Weltverantwortung – Spur einer gemeinsamen Gotteserfahrung

Oder: Ist Gott wirklich tot?

Ich bin da wie ein Schwabe: schaffen, schaffen, schaffen.
Ich werde bis zum Jüngsten Gericht für Gerechtigkeit kämpfen.
Leonardo Boff[1]

 

Einleitung: Eine dramatische Frage

Ist Gott wirklich tot? Auf allen Teilen der Erde hat die Auseinandersetzung um unsere gemeinsame Zukunft dramatische Formen angenommen. Wir kämpfen um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung[2]. Doch die gängigen Visionen täuschen eine Klarheit vor, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Staaten bemessen die ökologischen Fortschritte an ihren augenblicklichen Bedürfnissen und niemand kann behaupten, die Globalisierung führe zu einer globalisierten Welteinheit oder die Industrialisierung diene in allen Ländern zum Aufbau einer menschenfreundlichen Industrie. Die Hoffnung auf politische Freiheit wird immer wieder beschworen, bis der nächste Putsch oder lokale Krieg sie widerlegt; zur Not wird eine kleine Besatzerarmee Friedenstruppe genannt. Der so gepriesene Siegeszug des Kapitalismus führt selbst in den nordatlantischen Ländern zu gesellschaftlichen Verwerfungen und die Waffen, die zur Sicherung des Friedens importiert wurden, führen in vielen Ländern zu neuer Unterdrückung. Nirgendwo sind die ideologischen und realen Waffen des Todes verschwunden. Heroische Reden halten immer die Stärkeren, den Preis zahlen die Schwachen.

Zugleich führen wir eine dramatische Auseinandersetzung um ein zeitgemäßes Gottesbild. Auch hier ist die Situation komplex. In Westeuropa und in Nordamerika erleben wir eine Renaissance der Religionen, zugleich einen Siegeszug evangelikaler Strömungen. Prompt folgte die Renaissance eines kämpferischen Atheismus. Wogegen kämpfen aber Christopher Hitchens[3], Richard Dawkins[4] und die Vereinigung der „Brights“[5]? Ein Vergleich zwischen R. Dawkins und den theologischen Gottesbildern, gegen die er sich wendet, zeigt für sachkundige Theologen: Hier wird eine absurde Debatte geführt. Keiner meiner Kollegen, die ich näher kenne, würde an den Gott glauben, den Dawkins so leidenschaftlich bekämpft[6]. Seine Invektiven etwa gegen den Jahwe Israels sind absurd. Dennoch nehmen ihn Christen sehr ernst. Sie haben Mühe mit der Verteidigung, denn sie fühlen ihre christliche Identität angegriffen. Aber dieselben kompetenten Theologen fühlen sich von innerchristlich fundamentalistischen Gruppierungen ebenso herausgefordert und verletzt.

Meines Erachtens spiegelt dieser aktuelle bipolare Streit, der im nordatlantischen Raum und wohl auch in Zentralamerika ausgetragen wird, die große Polarisierung und die religiöse Bipolarität der Spätmoderne wider. Sie ist mit sich selbst uneins. Nach außen treten wir als die großen Vorkämpfer für christliche Werte auf, nach innen ringen wir verzweifelt um die Frage, was genau Gott von uns will. Diese Verunsicherung hat mit der Moderne begonnen. Man suchte die objektive, rational abgesicherte Wahrheit um Gott. Heute wird über die Frage debattiert, ob es eine solche objektive Wahrheit überhaupt gibt. Ist Gott wirklich eine seinshaft definierte, eine in sich ruhende Instanz, die mit ihrer Welt in einem klar umgrenzten Verhältnis von Ursache und Wirkung steht? Ist es wirklich ein allmächtiger Herr, der vom Urknall bis heute in diesem Kosmos wirkt, indem er Naturgesetze schafft, durch diese Naturgesetze die Welt lenkt und bisweilen interventionistisch in ihren Ablauf eingreift? Ließ Josua über Gibeon die Sonne wirklich still stehen (Jos 10,13) und hat Gott den Grand Canyon wirklich entstehen lassen, damit das Wasser der Sintflut ablaufen kann? Zu welchen Ergebnissen sollen wir kommen, wenn wir mit Pascal dem neuzeitlichen Gott der Philosophen den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ erneut entgegenstellen? Befindet sich der christliche Gottesglaube des Westens heute nicht zwischen der Scylla neuzeitlicher Religionskritik und der Charybdis eines erschreckenden Subjektivismus? Welcher Gott bleibt übrig und wie können wir ihn beweisen? Das scheint immer noch eine brennende Frage zu sein.

I. Ich oder Es – Zwei Perspektiven der Erkenntnis

1. Verlust der Integration: Brauchen wir Gott?

Diese Frage nach Gott wird uns noch weiterhin beschäftigen. Seine Existenz ist nicht mehr selbstverständlich. Für die nüchtern sezierende Vernunft ist der Gott des Abendlandes schon lange dabei, den Tod der tausend Differenzierungen zu sterben[7]. Es war das Paradigma vom selbst- und vom erstursächlichen Gott, von einer objektiven und denknotwendigen Größe. Im Gefolge von Descartes wurde sie in rationalistisches Denken getaucht, später idealistisch überhöht und bald darauf anthropologisch instrumentalisiert. Wo war die Konfrontation mit der Glaubensfrage geblieben? Schon B. Pascal hat dem Gott der Philosophen den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gegenüberstellt. G. W. F. Hegel präsentierte die Weltgeschichte als den Ort, an dem sich Gottes Geist von selbst entfaltet. Dabei hatte I. Kant schon darauf hingewiesen, dass wir die prägenden Ideen und Kategorien nicht einfach von der Wirklichkeit ablesen können. Wir müssen sie selbst entwickeln und in unsere Weltinterpretation hineintragen. Nach der anthropologischen Wende, die im 19. Jahrhundert begann, erscheint Gott dann in verschiedensten Versionen als die Erfüllung tiefster menschlicher Sehnsüchte und Ängste. Feuerbach hat mit seiner Projektionstheorie dieses Modell an seinem wundesten Punkt getroffen. Seitdem führen die Verteidigung und die Kritik der Religion zu zahllosen Differenzierungen. Von der Letztursache führte die Argumentation schließlich zur transzendentalen Möglichkeitsbedingung (von Kant bis K. Rahner) und zur Unterscheidung zwischen Seiendem und Sein (Heidegger).

Für den aktuellen Stand der Diskussion ist Folgendes erstaunlich: In allen Versionen wurde Verständigung erzielt. Man erzielte folgende Einverständnisse:
– Wir wissen zu wenig über Gott als einer transzendenten Instanz, um zu zwingenden Argumenten zu kommen. Gott ist und bleibt ein Geheimnis, das das Geheimnis unserer Existenz umfasst.
– Uns fehlen die angemessenen Begriffe, um eindeutig über „Gott“ und die Erfahrung Gottes sprechen zu können. Gott zeigt sich höchstens als die „Möglichkeitsbedingung“ unserer eigenen Erfahrung, die sich in vielfältigen Symbolen ausdrückt.
– In alles Reden über Gott gehen unsere eigenen Wünsche und Ängste ein. Das ist in der Situation des Menschen begründet und spricht nicht gegen Gottes Existenz oder Wahrheit.

Die Frage nach Gott lässt sich also nicht in objektive Beweisketten einzwängen. Er übersteigt nicht nur unser Begreifen, sondern geht auch unseren Sprachwelten voraus, und natürlich begegnen wir Gott immer mit Hoffnung und Angst. Was viele theologische Entwürfe zeigen, hat Hans Küng 1978 in seinem Buch „Existiert Gott?“[8] wie folgt zusammengefasst:

(1) Wir können Gottes Existenz weder beweisen noch widerlegen. Auf der Ebene einer formalen rationalen (natur- oder humanwissenschaftlichen) Argumentation bleibt Gottes Existenz eine offene Frage.
(2) Eine empirisch offene Wahrnehmung und anthropologische Durchdringung der Wirklichkeit verweist auf zahllose negative und positive Spuren die zeigen: Ein Glaube an Gott hat Sinn.
(3) Die Unterscheidung zwischen „beweisbar“ und „sinnvoll“ ergibt sich aus dem Unterschied zwischen einem analytisch erklärenden und einem hermeneutisch verstehenden Denken.
(4) Diese Unterscheidung ermöglicht eine Brücke vom sachlichen Nachdenken über Gott zum Gottesglauben, der vor allem in den Religionen seine Heimat hat. Die innere, hermeneutisch agierende Rationalität setzt immer schon eine Bereitschaft zu Vertrauen und Akzeptanz voraus. Es ist nur die Frage, wie weit sie frei, bewusst und ausdrücklich vollzogen wird.

Dieses innerlich verstehende Vertrauen, das die Rationalität nicht ausschaltet, sondern stimuliert, wirkt nun seinerseits in den drei Intensitätskreisen, von denen wir gesprochen haben:
– Zwar muss die naturwissenschaftlich empirische Arbeit zur distanzierten Analyse und ständigen Falsifikation bereit sein. Das schließt nicht aus, dass sie von einem wohlwollenden Blick auf das Ganze der Wirklichkeit und des Menschen getragen ist. In der Naturwissenschaft kennen wir dafür viele Beispiele.
– Zwar sind unsere Urteile über die Wahrheit der Welt immer in menschliche Kategorien und in menschliche Sprache gefasst. Deshalb müssen sie immer von einem selbstkritischen Vorbehalt getragen sein. Aber dieser Vorbehalt muss letztlich nicht zu einem Skeptizismus führen, sondern kann ein prinzipielles Grundvertrauen in die Wirklichkeit als ganze aktivieren. Dafür gibt es auch in der modernen und postmodernen Philosophie viele Beispiele.
– Zwar bringen die Gottesbilder und Gotteserfahrungen der Religionen auch menschliche Kräfte und Motivationen zur Geltung. Kosmologie und Soziologie, Linguistik und Religionswissenschaften, Psychologie und Neurologie bieten dafür Erklärungsmodelle an. Damit wird ein vorbehaltloses Vertrauen in Gott nicht widerlegt, sondern betätigt.

H. Küng spricht nicht von erklärender und verstehender Vernunft, sondern von äußerer und innerer Rationalität. Die äußere Rationalität verschreibt sich einem empirisch objektivierenden Denkweg, der harte Beweise aufbaut und alle Subjektivität ausschließt. Die innere Rationalität versucht, die Wirklichkeit von innen, von nachvollziehbaren Erfahrungen her, also hermeneutisch nachzuvollziehen. Dabei stimuliert sie das subjektive Engagement, das einem jeden Erkenntnisprozess zugrunde liegt. Damit verweist er auf die beiden grundlegenden Perspektiven, die mich zur Wirklichkeit führen können. Gemeint ist die Perspektive des Ich und die Perspektive des Es, des engagierten Nachvollzugs und der distanzierten Beschreibung. Auf keine der beiden können wir verzichten und keine können wir auf die andere reduzieren. Methodisch und inhaltlich ist das selbstverständlich. Warum aber erfahren wir es als Problem? Weil in der neuzeitlichen Kultur und ihrem szientistischen Denken beide Perspektiven auseinandergebrochen sind.

Die beiden Perspektiven – die harte und die weiche – konnten einander nicht mehr als Partner erkennen, dies zum Nachteil eines von Vernunft getragenen, dennoch engagierten Glaubens an Gott. Ich deute das als ein epochales Krisenphänomen, mit dessen Folgen wir uns auseinandersetzen müssen. Gott ist ohne seine Spuren in der harten Weltempirie ebenso wenig zu haben wie ohne einen persönlich engagierten Umgang mit der Wirklichkeit. Eine Kultur, die diese beiden Aspekte nicht mehr miteinander versöhnt, ist nicht mehr bei sich. Theologisch und philosophisch ist zu fragen, was ihr fehlt. Werfen wir einen Blick auf die Natur-, die Human- und die Sozialwissenschaften.

2. Naturwissenschaften: Existiert Gott?

Existiert Gott? Die erste Form der Gottesfrage spiegelt sich im Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaften. Es wird schon seit Jahrzehnten und mit vielfältigen Ergebnissen geführt. Sie können hier nicht im Detail vorgeführt werden. Sie reichen von der begeisterten Übernahme naturwissenschaftlicher Ergebnisse[9] über die intensive Diskussion sensibler Grenzfragen[10], ferner über assoziative und konkordistische Lösungsversuche[11] bis hin zu scharfen Abgrenzungen zum Nachteil der Naturwissenschaften[12] oder einer aufgeklärten Theologie[13]. Oft sagen diese Ergebnisse mehr über die eigene Welt- oder Schriftinterpretation als über die Qualität naturwissenschaftlicher Theorien.

Oft erschöpft sich die Auseinandersetzung in einem einfachen Aussagenvergleich. Bisweilen wird eine neue Ebene möglicher Kompatibilität gesucht. Nur selten aber wird die Begrifflichkeit selbst so erweitert, dass ein wirkliches Gespräch zustande kommt.

Gemäß der Logik eines geordneten Gesprächs beginnen die meisten Gespräche mit vergleichenden Aktivitäten. Ich vergleiche theologische Aussagen mit naturwissenschaftlichen Aussagen zur selben Thematik (Komparativität). Wie etwa beschreiben Theologie und Kosmologie den Anfang der Welt? Was verstehen Theologie und Naturwissenschaften unter Selbstorganisation? Wie denken sie eine erste Ursache? Lässt die Evolution ein Ziel, einen Sinn oder nur Zufall erkennen? Welchen Ort haben Freiheit und Notwendigkeit? Dieser Schritt ist wichtig, wenn ein gegenseitiges Gespräch überhaupt in Gang kommen soll. Bald aber zeigt sich, dass ein positivistischer Vergleich nicht weit führt. Die entscheidende Frage lautet nicht: Stimmen die Aussagen überein?, sondern: Was meinen die einen und die Andern mit Begriffen wie Weltbeginn, Selbst, Leben, Sinn, Freiheit oder Zufall?

Dem komparativen Schritt muss deshalb die Frage nach der Kompatibilität folgen: Welche Begriffe sind miteinander vergleichbar? Haben Urknall und Schöpfung etwas miteinander zu tun? Können wir die Erstursache im philosophischen und theologisch vertieften Sinn mit einer kosmologisch ersten Bewegung überhaupt in Beziehung setzen? Hat das „intelligent design“ etwas mit göttlicher Finalität und was hat sie mit den Prinzipien und Mechanismen der Evolution zu tun? Was ist eigentlich das Verstehenssubstrat, das Theologen und Naturwissenschaftlicher beim Begriff des Geistes miteinander verbindet? Wie verändert sich die Tiefenstruktur anthropologischer Begriffe, seitdem die Neurologie in die Debatten um Freiheit und Geist, um Ich und ethisches Verhalten eingreift? Es gibt ja viele wohlwollende Gespräche[14] und sie können zu wohlwollenden Annäherungen führen. Doch werden die inneren Verschiebungen der Begriffe und Fragestellungen nicht immer deutlich. Oft üben sich Theologen in Selbstkorrektur. Doch übersieht man: Seit Quanten- und Relativitätstheorie und seit der Entwicklung neuer kosmologischer Modelle hat sich auch die Physik in massiver Selbstkorrektur geübt. Von der Vielfalt der Hypothesen, von der Suche nach Einheitsformel und neuen Qualitäten der Materie einmal abgesehen schreitet diese Selbstkorrektur noch immer voran. So wenig es also die Theologie gibt, so wenig gibt es die Physik oder die Kosmologie. Wir haben es bei Selbst- und Fremdkorrekturen mit keinen Einbahnstraßen zu tun.

Vernachlässigt wird oft die Asymmetrie der methodischen und der Anschauungsrahmen der beiden Diskussionspartner. Das Phänomen, dass sich die einen von den anderen Partnern oft nicht verstanden  fühlen, wird oft unterschätzt. Auch kennt man sich zu wenig. So destruieren die Neurologen einen Freiheitsbegriff, den die Philosophie schon lange revidierte, die Theologen ein Zeitverständnis, das auch in der Physik nicht mehr zu Hause ist. Mit dem Thema „Seele“ kann man große Diskussionsforen organisieren, auf ein kreatives Neuverständnis dieses komplexen Begriffs wird aber kaum Mühe verwendet. Dabei müssten doch alle Gespräche in der Anstrengung einer neuen gemeinsamen Kreativität kulminieren, die eine Kultur zu einer neuen, gemeinsamen und integrierenden Sprache führt. Es gibt eben keine Protokolle des Weltbeginns, sondern poetische und herausfordernde Darstellungen von Gottes umfassender Güte. Nur wer sie neu und aktuell zu interpretieren weiß, wird dem Genesisbuch gerecht.

Hier rühren wir an das eigentliche Problem. Solche Gespräche helfen der Theologie, den Glauben an Jesus Christus besser zu verantworten, vielleicht auch besser zu formulieren. Dieser Dienst ist nicht zu unterschätzen. Aber deren Ergebnisse dringen nur selten ins allgemeine Bewusstsein ein. Übersehen wird in der Regel, dass die nordatlantische Kultur eine neue prägende Grundanschauung, eine neue Mega-Geschichte (grand récit) kennt. Die Megageschichte der nordatlantischen, von den Naturwissenschaften geprägten Länder ist die Evolutionstheorie, nicht mehr die biblische Geschichte der Genesis. Damit wird diese nicht falsch, aber sie überzeugt nicht mehr unmittelbar. Sie ist nicht mehr in den symbolischen Kosmos ihrer Natur eingebettet. Wie können wir sie neu formulieren?

Ähnliches gilt für in der Bibel grundgelegte Vorstellungen wie Geist, Seele, Leben. So gibt es gute Beispiele für den Versuch, die Seele des Menschen – von Thomas von Aquin als forma corporis definiert – mit den hochmodernen Kategorien einer formatierten Festplatte zu beschreiben[15]. Auf den ersten Blick wirken solche Erklärungen interessant. Langfristig aber bleiben Fragen. Eine kulturelle Symbolwelt hat ihre eigenen hochkomplexen Gesetze.

Für die Schwierigkeiten dieser Diskussion lassen sich vier Gründe nennen:
– In der Geschichte des westlichen Christentums wurde das Gottesbild in verdeckter Weise objektiviert. Schon im Verlauf der Hellenisierung wurde dem Aspekt der Ursächlichkeit und der Wirkungsmacht Gottes eine sehr hohe Bedeutung zugemessen. Dies lässt sich gut an den „fünf Wegen“ des Thomas von Aquin illustrieren.
– Naturwissenschaften und Technik werden hoch eingeschätzt, denn sie bestimmen das Leben des Alltags enorm und vermitteln den Eindruck, dass uns Natur und Menschen verfügbar sind. Methodisch und inhaltlich verdrängt dies alle personalen Bezüge.
– Aus sich heraus neigen die Naturwissenschaften zu einer gottfreien Welt, zu einem deistischen, allenfalls zu einem pantheistischen Gott. Die Kategorie einer göttlicher Personalität ist ihnen fremd.
– Überdies führten diese Entwicklung und andere Gründe zu einer breiten Kluft zwischen einem philosophischen und einem christlich theologischen Gottesbild. In einem langen Prozess hat sich die philosophische Reflexion von der religiösen Praxis abgespalten. So wird nicht mehr nach dem Gott des Lebens, sondern nach dem Gott einzelner Kausalursachen gefragt.

Ich fasse zusammen:
Die theologische Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften ist unverzichtbar, aber sie verengt den Blick. Sie blendet Aspekte des Lebens, der Herausforderung und der subjektiven Erfahrung aus und fragt nach dem, was der Fall ist. Objektiv feststellbare Wirkungen gelten als die Achse der Wahrheit. Zu Recht stellt Hans Küng diesem Neutralismus die Kategorie des Vertrauens entgegen. Wo aber liegen ihre Quellen?

3. Humanwissenschaften: Begegnet uns Gott?

Begegnet uns Gott? Die zweite Form der Gottesfrage spiegelt sich im Gespräch zwischen Theologie und Humanwissenschaften. Die Humanwissenschaften überwinden seit einiger Zeit die alte Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Interdisziplinärität ist angesagt. Das sind für den Kontakt mit der Theologie gute Voraussetzungen, denn die subjektiven Dimensionen des Menschen werden ernst genommen. Das sind Selbsterfahrung und Erfahrung der Freiheit, die Identität und das Selbst, Hoffnungen und Ängste, auch die vielfachen Kontexte, von denen aus Menschen in ihrer Ich-Perspektive die Wirklichkeit von Mensch und Welt interpretieren. Vielleicht kommt die Frage nach Gott hier angemessener zur Sprache. Wir wissen, dass Kunst, Selbstzeugnisse, die Leidenserinnerungen von Betroffenen über Mensch und Welt mehr sagen können als die raffinierteste sachliche Analyse.

Die monotheistischen Gottesbilder lassen sich eben nicht auf die Fragen nach Gottes Existenz reduzieren. Sie leben von der Grundmetapher der Person, von zentralen Erfahrungen wie Liebe und Freiheit, Sinnerfüllung und Glück, der Frage nach Gerechtigkeit und Frieden. Gott ist Leben. Gott, sagen wir, lebt dort, wo Freiheit herrscht, und dort, wo Liebe lebt. Wo Gott gegenwärtig ist, sind Glück, Erfüllung, und Erlösung zu Hause. Vor allem die Psychologie hat gezeigt, dass wir Menschen alle von tiefen und unstillbaren Sehnsüchten leben[16]. Von der Philosophie wissen wir, worauf die Theologie schon lange hingewiesen hat: Naturwissenschaftlich lassen sich Werte wie Freiheit, Liebe oder Glück überhaupt nicht objektivieren.

Die genannten Begriffe wie Liebe, Freiheit, Glück sind seit dem 19. Jahrhundert selbst zu umstrittenen Begriffen geworden. Was bedeutet Freiheit? Haben die Ethiker recht, die die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen einfach voraussetzen? Müssen wir den Neurologen zustimmen, die eine jede Freiheit bestreiten? Wie sollen wir in einer Kultur über Freiheit reden, die Freiheit nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen kann? Dabei weiß auch die Theologie spätestens seit Augustinus, dass die Gefahren der Selbsttäuschung enorm sind. Vielleicht täuscht mich meine Freiheit. Vielleicht ist mein Glück nur vorläufig und trügerisch. So können die Humanwissenschaften zwar zeigen, dass wir Menschen von einer unendlichen Sehnsucht nach Erfüllung getragen sind. Hoffnung zeigt sich ebenso wie das Vertrauen als Lebensprinzip des Menschen. Aber auch aus dieser Sehnsucht und aus diesem Vertrauen können wir nicht zwingend auf Gott schließen, denn Vertrauen bleibt eben eine freie Tat. Und wie Feuerbach schon sagte: Wir können dem Projektionsverdacht zwar seinen Schrecken nehmen und wir können mit ihm umgehen, aber er lässt sich nicht widerlegen. Bei aller inneren Vernünftigkeit kommt das Glauben des Menschen eben – vom Glauben[17]

Die Frage, auf die das Gespräch mit den Humanwissenschaften immer wieder hinausläuft, lautet: Begegnet uns in uns selbst und in anderen Menschen, in ihren Ängsten und Erwartungen, wirklich Gott? Für viele Menschen bleibt diese Glaubensfrage offen, weil sie in ihrem kulturellen Umfeld eben nicht mehr selbstverständlich ist . Die Humanwissenschaften selbst können nur Hinweise geben. Aber zu viele Gründe scheinen in den Erfahrungen unserer Gesellschaft gegen ihn zu sprechen. Sie erfahren wohl das Leben Gottes nicht mehr, weil ihnen zuviel von ihrem eigenen Leben genommen wird[18] und weil sie sich zu sehr auf ihre eigenen Sicherheiten verlassen können.

4. Kultur- und Sozialwissenschaften: Lebt Gott in dieser Welt?

Ist Gott ist unseren Gesellschaften tot? Die dritte Form der Gottesfrage spiegelt sich im Gespräch zwischen der Theologie und den Sozialwissenschaften[19]. Hier ist die Lage so diffus und unübersichtlich wie in unseren Gesellschaften selbst. Jahrzehnte lang beherrschte die These von der Säkularisierung alle Debatten. In industrialisierten Ländern schien die Gottesfrage zu verschwinden. Religion und Religiosität spielen dann keine Rolle mehr[20]. Inzwischen gilt diese These als überholt; Religion stößt auch in reichen Ländern wieder auf ein erhöhtes Interesse. Immer mehr Spezialisten sind davon überzeugt, dass eine jede Gesellschaft Religion nötig hat. Denn mit wachsender Differenzierung wachsen die Orientierungsfragen. Religiöse Fragen lassen sich nicht vom Tisch wischen. Unter dieser neuen Oberfläche bleiben aber die harten Kernfragen oft ohne Antwort.

Denken wir an das Arsenal der religionskritischen Argumentationen, wie wir sie seit L. Feuerbach, K. Marx, S. Freud und Fr. Nietzsche, seit dem Positivismus und Nihilismus, seit den Vorstößen der Ideologiekritik, seit dem Konstruktivismus, der analytischen Erkenntnis- und Sprachkritik kennen. Zwar werden Religion und die Suche nach Spiritualität ihre Bedeutung behalten. Aber könnte der Grund nicht einfach darin liegen, dass wir Illusionen und Vertröstung eben brauchen? Zwar können wir uns den Anfang, die Entwicklung und das Ende von Menschheit und Welt nicht vorstellen ohne eine letzte Instanz des Ursprungs, der Sinngebung und des Ziels. Sind es aber nicht andere Erklärungsmodelle, die die Symbolsysteme unserer Kultur faktisch und in aller Härte bestimmen? Man denke an
– die Erklärungsmacht der Evolutionstheorie,
– die Triumphe der Technik,
– die ungeheure, ins Dämonische wachsende Dynamik des Kapitals,
– die zahllosen medizinischen und psychologischen Techniken, mit denen wir den Zustand der Menschen stabilisieren.

Man verweist gerne auf die neue Faszination der Religionen, auf die triumphalen Erfolge päpstlicher Reisen, auf die Hunderttausende von Jungendlichen, die auf den Weltjugendtagen zusammenkommen. Um wie vieles größer waren aber Glanz und Triumph der Olympischen Spiele in Beijing, die ihre eigene Version von der „one world“ demonstrieren? Wie gerne und perfekt ließ sich die Welt betrügen, als man die Bilder von den Feuerwerken mit früheren Aufnahmen mischte oder beim traumhaft schönen Kinderlied die schönste Stimme mit dem schönsten Gesicht kombinierte und so beide jungen Mädchen betrog!

Ohnehin können wir im gesellschaftswissenschaftlich-theologischen Gespräch kein einheitliches Profil erwarten. Die Anzahl der sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen ist ebenso explodiert wie sich unsere Gesellschaften endlos differenziert haben. Die Sozialwissenschaften gibt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso wenig wie unsere Gesellschaft alle gesellschaftlichen Funktionen, alle Rollen ihrer Bürger, die weltanschaulichen Angebote noch integrieren kann. Schon das bedeutet für die Religionen eine ungeheure Herausforderung, denn in keinem Kulturraum der Welt kann sie noch eine umfassende Weltdeutung garantieren. Interreligiosität und Interkulturalität, religiöse und kulturelle Toleranz, weltanschaulicher Pluralismus und Humanisierung der Religionen sind – jedenfalls in Westeuropa – zu den neuen zentralen Schlagworten geworden, die auf Dauer unsere traditionelle Sicht auf die gesellschaftliche Funktion von Religion und Religiosität tiefgreifend verändern werden.

In dieser neuen Situation hat sich die Frage nach Gott unmerklich gewandelt. Viele wissen nicht mehr, welchen Gott sie meinen und welchen religiösen Traditionen sie sich anschließen sollen. Die Gottesfrage entgleitet ihnen und sie bekommen das Feld der Fragen nicht mehr in den Griff. Meisterhaft haben wir gelernt, in der Öffentlichkeit über Gott indirekt zu reden. In den westlichen Buchhandlungen sind die Regale voll von religiöser Literatur. Wir finden alles über Normen und Werte, neue Gewohnheiten und Lebensstile, Riten und Ritualisierungen, über Fest und Alltag, Stille und Meditation, alternative Ernährung und Entschleunigung der Welt, Kritik an der Gesellschaft und der Ausbeutung der Natur, über den Umgang mit Mitmenschen und dem Alter. Ganzheitliche Menschenbilder stehen zur Debatte. Aber Gott? Gewiss, Menschen, die sich für Unterdrückte oder Marginalisierte einsetzen, werden mit großem Respekt zur Kenntnis genommen (darunter Mutter Teresa und Oscar Romero). Aber Gott? Die Religionen kommen unter folgenden Schlagworten ins Gespräch: Reduktion menschlicher und gesellschaftlicher Kontingenz, Weltdeutung und individuelle Freiheit, die Kraft der Symbole, die Fragen nach Konflikt, Gewalt und deren Überwindung.

In den vielfältigen Diskursen wird die Frage nach Gott nicht verdrängt. Man scheut auch nicht die authentischen Antworten von Gläubigen. Aber zu verbindlichen Folgerungen kommt es in der Regel nicht. Natürlich sind die Sozialwissenschaften nicht einfach in die Unverbindlichkeit abgesunken. Ernste Antworten und noch ernstere Fragen haben Konjunktur. Es werden seriöse sozial-, kultur- und religionsphilosophische Diskurse geführt. Sie zeigen aber alle die gesellschaftliche Pluralität der Weltanschauungen mit ihren individuellen Interessen und Positionen. In aller Offenheit können sie utilitaristisch argumentieren, kollektivistisch oder liberal, relativistisch oder totalitär, in oft sympathischer Weise humanistisch oder bewusst säkular, in vielen Fällen religiös, oft mit hohem Respekt vor den großen Religionen. Als Problem erfahre ich, dass alle diese Ansätze, welcher Art und welcher Qualität sie auch seien, immer als parteiliche Beiträge zum Gesamtgespräch wahrgenommen werden[21].

Dabei scheint sich die Religionskritik neu zu organisieren. Dies hängt damit zusammen, dass wir seit Beginn der 1990er Jahre, insbesondere seit dem 11. September 2001, auf die politische Wirkung der Religionen aufmerksam geworden sind. Man erinnert sich an die Gewaltgeschichte und die Gewaltpotentiale der Religionen, insbesondere des Christentums und des Islam. Das ist ein relevantes Phänomen, denn Fragen nach Gewalt und Versöhnung, nach Menschenrechten und einer neuen Weltpolitik, nach Gerechtigkeit und Frieden sind unbemerkt zu den neuen zentralen Themen aufgerückt. Wenn Gott in diesem Diskurs eine Rolle spielen soll, dann stehen die Frage nach dem (all)mächtigen Gott und die Frage nach seiner Ohnmacht, nach dem friedfertigen Gott und die Frage des Unrechts zur Debatte[22]. Relevant ist dieser Gott nur, wenn er für die zukünftige Gestalt dieser Welt wirklich eine Rolle spielt. Man sollte solches Fragen nicht als banalen Utilitarismus verurteilen. Denn es besteht darauf, dass ein unpolitischer und privatistischer Gott niemandem nützt.

So ist die Zeit für einen neuen Impuls reif geworden. Die christliche Theologie hat für die aufgeworfenen Fragen Antworten. Die Schrift spricht von einem Gott, der Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung schafft. Dieser Gott schafft eine menschenwürdige Zukunft, indem er die Herzen der Menschen verändert und die Solidarität mit den Armen einfordert, auf deren Seite er schließlich selbst steht. So können wir aus der Schrift auch schon dies lernen: Eine a-politische, nur am individuellem Glück des Einzelnen oder nur am industriellen Fortschritt interessierte Sozialtheorie ist von der Gottesfrage am weitesten entfernt. Umgekehrt ist die Frage: „Wer regiert die Welt?“ von zentraler Bedeutung[23]. Sie kann zudem zentrale christliche Aspekte integrieren. Das gilt etwa für den Schöpfungsbericht, denn die Schrift begreift Gottes Schöpfung als den ständigen Kampf gegen das Chaos, das uns bedroht. Das gilt auch für die Lehre von der Erlösung. Paulus etwa begreift die Rechtfertigungslehre als die Frage, in wessen Machtbereich wir stehen. Dies gilt schließlich für die Frage der Freiheit, denn schon Paulus ermahnt die Gemeinde, die erlangte Freiheit und Verantwortung nicht aufzugeben.

Fassen wir den ersten Teil zusammen:
Im europäischen Raum spiegeln die Sozialwissenschaften (im weitesten Wortsinn) die ganze Orientierungslosigkeit wider, in die unsere Gesellschaften geraten sind. Die Gottesfrage und alle mit ihr gegebenen Orientierungsfragen sind diffus geworden. Verbindliche Antworten sind immer schon Partei. Man nimmt sie als die Verteidigung bestimmter Interessengruppen wahr. Doch bahnt sich eine indirekte Integration der religiösen Fragestellungen an. Es geht um die Gewaltgeschichte, um das Gewalt-, aber auch um das Friedenspotential der Religionen. Die Fragen nach einer umfassenden Gerechtigkeit, nach einem umfassenden Frieden, nach einer umfassenden Transparenz des Weltgeschehens und nach der Zukunft einer versöhnten Menschheit. Diese eminent theologischen Fragen haben heute Hochkonjunktur. Es kommt nur darauf an, dass wir sie überzeugend beantworten.

– Genau genommen stellt dieser Kongress ja nicht die Frage: Existiert Gott? Diese Frage wird vor allem in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften besprochen und neigt zu einem objektivierenden Denkmodell.
– Dieser Kongress begnügt sich auch nicht mit der Frage, die oft von individualistischen und a-politischen Voraussetzungen her gestellt wird: Wie und wo begegnet uns Gott? Diese Fragerichtung verführt zu subjektiven Denkmodellen, die für die Allgemeinheit der Menschen kaum lösbar ist.
– Wir möchten auch nicht, dass die Frage nach Gott von den zahllosen, oft unmenschlichen Differenzierungen unserer Gesellschaften auf regionaler und auf globaler Ebene fragmentiert und den partikularen Interessen einzelner Kulturen und Gruppen ausgeliefert wird.
– Wir suchen eine Antwort auf die umfassende Frage: Lebt Gott in unseren Gesellschaften und in der Welt wirklich? Wird er unseren Weg in eine Zukunft begleiten, die uns zu Angst und zu Hoffnung zugleich verleitet?

Genau das ist die Frage, die wir heute zu stellen haben. Wenn Gott im Sinne der Menschen lebt, dann kümmert er sich um alle zugleich. Der folgenreichste theologische Entwurf, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieser Spur gefolgt ist, ist die Befreiungstheologie. Inzwischen hat sie sich zu einer kontextuellen Theologie entwickelt und ist mit interkulturellen Theologien verschmolzen. Allerdings wurde oft ein Kritikpunkt konstatiert, über den gesprochen werden muss. Kernforderung der Befreiungstheologie ist die „Option für die Armen“. Gottes Heil beginnt mit den Armen, lautet die fundamentale These. Wie können wir diese Option mit Gottes Angebot eines universalen Heils versöhnen? Wie können wir alle Menschen so in die Verantwortung rufen, dass ihr Glaube – in welcher Religion der Welt auch immer – glaubwürdig wird?

II. Gemeinsame Verantwortung

Im Laufe ihrer Geschichte hat sich die christliche Tradition Westeuropas stark auf sich selbst konzentriert. Sie ging eine enge Symbiose mit ihrer Kultur ein und schloss Dissidenten (Nichtchristen, häretische und schismatische Gruppen) aus ihrer Gemeinschaft aus. Ihnen war Gottes Gegenwart vorenthalten. So wurden sie auch aus der allgemeinen Sorge um ihr Wohlergehen und Heil ausgeschlossen. Missionarische Aktivitäten veränderten diesen Missstand nicht; die Mentalität blieb dieselbe. Die epochale Wende bahnte sich auf dem Vaticanum II an.

1. Die Wende – Vaticanum II

Schon im 19. Jahrhundert führte dieser Missstand zu schweren Spannungen. Philosophie und Theologie entfernten sich voneinander. Als Reaktion auf den christlichen Exklusivismus (alleinseligmachende Kirche) verbreitete sich immer mehr die konträre Überzeugung, dass der Mensch zu seinem Heil der Erlösung Gottes nicht bedarf, auch wenn er von Gott geschaffen ist und nach seinem Tod zu Gott zurückkehrt. So setzte sich in der Philosophie ein halbiertes Gottesbild durch. Mit dem konkreten Lebensraum des Menschen hatte Gott immer weniger zu tun. Gott existierte noch, aber er lebte nicht mehr. Kein Wunder, dass bald auch Zweifel über seine Existenz aufkamen. Die Wege in eine säkularisierte Öffentlichkeit, zur Entpolitisierung und Privatisierung des Glaubens seit dem 19. Jahrhundert sind ebenso bekannt wie die intensiven Gespräche, die Theologie und Philosophie oft indirekt führten. Sie rangen um die Frage: Was ist das gemeinsame Thema unserer Gesellschaft? Was ist für die Menschen ein wahres und ein gutes Leben? Was bedeutet die christliche Botschaft für das Wohl der gesamten Menschheit?

Die Wende, die das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) in Gaudium et Spes herbeiführte, war also lange vorbereitet[24]. Ich meine das Projekt des Aggiornamento und die neue Vision, die in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (1965) entfaltet wurde. Dieses Konzil hat viele Ideen aufgenommen, denen die katholische Kirche zuvor mit großem Vorbehalt begegnete. Ich erinnere an die Debatten um Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Freiheit, insbesondere um die Religionsfreiheit, um die Würde der menschlichen Person und die Würde des Gewissens, um Toleranz und die Bedeutung der nichtchristlichen Religionen, um die Autonomie der irdischen Wirklichkeit, um die Würde der Armen, der Frauen, der Marginalisierten. Alle diese Gesichtspunkte haben eine theologische Relevanz und sind für Gottes Gegenwart in der Welt bedeutsam. Denn sie alle beziehen sich – in biblischen Kategorien gesprochen – auf das Reich Gottes, das hier und jetzt beginnt. Ich nenne die Frage der Solidarität, des gemeinsamen Glücks, der Gerechtigkeit und des Friedens.

Seit dem 2. Vatikanischen Konzil haben wir unter Inspiration der Befreiungstheologie und anderer emanzipatorischer Theologien auch in nördlichen Ländern gelernt, die Geschichten unserer Länder und die Fragen unserer Weltzukunft neu zu lesen. Zu Recht hatte ja schon E. Bloch, dieser prophetische Atheist, auf einen zentralen Punkt hingewiesen. Für die Abwesenheit Gottes in der westlichen Kultur gab er nicht einfach dem Unglauben vieler Menschen (Philosophen und Wissenschaftlern) die Schuld. Solange der Gott der Christen nur über der Welt schwebe, sei er hier in seinem Reich eben nicht mehr zu finden. Die christliche Botschaft wäre immer noch überzeugend, wenn wir die Bibel als „biblia pauperum im schärfsten Sinne“[25] begreifen würden. Er zitiert den Propheten Amos und fragt die Christen, ob sie sich wirklich um das Elend der Armen kümmern. Die Frage lautet also: Wie bekämpfen wir in Gottes Namen die Ungerechtigkeit der Welt?

2. Miteinander leben (Philosophie)

Zu dieser Erkenntnis führten in der westlichen Tradition viele, bisweilen auch untergründige und säkular orientierte Wege. Einen sehr interessanten zeigt der deutsche Philosoph Hans-Martin Schönherr-Mann in einem eindrucksvollen Buch über den Gedanken der Verantwortung in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts[26].

Allmählich und oft verborgen hat sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts mehr und mehr einem gemeinsamen Thema zugewandt. Es lautet: „miteinander leben lernen“; wie ist das möglich? Der Autor schlüsselt dieses Thema in vier Teilfragen auf. (1) Wie können wir den Krieg der Ideologien unter pluralistischen Bedingungen überwinden? (2) Wie entsteht eine Ethik der Verantwortung? (3) Wie kommt eine gemeinsame weltweite Kommunikation zustande? (4) Wie können wir im Zeitalter der Globalisierung einen Konsens finden? Unter diesen Fragestellungen versammelt er eine eindrucksvolle Liste von Denkern. Zur Pluralismusfrage beginnt er mit Hannah Arendt, Willam James, Richard Rorty, John Dewey und Ernst Bloch. Für das Konzept einer Verantwortungsethik führt er Max Weber, Jean-Paul Sartre, Emmanuel Lévinas und Hans Jonas an. Über eine umfassende Kommunikation reflektieren Denker wie Karl Jaspers, Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger und wiederum die Philosophin Hannah Arendt. Für die Frage nach einem globalen Konsens geht er bei Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas, John Rawls und Michael Walzer in die Schule.

Natürlich kann man diese Entwürfe unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren. Schönherr-Mann interessieren nicht so sehr die Genialität der einzelnen Denkleistungen, sondern die Situationen, auf die seine Gewährsleute reagierten und die gemeinsame große Linie, die sich faktisch aus ihnen ergibt. Die pragmatischen Ansätze, Toleranzpostulate und Allianztechniken stehen in Funktion einer geistigen Lage, die wir heute „Pluralismus“ nennen und die für die klassische Neuzeit noch unbekannt war. In einer Zeit des Werteverfalls wollte M. Weber z. B. keinen Verfall der Gesinnungsethik provozieren, sondern uns mit seiner „Verantwortungsethik“ dazu befähigen, in einer komplexen und unübersichtlichen Gesellschaft neue Lösungswege zu finden. Unter dieser Perspektive lässt sich sogar Jean-Paul Sartre neu lesen. Denn er hat uns gelehrt, dass jedes Individuum für sich, für seine Umgebung, für die ganze Welt verantwortlich ist. K. Jaspers sieht klar, dass wir eine weltweite Kommunikation benötigen und er sieht Vernunft und Religion auf der Suche nach einer universalen Kommunikation, in der – so Gadamer – die Horizonte verschmelzen. So müssen wir darüber nachdenken, wie wir zu einem universalen Konsens kommen können[27].

Bislang waren für mich dies alles technische Einzelheiten zu verschiedenartigen Themen. Jetzt, bei der Lektüre dieses Buchs, habe ich begriffen, dass dies alles Bausteine zur Beantwortung einer höchst aktuellen Grundfrage sind: Wie können wir in einer Welt, die immer komplexer und globaler wird, miteinander reden und zu gemeinsamen Prinzipien unseres Handelns kommen, damit wir miteinander leben und eine lebbar Zukunft aufbauen können? Erstaunlich ist allerdings auch Folgendes: Keine dieser Philosophien entwickelt explizit eine materiale Weltethik. Aber unausgesprochen und wie selbstverständlich scheinen bestimmte Prinzipien zu gelten. Schönherr-Mann nennt die Ablehnung von Gewalt und Zerstörung, die Verpflichtung auf gegenseitige Solidarität, die auf Gerechtigkeit gründet, die Garantie bestimmter Grundrechte, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Völlig halten sich diese Konzepte schließlich in der Frage zurück, ob und wie wir diese Zielsetzungen und Werte letztlich begründen können. Was haben dazu Theologie und Kirche zu sagen? Wäre das nicht eine Grundlage, auf der wir Gottes Gegenwart in unserer Welt wieder glaubwürdig verkünden könnten?

3. Solidarisierung (Theologie)

Wer die Theologie der Neuzeit richtig verstehen will, muss ebenfalls deren Interaktion mit den Kontexten ihrer Zeit verstehen. Dazu gehören auch die Philosophie deren soeben genannte Themen.

Auf den ersten Blick fallen die Gegensätze und polemischen Korrekturen auf, wie wir sie noch im Syllabus errorum von Pius IX. (1864) oder in den Beschlüssen des Vaticanum I (1870) erkennen. Die Theologie betont gegenüber einem fernen Gott den erkennbaren, uns nahen Gott, neben einem pantheistischen Gott den persönlichen Gott, der uns liebt, neben dem Gesetz eines allgemeinen, sozusagen anonymen Ausgleichs den Gott der Gnade, der uns konkret in der Kirche begegnet. Aber alles, was zur Auflösung der wahren Glaubenslehre führen könnte, wird in einer intransigenten Sprache abgelehnt. Relativismus und Liberalismus, Gewissens- und Religionsfreiheit, Sozialismus und Demokratie, die Bildungsaufsicht des Staates. Betont wird der Gedankenkreis der „alleinseligmachenden“ Kirche[28]. Wie wir auf den zweiten Blick erkennen können, zeigen sich hinter diesen Differenzen nicht nur eine gemeinsame Sorge um ein öffentliches Leben, das keine Orientierung mehr kennt, sondern auch wachsende Übereinstimmungen. Sie beziehen sich nicht direkt auf Gott und die Kirche, sondern auf die aktuelle Situation und die Zukunft der Menschheit. Es sind genau die Themen, die soeben genannt worden sind.

(1) Ich nenne für unsere Gegenwart die Fragen einer pluralen Weltdeutung als Antwort auf den Krieg der Ideologien. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Theologie dieses Thema immer wieder grundsätzlich unter dem Titel „Glaube und Vernunft“ verhandelt. Es gibt eine gemeinsame Gesprächsbasis, die alle Menschen vereint.
Ich nenne das Vaticanum I., Vertreter der katholischen Tübinger Schule, die Neuscholastik und die Nouvelle Théologie sowie deren spätere Rezeption, Karl Rahners Impulse für eine transzendentale Theologie, die bis heute nachwirken. Ich nenne schließlich die schon genannten Durchbrüche auf dem Vaticanum II. und die profilierte Position zur Frage der menschlichen Ratio, die Benedikt XIV. wiederholt vorgetragen hat[29]. Für mich persönlich haben die umfassenden Ausführungen von Hans Küng (1978) Maßstäbe gesetzt.

Zu nennen sind ferner:
(2) … die allmählich entdeckte umfassende Verantwortung für Menschheit und Welt. Beginnen wir mit der Tradition der päpstlichen Sozialethiken von 1891 bis 1981, die ein wachsendes soziales Bewusstsein aufgegriffen und das christliche Denken tief geprägt haben[30]. Mit Händen zu greifen sind vergleichbare Entwicklungen in anderen Kirchen und deren Theologien[31], vor allem des Ökumenischen Weltrats, der in den vergangenen Jahrzehnten wegen seines Einsatzes für Menschenrechte, für die soziale Weltsituation und das Schicksal der Minderheiten viel Tadel einstecken musste[32].

(3) … das wachsende politische Bewusstsein in unseren theologischen Entwürfen und in den Kirchen vieler Länder. Wir begannen, die offene und geheime Egozentrik unserer Vergangenheit aufzusprengen. Allmählich zeigte sich: Das Heil der Welt beginnt mit einer menschenfreundlichen Gestalt der Welt, mit gerechten Strukturen und der gegenseitigen Solidarität. In gewissem Sinn wird die ego- und ekklesiozentrische Theologie der Vergangenheit vom Kopf auf die Füße gestellt.
Ich nenne die Theologie der Hoffnung (J. Moltmann) und die Neue Politische Theologie (J. B. Metz), auch H. Küngs damals noch recht kritisch aufgenommene Botschaft, dass die Kirche nicht für sich, sondern für die Menschen da[33] und dass der Gott Jesu Christi der „Vater der Verlorenen“ ist[34]. In dieser Phase haben wir gelernt, dass wir das ethische Handeln nicht einfach nach inneren Kriterien der Gesinnung, sondern nach sachlichen Kriterien der konkreten Weltgestaltung und nach dem Schrei der Elenden zu bemessen haben. Und natürlich ist hier der epochale Durchbruch zu nennen, den die Befreiungstheologie erreicht hat[35]. Epochal war dieser Durchbruch, weil hier zum ersten Mal nicht nur die Starken für die Schwachen eingetreten sind, sondern weil die Armen zum ersten Mal selbst ihre Stimme erhoben und in eigenem Namen gesprochen haben[36]. Andere kontextuelle und emanzipatorische Theologien sind diesem Aufbruch gefolgt[37]. Eine große Verwandtschaft mit dieser Theologie spüre ich bei Emmanuel Lévinas. Von jüdischem Denken inspiriert zeigt er: Die Spur Gottes ist ganz tief in das Antlitz des Anderen eingezeichnet, der meine Verantwortung in unendlicher Weise, also so weckt, dass ich sie nie ganz erfüllen kann[38]. Am Beginn steht die Option für die Anderen, die Armen, die Marginalisierten.

(4) … die Suche nach einer wirklich offenen Kommunikation, die unsere traditionellen sozialen, kulturellen und religiösen Grenzen überschreitet. Hermeneutische, kontextuelle, interreligiöse, „gender“-bezogene Fragestellungen haben ein großes Gewicht erhalten. Stellvertretend für viele nenne ich E. Schillebeeckx[39] und den frühen Clodovis Boff[40], die großen feministischen Theologinnen auf allen Kontinenten sowie die vielen Kolleginnen und Kollegen, die das Verstehen anderer Religionen vorantreiben.
Hierher gehören auch die reichen Früchte, die wir – in dieser Kunst des Verstehens und des Interpretierens – in ökumenischen und in interreligiösen Gesprächen geerntet haben. Das Studium anderer Religionen hat im interreligiösen Gesprächen einen enormen Aufschwung genommen. Über die Begegnung mit den religiösen und kulturellen Minoritäten in südlichen Ihren Ländern können viele der Anwesenden viel kompetenter berichten als ich. Wir alle greifen auf Techniken, Methoden und Grundkompetenzen der Hermeneutik zurück: Was bedeutet Sprache, wie wirken religiöse Symbole? Wie können wir die Entwicklungen der Religionen gemäß ihren Paradigmen analysieren und so miteinander vergleichen? Auf Grund welcher anthropologischer Voraussetzungen können wir uns überhaupt gegenseitig verstehen? Wie können wir die vielfältigen Resultate der kontextuellen Theologie zur Kenntnis nehmen und in konkreten Situationen verwirklichen?

(5) Schließlich stelle ich eine radikale und höchst anspruchsvolle Frage, die aus den genannten Aspekten folgt. Vielleicht dürften wir sie gar nicht so global stellen, wenn wir sie nicht aus Gründen unseres Überlebens stellen müssten: Wie kann uns im Zeitalter der Globalisierung ein wirksamer globaler Konsens gelingen, der unsere Egoismen überschreitet – die partikularen Interessen von nationaler und ethnischer, sozialer und biologischer, kultureller und kontinentaler Art?

Es lässt sich nicht übersehen: Mit theologischen und religionskundigen Werken, die diese Thematik besprechen, werden wir geradezu überschüttet. Sie beziehen sich auf das Verstehen und die Kenntnis einzelner Religionen, auf die gemeinsamen Grundlagen von Religionen und Religiosität, auf deren Grundstrukturen und Symbolwelten. Besprochen werden die fundamentalen Probleme, die in allen Kulturen und Gesellschaften wiederkehren. Ich nenne interkulturelle Arbeiten zur Marginalisierung von Ethnien, von Frauen und sozial Deklassierten, zur Wirkweise von Macht und Kapital, zur Möglichkeit gegenseitigen Verstehens und zur Frage, wie weit solche Verstehensprozesse überhaupt reichen. Schließlich hat sich die Theologie für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit geöffnet[41]. Inzwischen nimmt sie Religionswissenschaften und Politologie, Psychologie und Soziologie, Konfliktforschung und Pädagogik, deren theoretischen und empirischen Zweige wirklich ernst. Solche Interdisziplinarität ist das Portal für eine neue, weltoffene und grenzüberschreitende Theologie[42].

Allerdings gilt auf den ersten Blick für die Theologie, was auch für die Philosophie zu sagen ist. Neue Ansätze sind oft an partikularen Fragen orientiert. Oft klagen sie nur an, was nicht funktioniert und wo Regeln verletzt oder missachtet werden.

In ihrem Ansatz und in ihrer Vielfalt wirken sie bisweilen chaotisch. An global gültigen Systemen, Regeln oder Zielen haben sie (zunächst) kein Interesse. Dann verlieren sie sich in szientistischen Fragen. Ihr theologischer Charakter und ihre theologischen Kriterien werden oft diffus. Weil sie sich mit großer Leidenschaft auf kontroverse Einzelfragen konzentrieren, vergessen sie, die selbstverständlichen Voraussetzungen zu nennen. Weil es um Gerechtigkeit geht, wird Gottes Gegenwart oft nicht thematisiert. Weil Fehlentwicklungen der Kirche zur Debatte stehen, wird die eigene kirchliche Gesinnung nicht betont. Sollten wir nicht mit größter Skepsis gegen eine solche Gesamtentwicklung reagieren? Nein. Es gilt nur, alle Äußerungen immer wieder in den Diskurs aller Theologien zurückzuführen. Nur so garantieren wir, dass die theologische Reflexion aktuell und flexibel wird, also vom aktuell wirksamen Gott reden kann.

Die gesamte theologische Entwicklung aber zeigt, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Zielen wir heute glaubwürdig von Gott und seiner Schöpfung sprechen können. Das Schlüsselthema lautet: Zukunft einer versöhnten Menschheit. Ich werde dies an Hand des Projekt Weltethos kurz darlegen.

III. Die Zukunft einer versöhnten Menschheit

1. Bedrohliche Entwicklungen

Das Projekt Weltethos begann nicht als ein durchkomponierter theologischer Ansatz, sondern als pragmatisch gesteuerter Prozess. Es versteht sich zunächst als die Reaktion auf eine weltweite Problemlage, die theologische Kompetenz, den Kontakt mit den Weltreligionen und verfügbares Weltwissen zu einem Ziel zusammenführt. Es antwortet auf die globale Bedrohung der Menschheit in dem Augenblick, da sich bislang unbekannte, massive und umfassende globale Strukturen ausbilden.

Ein unbegrenzter Transfer von Wissen, Information, Finanzen, Energieträgern, mechanischer und kybernetischer Technik, militärischer und politischer Einflüsse führt zu einer Überlebenskrise von Erde und Welt. Internationale Industriegiganten und Erdölkonzerne, Grundstückspekulanten, Hedge-Fonds sind allgegenwärtig. Die Wasser werden verschmutzt und Wälder gerodet, indigenen Völkern ihr Lebensraum genommen. Weltweite Migrationsströme schwellen an. Ihre Opfer sind mal wieder die Schwächsten: die Armen, die Ungebildeten und die Frauen.

Zugleich führt diese neue und unerhörte Situation zu einem kulturellen und moralischen Orientierungsverlust, der durch den wachsenden Individualismus der industrialisierten Länder verstärkt wird. Traditionelle Moralen – vom Leitstern guter Gesinnung geleitet – scheinen zu versagen. Neue und adäquate Moralen setzen –  unter dem Leitstern neuer Verantwortung – aber ein Wissen voraus, über das nur wenige verfügen, über das jedenfalls keine einzelne Person oder Personengruppe verfügt. Es wäre falsch, sich von apokalyptischen Ängsten leiten zu lassen[43] Aber verständlich ist die weltweit wachsende Unruhe. In den abhängigen Ländern, die ohnehin auf der Schattenseite der großen Entwicklungen stehen, machen sich massive und konkrete Ängste breit.

Die Folgen sind in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre zu sehen; der Nord-Süd-Konflikt wird sich noch weiter zuspitzen. Die Hegemonialstaaten der Gegenwart führen sich erneut auf wie dröhnen Machtgiganten, für die nur die Moral des eigenen Vorteils gilt[44]. Verständlich deshalb, dass sich die Ärmsten der Armen nur wenig um globale Entwicklungen kümmern. Sie erfahren ihre Situation vor Ort, der sie hilflos ausgeliefert sind, als das eigentliche Problem. Umso größer ist die Pflicht der industriell und ökonomisch führenden Länder, sich um die globalen Zusammenhänge zum Wohle der gesamten Welt zu kümmern.

Begrenzte Prozesse der Globalisierung und der Pluralisierung gab es schon in früheren Epochen[45]. Doch auf Grund der aktuellen medialen, technischen, ökonomischen, finanziellen und militärischen Möglichkeiten erreichen sie zum ersten Mal ein unausweichlich universales Ausmaß, das sich nicht mehr umkehren lässt, – es sei denn, die Umstände werden insgesamt unberechenbar und chaotisch[46]. Auch nützt es nichts, nach dem Zentrum der Entwicklung zu suchen. Nur in globaler politischer Kooperation lassen sich die Entwicklungen steuern. Denn zum ersten Mal bilden sich starke polyzentrische Strukturen aus. Sie sind ausgespannt zwischen einerseits führenden Staaten[47], andererseits den Zentren abhängiger Länder[48]. Das vielfältig verflochtene Gesamtsystem entwickelt eine autonome Dynamik und schließt regionale Gegenreaktionen mit ein; immer öfters wird der Begriff der Glokalisierung verwendet[49]. Prinzipiell ermöglicht diese Situation Prozesse, die zur Ausrottung ganzer Ethnien, zum Ruin ganzer Landstriche führen. Technisch ist heute die militärische Gesamtzerstörung der Erde möglich. Trotz Polyzentrik und neuer Regionalisierung sind diese Tendenzen und Mechanismen nach wie vor einseitig und asymmetrisch. Einseitig sind sie, weil sie von den reichen und politisch mächtigen Ländern initiiert und immer noch intensiviert werden. Asymmetrisch sind sie auch, weil die reichen Länder die ersten, wenn nicht gar die einzigen Nutznießer der aktuellen unabsehbaren Globalisierungsprozesse sind. Überlebensgefährlich sind die Entwicklungen, denn sie können nicht nur den Benachteiligten Armut und Elend, sondern allen Menschen Zerstörung und Tod bringen.

Die Befreiungstheologie und die feministische Theologie, aber auch andere kontextuelle Theologien haben diese Asymmetrien mit all ihren Folgen im Auge. Sie weisen schon seit Jahrzehnten auf sie hin. Ihre Aufgabe ist nicht erledigt, denn bei der Entdeckung der ungerechten Weltverhältnisse bleiben die Abhängigen und die Marginalisierten weiterhin die wichtigsten Experten.

Aber Wissenschaftler und Politiker haben ihr Sachwissen hinzuzufügen und die Marginalisierten und Anonymisierten dürfen auch wissen: Sie haben in den reichen und mächtigen Ländern immer mehr Verbündete. Zu diesen Verbündeten zählen viele individuelle Initiativen innerhalb und außerhalb religiöse Verbände, die NGOs und internationalen Zusammenschlüsse, teilweise mit einem offiziellen, von internationalem Recht geschützten Status, dann eben die Initiatoren des Projekts Weltethos, das zusammen mit Vertretern vieler Religionen und Kulturen auf allen Ländern entwickelt wurde und über zahlreiche internationale Kontakte verfügt. Es nimmt den Diskurs der Armen ernst und versucht, ihn in einen umfassenden globalen Diskurs zu integrieren. Ihre Kritik an den Weltverhältnissen soll für eine Neugestaltung fruchtbar werden. Im Interesse der gesamten Menschheit ist der Diskurs der Opfer zu stärken. Das hat seinen guten Sinn, denn auch die Starken dieser Welt haben langfristig nur dann eine Zukunft, wenn sie alle Menschen als Menschen ernst nehmen und für deren fundamentalen Rechte sorgen. Das ist unbestreitbar.

Hinzu kommt ein ethisches Argument, das von allen Religionen geteilt wird: Die Situation der Armen verlangt unsere solidarische und empathische Reaktion; J. B. Metz nennt dies aus christlicher Perspektive „compassion“. Auch werden durch intensive interreligiöse Kontakte die inhaltlichen Impulse des Christentums und anderer Religionen nicht relativiert, sondern in gegenseitiger Kooperation gestärkt[50]. Ihre gemeinsame Perspektive, die sie integrieren soll, lautet „Zukunft einer versöhnten Menschheit“. Diese Perspektive hat eine eminent christliche, theologische und interreligiöse Qualität.

Wir sagten: Die Globalisierungsprozesse haben sich verselbständigt. Diese Aussage ist nur zur Hälfte wahr. Natürlich lassen sie sich nicht ungeschehen machen. Die Geister des Imperialismus, die gewachsenen Dependenzstrukturen und die moralische Misere sind zumindest in den reichen Ländern nach wie vor virulent. Wer aktiv und effektiv dagegen reagieren will, braucht internationale Kommunikation, die Vision einer ethisch inspirierten Rahmenordnung, eine wohl strukturierte weltweite Entschlusskraft sowie – als Voraussetzung für dieses Vorhaben – ein mental und kulturell verankertes Verantwortungsbewusstsein.

Die Erklärung zum Weltethos (1993) spricht von einem „Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen.“. Ohne diesen Grundkonsens, so die Erklärung, drohe „jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur, und einzelne Menschen werden verzweifeln.“ Doch muss ich hier in Mexiko über diese tödlichen Spannungsfelder nicht berichten. Seit den sechziger Jahren setzen sich viele anwesende und andere Kollegen damit intensiv auseinander. Sie wissen besser als ich, wie intensiv und wie brutal sich unterdrückende Mechanismen reproduzieren.

2. Gottes verhinderte Gegenwart

Kommen wir zu Gottesfrage zurück:
Seit den sechziger Jahren haben die Befreiungstheologie und andere emanzipatorische Theologien die Stimme der Armen energisch zur Geltung gebracht. Von Anfang haben sie wichtige Stimmen aus dem nordatlantischen Raum unterstützt. Dies war für die Zukunft der Menschheit unverzichtbar. Zu dieser Kritik an der herrschenden Glaubenspraxis vieler Besitzender und Mächtiger hat sie ihr christliches Engagement gezwungen. Statt die Praxis zu ändern, so warf man den Theologien des Nordens vor, passten diese ihre Theorie einer falschen Praxis an. Viele haben den berechtigten Kern dieser globalen Aussage verstanden. Sie sind aber auch erschrocken, denn die befreiungstheologische Kritik hat dem naiven Glauben an die Gegenwart Gottes in dieser Welt einen schweren Schlag versetzt. Weil der Gott Jesu Christi, der „Vater der Verlorenen“, eindeutig auf der Seite der Armen steht, kann er – so der elementare Schluss – nicht zugleich auf der Seite jener Kulturen, Völker und Personen stehen, die das Unrecht zulassen, vielleicht herbeiführen, in jedem Fall daraus ihren Vorteil ziehen[51]. Auf diese Vorwürfe antworteten viele Theologinnen und Theologen des Nordens, die diesem Vorwurf ausgesetzt waren: Auch wir verurteilen die Unterdrückung und die Ungerechtigkeit scharf. Wir verwenden all unseren Einfluss auf die Abschaffung dieser ungerechten Verhältnisse. Wie aber sind die Verhältnisse zu ändern?

Wie sich täglich zeigt, ist dieser theologische Konflikt nur durch eine Kooperation auflösbar, die alle Religionen, Kulturen und sozialen Schichten umfasst[52]. Er spiegelt ja einen Weltkonflikt wider, der nur in globaler säkularer Zusammenarbeit gelöst werden kann. Wo also steht Gott? Es ist unbestritten: Gott steht – christlich gesprochen – auf Seiten der Armen, der unterdrückten Völker, denn Gott steht ihnen in ihrem Kampf um ein menschenwürdiges Leben bei. Gott steht auf der Seite eines jeden Kindes, das verhungert, auf der Seite einer jeden Frau, die Opfer des Sexismus wird, auf der Seite eines jeden Mannes, der in der Sorge für seine Familie ausgebeutet wird. In solchen Situationen ist die Gegenwart Gottes an der Gegenwart des Friedens und der Versöhnung, an der Gegenwart der Solidarität mit den Marginalisierten zu messen.

Ist Gott aber fern von all denen, die in einem ökonomisch gesättigten Land leben, das unsere zynische Weltökonomie mit in Gang hält? Ich finde: Mit einer simplen Proposition ist diese Frage nicht zu beantworten. Ja, schon Amos hat seine Fragen gestellt und der aktuelle Weltkonflikt, in dem Gläubige[53] und Menschen guten Willens auf beiden Seiten stehen, hat die Frage nach Gott in eine absurde Situation gebracht. Zwar bejahe ich aus vollem Herzen die Existenz Gottes. Ich bin von der persönlichen Begegnung mit ihm überzeugt. Ich halte diese Überzeugungen für einen gläubigen Menschen für unverzichtbar. Aber auch ich kann nicht behaupten, dass Gott in diesen Unrechtssystemen lebt. Ich sehe Gottes Gegenwart allenfalls in der Kritik an ihnen und allenfalls in jenen Gläubigen, die entschlossen an der Überwindung dieses Unrechts arbeiten. Die besprochenen aktuellen Weltkonflikte bleiben also ein Argument gegen Gottes globale Gegenwart. Jeder Glaube an Gott, setzt, wie wir wissen, ein tiefes Vertrauen, letztlich ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit insgesamt voraus. Angesichts unserer Weltsituation wird dies all denen zur Achillesferse, die auf Gottes „billige Gnade“ (Bonhoeffer) hoffen, also meinen, Gottes Güte sei ohne verbindliche Nachfolge nicht zu haben. Das tatsächliche Verhältnis zwischen den Christen unserer Welt bestätigt dieses Problem. Unter den besprochenen Voraussetzungen können wir nicht zu einer einvernehmlichen globalen Verständigung in unserer Gotteserfahrung finden. Das von E. Schillebeeckx so hoch geschätzte Wort des Irenäus von Lyon, die Ehre Gottes sei das Heil des Menschen, kommt in die Krise[54]. Wir können nicht glaubwürdig davon sprechen, dass Gott in dieser Welt als der Eine und Menschenfreundliche zeigt, der er gemäß der christlichen Botschaft ist.

Kann dies aber das letzte Wort sein? Die Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte mussten geführt werden. Sie haben vielen aus den westlichen Ländern die Augen geöffnet und ich weiß, wie dankbar viele deutsche Christen dafür sind, dass sie Brüder und Schwester aus Lateinamerika, Afrika oder asiatischen Ländern kennen lernten und jetzt in „compassion“ versuchen dürfen, ihre Schicksale mitzutragen.[55]

Bei allen Abgründen führt der Fortschritt der Globalisierung uns heute eher zusammen als vor dreißig Jahren. Ein erster, sehr nüchterner Grund lautet: Auch heute können wir keine Lösung akzeptieren, die unsere Option für die Armen relativiert. Aber wir können zeigen, dass und wie schnell auch die jetzigen Sieger mögliche Opfer sind. Ein zweiter, mehr historischer Grund liegt in jüngeren Entwicklungen der kontextuellen Theologien, die der westlichen Theologie eine intensivere Mitsprache ermöglichen. Ein dritter Grund ist für mich entscheidend: Es ist der Dialog mit den Weltreligionen. Sie ermöglichen uns den Zugang zu anderen Kulturen. So führen sie uns in eine theologisch formulierte Gemeinsamkeit, die der aktuellen Problemlage vorausgeht. Ich nenne nur die Goldene Regel und die elementare Kraft, mit der sie bislang alle Religionen inspiriert und immer wieder zur Selbstkorrektur geführt hat. Wir können mit dem Gespräch auf einer Ebene beginnen, das von unserer Gegenwart noch nicht beschädigt ist. Die Frage, ob und wie Gott auf dieser Erde lebt, könnte zu einer Frage werden, die uns neu verbindet. Gemeinsam können wir Gottes verhinderter Gegenwart ein Ende bereiten.

3. Gottes verantwortete Gegenwart – Beginn von Gottes Reich

Die Erklärung zum Weltethos (1993) lässt sich als ein erstes Resultat dieses gezielten Dialogs über die Zukunft der Welt werten. Ich gehe hier nicht näher auf die Goldene Regel und die vier grundlegenden Weisungen ein, die in dieser Erklärung besprochen sind. In der bisherigen Diskussion wurden weder die vier grundlegenden Weisungen (Lebensschutz, Solidarität, Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue) noch deren Integration im Humanitätsprinzip, auch nicht deren säkulare Dimension wirklich kritisiert. Für ein aktuelles ethisches Bewusstsein sind sie, wenn man so will, selbstverständlich. Erstaunlich und für ein Weltgespräch von höchster Relevanz ist eine andere Tatsache: Diese Standards sind nicht das Resultat eines positivistischen Subtraktionsverfahren; es geht nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Im Blick auf eine versöhnte Weltzukunft sind dies die zentralen Standards ihrer Religionen.

Diese Weisungen gelten als unverrückbar und im Willen des Göttlichen begründet. Sie wirken als Quelle religiöser Spiritualität und formen das Herz der Menschen, führen zu dessen Bekehrung. So prägen sie das gelebte und in tiefer Weise akzeptierte Ethos dieser Religionen. Wenn diese Feststellung angesichts der politischen Potenz der Religionen stimmt, dann bieten die Weltreligionen ein machtvolles Potential, das für weltethische Fragen bislang nicht ausgeschöpft wurde. Denn bislang war sich keine Religion dieser Möglichkeit bewusst oder wie wurde verdrängt. Wenn es gelingt, dieses Bewusstsein zu aktivieren, können wir auf eine nachhaltige Korrektur der Weltverhältnisse hoffen. Gott lebt dann nicht mehr in einer Gegenwart, die die Menschheit spaltet und das Göttliche in einen guten und in einen bösen Gott aufteilt. Deshalb hat dieses Projekt mit unserem Thema zu tun. Ich nenne hier zwei fundamentale Gesichtspunkte. Im ersten argumentiere ich christlich, im zweiten aus einer religionstheologischen Überlegung. Den spezifisch christlichen Gesichtspunkt überschreibe ich mit der Losung:

Es geht um die gegenwärtige Zukunft von Gottes Reich. Für das Neue Testament hat Gottes Zukunft hier und jetzt begonnen. Jedenfalls geht er hier und jetzt schon um unsere Zukunft, auch wenn sie – gut biblisch gesprochen – ganz Gott gehört und wir sie nicht herbeizwingen können.

Jesus sprach von Gottes Reich, Paulus spricht vom Angeld des Geistes (2 Kor 1,22), das in unser Herz gegeben ist. Lukas macht unsere Gegenwart zur Zeit der Kirche. Wir wissen, dass in späteren Jahrhunderten das eschatologische Bewusstsein stark zurückgedrängt und chronologisch verstanden wurde. Im 20. Jahrhundert ist der Gedanke wieder erwacht. Wie sollen wir ihn aber heute, unter wieder anderen Umständen, übersetzen? Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Lange Zeit hatten die christlichen Kirchen die Botschaft vom Reich Gottes weitgehend auf den Raum des christlichen Glaubens und der Kirche eingegrenzt. Die Befreiungstheologie und andere neue Impulse haben die Tore wieder geöffnet und gezeigt: Gottes Reich umfasst alle Menschen. Gemäß den biblischen Zeugnissen umfasst Gott die ganze Welt. Wie aber können und sollen wir uns heute diese Universalität denken, wenn wir zugleich die Pluralität der Welt respektieren, Religionsfreiheit gewähren und Gottes Heil nicht einfach auf eine ferne Zukunft verschieben wollen?[56]

Wenn ich die Botschaft Jesu richtig verstehe, beginnt Gottes Reich trotz aller Zukunftsorientierung in der gegenwärtigen Tat der Liebe. Gemeint ist die gegenseitige Zuwendung der Menschen, der Brüder und Schwestern der einen Menschheit. Je nach der Form der gegenseitigen Nähe nimmt sie verschiedene Formen an, die sich schon in sprachlichen Differenzierungen äußern. Gefragt sind die Liebe, die wir einander in der Familie gewähren, und die gegenseitige Annahme, die wir einander in Gemeinschaften schulden. Gemeint ist die Empathie, mit der wir in persönlichen Beziehungen aufeinander zugehen, oder der gegenseitige Respekt, mit dem wir den täglichen Umgang pflegen. In größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen sprechen wir von Solidarität. Sofern wir voneinander abhängig sind, sprechen wir von gegenseitiger Treue. Sobald wir beginnen, dieser Haltung und Intention konkrete Gestalt zu geben, entwickeln wir partizipative Strukturen, die der Aufspaltung dieser Erde in Zentren und Marginalisierte widerstehen.

Max Weber griff auf den Begriff der Verantwortung zurück, denn die gesellschaftlichen Verhältnisse differenzierten sich und es ging darum, sich nicht auf eine edle Gesinnung zurückzuziehen, sondern sich um die Wirkungen des Handelns zu kümmern. Verantwortung bedeutet, die Folgen für eigene oder fremde Handlungen zu tragen, unsere religiösen und zutiefst menschlichen Impulse in diese nüchterne Sachlichkeit zu investieren[57]. Wer für die Zukunft der Welt – im Rahmen des Möglichen – Verantwortung übernimmt, ist bereit, an der Gestaltung dieser Zukunft teilzunehmen.

In Reaktion auf die genannte Zusammenkunft des Parlaments der Weltreligionen (1993) setzt sich Dean Brackley[58] mit drei Formen des Ethos auseinander. Nach ihm gibt es ein „traditionelles“ Ethos, das in der Mehrheit der armen Länder zu Hause ist. Es beinhaltet Lebensformen, die vor allem von agrarischen Kulturen und Erfahrungen, von Unterordnung und Einordnung in die Natur bestimmt sind. Daneben sieht er ein „liberales Ethos“, das sich aus dem selbständigen Stand der städtischen Bürgerschaften herausgebildet hat und in den städtischen Zentren zu Hause ist. Heute ist es kapitalistischen Regeln der Konkurrenz und des Fortschritts verschrieben. Seit der tiefen Krise Zentralamerikas vor zwanzig Jahren zeigt sich nach Brackley jetzt ein neues Projekt. Es ist auf eine partizipative Ökonomie zentriert. Die in ihr entstehende Ethik lehnt sowohl die traditionelle Heteronomie als auch den liberalen Individualismus ab. Diese neue Ethik nun nennt Brackley mit Reinhold Niebuhr [1892-1971] eine „Ethik der Verantwortung“ (ética de responsabilidad). Sie fordere „neue Personen“ und Solidarität. Wenn ich Brackley richtig verstehe, ist es eine Ethik, die aus vorhergehenden Fehlern und Katastrophen gelernt hat.

Nach meinem Urteil schlägt das Projekt Weltethos im Sinne R. Niebuhrs eine Ethik der Verantwortung vor. Allerdings bezieht es sich streng auf die Weltsituation. Es setzt auf die Fähigkeit, zwischen Kulturen und Völkern solche Werte, Standards und verantwortungsvolle partizipative Strukturen einzuführen, die zu einem Weltfrieden führen[59]. „Verantwortung“ bedeutet in diesem Zusammenhang die engagierte Gestaltung von nationalen und internationalen Verhaltensregeln mit dem Ziel eines befriedeten und glücklichen Zusammenlebens. Aus biblischer Sicht ist genau dies das Ideal von Gottes Reich, wie wir es uns nach Maßgabe unseres heutigen Verständnisses von Mensch und Welt vorstellen können. So formuliere ich als zentrale These meines Referats:

Ist Gott wirklich tot?
Gott existiert nicht; Gott ereignet sich und entzieht sich uns zugleich.
An sich wird Gott immer der Zukünftige, der kommende Ort unserer Vollendung sein. Aber in und für uns Menschen lebt Gott jetzt schon überall dort, wo Menschen in verbindlicher (und sichtbarer) Weise ihre Verantwortung für den Frieden und die Gerechtigkeit der Menschheit wahrnehmen.

Paulus sagt im Römerbrief: „Wir sind gerettet, aber auf Hoffnung“ (Röm 8, 24), und kurz später: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt.“ (V. 28). Christlich, religiös und menschlich gesehen bedeutet die tätige Verantwortung für eine gerechte, wahrhaftige und vertrauenswürdige Zukunft die tätige Antizipation von Gottes Gegenwart. Diese Antizipation ist die weltpolitisch angemessene Form der Liebe, die Anwendung der Goldenen Regel. Wenn diese Verantwortung nun wirklich das aktuelle missing link zu Gottes Gegenwart in unserer Welt ist, dann besteht kein Zweifel an seiner universalen Akzeptanz. Sobald Menschen aller Kulturen und Religionen, gemeinsam und in prinzipiellem Konsens, in verbindlicher Weise Verantwortung für eine gerechte und versöhnte Zukunft übernehmen, wird Gott wird in unserer Welt gegenwärtig sein, obwohl Ungerechtigkeit und Gewalt noch nicht überwunden sind.

Allerdings ist eine solche Verantwortung grenzenlos. Deshalb überschreitet sie die Grenzen und die Möglichkeiten dessen, was wir in der Regel „Ethik“ nennen. Diese Verantwortung geht einem jeden faktischen Verhalten und einem jeden System von Verhaltensregeln voraus. Verantwortung ist durch und durch gegenwärtig. Sie erliegt keinen frommen Illusionen, sondern weiß, dass die Welt noch nicht in Ordnung ist. Deshalb gehört zur gemeinsamen Verantwortung die Geduld, die in aller Unruhe die Ferne Gottes erträgt. Angesichts der aktuellen Weltsituation halte ich die gemeinsame Verantwortung für die wichtigste Tugend, die Gottes Gegenwart bezeugt. Wo sie wirksam wird, können wir den menschenfreundlichen Gott als gegenwärtig bezeugen und erfahren. Wo die Verantwortung spürbar wird, wird jenes Vertrauen möglich, das die Lücke zwischen Vernunft und Glaube füllt. Das Bekenntnis zu dieser gemeinsamen Verantwortung aktiviert eine utopische Vision und setzt eine heilende Dynamik in Gang. Sie kann die aktuelle Kluft zwischen Tätern und Opfern überwinden. Wer sich als glaubender Mensch zu dieser Verantwortung bekennt, bekennt sich zu einer Gotteserfahrung von globaler Art. Das ist keine beliebige, keine projizierte Gotteserfahrung, denn sie gründet in einer Frage, die heute für alle Menschen unabweisbar ist. Ein Blick auf die anderen Weltreligionen zeigt, dass sie in dieser Frage übereinstimmen.

4. Verschiedene Ziele, gemeinsame Motivation

Die religionstheologische Überlegung beleuchtet die interreligiöse Dimension des Projekts Weltethos. Viele Gründe sprechen für eine Hochschätzung der nichtchristlichen Religionen. Wir könnten hier viele Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils zitieren und zahllose Überlegungen christlicher Theologen aus allen Kontinente hinzufügen[60]. Alle Religionen versuchen ja auf ihre Weise, sich dem Geheimnis des Göttlichen zu nähern. In einer Epoche der Globalisierung müssen wir uns darauf einlassen. Allerdings sollten wir sie nicht als Lehrsysteme missverstehen. Sie bieten vor allem Poesie und Erzählung, Menschheitserinnerung und Lebenspraxis. Deshalb gehen die Brücken der Verständigung immer von der Praxis selbst aus. Auch sie können zu Spuren von Gottes Gegenwart werden. Vor diesem Hintergrund sehe ich die Suche nach einem gemeinsamen „Ethos“. M. Heidegger schreibt: „Ethos bedeutet Aufenthalt, Ort des Wohnens.“ Dieser Aufenthalt zeigt, in wessen Nähe sich die Menschen aufhalten[61]. Die Antwort der Religionen lautet: Wir Menschen halten uns – wenn wir uns denn der Verantwortung stellen – in der Nähe des Göttlichen auf, das sich immer als Liebe äußert.

Zur Verantwortung, von der das Projekt Weltethos handelt, gehört eine rationale Komponente, denn diese Verantwortung will angesichts der Weltsituation sachgemäß und effektiv handeln. Sie will nach Möglichkeit alle Kulturen und Kontinente, Ethnien und Ideologien an einen Tisch bringen. Zwar geht das Konzept des Projekts von einer interreligiösen Inspiration aus, zwar lässt es sich von einer christlichen Theologie aus problemlos begründen, aber die Wege und Ziele müssen weltweit, also in einem interreligiös und interkulturell gestreuten Konsens beantwortet werden. Das setzt zwei Bedingungen voraus:
(1) Die vorgeschlagene globale Verständigung schließt nichtreligiöse Gruppierungen ein.
(2) Die Zusammenhänge von Methoden und Ziel sind ebenso rational zu begründen wie die Ziele selbst.

Humanität, Respekt vor dem Leben, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue lassen sich mit den Methoden der inneren Rationalität durchaus begründen; dazu bedarf es keiner Religion, sondern allein jeder fundamentalen ethischen Überzeugung, dass ein jeder Mensch und eine jede menschliche Gemeinschaft menschlich zu behandeln sind [62]. Darüber hinaus liefern die Religionen einen doppelten Beitrag. (1) Sie stellen unter den Vorzeichen der Menschlichkeit einen Korb von vier fundamentalen Werten bereit, in denen sich – nach der Erfahrung von Jahrtausenden – ein humanes Leben konzentriert[63]. Das sind – unter den Vorzeichen menschlicher Zuwendung – Respekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue. (2) Sie bieten ein Gesamt von Lebenspraxen, Werten, gelebten Haltungen, Formen der Spiritualität und tiefen Motivationen an, in denen diese Werte schon leben, erprobt sind und zur Bewältigung anderer Fragen abgerufen werden können.

Umso mehr erstaunt es, dass diese Weisungen nicht nur für unser Verhalten auf globaler Ebene, sondern für unser Verhalten auf allen Ebenen unseres Lebens gilt. Umgekehrt formuliert: Das Weltethos ersetzt die geltenden Moralen unserer Lebensräume nicht. Aber es muss sie konsequent durchdringen, wenn es Erfolg haben will. Ein Weltethos, das auf Gottes Gegenwart setzt, ist nicht teilbar. Wir müssen uns dieses Modell konkreten Handelns also in Stufen denken. Ebenso wenig schließt es das spezifische Ethos der einzelnen Religionen aus. Im Gegenteil, ein Christ wird hoffentlich aus christlicher Nächstenliebe handeln und der Buddhist wird sein Verhalten mit einer mentalen Selbstreinigung beginnen, Muslime werden alle ihre Leidenschaft auf die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Allahs konzentrieren und die Juden nach wie vor Zeugen dafür sein, dass in ihnen wir alle von Jahwe erwählt sind. Wer aber als Vater/Mutter oder als Nachbar nach den genannten Kernregeln lebt, wird sich gemäß diesen Regeln auch an der Gestaltung der Gesellschaften und der Weltgesellschaft beteiligen.

Schluss: Lebt Gott?

Theologisch gesehen ist das Projekt Weltethos von einem hohen Anspruch getragen. Es will dem Reich der Freiheit, also Gottes Reich, auf globaler Ebene dienen. Lässt sich dieses Ziel mit Hilfe eines Ethos erreichen? Ja, denn gelebtes und erprobtes Ethos ist nicht mit einer Ethik zu verwechseln, die sich im Raum des reinen Imperativs bewegt.

Ein religiöses Ethos beruft sich auf Gottes Willen, auf ein göttliches Prinzip oder einen letzten Weltgrund. Es setzt diese Gabe voraus, bevor es das Prinzip der Verantwortung ins Spiel bringt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ (Mt 7,16). Sprechen wir im Kontext der monotheistischen Religionen: Das Wissen darum, dass Gottes Güte zu uns größer ist als wir durch unser Handeln verdienen, dieses Wissen führt dazu, dass der Glaube an Gott nicht auf einen Moralismus reduziert wird. Zwar weist dieses Projekt unablässig auf die Notwendigkeit ethischer Standards, auf deren weltweite Realisierung und pädagogische Einübung hin. Aber diese Verbindlichkeit ergibt sich aus der menschlichen Praxis selbst. Die Regeln sind deshalb kein Selbstzweck an sich. Sie ergeben sich aus der Konfrontation mit der Not, dem Schrei und der Verletzlichkeit selbst.

In geradezu prophetischer Weise hat Emmanuel Lévinas diesen Gesichtspunkt herausgearbeitet. Er zeigt, dass das Geheimnis all unserer Welterfahrung im fordernden Antlitz des Andern liegt. Diese Forderung, der ich nie ganz nachfolgen kann, enthält die Spur des Unendlichen, die wir Gott nennen. In ihrer Lebenspraxis, genannt Verantwortung für Mitmensch und Welt, folgen die Religionen der Spur Gottes. Gott wird in dieser Verantwortung zur „eschatologischen“ Gegenwart, die sie nie in Ruhe lässt. Das gilt übrigens nicht nur für die Anhänger der Religionen, sondern für alle Menschen guten Willens. Der Ruf des Unendlichen kann lautlos und unausgesprochen sein. Nichtreligiöse Menschen vernehmen diese Spur auf ihre Art, bisweilen sensibler als andere. Kein Moralismus steht also am Anfang, sondern der Ruf an die Menschen, der uns als Spur des Unendlichen trifft. Der Weltfriede ist ein Projekt, an dem mitzuarbeiten sich für Christen, für Angehörige anderer Religionen und für alle Menschen lohnt.

Lebt Gott? Auf diese Fragen gibt es drei klassische Antworten, die im öffentlichen Diskurs heute eine Rolle spielen. Sie werden entwickelt im Gespräch der Theologie mit den Naturwissenschaften, den Human- und Sozialwissenschaften. Alle drei haben ihre Gültigkeit, aber keine von ihnen kann eine umfassende Geltung beanspruchen und keine von ihnen bringt das Gottesbild umfassend zur Geltung.

– Das Gespräch mit den Naturwissenschaften setzt ein Grundvertrauen in die Wirklichkeit voraus und führt zu einem Gott, der kraft der Naturgesetze und anderer naturwissenschaftlicher Regeln wirkt. Es stützt vor allem die pantheistischen und unpersönlichen Aspekte Gottes. Gott wird zum Prinzip und zur zentralen Energie dieser Welt. Dass er wirklich ein Gott des Vertrauens ist, muss sich aus anderen, kontextuellen und biographischen Quellen erweisen.

– Das Gespräch mit den Humanwissenschaften setzt ein Grundvertrauen in die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Menschen voraus. Es führt zu einem personalen Gott, der auf das Glück und die Sehnsucht einzelner Menschen bezogen ist. Gott wird zum Ziel menschlicher Sehnsucht und seines Verlangens nach Glück. Die Möglichkeit der Projektion und die Problematik der Theodizee bilden die offenen Flanken dieses Gottesbildes. Dass ein grundlegendes Vertrauen selbst diese Wunde heilen kann, muss sich im Vertrauen und in der Zuwendung zeigen, das den Wütenden und Trauernden wirklich begegnet.

– Das Gespräch mit den Sozialwissenschaften (einschließlich der Religionswissenschaften) konfrontiert uns mit den Phänomenen der Macht und der Geschichte, der Ordnung und der Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu steuern sowie mit der Frage, welche Utopien die Menschheit sich selbst gegeben hat. Dieses Gespräch rückt vor allem den Gott der Politik und der Geschichte, des Rechts und einer ausgleichenden Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Das Unrecht der Geschichte, die weitgehende Spaltung der Menschheit in Täter und Opfer sowie die wachsende Säkularisierung schmälern die Überzeugungskraft dieses Gottesbildes sehr. Wer an der Überwindung des Unrechts arbeitet, arbeitet an der offenen Gegenwart der allsorgenden Gottes.

Lebt Gott also in der Natur, in den Menschen oder in der Geschichte? Die zweifelnden Antworten zeigen je auf ihre Weise das Problem einer Antwort, die von der Frage nach einer verbindlichen Lebenspraxis abstrahiert. Dieser Mangel wird in dem Maße überwunden, in dem wir die verbindliche Lebenspraxis der Menschheit zur Diskussion stellen. Unbestritten ist heute die ganze Menschheit mit der Zukunft einer globalisierten Welt konfrontiert. Unbestritten stellt sich die Frage nach unserer gemeinsamen Gesamtverantwortung. Hat sie eine neue Dimension erreicht? Nach Enrique Dussel geht eine Ethik der Befreiung von einem Prinzip aus, das einen Universalitätsanspruch erhebt. Sie meint „die Verpflichtung, das konkrete menschliche Leben jedes einzelnen ethischen Subjektes einer Gemeinschaft zu produzieren, zu reproduzieren und weiterzuentwickeln“[64]. Wir sollten diese Verpflichtung nicht als Folge einer theologischen Reflexion, sondern als deren Ausgangspunkt begreifen. Wenn wir diese Verantwortung erfahren, sind wir auf der Spur des Unendlichen, das definitionsgemäß hier und jetzt verborgen, aber als uns aktivierende Hoffnung gegenwärtig ist. Im Sinn dieser Gesamtverantwortung lebt Gott in einer Weise, die die aktuelle Spaltung zwischen Tätern und Opfern überwinden kann, – nicht dadurch, dass wir die Opfer vergessen, sondern dass wir sie ehren, ihnen in unserem Gedenken einen Ort geben und in dieser Erinnerung für eine menschliche und versöhnte Zukunft arbeiten.

In diesem Sinne kann ich sagen: Ich glaube an den Gott der Liebe, die in dieser Welt lebt.

(Vortrag, am 6.10.2008 in Spanisch gehalten in Mexico/City: „Responsibilidad mundial: huellas de una experiencia en común de Dios“

 

Anmerkungen

[1] Aus einem Interview des deutschsprachigen Magazins STERN 30/2008.

[2] Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München/Wien 1986. Zum „Ökumenischen Prozess“, einem vom Weltrat der Kirchen langfristig angelegten Programm, s. die entsprechenden Darstellungen.

[3] God is not Great – How Religion Poisons Everything, Hachette Book Group USA 2007.

[4] The God Delusion, London 2006.

[5] Deren Atheist Alliance International wurde 1991 in Kalifornien mit einem offensiven Programm gegründet und erfreut sich wachsender Anhängerzahlen.

[6] Vgl. dazu Hans Küng, Der Anfang aller Dinge, München 2006.

[7] Vgl. Hans Küng, Existiert Gott?, München 1978, 117f.

[8] A.a.O. 607-640.

[9] Alexandre Ganoczy, Chaos – Zufall – Schöpfungsglaube. Die Chaostheorie als Herausforderung der Theologie, Mainz 1995; ders., Unendliche Weiten … Naturwissenschaftliches Weltbild und christlicher Glaube, Freiburg/Basel/Wien 1998.

[10] Ian Barbour, When Science Meets Religion. Enemies, Strangers, or Partners?, New York 2000; John D. Barrow, Impossibility. The Limits of Science and the Science of Limits, New York 1998; Gerardus Dierick, Draait de aarde om de hemel? De verhouding wetenschap-geloof, belicht aan de hand van eigentijdse Nederlandse en Vlaamse auteurs, Damon 1998.

[11] Sjoerd L. Bonting, Schepping & evolutie. Poging tot synthese, Kampen 1996.

[12] Zu nennen ist vor allem die neu erstarkte Bewegung des „Kreationismus“ sowie der Anhänger einer naiven Version des „Intelligent Design“: Hansjörg Hemminger, Mit der Bibel gegen die Evolution, Kreationismus und intelligentes Design – kritisch betrachtet, Berlin 2007; Ulrich Kutschera (Hg.), Kreationismus in Deutschland. Fakten und Analysen, Berlin/Münster 2007.

[13] Einen guten Überblick bietet Klaus Peter Fischer, Kosmos und Weltende. Theologische Überlegungen vor dem Horizont moderner Kosmologie, Mainz 2001.

[14] Exemplarisch sei nur Carl Friedrich von Weizsäcker genannt, dessen Publikationen zu dieser Frage im deutschsprachigen Raum eine hohe Beachtung genießen: C. F. v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Neuausgabe, München 1992. Sehr wertvolle Brücken wurden geschlagen von der Prozessphilosophie, die von Alfred N. Whitehead begründet wurde und im angelsächsischen Raum – nicht immer zum Vorteil der Argumentation – als „Prozesstheologie“ adaptiert wurde (A. N. Whitehaed, Porcess and Reality. An Essay in Cosmology, 1929); Zur theologischen Interpretation von Whitehead s. Palmyre M. F. Oomen, Doet God ertoe? Een interpretatie van Whitehead als bijdrage aan een theologie van Gods handelen, Kampen 1998.

[15] Dazu Nancey Murphy, Theology and Science. A Radical Reformation Perspecitve, Onatrio 1997, 52-55; ferner P.M. F. Oomen, Over hersenen, ziel, zelf en vrijheid, in: Dies. u.a. (Hg.), Hersenen, Bewustzijn. Zicht op ons zelf, Nimegen 2001, 96-122.

[16] Christian Kupke (Hg.), Lacan – Trieb und Begehren, Berlin 2007; Marc de Kesel (Hg.) Wieder Religion? Christentum im zeitgenössischen kritischen Denken – Lacan, Zizek, Badiou u. a., Wien 2006.

[17] Vgl. den Buchtitel von: Gianni Vattimo, Credere di Credere, Milano 1996.

[18] Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2005, (The culture of the new capitalism); ders., Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 (The corrosion of character).

[19] Zu ihnen zähle ich im Folgenden auch die Kultur- und Religionswissenschaften.

[20] Illustrativ ist die Position von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1981. Für ihn gelten u.a. kultische Praxis und religiöse Weltbilder noch als Geltungsansprüche und auf Handlungsebene. Dort stehen noch Begriffe wie: Sakrament, Gebet, Institutionalisierung von Heils- und Erkenntniswegen, religiöse und metaphysische Weltbilder, religiöse Gesinnungsethik. Sie alle unterliegen aber einem „Rationalitätsgefälle“, das sie offensichtlich auflöst. Auf der Diskursebene findet er dafür keine adäquaten Ausdrucksformen mehr. D.h. religiöses Handeln und religiöse Gesinnung sind auf der Ebene des öffentlich diskursiven Handelns verschwunden. Dies ist umso bemerkenswerter, als Habermas diese Position seit 2001 in differenzierter Weise korrigiert.

[21] Diese Situation führt J.-B. Metz zum Schluss, dass es im neu erwachten Interesse für Religionen nicht mehr um Gott gehe (vgl. etwa J.-B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006). Ich halte diesen globalen Schluss nicht für gerechtfertigt. Metz hat aber recht mit seinem Verdacht, dass eine breite Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr wahrnimmt das, was mit „Gott“ gemeint ist.

[22] Thomas Schärtl, Neuer Atheismus, in: Stimmen der Zeit 226 (2008), 147-161.

[23] Diesen Gesichtspunkt hat der Neutestamentler Ernst Käsemann schon vor 40 Jahren scharf herausgearbeitet.

[24] Zu nennen sind in erster Linie jene theologischen Strömungen, die seit der Modernismuskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft und nachdrücklich von den römischen Instanzen zensuriert und gemaßregelt wurden. Zu nennen sind die vielen Vertreter einer historisch-kritischen Exegese und einer kritisch arbeitenden Theologiegeschichte, die Vorkämpfer der Nouvelle théologie sowie andere, die sich zum Missfallen Roms für die christliche Ökumene, eine Neubewertung anderer Religionen, die Aufwertung der Humanwissenschaften sowie die „anthropologische Wende“ innerhalb der katholischen Theologie eingesetzt haben.

[25] Ernst Bloch, Atheismus im Christentum, Vorwort. Bloch zitiert Amos 5, 21.23; 8, 4.6 in der Übersetzung von M. Luther: „Ich bin eurer Feiertage gram und verachte sie … Tue nur weg von mir das Geplärre deiner Lieder; denn ich mag dein Psalterspiel nicht hören … … Hört dies, die ihr den Armen unterdrückt und die Elenden im Lande verderbt …, auf dass wir die Armen um Geld und die Dürftigen um ein Paar Schuhe unter uns bringen.“

[26] Hans-Martin Schönherr-Mann, Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen. Mit einem Geleitwort und einem Essay „Leitlinien zum Weiterdenken“ von Hans Küng, München/Zürich 2008.

[27] Die Arbeit von Schönherr-Mann ist auch deshalb so wichtig, weil er – von einer neuen Frage geleitet – zu neunen, z. T. höchst unerwarteten Interpretationen der besprochenen Gewährsleute kommt. Wer hätte je gedacht, dass J.-P. Sartre in einen für theologische Fragen so positiven Zusammenhang einrücken kann?

[28] Wie brüchig dieser rigorose Gedanke schon bald werden sollte, zeigt die etwas skurrile Verurteilung von Leonard Feeney im Februar 1953. Weil er – ganz im Sinn früherer Lehrverkündigung – jetzt behauptete, außerhalb der Kirche gebe es wirklich keine Gnade, wurde er von Pius XII. exkommuniziert und damit – nach eigener zwingender Interpretation – in die Hölle verdammt (vgl. Ch. R. Phillips, Ancient Roman Religion in the late 1990s., in: Religious Studies Review 26 (2000), 140-145.)

[29] Vgl. die Regensburger Rede vom 12. September 2006 (Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Freiburg 2006) und die geplante Rede von Benedikt XVI. zum Besuch der Römischen Universität ‚Sapienza’ vom Januar 2008 (in der offiziellen Website des Vatikan dokumentiert). Wichtig ist schon die Enzyklika Fides et ratio von Johannes Paul II. (14. Sept. 1998).

[30] Rerum Novarum (1891), Quadragesimo Anno (1931), Mater et Magistra (1961), Populorum progressio (1967), Laborem exercens (1981).

[31] Zu nennen sind Paul Tillich, Karl Barth und die protestantische Bewegung des „religiösen Sozialismus“.

[32] Neuere Dokumente sind abgedruckt in: Karl-Josef Kuschel und Dietmar Mieth (Hg.), Auf der Suche nach universalen Werten, Concilium 37 (2001), Heft 4, 393-527. Vgl. dazu auch die Folgenummer: Jon Sobrino und Felix Wilfred, Die Globalisierung und ihre Opfer, Concilium 37 (2001), Heft 5, 533-644.

[33] Hans Küng, Die Kirche, Freiburg 1967, 57-127.

[34] Hans Küng, Christ sein, München 1974, 302: „Was bedeutet dies alles, wenn nicht: Jesus stellt Gott ganz ausdrücklich als Vater des ‚verlorenen Sohnes’, als den Vater der Verlorenen hin?“

[35] Gustavo Gutièrrez, Teologia de la liberación. Perspectivas, Salamanca 1971; Manfred K. Bahmann, Der Vorzug der Armen. Dreißig Jahre Befreiungstheologie, eine geschichtliche Untersuchung, Frankfurt am Main 2003.

[36] Natürlich waren es auch in Lateinamerika nicht die selbst von härtester Armut Betroffenen, die ihre Stimme erhoben, sondern die (theologisch gebildeten) Intellektuellen, die aus eigener Anschauung und aus unmittelbarer Solidarität heraus die Fragen des Betroffenen zur Spache bringen konnten. Andonio Gramsci (1891-1937) hätte die Befreiungstheologen vermutlich die „organischen Intellektuellen“ der Ausgebeuteten genannt.

[37] Zu nennen ist auch die eindrucksvolle Arbeit der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP), die sich seit 1970 auf Weltebene regelmäßig trifft. An ihr haben teil: Buddhisten, Christen, Hindus, Jains, Juden, Konfuzianer, Muslime, Shintoisten, Sikhs, Anhänger von Zoroaster und anderen Religionen. In Deutschland haben sich in einigen Städten WCRP-Gruppen gebildet. Vgl. dazu Deflef Kröger (Hg.), Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden, Osnabrück 2000; bes. Franz Brendle, Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP), a.a.O. 15 f.

[38] Emmanuel Lévinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, 1965; ders., Ethique et infini. Dialogues avec Philippe Nemo, Paris 1982; ders., Humanisme de l’autre homme, Paris; Wolfgang Bartholomäus, DerDieDas Andere geht mich an. Sexualität für Erziehung ethisch denken – in der Spur von Emmanuel Lévina, Frankfurt u.a. 2002; Josef Wohlmuth (Hg.), Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn u.a. 1998.

[39] Abgesehen von frühen Artikeln zu hermeneutischen Fragen sind vor allem zu nennen die einleitenden grundsätzlichen Teile zu seinen großen Büchern aus den 1970erJahren: Edward Schillebeeckx, Jezus, het verhaal van een levende, Bloemendaal 1975, Deel I: Vragen naar methode, hermeneutiek en criteria (S. 33-84); ders., Gerechtigheid en liefde. Genade en bevrijdinng, Bloemendaal 1977, Deel I: Het gezag van nieuwe ervaringen en dat van het Nieuwe Testament (S. 23-56)

[40] Clodovis Boff, Teologia en Prática – Theologia do Politico e suas mediações, Petrópolis 1978; Leonardo Boff, Jesus Cristo Libertador, Petrópolis 1972, Anhang II (dt. Ausg. 205-215).

[41] Andreas Fritzsche, Manfred Kwiram (Hg.), Ethos lernen – Ethos lehren, München 2001.

[42] Angesichts der unerwarteten Vielfalt und der neuen, hermeneutisch hoch reflektierten, interdisziplinär geöffneten und auf aktuelle Probleme bezogenen Qualität interreligiöser Fragestellung ist die Zeit für eine Neudefinition des Fachs interreligiöser Studien gekommen. Oft vereinen sie bruchlos eine theologisch, historisch und phänomenologisch hohe Qualität. Es hat den Anschein, dass eine angemessene Interdisziplinarität zum Gütesiegel aktuell relevanter Theologie geworden ist.

[43] Ein apokalyptischer Ton wird in der Einleitung zur Erklärung zum Weltethos (Chicago 1993) angeschlagen. „Die Welt liegt in Agonie. Diese Agonie ist so durchdringend und bedrängend, dass wir uns heraufgefordert fühlen, ihre Erscheinungsformen zu benennen, so dass die Tiefe unserer Besorgnis deutlich werden mag…“ [Nuestro mundo atraviesa una crisis de alcance radical; una crisis de la economía mundial, de la ecología mundial, de la política mundial. Por doquier se lamenta la ausencia de una visión global, una alarmante acumulac1ón de problemas sin resolver, una parálisis política, la mediocridad de los dirigentes políticos, tan carentes de perspicacia como de visión de futuro y, en general, faltos de interés por el bien común. Demasiadas respuestas anticuadas para nuevos retos.] Der Haupttext verlässt jedoch diesen Grundton, um einer mehr analytischen Sprache Raum zu geben.

[44] Zum allgemeinen Problem der Machtpolitik der hegemonialen Länder s. Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997.

[45] Dies gilt jedenfalls aus europäischer Perspektive. Man denke an die Zeit der Kreuzzüge, an die Zeit der sog. Weltentdeckungen im 16. Jahrhundert sowie an die Zeit des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert. Alle diese Globalisierungsschübe wurden von den Betroffen als Prozesse der Eroberung und Kolonialisierung erfahren. Zum ersten Mal ergibt sich die Chance, dass die Abhängigkeit aller Länder von einigen wenigen zum ersten Mal beendet und auf ein Netzwerk der Kooperation hin entwickelt werden kann.

[46] Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?: Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt 1997; ders., Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt 2007. Zur theologischen und ethischen Diskussion: Günter Virt (Hg.), Der Globalisierungsprozesse. Facetten einer Dynamik aus ethischer und theologischer Perspektive, Freiburg (Schweiz)/Freibug i.B. 2002; Friedrich W. Graf u.a. (Hg.), Religionen und Globalisierung, Stuttgart 2007; ders., Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt am Main/Leipzig 2008.

[47] Gemeint sind die USA, Europa, Russland und Japan, immer mehr auch die „Tigerstaaten“, China und Indien.

[48] Dazu gehören die meisten Hauptstädte oder abhängigen Industriezentren der Welt mit ihren hoch ausgebildeten Eliten. So strömt – um nur ein noch kaum wahrgenommenes Beispiel zu nennen – im Augenblick viel Investitionskapital nach Ulan Bator, der Hauptstadt der wirklich armen und dünn besiedelten „äußeren“ Mongolei. Der Grund sind die dort erhofften Bodenschätze.

[49] Der Begriff Glokalisierung wurde (nach Vorläufern in den 1980er Jahren) von Roland Robertson und Zygmunt Bauman für die aktuelle Fragestellung übernommen. In der Regel wird von deren kulturellen, ökonomischen, politischen und soziologischen Dimensionen gesprochen. Kulturell zielt der Begriff auf die Offenheit für die bleibende Eigenart und selbst Stärkung einzelner Kulturen, die sich in globalen Dimensionen mit anderen Kulturen in Beziehung setzen. Ökonomisch geht es um die Unterscheidung zwischen der Globalisierung von Absatzmärkten und der regionalen Verankerung von Prozesssteuerung und –produktion. Politisch zielt der Begriff auf die Paradoxie, dass übergeordnete bzw. internationale staatliche Institutionen zwar immer stärker werden, genau sie aber immer mehr Kompetenzen an regionale Institutionen zurück- bzw. abgeben; zudem steigt die Anzahl nichtstaatlicher Organisationen immer an. Soziologisch ist von den spezifischen Auswirkungen der Globalisierung auf lokaler Ebene (Wirtschaft, Arbeit, Geld, Lebensgestaltung) die Rede. Der Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, weil er zeigt, dass es keine Globalisierungsprozesse gibt, die in sich verlaufen, aus sich selbst heraus geregelt und ohne gravierende Rückwirkungen auf das Leben der Menschen vor Ort sind. Aus diesem Grund ist ihnen immer ein Mitspracherecht zuzuerkennen.

[50] Johann Baptist Metz, Compassion. Zu einem Weltprogramm des Christentums im Zeitalter des Pluralismus der Religionen und Kulturen, in: ders. u.a. (Hg.), Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg 2000, 9-18; ders., Vorschlag für ein Weltprogramm des Christentums im Zeitalter der Globalisierung, in: G. Virt, a.a.O. 130-141.

[51] Leonardo Boff, Jesus Cristo libertador, Petrópolis 1972.

[52] Anton Grabner-Haidner (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik, Göttingen 2006.

[53] Mit Gläubigen sind die Anhänger aller großen Religionen gemeint: Juden, Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten, Anhänger der griechischen Weisheitsströme, Sikhs, Baha’is und viele andere.

[54] „Gloria enim Dei vivens homo: vita autem hominis visio Dei” (Irnaeus, Adv. haer. IV, 20,7). Aufgegriffen von E. Schillebeeckx, Gerechtigheid, a.a.O. 728.

[55] J. B. Metz (Virt, a.a.O. 140f.) spricht von einem „Traumbild“: „Was wäre, wenn die zwei Milliarden Christen der Welt dieses Experiment der Compassion wagen würden … Würde das nicht ein neues Licht auf unsere Erde werfen, auf diese globalisierte und doch so leidvoll zerrissene Welt?“ Man kann diese Frage nur unterstützen. Sie lässt sich aber auch universalisieren: Was wäre, wenn sich alle Anhänger einer Weltreligion auf den Geist jener Weisungen einlassen würden, die das Projekt Weltethos als Grundimpuls all dieser Religionen herausgearbeitet hat? Auch wenn es zwei Milliarden sind, Christen allein können die Welt vermutlich nicht so in all ihren Teilen ändern, dass die Weltpolitik auf neue Beine gestellt wird. Metz hat auch im Folgenden recht: Die Stärke des Projekt Weltethos liegt gerade darin, dass es kein Konsensprodukt ist. Der formulierte Konsens ist die Folge, nicht aber der Grund der formulierten Kriterien. Dieses globale Ethos wurzelt – von seiner theologischen Begründung und Motivation einmal abgesehen – in der Autorität der schützenswerten und verletzlichen Menschen, um die es geht und deren Bedeutung in der Goldenen Regel zum Ausdruck kommt. Sollte Metz in seinen Ausführungen ein Argument gegen das Projekt Weltethos verstehen (und dafür spricht einiges), dann hätte der dieses Projekt gründlich missverstanden. Vermutlich liegt der Grund für dieses Missverständnis in dem Nachdruck, mit dem Metz auf der spezifisch christlichen Begründung eines Weltethos besteht, das zur ausdrücklichen Ablehnung der buddhistischen Mystik führt. Wenn der buddhistisch-christliche Gegensatz so unversöhnlich ist, dann ist auch nicht einzusehen, dass ein Buddhist das Modell der Compassion als Gestaltungsprinzip eines globalen Ethos akzeptieren soll.

[56] Thomas Hoppe, Gibt es ein kulturübergreifendes Ethos?, in Virt (Hg.), a.a.O. 178-186.

[57] Diese theologisch gebotene Sachlichkeit führt im Projekt Weltethos zu wichtigen Impulsen interdisziplinärer Kooperation. Vgl. dazu H. Küng und K.-J. Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 1998. Weitere Literatur zu Konfliktforschung, Literatur- und Naturwissenschaft, Pädagogik, Politik, Religionswissenschaften und Wirtschaft s. die Bibliographie in www.weltethos.org.

[58] Dean Brackley, Para un ethos radical, in: Moralia 21 (1998), 21-62.

[59] Das oft wiederholte Motto der Religionsstudien von Hans Küng lautet: „Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen.“

[60] Vgl. Anm. 32.

[61] Martin Heidegger, Brief über den Humanismus (1946); zit. nach Schönherr-Mann, a.a.O. 244.

[62] Zu Recht legt Enrique Dussel den Akzent aller materialen Ethik auf die Leiblichkeit des menschlichen Lebens, also „das Leben des menschlichen Lebewesens in seiner physisch-biologischen, geschichtlich-kulturellen, ethisch-ästhetischen und mystisch-spirituellen Erscheinungsform, aber immer in einem Raum der Gemeinschaftlichkeit“. (Kurzer Aufriss einer kritischen und materialen Ethik, Aachen 2000). Das sind die Elemente, die sich aus den biblischen Weisungen ergeben, auf die sich das Projekt Weltethos beruft.

[63] Der Kanon von vier Weisungen ist ein offenes System. Je nach globaler Problemlage lässt es sich ausweiten; so verdienen heute die Bewahrung der Schöpfung und der Schutz der neurologisch und biomedizinischen Identität von Menschen einen besonderen Schutz. Je nach Religion und Kultur taucht es in eine unterschiedliche Gestalt konkreter Wertebildung ein. Die Frage, ob es einen Pluralismus der Werte gibt oder ob wir die vier genannten als globale Werte beschreiben können, geht am Problem vorbei. Die Formulierung von Werten ist immer auch das Produkt einer hermeneutischen Operation. Der Wertepluralismus zwischen Kulturen und Religionen schließt nicht aus, dass sich alle Menschen angesichts der global gemeinsamen Bedrohungen auf globale Grundsätze einigen können, die in keinem Fall zu durchbrechen sind. Eine vergleichbare Situation finden wir bei der Formulierung der Menschenrechte.

[64] Dussel 17.

Letzte Änderung: 13. Juli 2017