Seit dem 19. Jahrhundert sucht der Katholizismus für den Umgang mit Irrtum und Wahrheit nach realistischen Regeln. Sein Unfehlbarkeitsmodell, das 1870 dogmatisiert wurde, verabsolutierte die Institution und geriet spätestens 1970 in die Krise.
Vorbemerkung
0.1 Ansehensverlust vs. Absolutheitsanspruch
Meine Damen und Herrn,
Sie beschäftigen sich in diesen Tagen mit der Frage des Irrtums und verbinden damit einen Blick auf die römisch-katholische Kirche. Bekanntlich befindet sie sich in einem Dilemma, das schärfer nicht sein könnte. In weiten Kreisen Westeuropas sind Ansehen und Glaubwürdigkeit auf einen Tiefpunkt gesunken und dies zu einem Zeitpunkt, da sie ihren ausschließlichen Wahrheitsanspruch erneut profiliert. Im Jahr 2000 erschien in Rom eine bemerkenswerte, von Joseph Kardinal Ratzinger verfasste Erklärung, erschienen unter dem Titel Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Sie bekräftigt diesen Wahrheitsanspruch erneut: „Der Gehorsam des Glaubens führt zur Annahme der Wahrheit der Offenbarung Christi, die von Gott, der Wahrheit selbst, verbürgt ist.“ (Nr. 7) „Zugleich“ schließt sie „radikal jene Mentalität des Indifferentismus aus, die durchdrungen ist von einem religiösen Relativismus, der zur Annahme führt, dass ‚eine Religion gleich viel gilt wie die andere’.“
Diese Frage wurde in der Theologie aller christlichen Konfessionen höchst intensiv und vielschichtie diskutiert. Im Folgenden versuche ich, Sie über eine enge Gasse zum entscheidenden Punkt zu führen. Wer aber den Eindruck gewinnt, hier würden erledigte Diskussionen nur repetiert, möge die ersten drei Teile überschlagen und sich gleich mit dem vierten geschäftigen.
0.2 Glaube = Annahme der Wahrheit …
Ich nehme dies zum Anlass, eine Grundspannung herauszuarbeiten, von der im Grunde alle Religionen betroffen sind. Sie alle suchen einen Standpunkt endgültiger Wahrheit in einem Umfeld, das für sie von Irrtum geradezu verdorben ist. Leider muss ich mich auf einen minimalen Ausschnitt der enorm breiten und komplexen Diskussion beschränken; denn bei weitem pflichten nicht alle Katholikinnen und Katholiken der intransigenten römischen Position bei. Zudem ist die römisch-katholische Kirche ein weltweit agierender global player mit etwa 1,18 Milliarden über alle Kontinente und großen Kulturen verstreuten Mitgliedern. Da sich die gestellte Frage je nach Kultur, je nach genauem Zeitpunkt und je nach sozialer Schicht anders darstellt, beschränke ich mich hier auf die Diskussionslage Westeuropas an der Wende zum 21. Jahrhundert aus der Perspektive intellektueller Eliten. Allerdings ist diese Diskussionslage höchst interessant, weil sich in ihr die Wahrheits- und die Irrtumsdiskussion einiger Jahrhunderte zeigt. Zudem ist sie von einer starken Polarisierung gekennzeichnet, da es nach Ansicht vieler um das Überleben dieser Kirche überhaupt geht. Dass ausgerechnet ihre oberste Führungselite zu den polarisierenden Protagonisten dieser Streits gehört, ist nicht Grund, sondern Folge der aktuellen Auseinandersetzungen.
0.3 Diktatur des Relativismus als Projektion
Immerhin hat Benedikt XVI. im Jahre 2005 die Papstwahl – salopp gesagt – mit dem Slogan : „Diktatur des Relativismus“ gewonnen. Er ist also angetreten, um die katholische Kirche neu auf einen strengen Wahrheitskurs zu führen und vom leichtsinnigen Umgang mit dem Irrtum abzubringen. Genauer gesagt: mit der für ihn leichtsinnigen Überzeugung, letztlich sei alles relativ.
Zudem ist die römisch-katholische Kirche zur Frage ‚Religion und Irrtum’ immer noch deshalb ein interessantes Studienobjekt, weil sie in besonders rigoroser Weise einen Wahrheitsanspruch erhebt, der lautet: Unter bestimmten Bedingungen können ihre leitenden Institutionen (ein Papst, ein Konzil oder die Gesamtheit der Bischöfe) nicht irren; die entsprechenden Aussagen können nie und nimmer widerrufen werden. Naturgemäß ist auch diese These als solche nicht revidierbar, weil diese Überzeugung selbst „unfehlbaren“ Charakter hat. Ich dokumentiere das mit der erweiterten Unfehlbarkeitsdefinition des 2. Vatikanischen Konzils (1964 verabschiedet):
Auch wenn die einzelnen Bischöfe nicht über den Vorzug der Unfehlbarkeit verfügen, so verkünden sie dennoch, immer wenn sie – auch wenn sie über den Erdkreis verstreut sind, aber das Band der Gemeinschaft untereinander und mit dem Nachfolger des Petrus beachten – authentisch Sachen des Glaubens und der Sitten lehren und dabei auf eine Aussage als endgültig verbindliche übereinkommen, die Lehre Christi auf unfehlbare Weise. Dies ist noch offenkundiger der Fall, wenn sie, auf einem Ökumenischen Konzil vereint, für die ganze Kirche Lehrer und Richter des Glaubens und der Sitten sind, deren Bestimmungen mit dem Gehorsam des Glaubens anzuhangen ist. (LG 25, Abs.2)
Jede gegenteilige Position ist also indiskutabel, denn sie wäre formale Häresie. Soe prallen die Gegensätze in schärfst möglicher Weise aufeinander. Wir haben das 1970 in einer Kontroverse zwischen Rom und Hans Küng erlebt.
Dennoch ist der Monopolanspruch dieser Theorie, wie ich noch zeigen möchte, schon längst durch andere Modelle unterlaufen. Ich setze mich im ersten Teil meines Referats mit diesem Unfehlbarkeitsmodell auseinander und gehe danach zu zwei anderen Modellen über. Ich nenne sie das (gebundene) Geschichts- und das (offene) Interpretationsmodell. Gezeigt werden soll, welche Probleme sich aus ihnen für die katholische Kirche ergeben. Ich tue das als bekennender, obgleich dissidenter Katholik, d.h. auf Grund von leidvollen Erfahrungen. Trotz bester Absichten, so meine Überzeugung, kann keine Religion, auch nicht die römisch-katholische Kirche, Irrtum einfach überwinden, so sehr sie auch davon überzeugt ist. Im Gegenteil, sie braucht den Irrtum, um Wege zu dessen Überwindung zu finden, d.h., um sich der Wahrheit als einer prozessualen, dialogalen, also interdepedenten Größe überhaupt anzunähern.
I. Das Unfehlbarkeitsmodell
Wahrheit als definierbare, institutionell fassbare Satzaussage
1.1 Zu Verständnis und Bedeutung
- Stichworte der PP-Präsentation:
– Rationalistisches Wahrheitsmodell
– Satz spiegelt die Wirklichkeit
– Modell des Richterspruchs (seit 325)
– Gilt universal und überzeitlich
– Irrtum nur a posteriori möglich (Illumination)
– Ausstrahlung wirkt nach; verführerischer Orientierungsanspruch
Entgegen einer gängigen Auffassung war die katholische Kirche immer irgendwie auf der Höhe ihrer Zeit. Allerdings hat sie in der Neuzeit (seit Renaissance und Aufklärung) immer mehr eine widersprechende Spiegelfunktion übernommen. Sie flüchtete sich in die Überzeugung, auf Grund göttlicher Offenbarung könne sie die Wahrheit klarer sehen als die Philosophie, Natur- und Handlungswissenschaften, und sie könne diese mit ihren eigenen Waffen schlagen. Auf Grund höheren Wissens könne ie also den Irrtum schärfer als die genannten Institutionen verorten.
Deshalb lag für sie in einer rationalistischen Epoche, die sich noch im Widerstreit von Kant und Idealismus bewegte, folgende Position nahe: Da sich Wahrheit immer in Sätzen, genauer: in Definitionen äußert, hat eine Wahrheitsinstanz nach eingehender und einvernehmlicher Diskussion das prinzipielle Recht und die (inhaltliche und formale) Kompetenz, Wahres verbindlich auszusprechen und Irrtum verbindlich auszuschließen. Wie es einem rationalistischen Wahrheitskonzept entspricht, gilt eine solche Entscheidung, wenn sie einmal geglückt ist, gar nicht oder universal und für alle Zeiten. Die Sonne dreht sich für alle Zeiten um die Erde, oder diese Behauptung ist für alle Zeiten Unsinn.
Faktisch wird dieser Anspruch nach Analogie eines Richtspruchs ausformuliert und damit institutionell verfügbar, wie anders soll eine gemeinsame Verbindlichkeit zustande kommen. Im äußersten Fall fungiert der Bischof von Rom als Nachfolger des Petrus, damit als oberster, absolut agierender Richter, gegen dessen Gerichtsspruch keine Berufung mehr möglich ist. Das 1. Vaticanum beschließt dieses Dogma 1870, während über dem Petersdom ein schweres Gewitter niedergeht und nachdem in der Vorabstimmung etwa 88 von den ungefähr 700 Konzilsteilnehmern ihre Zustimmung verweigern. Aus Protest sind 60 Bischöfe zum Zeitpunkt der Abstimmung schon abgereist.
Wenn der Römische Bischof „ex cathedra“ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.
Wer sich aber – was Gott verhüte – unterstehen sollte, dieser Unserer Definition zu widersprechen: der sei mit dem Anathema belegt. (DH 3074)
Zu Recht wird diese Definition heute als eine innerkatholische Angelegenheit betrachtet; mögen die Vorgestrigen doch ihren Illusionen nachgehen. Doch sollten wir nicht vergessen: Mit ihr proklamierte die katholische Kirche – auch rückwirkend – einen verbindlichen Wahrheitsanspruch nicht nur für ihre Organisation, sondern für die ganze Welt, auch für alle Wissenschaften und für alle Zeiten. In ihr galt/gilt Petrus wirklich als der Fels, der von den Pforten der Hölle nicht überwältigt wird, und es gibt heute noch 1,181 Milliarden Menschen (2011), die das Papstamt akzeptieren. Das muss nicht den Philosophen, aber den Kultur- und Mentalitätsexperten zu denken geben.
Dieser maßlose Anspruch lässt sich nur aus dem gleichzeitigen Zusammenbruch des Kirchenstaates erklären, der eine tiefgreifende Sublimierung römischer Rechts- und Wahrheitsansprüche zur Folge hat. Der Sache nach stützten sie sich auf eine lange Tradition, die im Jahr 325, also 1545 Jahre zuvor mit dem ersten Reichskonzil begann, die mittelalterlichen Auseinandersetzungen um den Vorrang der geistlichen vor der weltlichen Macht integrierte, in einem absolutistischen Selbstverständnis des Papsttums kulminierte und aus dieser Position auf die sehr selbstbewusste, die Wissenschaften stützende Strömung des Rationalismus reagierte. Die Auseinandersetzung bewegt sich um ein – in sich sehr einfaches – autoritäres und institutionell verfestigtes Wahrheitsmodell, das noch von den Grundsätzen der klassischen, letztlich griechischen Metaphysik gespeist ist.
Der Irrtum spielt in dieser Theoriebildung eine sekundäre Rolle, denn dem menschlichen Geist wird die Fähigkeit zuerkannt, a priori die Wahrheit zu erkennen (alle klassischen Erkenntnistheorien sind letztlich Illuminationstheorien). Die Wahrheit ist der materiellen Wirklichkeit prinzipiell überlegen. Deshalb kann sich der Irrtum erst a posteriori einschleichen.
Die Behauptung, ich sei im Besitz der Wahrheit, hat ja mit einer Selbstsetzung zu tun. Als erleuchteter Philosoph gelingt mir der Aufstieg in höhere Sphären und als glaubender Christ komme ich in Berührung mit derselben göttlichen Offenbarung. Zudem ist die Volks- und Staatskirche (die sie seit Ende des 4. Jahrhunderts ist) einem Ideal nahe gekommen, in dem die Philosophen zu Königen werden und umgekehrt (vgl. Platon). Das Ideal des Abendlandes war (katholisch gesehen) eine Kirche, die die Wahrheit eines ganzen Kulturraums definiert und überwacht, den man für das Zentrum der gesamten Welt hielt.
Dieses Konzept hat damals Europa beeindruckt und deshalb auch in hohem Maße polarisiert, es wurde seit der Reformation heftig bekämpft, aber nie überwunden. Machtpolitisch war der neue römisch-katholische Anspruch zwar illusorisch, aber als Orientierungsmaßstab hoch interessant. Es gab mindestens eine Instanz mit Öffentlichkeitsanspruch, die die großen Irrtümer der damaligen Gegenwart diagnostizierte: Für alle konservativen Kräfte Europas war dies eine Wohltat, auch wenn sie der katholischen Kirche aus anderen Gründen fern standen. Nach meinem Dafürhalten hat sich diese Ausstrahlung im Unterbewusstsein unserer Kultur bis heute gehalten. Wenn der Papst heute in seiner Osterbotschaft die Welt zum Frieden aufruft oder vor Habgier warnt, ist das – jedenfalls in Deutschland, vermutlich auch in Österreich – allemal noch eine Pressemeldung wert; man weiß nicht richtig, warum.
So vertrete ich – als entschiedener Kritiker des Unfehlbarkeitsdogmas – die These: Je mehr sich in Europa ein Gefühl der inneren Orientierungslosigkeit ausbreitet, umso verführerischer wirkt das römische Angebot der Unfehlbarkeit. Warum?
Zunächst, weil da eine Institution verspricht, keinen Irrtümern zu erliegen. Das ist aber nur möglich, weil diese Institution die konkret zu lösenden intellektuellen, politischen und lebenspraktischen Probleme in grandioser Weise ignoriert, uns allen eine vormoderne Gesellschaft als heilbringend vorgaukelt, die sich autoritär, letztlich durch eine Person regieren lässt. Im wörtlichen und massiven Sinn des Wortes präsentiert sich diese Kirche immer noch als Botin der Wahrheit, die Besiegerin der Lüge.
Dabei sind Wahrheit und autoritäres Dekret gerade nicht kompatibel. Im Gegenteil, in modernen, d.h. prinzipiell differenzierten Gesellschaften sind elementare Wahrheiten höchstens in demokratischen und interdisziplinären, also nur in hochkomplizierten, interdependenten und deshalb auch zeitraubenden Prozessen erreichbar.
Anders gesagt: Eine wissenschaftlich orientierte Gesellschaft kann Wahrheit immer nur als die Kehrseite des Irrtums diagnostizieren, nicht umgekehrt. Wahrheit kommt, prozessual gesehen, durch die Selbstwiderlegung von Irrtümern zustande.
„Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.
Alles, was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein. Und alles, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 16, 16-18)
Damit bin ich schon bei der Kritik am Unfehlbarkeitsdogma, die längst überfällig ist. Rundum war dieses Dogma nie akzeptiert, aber 100 Jahre wurden die Widerstände niedergehalten. 1970 entfachte Hans Küng mit einem kleinen Buch die Diskussion erneut. Er konnte an das 2. Vatikanum (1962-1965) als einen mächtigen Bündnispartner appellieren; die Ungleichzeitigkeit und Unvereinbarkeit des Unfehlbarkeitsanspruchs mit diesem Wahrheitsdiskurs wurde zum ersten Mal offengelegt. Seitdem schwelt dieser innere Widerspruch wie ein destruktives Familiengeheimnis im Verborgenen. Die erkenntnistheoretischen Probleme sind offenkundig:
1.2 Zur innertheologischen Kritik
- Stichworte:
– Religiöse Wahrheit beschreibt nicht, sondern gestaltet performativ
– Definition der U. = absolute Selbstsetzung (vitiöser Zirkel)
– Für die Vernunft nicht akzeptabel
– Mit biblischem Denken unvereinbar
– Für Glaubenslehre katastrophale Folgen
(1) Dieses rationalistische agierende Modell von Wahrheit und Irrtum begreift Aussagen als Aussagen, die die Wirklichkeit eins zu eins abbilden (Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem). Das mag unter Vorbehalt für naturwissenschaftliche bzw. streng quantifizierbare Aussagen gelten. Doch für Aussagen, die die Sinnfragen von Gesellschaft und Mensch betreffen, ist diese Voraussetzung nicht nur falsch, sondern geradezu sinnlos. Der Unfehlbarkeitsanspruch spiegelt ein überholtes rationalistisches Wahrheitsmodell.
(2) Formallogisch ist der Anspruch auf Unfehlbarkeit das Ergebnis einer absoluten Selbstsetzung. Da gilt die Aussage eines Konzils deshalb als unfehlbar, weil das Konzil solche Unfehlbarkeit behauptet. Gewiss enthalten Wahrheitsbehauptungen im öffentlichen Diskurs immer eine performative Dimension. Aber diese Performanz ist darauf angewiesen, dass sie sich mit inhaltlichen Sachgründen verteidigen lässt. In den gängigen Unfehlbarkeitsdiskussionen wird dieser vitiöse Zirkel denn auch konsequent verdrängt und überspielt. Sie können das dann erkennen, wenn Joseph Ratzinger „die Kirche“ oder „die Tradition“ (jeweils als Singularetantum) ins Spiel bringt. Aus religionspsychologischer Perspektive lässt sich das Problem auch leicht überspielen, denn religiöse Wahrheitsansprüche und Irrtumsbehauptungen berufen sich auf göttliche Erleuchtungen, deren Ursprung sich objektivieren oder überzeugend kommunizieren lässt. Spätestens seit der Aufklärung steht diese Instanz unter massivem Beweisdruck. Hinzu kommt, dass eine mögliche Wahrheit anderslautende Aussagen noch nicht per se als Irrtum entlarvt.
(3) Für mich als bekennenden Christen ergibt sich ein höchst existentieller Widerspruch gegen die Unfehlbarkeitslehre aus der spezifisch christlichen Fragestellung: Welche Wahrheit spricht denn aus der christlichen Botschaft? Wie bekannt, werden christliche Wahrheitsüberzeugungen immer schon aus zwei Wahrheitsquellen abgeleitet. Die eine Quelle ist und bleibt die menschliche Vernunft. Aus ihr lässt sich der genannte Anspruch – wie ich kurz zeigte – nicht begründen. Tendenziell will die christliche Weltinterpretation ja mit dem allgemein menschlichen Wahrheitsdiskurs (also mit philosophischen, anthropologischen und wissenschaftlichen Weltinterpretationen) in eine einvernehmliche Beziehung treten.
Die andere Quelle sind die biblischen Zeugnisse, insbesondere die Kernzeugnisse des Neuen Testaments bzw. der Botschaft Jesu. Immerhin hat sich das 2. Vaticanum auf sie mit neuem Nachdruck verpflichtet. Diese andere Quelle gibt mir mindesten zwei Hinweise:
(a) Zwar vertritt die christliche Botschaft ihre Überzeugungen (über Gott, Christus, das Heil der Menschheit) mit hoher performativer und existentieller Intensität; in ihnen stehen buchstäblich Leben und Tod auf dem Spiel. Aber weder das biblische Verständnis von Wahrheit noch deren innere Entfaltung lassen sich unfehlbar und irreversibel in definierten Sätzen äußern. Die christliche Botschaft ist eine dialogische Wahrheit. Der Unfehlbarkeitsanspruch hat sich also weit von der biblischen Denkart entfernt.
(b) Je unbefangener eine wissenschaftlich und interreligiös informierte Öffentlichkeit die Wahrheitsansprüche der Kirchen unter Begründungsdruck stellt (man ist ja zum Gespräch bereit, aber man erwartet gesprächsfähige Argumente), umso deutlicher schält sich folgende Fundamentalfrage heraus: Mit welchem Recht kann sich die römisch-katholische Kirche ohne Distanz und Vorbehalt zur Sprecherin einer christlichen, einer religiösen bzw. einer universalen Wahrheit machen, wie dies in der Unfehlbarkeitsdoktrin geschieht?
Neu ist: Seit einigen Jahrzehnten ist diese ökumenische Kontroversfrage zur innerkatholischen Gretchenfrage geworden, weil die Moderne (und die Spätmoderne) auch unter Katholiken Eingang fand. Seitdem wirkt sie als Spaltpilz. Denn jetzt klammern sich konservative und reaktionäre Kräfte an diese Doktrin wie an einen Rettungsanker, andere haben sie als den großen anti-modernen Sündenfall des Katholizismus erkannt. Immerhin hat sich diese Doktrin als Verurteilung des „Modernismus“ ausgebildet und verstanden. In höchst selbstgerechter Mentalität sprach die katholische Kirche der Moderne nach 1870 jede Wahrheitsfähigkeit ab. Das macht verständlich, dass der Papst heute in der „Welt“ nur noch eine „Diktatur des Relativismus“ vermutet, die sogar jedem Dialogversuch den Boden entzieht.
Diskursiv befinden sich die Verteidiger der Unfehlbarkeitsdoktrin also im Rückzug, ebenso die Anhänger eines doktrinal-rationalistischen Wahrheitskonzepts. Emotional bleibt das Unfehlbarkeitsangebot dennoch für viele Verunsicherte attraktiv. Gurus haben umso mehr Hochkonjunktur, als sie in Weltjugendtreffen und auf anderen Massenveranstaltungen in goldenen Gewändern, stilisierten Hüten und roten Schuhen auftreten. Also überlässt man die Führung den Emotionen, der bestechend schönen Liturgie, dem überwältigenden Event. Dies scheint mir der Grund zu sein, weshalb die Konservative zwar auf der Unfehlbarkeit beharrt, aber deren Begründung verschweigt, vielleicht auch verdrängt.
Doch bleibt die Gegenfrage: Werden reformorientierte Kräfte meiner Analyse zustimmen? Da bin ich mir nicht so sicher, denn auch sie sprechen lieber von konkreten, gewiss wichtigen Projekten, etwa der Rolle der Frau in der Kirche, der Beurteilung der Homosexualität, dem Kondomverbot oder dem Zölibat. Sie meinen, mit „kleinen Schritten“ ließe sich die große Blockade überwinden und übersehen, dass auch diese Schritte durch die Unfehlbarkeitsdoktrin schon längst blockiert sind. Also wäre es wichtiger, endlich über den Fundamentalirrtum und die Fundamentalverkehrung der christlichen Wahrheit zu streiten, denn erst damit wird den Teilprojekten ihre Rechtbasis zurückgegeben.
II. Das gebundene Geschichtsmodell:
… Wahrheit als kontinuierlicher sich selbst steuernder Prozess
Ironiker sind der Meinung, im Gefolge des 2. Vaticanums habe die römisch-katholische Kirche eine einzigartige Chance verpasst: Warum hat man diese ungeschichtliche, rationalistische und egozentrische Unfehlbarkeitsdoktrin nicht einfach vergessen? Hätte man diese peinliche Epoche nicht einfach abschließen und den Anschluss an die Moderne wiederfinden können? Ich bin mir da nicht so sicher; denn sehenden Auges hat man schon 1870 einen anderen, wohl entwickelten Neuansatz verworfen, den ein selbstherrliches Rom bis heute vertuscht.
2.1 Zu Verständnis und Bedeutung
Stichworte:
– 19. Jh.: Entdeckung der Geschichte
– Geist und Leben (W. Dilthey)
– Glaube als zeitbezogenes Ereignis
Zur Illustration verweise ich auf das Buch Die Kirche von Walter Kasper, das 2011 erschienen ist. Er sieht sich als Testamentsvollstrecker der „katholischen Tübinger Schule“ aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Inspiriert vom Idealismus und von der Romantik hat sie schon ungeschichtliche Scholastik überwunden und gezeigt: Es gibt keine statische, feststellbare, vielleicht auch keine objektive Wahrheit, es sei denn, man habe – wie die klassischen Naturwissenschaften es tun – die Wirklichkeit schon vor ihrer Beschreibung entsprechend abstrahiert, um aus Zehntausenden von Einzeldaten ein in der Tat funktionierendes Wirklichkeitsstück (etwa einen Jumbo-Jet oder einen Rasierapparat) zu konstruieren.
Religiöse Wahrheit und religiöser Irrtum haben nichts mit Naturwissenschaft zu tun. Sie beziehen sich nicht auf Fakten, sondern auf Erfahrungen. Gewiss, auch sie integrieren immer auch Objektives, aber letztlich ist dieses Objektive immer schon durch wahrnehmende Individuen oder Gemeinschaften integriert. Wahrheit „lebt“, oder in einer religiösen bzw. biologischen Metapher ausgedrückt: Wahrheit lebt im Geist, wird von der Tradition weitergegeben.
Das kulturelle Phänomen, das wir im emphatischen Sinne „Geschichte“ nennen, wird als Kontinuität behandelt, sofern der Geschichtsprozess Vergangenes nicht vernichtet, sondern eben übernimmt, allmählich in andere gelebte und lebbare Zusammenhänge einordnet.
Wir können die daraus resultierende Wirklichkeit als schön oder hässlich, als richtig oder falsch, als gut oder böse, als wahr oder unwahr, als sinnvoll oder sinnlos, als heilsam oder destruktiv erfahren; auf keinen Fall steht sie still. Deshalb sind auch ihre Richtigkeit oder Falschheit, ihre Güte oder Bosheit, ihre Wahrheit oder Unwahrheit, ihr Sinn oder ihre Absurdität immer dynamische Größen. Dies gehört zu den wichtigen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, die der Katholizismus im Gespräch mit der Philosophie und der evangelischen Theologie gemacht hat: Auch die Wahrheit, die eine christliche Kirche zu verwalten hat, kann wachsen, sich ändern, in immer neue Zusammenhänge einrücken. Dadurch wird der Rekurs auf Unfehlbarkeit relativiert, wenn nicht gar sinnlos.
Wir sprechen, wie gesagt, von den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die Romantik als Kunstrichtung und als philosophisch wichtige Grundorientierung schon Gestalt angenommen hatte. „Leben“ als ein nicht objektivierbares Phänomen wird zu einem Zentralbegriff. Wahrheit entscheidet sich im Lebensbezug des Gesagten. Neben die Natur- treten die „Geistes“wissenschaften; der Geschichtsbegriff, von dem hier die Rede ist, konnte zugleich vom Zwang der Objektivierung befreit werden und den Sinn für das unerwartet Neue und das Unberechenbare wecken. Damit gewann der Katholizismus auch im Gespräch mit den reformatorischen Traditionen neue Beweglichkeit, denn jetzt mussten nachbiblische Entwicklungen nicht per se Abfallbewegungen sein.
Diese Erkenntnisse blühten auf, wurden dann aber zu einem Winterschlaf von mehr als 100 Jahren verdammt. Machen wir also einen Sprung zum möglichen neuen Welt- und Selbstverständnis der katholischen Kirche, die erst nach dem 2. Weltkrieg eine neue Renaissance erfuhr. Streng theologisch formuliert: Die Kirche erschöpft sich nicht mehr in einem System von (antimodernistischen) Lehraussagen, sondern wird jetzt als ein vom Geist getragener Organismus gesehen, der in sich eine lebendige, geschichtliche Kontinuität bildet. Der rationalistisch statische Wahrheitsbegriff ist überwunden, denn Wahrheit ist immer in einer lebendigen Bewegung eine Gemeinschaft, von interdependenten Personen getragen. Anders gesagt: Die Wahrheit des Glaubens (sagen wir neutraler: religiöse Wahrheit) hat immer eine geschichtliche Grunddimension, ist auf eine Bewegung von Freiheit und Subjektivität hin ausgerichtet, lässt sich nur von ihnen her erklären. Wahrheit definiert sich also nicht überzeitlich, sondern als zeitbezogenes Ereignis. Sie ist zwar in einer Kontinuität fassbar, diese schließt aber neue Entwicklungen, Entdeckungen und Wahrheitsformen nicht aus.
Daraus ergibt sich auch eine neue Sicht des Irrtums. Im antimodernistischen Unfehlbarkeitskonzept ist er schlicht unannehmbar, frontal zu bekämpfen, so als würde er behaupten, 2 + 2 = 5. Eine rationalistisch geoffenbarte Wahrheit ist immer schon bei sich, abrufbar, als sei auch sie auf einer Festplatte gespeichert, sozusagen errechenbar. Im geschichtlich dynamischen Konzept ist deshalb auch der Irrtum immer neu zu entdecken, zu differenzieren, erst in konkreten Zusammenhängen (und im Blick auf sie) lässt er sich bekämpfen.
Schrift und Tradition:
Allerdings liegen mögliche Konflikte auch jetzt in Details, die mit der Sprache beginnen. Ich sprach vom „Geist“, einem durchaus biblischen Begriff, der im Idealismus neu zu Ehren kam, von Protestanten und Katholiken gleichermaßen geachtet. Ich sprach auch von der „Tradition“, die jetzt schon im 15. und 16. Jahrhundert eine spezifisch katholische Konnotation erhielt. „Schrift und Tradition“ lautet der katholische Schlachtruf, der von der Romantik neu genährt wird und sich von Wilhelm Dilthey’s (1833-1911) Lebensprinzip gestützt weiß.
Irrtum wird relitiviert/dynamisiert:
Für die katholische Selbstvergewisserung wird die Tradition zur entscheidenden Kategorie, denn jetzt lässt sich auch das Weiterleben der Schriftwahrheit nicht ohne ihre Durch-gabe („Tra-dition“) durch die Zeiten nicht mehr denken. Zwar ist die Offenbarung, wie man lange sagte, mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen. Prinzipiell Neues kann zur christlichen Wahrheit nicht mehr hinzukommen. Dennoch ist es die Tradition, die diese Wahrheit weiterentwickelt, auf je neue Epochen hin appliziert und in diesem Sinn auch ergänzt.
Kirche als der „fortlebende Christus“ (kath. Tüb. Schule):
Uns braucht hier die innerkatholische und die interkonfessionelle Diskussion nur am Rande zu interessieren. J. Ratzinger und andere konservative Denker sind entschieden dieser Meinung, die Tradition könne zu inhaltlich neuen Erkenntnissen kommen; so erhält auch die spätere Kirche eine irreduktible Wahrheitsfunktion. Darauf gehe ich nicht weiter ein. Entscheidend für uns ist ein anderes Ergebnis: Ähnlich wie in der Philosophie (man denke an Hegels Dialektik von Geschichte und Vernunft) lässt sich die Wahrheit – wenigstens auf Zeit – mit dem Irrtum versöhnen. Unter bestimmten Bedingungen lässt sich auch der christliche Irrtum als eine Wahrheit begreifen, die noch nicht zu sich gekommen ist. Und Irrtum lässt sich als ein Phänomen begreifen, dass durch die Veränderung von Fragestellung und Zielvorstellungen entsteht und durch umfassendere Integration auch wieder verschwindet.
2.2 Zur innertheologischen Kritik
- Stichworte:
– Lässt sich Zirkel der Selbstbestätigung vermeiden?
– Kontroverse Kasper-Küng
Doch nun zur entscheidenden Frage dieses Teils: Konnte und kann – anders als das Unfehlbarkeitsmodell – dieses gebundene Geschichtsmodell den Wahrheitsanspruch der Kirche mit der aktuellen Wirklichkeit versöhnen und ist angesichts dieser Geschichtsdynamik eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum überhaupt noch möglich? Kann also das (gebundene) Geschichtsmodell das Problem kirchlicher Wahrheit so lösen, dass es einen Zirkel vermeidet? Ich möchte die Frage an einer kleinen Kontroverse beleuchten, die Walter Kasper und Hans Küng 1970/71 im Zusammenhang mit der Unfehlbarkeitsdebatte ausgetragen haben.
Küng hatte u.a. festgestellt, jeder Satz könne wahr oder falsch sein, je nachdem er situiert oder gelagert ist. In seiner Replik schließt W. Kasper daraus, dass es nie auf den Einzelsatz, sondern auf die Zusammenhänge ankommt:
Kasper vermag „die Wahrheit des einzelnen Satzes nur im Zusammenhang aller dogmatischen Sätze, der Geschichte dieser Sätze, ihres Verhältnisses zur Schrift und zur gegenwärtigen Verkündigungssituation … verstehen.“ Dieser Zusammenhang sei „nichts Statisches, sondern ein ständiger lebendiger Interpretationsprozeß, in dem ein Dogma jeweils nach vorn offen ist. Der einzelne Satz ist wahr, insofern er im Strom dieser Geschichte ‚mitschwimmt’ und von dort her seinen Stellenwert und seine Sinnausrichtung erhält. Wird er aus diesem Gesamtzusammenhang herausgerissen, dann kann er tatsächlich sowohl wahr wie falsch sein.“
Auf diese Weise glaubt er „nicht nur der hoffnungslosen Engführung auf einzelne und isolierte a priori als irrtumslos garantierte Satzwahrheiten entgangen zu sein“, sondern „zugleich, daß dieses Verständnis dem biblischen Wahrheitsverständnis entspricht.
Für den biblischen Wahrheitsbegriff ist es nämlich charakteristisch, daß die Wahrheit nicht nur gewußt, gesagt, gehört und gegebenenfalls verkannt, verhüllt, verleugnet werden kann, sondern daß sie geschieht. Wahrheit ist, was sich in der Geschichte bewährt und was sich in der Zukunft herausstellen wird.“
So vertraue die Kirche „auf die eschatologische Bewahrheitung ihrer Glaubensbekenntnisse. Dogmen sind damit immer zugleich endgültig und vorläufig. Nur über eine solche Gesamtkonzeption eines theologischen Wahrheitsverständnisses kann man aus den Engpässen der Unfehlbarkeitslehre herauskommen. Nur so kann man verhindern, daß die gesamte Diskussion in einer Sackgasse endet.“ (Fehlbar 86)
Kaspers Lösungsangebot an H. Küng klingt versöhnlich, es kann aber Küng nicht befriedigen. Kaspers überzeugend klingende Metapher wird für Küng zum Stein des Anstoßes: Schwimmt der einzelne Satz im „Strom“ der kirchlichen Wahrheitsgeschichte mit? Natürlich tut er das, dies zu behaupten, ist eine Banalität. Die Einzelaussage (ein Dogma also) erhält erst im und nur vom Gesamtstrom von kirchlichen Texten, Äußerungen, Überzeugungen und Praxen her seinen Sinn und erst dieser Gesamtstrom bewahre die Einzelaussage vor Irrtum. Was ist damit aber gesagt? Dass eine Einzelaussage eines Systems vom Gesamtsystem her seinen Stellenwert und Sinn erhält, ist schließlich eine Selbstverständlichkeit.
Doch in Kaspers Modell wird der innerkirchliche Wahrheitsanspruch in sich isoliert. Nach Küng kann auch dieses Gesamtsystem kirchlicher Vollzüge in sich keine hinreichende Wahrheitsgarantie bieten. Etwas banal gesagt: Kasper legt nur Wert darauf, dass der Satz sozusagen im eigenen Saft schmort und er setzt voraus, dass der „Strom“, genannt das Gesamtsystem „römisch-katholische Kirche“ (etwas naiv oder selbstherrlich gesagt) immer in der Spur der Wahrheit bleibt. Unter der Maske der Geschichtlichkeit holt Kasper so das Unfehlbarkeitstheorem durch die Hintertür wieder herein. Er gibt sich liberal und bleibt hart; er demonstriert Offenheit und bleibt systemimmanent und wehrt auch jeden Anschein von Systemkritik ab.
Damit bleibt Kasper im strengen Sinn der Wortes systemimmanent, immunisiert sich also gegen jede Systemkritik. Dagegen geht Küng bei seiner Intervention von offensichtlichen Irrtümern aus, etwa dem Verbot künstlicher Geburtenregelung [Humanae vitae, 1968].
Seine Forderung lautet: Das System römisch-katholische Kirche bedarf für seine Wahrheitspraxis dringend systemkritischer Kriterien. Weder das Zeugnis der Schrift noch die Wahrheitserfahrung der außerkirchlichen Öffentlichkeit dürfen im Sinne kirchlicher Selbstbestätigung gebeugt, neutralisiert oder ignoriert werden.
Kaspers ursprünglich konservativePosition entspricht seinem hermeneutischen Grundansatz jener Jahre (Einführung in den Glauben, 1972). Er entfaltet drei Kriterien:
(1) den inneren Glaubenssinn,
(2) die Auseinandersetzung mit Schrift und Tradition,
(3) das kirchliche Amt und fasst sie unter dem Begriff einer „dialogischen Orthodoxie“ zusammen (126-133). In diesem Rahmen bleibt alle Kritik relativierbar, lassen sich Konflikte verharmlosen und sind die Amtsträger schließlich unangreifbar. An dieser Lösung hat W. Kasper keine Zweifel. Imd em Augenblick aber, in dem er sich den Lösungsvorschlägesn Küng verschleißt, wird er reaktionär. Bis heute weiß ich nicht, ob er die Kritik von H. Küng verstanden hat. Denn an keinem Punkt geht er konstruktiv auf sie ein. Wenn nämlich eine jede Überzeugung in diesem Strom einfach mitschwimmen kann und wenn es kein weiteres Kriterium für Sinn, Bedeutung und konkrete Ausrichtung gibt, dann wird dieser Strom in sich orientierungslos.
Je eigenmächtiger die Kirche agiert, umso mehr liefert sie sich ihren eigenen Irrtümern aus und gerät in einer Spirale der Rechthaberei. Genau dies ist der Grund, weshalb wir auf zwei Ankerpunkte oder Grenzlinien angewiesen sind, die den Weg in die Beliebigkeit (und damit in den blanken Irrtum) verhindern. Die erste lautet: die Schrift als normativer Ausgangspunkt christlicher Wahrheit, die zweite: die Einordnung von Überzeugungen in die aktuelle Weltwirklichkeit.
Anders gesagt: Das Geschichtsmodell, wie es vor bald 200 Jahren entwickelt wurde, verführt die Kirche zu einer systemimmanenten Haltung, die keine Kritik mehr ermöglicht. Man kann konkret beobachten, wie sich der Lehr- und Verkündigungsapparat der Kirche vom öffentlichen Diskurs immer weiter wegbewegt. Zugleich wird innerkirchliche, biblisch und human argumentierte Kritik immer intoleranter zur Seite gedrängt. Phänomene, die vor 500 Jahren zur Kirchenspaltung geführt haben, beginnen sich zu wiederholen. Bei allem Mühen um Wahrheit geht die katholische Kirche – gewollt oder nicht – den beliebigen Weg von Meinungen, die immer einschichtiger, simpler, autoritärer werden. Letztlich verweigern sie sich konsequent der wachsenden Komplexität unserer Gesellschaft.
Wie man sehen kann, grenzt sie sich gegen Gefahr systemimmanenter Irrtümer (Recht behalten, Selbstbestätigung, Behauptung eigener Privilegien, wachsende Polarisierung) nicht mehr ab. So lehnt Kasper zwar den neuen selbstherrlichen Infallibilismus innerlich ab. Doch er sieht keine Möglichkeit, wirksam dagegen zu protestieren, die inneren Widersprüche auf den Punkt zu bringen und selbst einen Weg aufzuzeigen. Im Strom der Kirchenzeit feiert der katholische Kirchenapparat eben seine internen, selbst produzierten Triumphe; Irrtümer sind in diesem Strombett nicht auszumachen. Man fühlt sich an Martin Heidegger erinnert, der eben auch in der Sprache des Nationalsozialismus das neue Haus des Seins erkennen musste. Wie sollte er von dieser hermeneutischen Naivität aus noch widersprechen können?
Auf die Kirche angewendet: Bei allem hermeneutischen Ehrgeiz kann dieses Geschichtsmodell, das sich an das eigene System fesselt, dem Irrtum (dem Falschen, dem Unwahren, dem Unguten, der Selbstverliebtheit, selbst der Lüge) keinen Widerstand entgegensetzen; man ignoriert die vielfachen Diskurse de Gesellchaft, die auf deren innere Pluralisierung und Komplexität schon lange reagieren. Der Menschheitsdiskurs, der Menschenrechtsdiskurs, die Sprache der Entrechteten, die Entdeckung in sich pluraler Kulturen, Weltanschauungen und Religionen, die Ideologie- und Gewaltkritik können diesen selbstgerechten Selbstläufer „Kirche“ in ihrem Eigensinn nicht mehr stoppen.
Unter den genannten Bedingungen wird die Großinstitution „Kirche“ mit der Ambivalenz ihrer eigenen Tradition nicht mehr fertig. Es bleibt nämlich kein anderer Weg, als Irrtümer zu akzeptieren, zu minimieren, zu verdrängen, gegebenenfalls zu vertuschen. Das Geschichtsmodell der Wahrheit, das direkt in eine liberal zahnlose Hermeneutik führt, ist nicht nur hoffnungslos überholt und wirkungslos, sondern hat für die Selbstbeurteilung und mögliche Selbstkritik der Kirche katastrophale Folgen. Dieses unschuldig wirkende, liberal sich gerierende, aber selbstgerecht willkürliche Modell von Wahrheit und Irrtum, das selbst die Präsenz der Unfehlbarkeitstheorie leugnet, ist der Grund für die aktuelle Immobilität. Unter Benedikt XVI. ist zwar ein großer Teil der katholischen Eliten mit der päpstlichen Generallinie nicht einverstanden, doch in dieser falsch verstandenen und liberal wirkenden, aber konfliktunfähigen Geschichtlichkeit ist im Kern kein argumentativer Widerstand möglich.
III. Das unabschließbare Interpretationsmodell
Wahrheit als endloser Lebensprozess
3.1 Allgemeiner Diskurs
- Stichworte:
– Es gibt keine Garantie gegen Irrtum
– Hermeneutik als Wahrheitsfindung schlechthin
– Glaube als zeitbezogenes Ereignis
– „Kritisch erweiterte Hermeneutik“ (E. Schillebeeckx)
Die beiden ersten Modelle habe ich kritisch beleuchtet. Das Unfehlbarkeitsmodell konnte nur in einer Zeit funktionieren, in der gesellschaftliche Institutionen mit ihren Machtkonstellationen noch eine unbestrittene Wahrheitsfunktion hatten. Im Grunde war es mit dem Ausgang des Mittelalters schon ausgelaufen, in einer Zeit also, da es noch ein inoffizielles Schattendasein führte. Seit dem 19. Jahrhundert (dem Jahrhundert des bürgerlichen Selbstbewusstseins und der großen gesellschaftlichen Differenzierungen) erklärten die Wissenschaften im Namen empirischer Forschung die Welt, entwickelten die Nationen ihre je eigene Identität, wurde die Demokratie allmählich als das Grundinstrumentarium eines humanen Zusammenlebens entdeckt und zog sich die offizielle katholische Kirche in die Schmollecke derer zurück, denen die Felle davonschwammen.
Das Geschichtsmodell konnte Abhilfe schaffen; es konzentrierte sich – wie ausgeführt – auf das Kontinuitätsmodell, das den Anschein einer bleibenden Stabilität erweckte. Untrüglich war der Geschichtsverlauf, gleich ob man ihn im säkularen Sinn Fortschritt, im katholischen Sinn Tradition oder im umfassenden Sinn Gottes Heilsplan nannte. Dieses Geschichtsmodell war nicht nur in der Kirche zu Hause, sondern der Reflex eines im Grunde unerschütterten Vertrauens in den Gang der Dinge. Letztlich kann auch Irrtum nie tödlich sein, auch wenn – um mit Hegel zu sprechen – die List der Vernunft dafür sorgt, dass zur Not die Späne fliegen. Seit Auschwitz ist uns solcher Trost abhanden gekommen. Das naive hermeneutische Geschichtsmodell wird als harmlos durchschaut.
Was bleibt also übrig, auch für die Theologie? Die Erkenntnis, dass es einen Schutz vor Irrtum nicht gibt. Auch die beste Religion ist nur so gut wie die Menschen, die sich ihr verschreiben, die katholische Kirche nur so tauglich, wie ihre Eliten und die Propheten, die ihr von unten her Beine machen. Wahrheitspflege geht nur im Verbund mit institutionalisierter Selbstkritik. An sich ist gegen die hermeneutischen Elemente des Geschichtsmodells nichts zu sagen, nur sind sie strengen Kriterien zu unterwerfen. Meine Generation, gerade die theologische, hat von der Ideologiekritik der Frankfurter Schule und von der Befreiungstheologie gelernt; ich habe mich auf die „kritisch erweiterte Hermeneutik“ von Edward Schillebeeckx eingelassen. Alle Ansätze haben auf ihre Weise dafür gesorgt, dass eine naive Systemimmanenz vermieden wurde.
3.2. Spezitisch christlich-religiöser Diskurs
- Stichworte:
– Rolle der Schrift – Jesusgeschichte (faktisches Identitätsangebot)
– Eigene Erfahrung (Authentizität)
– Gesellschaftliche Diskurse (universale Kommunikation)
– Lebenspraktische Kommunikation überschreitet deren wissenschaftliche Analyse
– Wahrheit in religiösen Symbolbildungen
Die christliche Theologie unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der streng philosophischen Wahrheitssorge. Wer oder was ist überhaupt zu interpretieren? Antwort: Nicht in erster Linie die eigene Wahrheit, das eigene Denken oder die eigene Tradition. Solche Nabelschau, gleich ob unter dem Etikett der Philosophie oder der Theologie, kann nur zur engstirnigen Selbstbestätigung führen. Als spezifisch christliche Wegweiser gelten in erster Linie die Dokumente, die auf Grund langer religiöser Erfahrung als die Grundurkunden des christlichen Glaubens gelten. Christen sprechen in offizieller Sprachregelung von der „Heiligen Schrift“. Gemeint sind die im christlichen „Kanon“ versammelten 39/54 Bücher des Ersten oder Jüdischen Testaments [in drei Klassen unterteilt: „Gesetz“, „Propheten“ und „Schriften“] und die 27 Bücher des Neuen oder Zweiten Testaments. Aus diesen verschiedenartigen Büchern eine „Wahrheit“ zu eruieren, ist schwierig genug. Es wird noch schwieriger im Blick auf die Tatsache, dass dieser schwierige Komplex von nahezu 80 Dokumenten nur den Kern eines noch komplizierteren Intertextes bilden, durch den zu dem ersten Jahrtausend biblischer Dokumente zwei Jahrtausende biblischer Deutung hinzugekommen sind. In diesen umfassenden Intertext geht schließlich alles ein, was Sie und ich je an Texten und Weltinterpretationen wahrgenommen haben, ob dies nun die Oratorien von Bach, die Josephsromane von Thomas Mann, die Erinnerungen an die Shoa oder die israelisch-palästinenischen Auseinandersetzungen sind. Unnötig, Ihnen als ausgewiesenen Fachleuten noch darzulegen, dass dieser Intertext seinerseits seine Kerninterpretationen durch einen höchst dynamischen, ständig aktiven kulturellen Diskurs und von der jeweiligen Lebenspraxis erhält, die sie erfahren und mitgestalten.
Natürlich hat es nach wie vor Sinn, zwischen dem unendlich komplexen Intertext und der expliziten Interpretation von Kerntexten zu unterscheiden. Der Blick auf die Kerntexte wird nicht verschwinden, weil immer wieder Menschen die Frage stellen, was denn der christliche Glaube ihnen noch zu sagen hat. Dies lässt immer wieder die kanonischen Schriften befragen, sie ihrerseits im Lichte der jesuanischen Erinnerung, aber auch im Lichte unserer Gegenwartserfahrungen aufgeschlüsselt sind. Eine christliche Theologie hat diesen Prozess lebendig zu erhalten und vor Fehlbildungen zu bewahren. Vor diesem Hintergrund klingt die Luthersche Formel sola scriptura („die Schrift allein“) zwar viel zu simpel. Doch im Kern und in ihrer Stoßrichtung hat diese Formel – angesichts eines hoch etablierten Kirchenapparats – immer noch recht. Ich verstehe die Schrifttexte, die Jesuserinnerungen ganz besonders, als widerständige, prophetische, querliegende Impulse, die mit unseren durch und durch säkularen, religionsfernen, sinnresistenten, verzweifelten Gegenwartserfahrungen zu konfrontieren sind. Dieser Prozess führt nicht zu systembildenden Formeln und Festlegungen (Aussagen zur Christologie oder Kirche sind relativ uninteressant), sondern durch eine breite, möglichst konfliktreiche, humane, leidenssensible Interpretation unserer sozialen und politischen Gegenwart. Bei Hermeneuten und Linguisten, aber auch bei Anthropologen und Politologen ist das entspreche Handwerk zu lernen.
Religiöse Wahrheiten sollten kein Selbstzweck sein. Wir können ihre Wahrheit und ihren Irrtum nur in einem Dreiecksgeschäft finden, das sich zwischen den genannten Grundtexten, unserer eigenen Erfahrungen und einem kommunizierbaren Gerechtigkeitsbewusstsein bewegt. Ander gesagt: Eine Christentumsinterpretation muss sich
(1) ihrer Identität versichern, sonst wird sie ortlos,
(2) sich deren Inbild aneignen, sonst wird sie subjektlos und
(3) die „von außen“ gestellte Frage ernst nehmen, sonst bleibt sie blind.
An diesem letzten Punkt entscheidet sich das Problem des Konservatismus. In der Tat versandet die Botschaft einer Religion im Relativismus, wenn sie sich nicht auf die Praxis der Welt bezieht und deren Sinnfragen aufgreift. Darin lag der tiefe Sinn der Aggiornamento, das Johannes XXIII. im Jahre 1962 der Kirche verordnet hat. Nur der ständige Bezug auf die Fragen von Menschen (nach ihrem Leiden, ihrer Ungerechtigkeit und ihrer Einsamkeit) gibt der christlichen Botschaft die Qualität, die „Wahrheit“ heißt. Diese Wahrheit steht nicht einmal einem Irrtum im gängigen Wortsinn gegenüber, sondern eher einem Wahrheitsmangel, einem Sinnmangel, einer nichtssagenden Weltinterpretation. Religiöse Wahrheit ist immer relational. Deshalb sollte Joseph Ratzinger nicht von einer Diktatur des Relativismus, sondern von der Diktatur dogmatischer Wahrheitsbehauptung sprechen. Nur ein Wahrheitsmodell, das Menschen- und Lebenspraxis mit einbezieht, macht für Religionen einen Sinn. Davon spreche ich im vierten, zusammenfassenden Teil.
3.3 Folgerung
Innerhalb eines erkenntnistheoretischen Diskurses wäre es immer misslich, zu endgültigen Folgerungen zu kommen. Vorläufig tun wir gut daran, die innerkatholische Kontroverse in ihrem Kontext zu belassen. Er legt nahe, zwischen einem wahren und einem falschen Relativismus zu unterscheiden und zu fragen, unter welchen Bedingungen die christliche Botschaft unverfälscht zur Geltung kommen kann. Doch auch diese Frage zeigt, dass eine Lösung die Fragestellung nie einholen kann, denn diese „chrstiliche Botschaft“ lässt sich eben nicht objektiv darstellen. Vielmehr ist sie immer wieder Ereignis des Gesprächs und des Handelns. Hans Küngs kritischer Fragestellung ist schon deshalb zuzustimmen, weil sich der „christliche Glaube“ schon immer als ein lebens-praktisches Konzept verstanden hat. Der Sündenfall der vorkritisch objektivierenden Wahrheitssuche fängt dort an, wo die Suche nach der Wahrheit des chrisltichen Glaubens auf abstrakt definierende Füße gestellt wird. Das war schon der Fall, als Kirche des antiken Imperiums meinte, sie könne ihre Wahrheit unter den Bedingungen eines kaiserlich agierenden Konzils als Reichsgesetz erlassen und ein für allemal festschreiben.
IV. Wahrheit und Irrtum als religiöse Orientierungsbegriffe
4.1 Vom Scheitern einer Mission
- Stichworte:
– Historisches Versagen der Kirchen
– Beispiel Schöpfungsgeschichte
– Aufgabe religiöser Diskurse
– Problem der Überinsituationalisierung
Vielleicht wirken meine Darlegungen auf Sie wie ein hilfloses Unterfangen, als wolle ich die Akzeptanz und die Plausibilität des christlichen Glaubens nach außen durch möglichst viele Zugestäntnisse noch irgendwie retten. Doch kann und will ich das Dilemma nicht auflösen, dem wir heute oft genug begegnen und das sich zwischen Irrtum und Inhaltslosigkeit bewegt. Denn das ist ja eine unbestreitbare Alltagserfahrung wir mit mit religiösen Bezeugungen machen: Entweder die christliche (jüdische, muslimische, hinduistischer oder buddhistische) Botschaft behauptet Dinge, die von Natur- oder Handlungswissenschaften längst widerlegt sind, oder sie flüchtet sich in allgemeine Anmutungen, die eine Entscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum unmöglich machen. Offensichtlich haben die Kirchen in ihrem Wahrheitsauftrag versagt.
Ein konkretes Beispiel: Entweder man behauptet, die Welt sei in sieben Tagen erschaffen (was offensichtlich Unsinn ist) oder man erklärt, das erste Schöpfungskapitel sei ein Gedicht. Was aber bleibt dann noch übrig? In der Tat, in den industrialisierten Ländern des Westens werden Kirchen und christlicher Glaube von einer großen Hilflosigkeit überrollt. In unseren Kirchen mag es meist lieb, sympathisch, kinder- und altenfreundlich zugehen, man mag schöne Geschichten erzählen und die Phantasie für humane Ziele mobilisieren. Doch über die Wahrheit der Welt entscheiden unsere Gottesdienste schon lange nicht mehr; Welterkenntnis treiben sie nicht mehr voran. So jedenfalls eine gängige Kritik.
Allerdings antworte ich mit einer Gegenfrage: Was eigentlich ist – religiös, wissenschaftlich, ästhetisch, ethisch oder kulturell gesprochen – Wahrheit, was ist ein dementsprechender Irrtum? Im Westen kämpfen die Religionen mit einem grundlegenderen Problem: Im öffentlichen Bewusstsein hat sich ein Wahrheitsbegriff durchgesetzt, der von den Natur- und Handlungswissenschaften bestimmt, auf sie verengt ist. Soll etwa die biblische Schöpfungsgeschichte mit ihrem Sieben-Tage-Schema wahr sein? Natürlich nicht, lautet die Antwort, denn diese naive Darstellung wird von keiner der einschlägigen Wissenschaften mehr bestätigt. Die Gegenfrage aber lautet: Wie kommt es, dass sich in unserer Kultur bei wachsender Verwissenschaftlichung eine zunehmende Orientierungslosigkeit breit macht, dass sich individuelle und kollektive Sinnfragen immer drängender stellen und esoterische Sinnangebote immer mehr Interesse finden? Offensichtlich haben wir den Blick dafür verloren, welch enorme Bedeutungskraft der Begriff der Wahrheit (und der Begriff des Irrtums) in unserem vor-wissenschaftlichen Sprachgebrauch schon immer gehabt haben und noch immer haben.
Nun nehme ich diese Feststellung nicht zum Anlass, die Wissenschaften oder die gegenwärtige Kultur endlich zur Ordnung zu rufen. Die empirischen und die Handlungswissenschaften machen einen guten Job; sie entwickeln offensichtlich ein Selbstbewusstsein, das ihren Leistungen und dem Gehör entspricht, das sie erhalten. Nur lösen sie nicht alle Rätsel und provozieren neue Frage. Überschätzen sie sich? Wenn sich ein Kultursektor nachhaltig überschätzt, dann liegt dies wohl zum großen Teil an der Schwäche, an den Orientierungsproblemen und am Versagen der ergänzenden Sektoren, etwa an der Pädagogik, der Menschenführung oder Ethikermittlung, an der Kunst oder eben der Religion, die ihre Fähigkeiten nicht ausschöpfen oder entfremdet sind. Ich halte es mit J. Habermas. Nach ihm haben im Weltgespräch und im gesellschaftlichen Diskurs auch Religionen ihren unaufgebbaren Anteil. Nur müssen sie sich schon die Mühe machen, ihre Botschaft in eine säkulare Welt hinein so zu übersetzen, dass man sie auch versteht.
Wie ich in Teil I und Teil II zeigte, hängt die Selbstentfremdung der etablierten Kirchen des westlichen Kulturkreises ganz wesentlich mit ihrer Überinstitutionalisierung und ihren gesellschaftspolitischen Machtansprüchen zusammen mit ihrer institutionellen Selbstfixierung, ihrer Überorganisation und ihrem finanziellen Wohlstand, d.h. mit ihrer wachsenden Abhängigkeit von Kriterien der Macht und der Quantität.
„Entweltlichung“ wäre vonnöten, wenn auch anders, als Benedikt XVI. es meint. Vor diesem Hintergrund gebe ich die Frage nach dem schwindenden Einfluss von Christentum, Kirchen und Theologie (also nach der Säkularisierung im gängigen Sinn) zurück. Ich stelle die Gegenfrage: Warum ließ das Christentum, in den Kirchen präsentiert, seinen spezifisch religiösen und spezifisch christlichen Wahrheitsbegriff so verkommen, dass es heute von deskriptiven und kontrollierbaren Weltdefinitionen mühelos in die Ecke gespielt wird? Warum glaubte man Jahrhunderte lang, man könne die Wissenschaften ersatzlos kontrollieren und bevormunden, die schließlich – ganz nach Hegels Schema vom Herrn und vom Knecht – alle Kompetenz an sich zog?
Gibt es einen spezifisch religiösen Wahrheitsbegriff? Ja, wir werden ihn zunächst zusammen mit der (praktischen) Philosophie suchen und in eine vormoderne Zeit zurückgehen müssen. Der Grund dafür ist schnell erklärt: Die modernen Wahrheitsbegriffe sind das Ergebnis von gesellschaftlichen Differenzierungen und folgen den verselbständigten kulturellen bzw. gesellschaftlichen Sektoren. So gibt es heute einen naturwissenschaftlichen, einen soziologischen, einen ethischen und auch einen ästhetischen Wahrheitsbegriff. Sie ihrerseits haben spezifische Ausformungen von Irrtum und Relativität entwickelt. Alle diese Wahrheitsbegriffe sind abgrenzbar und grenzen sich ab. Sie sind überprüfbar und machen es möglich, entsprechende Aussagen zu überprüfen. Dahinter scheint es, als wäre der ungeschmälert religiöse Wahrheitsbegriff ins Nichts versunken.
Zwei Beispiele: Heute gelingt es kaum mehr, einem allgemein öffentlichen Bewusstsein die spezifische Wahrheit der „Schöpfungsgeschichte“ zu vermitteln, denn sie wird von einer empirischen Wahrheitserwartung überblendet („Wie ging es bei der Weltentstehung zu?“). Spontan wird sie niemand als Lobpreis des Menschen oder als Vertrauensgeschichte oder als Warnung von dem Chaos verstehen. Ebenso wenig gelingt es heute, die Auferstehungsgeschichte zu vermitteln. Genau deshalb ist sie so hochumstritten. Niemand nimmt sie mehr als Erfahrungs- und Bekehrungsgeschichte der enttäuschten Anhänger Jesu oder als Treuegeschichte Gottes zu einem liquidierten Propheten wahr.
4.2 Wahrheit als Sinnorientierung
- Stichworte:
– Breite des gelebten Lebens
– in Rede und Gegenrede
– Umgang mit Grenze und Grenzhaftigkeit
– Geschenkte Erkenntnis?
Ein Blick auf die Religionen kann uns weiterhelfen. Als erstes fällt die unsystematische Vielfalt religiöser Vermittlungsstrategien auf. Sie erstrecken sich von
– Geschichten über Prophetien bis hin zu Gebeten,
maßlosen Imaginationen bis zu mystisch selbstversunkenen Texten,
– Weisheitssprüchen bis zu Gedichten,
– einer hochdisziplinierten Sprache bis zum ekstatischen Schrei,
– hochgradiger theologischer Reflexion, die in bestimmte weltanschauliche Modelle eintaucht, bis zur schlichten Symbolik.
Klassisch philosophische und religiöse Wahrheitsbegriffe stehen am anderen Ende. Sie ihrerseits sind umfassend, ganzheitlich, auf den Menschen in seiner Wirklichkeit bezogen. Ich ziehe daraus einige Folgerungen:
Offensichtlich hält sich religiöse Wahrheitsansage an keine vorgegebenen Regeln, sondern taucht in die faktische Breite menschlichen Redens ein. Das tut sie, weil sie sich auf die Breite des von Menschen gelebten Lebens bezieht. Deshalb wird sich auch die Alternative von Wahrheit und Irrtum immer in der Breite des gelebten Lebens entscheiden. Es geht um Selbstausdruck, Authentizität oder Handlungsanweisungen, um Nachdenken oder spontanes Handeln, um den Aufschrei oder die Frage nach der Angst um sich selbst oder nach der Sorge für den Andern, um Imaginationen zur Verarbeitung von Schrecken, schließlich um Grenzüberschreitungen, Grenzerfahrungen und Grenzsetzungen positiver oder negativer Art. Deshalb empfiehlt es sich, im Alltag gar nicht von der abstrakten Wahrheit von Religionen zu sprechen, sondern ihre konkreten Signale zur Kenntnis zu nehmen und als solche zu erkennen.
In die konkrete Einbettung religiöser Wahrheit ins Leben gehört ein zweites Merkmal, das nur selten reflektiert wird. Sie vollzieht sich immer als Ereignis; deshalb „gibt“ es sie nie in abschließender Aussage, sondern nur in aktiver Kommunikation. Reden und Hören gehören ebenso zusammen wie Rede und Gegenrede, Behauptung und Interpretation, Symbolisierung und Deutung, Text und Intertext. Im Laufe der Jahrhunderte wurde vielleicht kein Merkmal so verdrängt wie dieses. Denn diese konstitutive Einbettung in Interdependenz besagt: Religiöse Wahrheit ist nie fertig oder eindeutig, nie in sich abschließbar. Der Grund dafür ist ihre (tendenziell) ganzheitliche Qualität angesichts einer fragmentierten Wirklichkeit. Daraus lässt sich auch verstehen, dass sie immer an diesem Paradox leiden wird. Sie greift auf eine Wirklichkeit voraus, die sich hier nicht als Wirklichkeit erweisen kann. Zwar fordert sie mich existentiell zu einem letztgültigen Engagement heraus, dennoch bleibt sie immer verletzlich und dem Widerspruch ausgesetzt. Auch dies hat seinen prinzipiellen Grund.
Hier macht sich eine Eigenschaft geltend, die (zu Recht) in allen Religionen vermutet, aber in der Regel falsch verstanden wird. Religionen beschäftigten sich wesentlich mit Grenzen und Grenzhaftigkeit, die wir respektieren und die wir überschreiten können. REligionen gehen mit Transzendenz um und arbeiten sich – je auf ihre Weise – mit Transzendenz ab. Transzendenz wird in der Regel statisch als ein Jenseits, als die Eigenschaft dessen verstanden, das jenseits der hiesigen, empirisch erfahrbaren (messbaren, besprechbaren, in hohem Maß beherrschbaren) Wirklichkeit angesiedelt ist, – etwa als die Eigenschaft des alles überschreitenden, über der Welt thronenden Gottes.
So verstanden wächst der religiösen Wahrheit ein merkwürdiger Selbstwiderspruch zu, der in unserer Gegenwart der Glaubwürdigkeit religiöser Wahrheitsversprechen den Atem nimmt. Nehmen wir die monotheistischen Religionen als Beispiel. Sie scheinen von einem jenseitigen Gott zu sprechen, der als jenseitiger nicht erfahrbar, unsichtbar, für den menschlichen Geist überhaupt nicht nahbar ist. Wir sprechen von Gott als Geheimnis. Dennoch behaupten die monotheistischen Religionen, sie könnten über diesen Gott Aussagen machen, man habe sie über Offenbarungen erhalten.
Ich frage mich, was denn der Inhalt dieser Offenbarungen konkret sein kann, schließlich ist er ein Geheimnis. Ich nenne dafür zwei einander korrespondierende Gründe.
Der eine Grund lautet: Wenn wir Gott als Geheimnis ernst nehmen, dann ist das Thema der Gotteserkenntnis genau die Geheimnishaftigkeit, sein Nicht-Kennen als solches. Es ist die Mystik, die aus dieser Dynamik lebt.
Der andere Grund lautet: Streng genommen ist Transzendenz ein ständig gegenwärtiger, ständig erfahrbarer, in uns wirksamer Prozess, da „Überschreiten“, transzendieren, sich selbst zu übertreffen zu unserem täglichen leiblichen und geistigen, materiellen und kulturellen Leben gehört. Wenn das Göttliche also wesentlich mit Transzendenz zu tun hat, dann muss dieses Göttliche in uns wirksam und insofern gegenwärtig sein. Das bedeutet aber, dass Gott immer in solchen Grenzerfahrungen, in Brüchen, also dort erfahrbar ist, wo ich ein Anderer werde, den alten Gott mit einem neuen vertausche. Wenn Grenzerfahrung zum Kern religiöser Vollzüge gehört, dann bedeutet dies auch: Diese Erkenntnis bekommt sich selbst nie in den Griff; sie stellt sich ein und mag verschwinden; sie wird ausgesprochen und zugleich wieder korrigiert. In diesem Sinn lässt sich „Gott“ als dasjenige beschreiben, „das mich unbedingt angeht“, das ich deshalb nie objektiv formulieren kann. Noch einmal mit P. Tillich formuliert: „Gott“ ist das Symbol für Gott.
Es gehört ferner zu den zentralen Paradoxien einer Religion, dass sie Unsagbares zum Ausdruck bringen will, ihre eigenen Aussagen zugleich zurücknimmt und gegen sich selbst interveniert, weil sie immer um die Intuition des Unaussprechlichen, des Nichtverfügbaren und dessen kreist, das wir nicht funktionalisieren können. Für diesen Fall kennt die Sprache ihre eigenen Strategien: die Erzählung, das Gedicht, die Imagination oder das (ikonische) Symbol. Diese Sprachformen haben starke performative Anteile, lassen dem eigenen Verstehen also einen eigenen Raum und fordern dies geradezu heraus.
Doch das ist eine gefährliche Aussage, denn sie könnte den Raum zu neuer (umso größerer) Willkür eröffnen. Schließlich können die Weiterführung oder die Interpretation von Erzählungen, Imaginationen und Symbolen nie festgelegt sein. Habe ich also das Recht zu meiner eigenen Interpretation? Steht einer Institution die Vollmacht zu, die Nullstellen und die Leerräume kraft eigener Einsicht auszufüllen? Im Falle philosophischer oder allgemein weisheitlicher Erkenntnis mag das in Ordnung sein, da die Interpretationsergebnisse ohnehin einem weiteren kritischen Diskurs ausgesetzt bleiben.
Im Fall spezifisch religiöser Erkenntnis scheint mir das komplizierter, wenn nicht gar grundlegend anders zu sein. Denn alle Aussagen leben aus dem Vorbehalt ihrer Selbstnegation (vgl. Negative Theologie). Die Grundintention religiöser Wahrheit lautet: Wir reden von einem Grund der Wirklichkeit, die uns nah und zugleich entzogen ist; sie wirkt in uns, ist uns aber nicht verfügbar. Deshalb lautet das Ziel religiöser Wahrheit auch nicht: Wir werden die Regionen unserer Gotteserkenntnis Stück um Stück erweitern oder Stück um Stück genauer entdecken, wie Gott vom Menschen oder von der Welt denkt, sondern: Uns sollen das Geheimnis, die Nichterkennbarkeit, das Wunder Gottes immer deutlicher werden. „Geoffenbart“ wird also dieses Geheimnis als Geheimnis.
Das ist der Hintergrund der gängigen und meist in ihr Gegenteil verkehrten Aussage, dass eine religiöse Wahrheit eine geoffenbarte Wahrheit sei. Den Anhängern einer Religion steht kein Sonderwissen zu, sondern die Gewissheit, dass ihre Weltinterpretation und deren Einsenkung in ihre religiöse Intuition nicht von ihnen geleistet, sondern geschenkt ist. (Dabei lasse ich offen, inwiefern auch andere „Wahrheiten“ als gegeben oder „geschenkt“ zu interpretieren sind.)
4.3 Weltgemeinschaft als Such- und Fragegemeinschaf
Nach John Searle ist der Sprache etwas Unvordenkliches und Uneinholbares gegeben und nicht ohne Grund wirken alle Weltreligionen auf der Basis von Texten. Natürlich haben sie ihrerseits ihre Kontexte, sonst könnten sie nicht wirksam werden. Aber die Sprache und deren Texte begleiten das Menschsein in all ihren Handlungen und bleiben auch dann deren konstanter Referenzpunkt, wenn sich Menschen ihren eigenen Grenzerfahrungen zuwenden.
Können wir also Antworten auf Fragen finden, die von vornherein nicht zu beantworten sind? Der säkulare Diskurs, Basis für unsere Öffentlichkeit, ist davon nicht einfach überzeugt, das Unbeantwortbare ist eben nicht zu beantworten. Das gilt für die Frage nach unserer Herkunft und Zukunft, nach unserem guten Handeln und der Frage nach einer letzten – in allem Orientierung verleihenden Instanz.
Allerdings stehen Religionen mit dieser Fragestellung nicht allein. Im Prinzip können sie auch als philosophische Fragen ausformuliert und behandelt werden. Denn die verqueren Grunderfahrungen unseres Lebens – das Nicht-Erkennbare, das Geheimnis, die Transzendenz, die Grenze, das Paradoxe, das Leiden und das Unrecht, die Koinzidenz von Allem und Nichts – dies alles sind auch philosophische und allgemein menschliche Fragen. Zudem ist es interessant, dass sich das Verschwinden einer religiös eingebetteten Wahrheit eine Ersatzsprache geschaffen hat. Im 19. Jahrhundert entsteht die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Wir kommen den Zusammenhängen aber besser auf die Spur, wenn wir nicht nach der Wahrheit eines Glaubens, sondern nach Antworten auf den Sinn des Lebens fragen.
Schluss – Wahrheitsfrage als Sinnfrage
Dass die offiziellen Führungskader der katholischen Kirche dies noch nicht entdeckt haben, gehört zu den tragischen Entwicklungen. Aus einer kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Perspektive kennt die Welt keine einflussreichere Instanz als die römisch-katholische Kirche mit ihren 1,181 Milliarden Mitgliedern. Sie kann katastrophales Unheil oder unendlichen Segen bewirken. Angesichts der enormen Kulturunterschiede der Kontinente, Länder und Ethnien ist es durchaus verständlich, dass sich in den Reihen dieses global players alle beschriebenen Wahrheitsmodelle behaupten, dies gilt umso mehr, als sie einander durchaus ergänzen können. Ich finde es aber inakzeptabel, dass ausgerechnet im westlichen Kulturkreis das Unfehlbarkeitsmodell noch mit unverminderter Schärfe gilt oder als Familiengeheimnis seinen dunklen Einfluss ausübt. Solange sich die Kirche nämlich – in unserem Kulturkreis – nicht in aller Verletzlichkeit auf die Seite einer religiösen (d.h. keiner dogmatischen, philosophischen oder quasi naturwissenschaftlichen) Glaubensverkündigung stellt, wird sie an Glaubwürdigkeit wenig bis gar nichts zurückgewinnen, auch wenn sie das nicht erkennen will. Manches Mal könnte man meinen, diese Kirche möchte sich selbst zum sprachlosen Befehlsgeber machen, und sich in Glaubensangelegenheiten so zum Verstummen bringen, dass die Weitergabe der christlichen Botschaft früher oder später zusammenbrechen wird.