, von Stefan über Pankratius, Kosmas und Damian, über Laurentius und die allgegenwärtige, dort begrabene Eulalia von Barcelona (mit Kreuz, Taube, Eisenhaken und Schnee) bis hin zu Franz Xaver und einigen wenigen aus späteren Epochen. Man sieht die Fülle der Statuen und Bilder, schließlich eine rhythmische Architektur, deren Ebenmaß (gerade in der Stadt eines A. Gaudí und seiner neuen gigantischen Kathedrale) auffällt. Doch damit nicht genug, im angrenzenden Kreuzgang erschließt sich, sozusagen als bruchloser, in die Freiheit entlassender Übergang, der Raum für die „Welt“, eine ungebrochen blühende Volksfrömmigkeit, bis hin zu den frommen Votivgaben, über deren Ästhetik sich niemand Gedanken macht, hin zu den moosüberwucherten Brunnen, Kanälchen und grünenden Büschen, den Tauben und den 13 schnatternden Gänsen der Eulalia, die das Heiligtum (wie dereinst das Kapitol) hüten sollen. In diesem Gesamtkunstwerk wird jeder und jede abgeholt, auch wenn sich diese heimgeholte Welt nach außen wiederum als eklatante Alternative zur säkularen Umgebung präsentiert.

[4] Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, inzwischen 45. Auflage, Freiburg 2017.

Letzte Änderung: 15. August 2025