Wirklich weiter denken!

Zum Papstbuch von Jürgen Erbacher Weiter denken. Franziskus als Papst und Politiker

Vielfältige Erneuerung

Papst Franziskus ist eine der faszinierendsten Figuren der Gegenwart, auch dann, wenn man ihn mit den großen gesellschaftlichen Veränderungen in Wirtschaft und Politik konfrontiert. Er versetzt Grenzmarken nach innen, weil er sich persönliche Eitelkeiten und belanglose Nebeninteressen verbietet. Außerhalb der Kirche nimmt man ihn ernst, weil er seit 2013 ‑ bis hin zu einer Enzyklika über Gesellschaft und Ökologie ‑ seine gesellschaftspolitischen Ziele konsequent und glaubwürdig vertreten hat. Jetzt legt Jürgen Erbacher, Politologe und Theologe zugleich, in seinem Buch Weiter denken. Franziskus als Papst und Politiker ein Gesamtbild von Papst Franziskus, seinem innerkirchlichen und politischen Handeln vor. Seine Darstellung beginnt mit grundlegenden Akzenten, die den Papst in seiner Amtsführung leiten: Hinwendung zum Gottesvolk (11-17), Hochschätzung der Volksfrömmigkeit (19-27), Hinführung zu einer armen und barmherzigen Kirche (29-37; 39-49). Dann greift er wichtige Strukturprobleme und Zukunftschancen der Kirche auf: die Spannung von West- und Weltkirche (51-59), das Verhältnis von Mitte und Rändern (61-72), die Herausforderung einer synodalen Kirchenstruktur (73-80), eines dezentralen Handelns (81-88) und der ökumenischen Zukunft (89-99). Schließlich wendet er sich spezifischen Motiven und Zielen des Papstes zu. Er bringt sie auf die Formeln Wahrhaftigkeit (101-110), Politik der Begegnung (111-121), prophetische Impulse (123-134), Kampf für Gerechtigkeit (135-143), engagierte Weltpolitik (145-152) und Einsatz für eine befriedete Welt (154-162). Seine Schlussfolgerungen fasst er zusammen unter dem Titel Weiter denken. Die Tradition ist dynamisch. (163-172)

Die einzelnen Kapitel sind, wie man sieht, kurz gehalten, der Stil ist klar und verständlich. Die vielfältigen Fäden, die sich in dieser unkonventionellen Amtsführung ständig kreuzen, werden entwirrt und Wiederholungen sind auf ein Minimum reduziert. Die Gedankenführung des Buches überfordert nicht, umgekehrt versanden die Texte auch nie in Banalitäten. Tatsachen sind gut recherchiert und werden meist in größere, oft politische Zusammenhänge eingeordnet. Aus den Darlegungen spricht eine hohe Sympathie zum Papst, ohne dass sie in eine unkritische Papstverehrung abgleitet. So kann man das Buch einem breiten, vor allem kirchlich interessierten Publikum empfehlen.

Dennoch bleiben Fragen, denn mit dem Buchtitel Weiter denken hat Erbacher höhere Erwartungen geweckt. Ohne oberflächlich zu werden, bleibt er bei einer Darstellung der Oberfläche, den interpretationsfähigen „Fakten“. Ihn interessieren mehr die spontane Kommunikation und unmittelbare Wirkung der Worte als deren genaue Bedeutung. Schließlich ist nach fünf Jahren die Phase des ersten Kennenlernens abgeschlossen. Vor diesem Hintergrund erhalten die vielen im Vorwort aufgerufenen Fragen ‑ jedenfalls für Insider ‑ nur schematische Antworten. Man hat schon vielfach beurteilt, gelobt und getadelt. Jetzt wäre es Zeit, die Oberfläche zu durchstoßen und die Wirkungen dieses Pontifikats mit einzubeziehen. Worin etwa sieht Erbacher die enormen Hausforderungen des dritten Jahrtausends (8)? Und bleiben nicht viele Schlagworte des Papstes im Vagen, da sie ja alle aus einem lateinamerikanischen in einen europäischen Kontext zu übersetzen sind? Ich denke an den „Geist des theologischen Narzissmus“ (11), den Beichtstuhl als „Waschsalon“ (13), an eine Kirche, die „im eigenen Mief“ erstickt (14) und an die „Mundanität“ (Weltlichkeit) einer Kirche, die sich zu gut in der Welt einrichtet (17). Diese Pfeile treffen auch bei uns und wecken unsere Sympathie. Verstehen wir sie aber genau? Dies gilt auch für die Rede vom „einfachen Volk“. (21, 23) Bisweilen geht Erbacher auf diesen Versuch ein, so etwa bei der Frage, was denn die Armut „im Geiste“ meint (9). Doch auch hier mündet seine Antwort in konventionelle Vorstellungen ein.

Konsequente Reformen?

Unbestritten und sympathisch mag auch sein, dass der Papst auf „großen Pomp“ verzichtet (33). Dazu gehört natürlich der Verzicht auf rote Schuhe und eine samtene Mozzetta mit Hermelinsaum. Wer hat davon nicht gehört! Ist dieser Verzicht aber konsequent? Auch Franziskus führt ‑ ganz unfranziskanisch ‑ noch ein fürstliches Wappen mit Wappenspruch, trägt Mitra, Pallium und ein silbernes Brustkreuz, liebt die Massen bei liturgischen Feiern. Die Kardinalsernennungen geraten nach wie zu peinlichen Selbstdarstellungen des römischen Hofs: Zeichen der Volksdistanz und einer selbstsicheren Hierarchie. Nicht einfach falsch, aber etwas zu einfach ist auch der Ausspruch, große Theologen und kluge Köpfe sollten an die Universität gehen, wir aber bräuchten Hirten (36f). Es wäre an der Zeit, diesen spontanen Redestil konstruktiv zu reflektieren. Inzwischen hat auch eine differenzierte Diskussion über die Barmherzigkeit begonnen (39ff). Auch sie soll den Papst nicht ins Unrecht setzen, aber viele Einzelfragen sind klärungsbedürftig, weil auch sie kontextuell bedingt sind.

Auch mag der Papst recht haben, wenn er im 2. Vatikanischen Konzil noch viel Reformpotential sieht und wir diesem Ereignis kein bequemes Denkmal bauen sollten (40). Dennoch wäre genauer zu klären, was er als Nachfolger von Benedikt XVI. und als Verehrer des hochkonservativen Henri de Lubac damit meint. Solche Klärungen sind wichtiger denn je, denn auch reformorientierte Katholiken, Frauen wie Männer, interpretieren die von Kompromissen durchsetzen Reformimpulse des Konzils immer unterschiedlicher und bringen ihre kulturellen Unterschiede dabei stärker zur Geltung als in den vergangenen Jahrzehnten (82ff). Immerhin erkannte Papst Franziskus schon früher ein „Lehramt der Lateinamerikanischen Kirche“ an (86). Jetzt möchte man gerne im Detail wissen, welche Konsequenzen er für andere Kulturräume zieht. Die Forderung, „sich nicht mehr hinter Rom verstecken“ (81), müsste von klaren rechtlichen Maßnahmen begleitet werden. Warum werden sie nicht getroffen?

Genauer gesagt: Wir bräuchten auch in Sachen Lehramt und Lehre eine konsequent erneuerte Theorie. Solange der Papst dafür nicht wenigstens einen klaren Rahmen vorgibt, werden die Bischöfe des Erdkreises zurückhaltend bleiben, weil sie in ihrem dogmatischen Gehäuse gefangen bleiben, das ja auch von Rom nicht geöffnet wird. Zudem hat der Papst das Gespräch mit der Theologie bislang nicht wirklich gesucht. Deren Reformvorschläge sind Legion und für den Vatikan wäre es ein Leichtes, sie zu inventarisieren und auf sie zurückzugreifen, einige Dutzend Verurteilungen der vergangenen Jahrzehnte aufzuheben und sich konsequent ausgearbeitete Konzepte zu eigen zu machen.

Ungewollt gibt Erbacher selbst ein gutes Beispiel für diese Inkonsequenz. Im letzten Kapitel zitiert er ein Wort des Papstes zum Abschluss der Bischofssynode. Dort befasst sich der Papst eindrücklich mit den widersprüchlichen Auffassungen unter den Bischöfen verschiedener Kontinente: Der Bischof des einen Kontinents könne etwa als Skandal, Verwirrung und Rechtsverletzung betrachten, was dem Bischof eines anderen Kontinents als normal, unantastbare Vorschrift und als Gegenstand der Gewissensfreiheit gilt. Aber Papst Franziskus ‑ und das ist bemerkenswert ‑ schränkt diese Feststellung ein. Sie gelte „jenseits der vom Lehramt der Kirche genau definierten dogmatischen Fragen“ (58). Doch lässt sich diese Grenze im aktuellen interkulturellen Diskurs kaum mehr halten, denn zahlreiche Regelungen des katholischen Glaubens, die als irreformabel gelten, wurden von der westlichen Kirche festgelegt und sind nur in einem westlichen Kontext verständlich.

Vertiefung auch durch Korrektur

Auch im letzten Kapitel, das doch zum Weiterdenken anregen will (163ff), wird diese Frage ausgeklammert. Dabei betont der Papst mit großem Pathos die Dynamik der kirchlichen Lehrtradition. „Man kann das Wort nicht einmotten, als wäre es eine alte Wolldecke, die man vor Schädlingen bewahren müsste!“ (163) Das ist wiederum ein wunderbares Bild, dem man nicht widersprechen kann. Doch der Papst stellt es unter das Motto des Vinzenz von Lérin: Die Wahrheiten der Kirche „festigen sich mit den Jahren, entwickeln sich mit der Zeit, vertiefen sich mit dem Alter“. (163) Gemäß diesem Motto sehe der Papst ‑ etwa in Amoris Laetitia ‑ keinen Widerspruch zur Lehre früherer Päpste (ebenso wenig bei seiner Ablehnung der Todesstrafe [149; 163]), vielmehr dringe er tiefer in die göttliche Wahrheit ein (163f). Unbefangene Beobachter fragen sich jedoch, warum er nicht zu dem steht, was er getan hat: er hat, wenn auch im Namen der Barmherzigkeit, lehramtlich festgestellte Überzeugungen korrigiert. Vermutlich könnte er es mit großer Zustimmung dort tun, wo eine unbefangene Schriftauslegung klar zu anderen Ergebnissen führt. In diesem Fall würden sogar die Zerwürfnisse um Amoris Laetitia überflüssig, weil selbst neutestamentliche Zeugnisse die Möglichkeiten einer Ehescheidung eröffnen. Deshalb ist Papst Franziskus in aller Bescheidenheit zu fragen, warum er ausgerechnet in diesem Fall das Zeugnis des Matthäusevangeliums (5,32; 19,9) und des 1. Korintherbriefs (7,15) ignoriert. Bei mehr wohldurchdachter und offensiv gehandhabter Schriftnähe könnte er selbst das traditionell katholische Tabu gegenüber den Homosexuellen (114) korrigieren und offener über den Status der Frauen in der Kirche nachdenken (167). Es käme klarer zum Ausdruck, dass uns der Geist noch immer nicht zur Fülle der Wahrheit geführt hat (47), dass es sich also in der Mitte der Kirche lohnt, nicht nur zur Vertiefung, sondern auch zur eventuellen Korrektur auf die Ränder zu hören (62ff). Dann könnten wir ‑ zur Unterstützung der päpstlichen Ziele ‑ auch offener über eine „versöhnte Verschiedenheit“ zwischen den Kirchen (89) und über den römischen Unfehlbarkeitsanspruch nachdenken.

Mag sein, dass Erbacher in einem zweiten Buch diese umstrittenen Innenansichten zu den von ihm angestoßenen Fragen aufgreift und im Sinne der päpstlichen Reformabsichten konstruktiv weiterführt.

20.03.2018