Weihnachtspredigt 2007

Richtig verstanden schreibt die Weihnachtserzählung Weltgeschichte; ein Säugling wird zum Symbol des Weltfriedens. Wie aber lässt sich ohen Gewalt eine neue Weltordnung installieren?

Liebe Gemeinde, liebe Gäste,
alle, die Sie die Heilige Nacht hier in dieser Kirche mitfeiern,

Viele von uns haben die anrührende Weihnachtsgeschichte des Lukas, die wir soeben hörten, Jahr um Jahr schon gehört; wir glauben sie zu kennen. Deshalb beneide ich diejenigen, die sie noch nie gehört oder wieder vergessen haben. Denn es ist eine große Kunst, eine alte Geschichte mit wachen Sinnen neu aufzunehmen und wirklich alles zu entdecken, was an ihr auffällt, was an ihr ungewöhnlich, vielleicht ernst oder gar wunderbar ist. Da erscheinen Kaiser Augustus, Gebieter des damals mächtigsten Imperiums im Westen und Quirinius, sein Oberbefehlshaber im Vorderen Orient bis hinein in den Irak. In einer Zeitspanne expandierender Gewalt standen ihnen gedemütigte Völker gegenüber. Da ist von einer Volkszählung die Rede, die man damals als einen bürokratischen Kniff zur besseren Kontrolle der besetzten Gebiete verstand. Da machen sich in diesem unwirtlich gewordenen Land ungezählte Land- und Obdachlose auf den Weg, zurück zu ihrer alten, viele auf der Suche nach einer neuen Heimat. Wie modern das alles klingt. Da müssen Maria und Josef nach Bethlehem ziehen, weil der Mann – so das Lukasevangelium – aus dem Geschlecht Davids stamme. Schließlich erwartet er einen Sohn königlichen Geblüts, der eigentlich das Recht hat, diesem Augustus auf Augenhöhe gegenüberzutreten.

Höchst nüchtern, wie nebenbei wird der Kern der Geschichte erwähnt. Ausgerechnet jetzt kommt Maria, die Hochschwangere, nieder und wickelt das Kind in Windeln. Mehr erfahren wir nicht. Ebenso karg werden die traurigen Umstände genannt: Kein Dach über dem Kopf, das Kind im Futtertrog eines Stalls draußen vor der Stadt. Das alles ist höchst unromantisch. Vom vielen Heu träumen nur wir Europäer, von Ochs, Esel und ihrem wärmenden Atem hören wir nichts. Nur von einer Windel wird berichtet, dem Minimum an Grundversorgung. Auch die Sorgen der Eltern werden nicht erwähnt. Nein, das Wunderbare, das bis heute unsere Phantasie beflügelt, findet außerhalb der Höhle statt; die gebeutelte junge Familie bemerkt davon nichts. Lukas berichtet von einer Vision, die eher erschreckt als verzückt: Engel blenden da eine Gruppe von Hirten. Sie umhüllt ein gleißender, beängstigend strahlender Glanz. Deshalb der Ruf: Keine Angst, „Fürchtet euch nicht!“ Und dann die Botschaft, auf die die ganze Geschichte hinausläuft: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.“

Messias, Retter, Herr, dieses wimmernde Kind? Das hätten wir zuletzt erwartet. Aber die Signale der Kampfansage sind nicht zu überhören: Hier und nicht in Rom habt ihr Heil zu erwarten. Von hier und nicht aus der westlichen Supermacht kommt Rettung. Hier und nicht in euren Politprogrammen ist die Weltzukunft zu Hause. Macht- und Heilsanspruch werden im Weltmaßstab neu definiert. Nicht Augustus und seine modernen Nachfolger, keine Kreuzzüge und kein Kampf gegen die Achse des Bösen werden letztlich das Weltgeschehen bestimmen, sondern dieses unscheinbare Bündel Mensch. Welch unwahrscheinliche Behauptung. Hätte der Evangelist dazu auch heute den Mut, da wir das globale Ausmaß des Elends und die bleierne Aussichtslosigkeit auf bessere Verhältnisse unverhüllt zu Gesicht bekommen? Würde er auch heute die „himmlische Heerschar“ auftreten lassen, die behauptet, die Ehre Gottes bestehe darin, dass Friede zu den Menschen kommt? Spricht uns im 21. Jahrhundert noch die Überzeugung aus dem Herzen, dass auf den Schultern dieses Kindes die Weltherrschaft ruht? Wer würde es heute noch wagen, die gängigen Maßstäbe so gründlich umzudrehen?

In dieser Erzählung, liebe Gemeinde, wird Weltgeschichte geschrieben und es ist mir ein Rätsel, dass ausgerechnet Weihnachten zu dem werden konnte, was es heute ist, wie neulich gesagt wurde: „süß, heilig, teuer, stressig“, im Familienkreis zum harten „Trainingslager für Toleranz“. Nein, beim unbefangenen Hören dieser Botschaft bleiben kein Lametta, kein Kerzenzauber und keine Konsummaschinerie übrig. Denn ein durch und durch politisches Thema steht zur Debatte, zugleich ein schwer auflösbares Paradox, – es scheint Gottes Paradox zu sein: Zum Zeichen dieser neuen Qualität von Weltfrieden wird ein hilfsbedürftiger Säugling: „Und das soll euch als Zeichen dienen“, sagt Lukas programmatisch: „Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einem Futtertrog liegt.“ Soll das die neue Friedensbotschaft sein?

Vielleicht, denn in jedem Neugeborenen ruht ein Neubeginn und ein jedes Baby weckt in uns Zuwendung, Güte und Zärtlichkeit; es ruft zentrale Erfahrungen von Menschlichkeit und Versöhnung wach. Sie werden zum Einfallstor Gottes. So gilt Weihnachten zu Recht als Fest des Friedens und viele finden in dieser Geschichte eben auch den Anhalt für die Nostalgie und die Seligkeit dieses Tages. Vielleicht erinnern sie sich an ihre eigene Kindheit mit ihren verpassten und ergriffenen Chancen. Wir spüren, dass wir im Grunde schwache und verletzliche Menschen geblieben sind. In den Kinderaugen sehen wir unsere eigene Sehnsucht leuchten, gerade jetzt, in der längsten und dunkelsten Nacht des Jahres. So verbindet sich mit unseren Gefühlen eine kosmische Dimension, wie das Weisheitsbuch sagt: „Tiefstes Schweigen hielt das All umfangen: die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte ihres Weges erreicht: da sprang aus dem Himmel vom Königsthrone herab Dein allmächtiges Wort…“ (Weish. 18, 14-15). An Weihnachten ereignet sich Großes.

Was aber gilt, wenn solche Sehnsucht nicht zur Idylle verkommen soll? Gilt der Ernst des brutal bedrückenden Weltgeschehens oder die anrührende Seligkeit dieser Nacht? Welche Option hat den längeren Atem? Das ist, wie mir scheint, eine Frage unseres Vertrauens. Wir sind gefragt, ob die Liebe für uns das letzte Wort hat. Deshalb zwingt uns die Weihnachtsbotschaft ja nichts auf, sondern sie redet indirekt verpackt ihre Botschaft in archaische Symbole: vom König und den Hirten, von den Engeln und dem Kind, vom dunklen Augenblick und dem Lichtstrahl des Heils, von vitaler Hilflosigkeit und der Erwartung des endgültigen Glücks. Diese Geschichte steckt voller Träume, die unser Herz tagtäglich verlocken und die uns – bewusst oder unbewusst – zum Nachdenken zwingen. Diese Vision des Friedens treibt noch heute die gesamte Menschheit um, auch wenn viele an ihr verzweifelt sind. Sie ist also missbrauchbar. Schon Augustus hat diesen Traum für seine Ziele ausgenützt, indem er eine große, völkervereinende Friedensperiode verhieß. Mittelalterliche Herrscher, Napoleon, imperialistische Staaten, die großen Revolutionen, sie alle versprachen den Frieden. Von einer friedlichen Neuordnung der Welt hören wir regelmäßig auch heute: aus der UNO, aus den Schaltzentralen des Westens, aus arabischen Ländern. Neulich von afrikanischen Staatschefs. Warum misslingen diese Versuche?

Sie misslingen wohl, weil sich in die Ziele immer wieder Gewalt einschleicht und weil Gewalt das Mittel zum Zweck wird. Mahatma Gandhi, von christlichen und von hinduistischen Ideen geleitet, war eine Ausnahme. Er suchte den Frieden mit friedlichen Mitteln. Nelson Mandela und andere sind ihm darin gefolgt. Martin Luther King, der große baptistische Prediger, griff diesen für ihn urchristlichen Gedanken auf. Seine große Rede im August 1963 zeigt, wie für ihn der Ernst der Situation und eine vertrauende Gewissheit ineinander greifen: Deswegen sage ich euch, meine Freunde, ich habe immer noch einen Traum, obwohl wir den Schwierigkeiten von heute und morgen entgegensehen.“ Und er spricht davon, dass alle Menschen gleich sind: Frühere Sklaven, so sein Traum, werden mit früheren Sklavenbesitzern an einem Tisch sitzen; Orte der Ungerechtigkeit und Unterdrückung werden zu Oasen der Freiheit. Seine eigenen Kinder werden nicht mehr nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrer Persönlichkeit beurteilt: „Ich habe einen Traum“, ruft er in Erinnerung an ein prophetisches Wort, „dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werde. Die unebenen Plätze werden flach und die gewundenen Wege gerade. Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden und alles Fleisch miteinander wird es sehen.“ Wir kennen das Schicksal von Martin Luther King, der am 4. April 1968 in Memphis erschossen wurde. Anstifterinnen und Anstifter zum gewaltlosen Frieden werden immer wieder durch Gewalt vernichtet; dass ist ein jesuanisches Schicksal. Man fürchtet die ansteckende Kraft ihrer Idee.

Dieser ansteckende Traum, den wir zusammen mit Menschen aus anderen Religionen und Kulturen träumen, ist deshalb so gefährlich, weil er keine Dimension unseres Lebens ausspart. Deshalb erscheint uns dieser Traum auch so kompliziert. Natürlich denken wir – Mütter, Väter und Kinder – zunächst an unseren persönlichen und privaten Frieden. Das ist gut so. Vielleicht finden wir in dieser Nacht den Mut, alte Auseinandersetzungen zu beenden und Schritte der Versöhnung zu gehen. Aber wir können dabei nicht vergessen, dass auch die anderen, die Gequälten und Ausgeschlossenen von einer unendlichen und unerfüllten Friedenssehnsucht getragen sind, gleich ob sie in Zentralafrika oder Südostasien, leben. in Kuba oder in den hochindustrialisierten Staaten. Kein christlicher und kein wirklich menschlicher Friede ist auf Kosten Dritter möglich.

Deshalb kann sich auch der Friedenstraum dieser Nacht nie auf unser privates Wohlsein beschränken. Friede ist nicht teilbar, und Gottes Friede lässt sich erst recht nicht halbieren. Er erweitert sich immer wieder zum Traum von einer versöhnten Menschheit. „Ich war hungrig“, heißt es in einem Ballett über Mutter Teresa, „aber nicht nur nach Brot, um es zu essen, sondern auch nach Gerechtigkeit. Ich war durstig, aber nicht nur, weil ich Wasser trinken wollte, sondern mich dürstete nach Frieden.“ Wir könnten weiterfahren: Ich sehnte mich nach Geborgenheit, aber nicht nur nach privatem Wohlsein, sondern nach einer sozialen Weltordnung, in der Gewalt und Willkür für alle gebannt sind: auch für Darfur und den Irak, für Tschetschenien und in unseren Kinderzimmern. Mutter Teresa konnte wohl in den Slums Weihnachten feiern, weil Gott bei denen ist, die unserer Hilfe bedürfen. Er schaut am Ende eben nicht auf unsere Fragen, sondern mit uns auf diejenigen, für die wir ein sorgendes Auge haben. Friede ist – ebenso wie der christliche Glaube – ein Weltprojekt und die Arbeit an ihm wird nie zu Ende gehen. Es beginnt in dieser Nacht neu.

Das ist der Grund, warum die Freude und das Glück den Ernst des Unfriedens nie aus den Augen verlieren können. Vor uns steht der Unfriede, den wir im vergangenen Jahr ertragen mussten und mit verursachten. Wir vergessen nicht, dass wir unseren Wohlstand nicht nur hart erarbeitet, sondern uns auch genommen haben, dass wir unseren Frieden stabilisieren, indem wir andere von unserem Wohlstand ausschließen, für die keine Herberge bleibt. Viele haben im vergangenen Jahr ihr Leben aufgegeben. Warum? Wie viele versuchen in dieser Nacht wohl, über das Meer südeuropäischen Boden zu erreichen und wie viele bezahlen diesen Versuch mit dem Tode? Warum will es uns nicht gelingen, in unserem eigenen Land die Güter gerechter zu verteilen? Fragen über Fragen, gerade in dieser Nacht göttlicher Nähe.

Vielleicht macht das manche von Ihnen traurig oder wütend. Müssen wir uns das Elend auch an Weihnachten vor Augen führen? Sollen wir wegen unserer Freude ein schlechtes Gewissen bekommen? Nein, gerade das nicht. Denn hier liegt das Kind, Gottes Kind, uns allen zur Fürsorge anvertraut. Gott schenkt uns dieses Kind – wie alle Kinder – trotz, vielleicht auch wegen unseres Versagens. Wir müssen nicht, wir dürfen den Gequälten und Vergessenen helfen; jede Hilfe, wie schwach auch immer, hat einen göttlichen Sinn. Dieses Versprechen Gottes wird uns mit diesem Kind in der Krippe besiegelt. Ein verletzlicher, auf uns angewiesener Gott ist uns in ihm nahegekommen.

So appelliert das Weihnachtsfest genau an diese Erfahrung, die in Ihnen und in mir eben auch schlummert. Helfen macht glücklich und ist leichter als Hilfe anzunehmen. Aus dem sorgenden Hinschauen, aus der offenen und versöhnungsbereiten Gemeinschaft erwächst deshalb die Kraft des Friedens. Freuen können wir uns, weil wir diesen Traum des Friedens – allen Schwierigkeiten zum Trotz – nicht umsonst träumen. Die Liebe hat das letzte Wort.

Liebe Gemeinde, wer hier und jetzt einen Zipfel dieser Friedens- und Glückserfahrung erhascht, hat von Gottes Liebe selbst einen Zipfel erfasst. Dafür können wir, im Anblick dieser Krippe, Gott jetzt, in der Feier der Eucharistie, danken und ihn preisen. Was wollen wir mehr.

(25.12. 2007)