„Warum ich katholisch bleibe“ Zum Missio-Entzug von Hans Küng vor 40 Jahren

15. Dezember 1979: Johannes Paul II., im Kirchenkampf schon bestens erprobt, lässt seine Glaubenskongregation erklären, Hans Küng könne weder als katholischer Theologe gelten, noch als solcher lehren. Zwar konnte er die Folgen dieses Schrittes nicht absehen, doch Gründe dafür konnte er unschwer finden: Küngs Unfehlbarkeitskritik verachte das kirchliche Lehramt und in Christsein leugne er die Wesensgleichheit Christi mit dem Vater sowie die Jungfrauschaft Mariens, ferner irre er beim gültigen Vollzug der Eucharistie. Zudem hätten frühere Stillhalteabkommen nichts genützt. Küngs zahlreiche biblische, dogmengeschichtliche und philosophische Argumentationen interessieren ebenso wenig wie seine Appelle an den Geist des Konzils. Seine kritische Bilanz des ersten Wojtyła-Jahres vom 13. Oktober, die internationale Verbreitung fand, brachte das Fass wohl zum Überlaufen.

Nacht- und Nebelaktion

Natürlich ist man sich der Brisanz des Vorhabens bewusst und fürchtet die öffentlichen, inner- wie außerkirchlichen Reaktionen. Deshalb wird Brüssel für ein hochgeheimes Treffen am 16. Dezember ausersehen. Es treffen sich der Kölner Kardinal Höffner als engagierter Strippenzieher, der in Bonn residierende Nuntius, ein Vertreter der Glaubenskongregation aus Rom sowie der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz. Zitieren (und zugleich mit einem exkommunikationsbewehrten Schweigegelübde belegen) lässt sich Georg Moser, Bischof von Rottenburg. Schließlich braucht man ihn, denn er ist als einziger befugt, einen Entzug der Missio rechtswirksam durchzusetzen. Auf seinen Einwand gegen eine solche Aktion kurz vorWeihnachten regiert Höffner mit höchster christlicher Sensibilität: Küng halte ja nichts von Weihnachten, jedenfalls nichts von der Jungfrauengeburt.

Wie den Plan aber in die Tat umsetzen? Angesichts der Zweifel im Umgang mit Öffentlichkeit und Presse kommt es in der Folgenacht, 2-4 Uhr, zu einem Treffen bei Karl Lehmann in Freiburg, der von diesem Augenblick an kräftig mitmischen wird. Nicht ohne Stolz wird er später vom Coup berichten, die nächtliche Konspiration erhält symbolische Züge. Am Folgetag werden an katholische Amtsträger und Amtsstellen massenhaft Papiere, Dokumentationen und Erklärungen verschickt, damit der 18. Dezember, 12.30 Uhr, zur Stunde der neuen Wahrheit werden kann. In Rom und Köln ist die Presse zusammengerufen und kurz vorher fährt vor dem Hause Küng in Tübingen ein Wagen aus der Bonner Nuntiatur vor, um das Dokument feierlich und mit Empfangsbestätigung zu übergeben.

Die Dramatik der kommenden Tage – Gespräche und Gesprächsverweigerung, briefliche Nachforderungen und das doppelte Spiel nahestehender Kollegen, schließlich Küngs endgültiges Nein zur geforderten Unterwerfung hat er in seinen Memoiren beschrieben. Moser beugt sich dem Druck und macht mit Brief vom 31. Dezember 1979 den Entzug der katholischen Lehrerlaubnis rechtswirksam. Fortan wird er jeden weiteren Kontakt mit Küng ablehnen. Als letzten Triumph können Küngs Gegenspieler die Tatsache feiern, dass sich am 7. Januar 1980 sämtliche deutschen Ortsbischöfe nach Würzburg beordern und zur Unterschrift unter ein Dokument zwingen lassen, das die Sanktionen gegenüber Küng billigt. Dass dieses „Kanzelwort“ in zahlreichen Pfarreien nicht verlesen wird, zeugt vom Widerstand vieler Seelsorger vor Ort. Dass sich Hans Küng jedoch auf Drängen der Staatsregierung doch noch „Professor der Theologie“ nennen und sein Institut behalten kann, gehört zu Küngs geheimen Siegen, denn das hatten Rom und die Bischöfe nicht erwartet.

Jetzt kann er in aller Form als Vertreter einer Theologie auftreten, die an keine konfessionell-äußeren Bedingungen, sondern nur noch an ihre christlichen Ausgangspunkte gebunden ist. Das sind die Schrift, der geschichtliche Werdegang des christlichen Glaubens und dessen kritischer Abgleich mit dem aktuellen Wahrheitsbewusstsein. Denn eines hat man Küng vor und erst recht nach dieser Affäre nie abgesprochen: den Mut, die Authentizität seiner Aussagen und die Kraft, argumentativ seine Positionen darzulegen. Auch ein zweites hat allgemein erstaunt: Nach diesem ihm aufgezwungenen Bruch erarbeitet er sich mit unerwarteter Energie und Kreativität neue Forschungsgebiete, insbesondere eine umfassende, systematisch koordinierte Kenntnis der Weltreligionen und das weithin bekannte Projekt Weltethos. So wird er in Kirche und Welt interessanter denn je.

Der Elefant im Raum

Vor einiger Zeit erklärte mir ein Kollege, der sich mit den aktuellen Reformproblemen der Kirche beschäftigt, die Affäre Küng sei fünf Jahrzehnte alt und heute gebe es Wichtigeres zu tun, als Vergessenes aufzufrischen. Ich schätze die Situation anders sein. Denn seit Küngs aufsehenerregender Intervention (1970) und erst recht seit dem missglückten Versuch, ihn mundtot zu machen (1980), steht die Unfehlbarkeitsfrage, diese Mutter aller absolutistischen Dogmatik, wie ein unsichtbarer Elefant im Raum der Diskussionen. Rom traf damals eine Grundentscheidung, deren lange Schatten allgegenwärtig sind. Was wird heute mit vielfachem Argumentationsaufwand nicht alles an Reformforderungen zu Amts- und Zölibats-, Macht- und Genderfragen, zu Transparenz und Partizipation, zur Erneuerung der Sexualmoral erhoben! Die meisten Desiderate werden mit dem Pathos eines neuen Begehrens formuliert, obwohl sie schon alle in den 1960er und 1970er Jahren erhoben wurden. Am 13. Oktober 1979 hat er sie aufgezählt: Jurisdiktionsprimat, Marianismus und traditionalistische Ehemoral (Geburtenregelung, Abtreibung und Ehescheidung), Menschenrechte und Abschaffung der Zölibatspflicht, einflussreiche Ämter für Frauen und deren Ordination, Prinzip der Kollegialität, Eingehen auf Fragen der Menschen und eine selbstkritische Kirchenleitung, Auflösung des Zentralismus, Stärkung der Bischofskonferenzen sowie nationaler und mentaler Unterschiede, Beschäftigung mit kritischer Exegese und Dogmengeschichte, neuerer Moraltheologie und der Befreiungstheologie.

Dabei präsentiert Küng seine Forderungen nie sporadisch, sondern innerhalb eines theologischen und kirchlichen Gesamtkonzepts, immer in letzte Begründungszusammenhänge integriert. Sie werden aber verschwiegen. Dieses Gesamtkonzept wird schon in den Büchern über Rechtfertigung (1956), Kirchenstrukturen (1962), Kirche (1967), christliche Existenz (1974) und die Gottesfrage (1978) entwickelt. Dazu gehören auch die Amts- und Unfehlbarkeitskritik, in Anlehnung an Paulus ein charismatisches, mit flexiblen Amtsstrukturen verträgliches Gemeindemodell. Doch man übersieht sie geflissentlich, lobt in gespielter Unschuld sogar die Entwürfe. Später allerdings reagiert man empört, als Küng – konsequent überhört, wie er einmal sagt – den „Wecker rasseln“ lässt.

Mehr noch, bei aller Konzeptionsarbeit wird die Begründungsfrage konsequent angegangen. Es reicht eben nicht, für jede Einzelfrage entsprechende Argumentationsketten aufzubauen, nach Belieben und taktischer Situation zu variieren. Gemäß legitim christlicher Tradition wählt Küng für seine konsequenten Rückfragen drei Maßstäbe: Schrift, geschichtliche Entwicklungen und das Wahrheitsgewissen der Gegenwart; später kommt der interreligiöse Dialog hinzu. Allerdings besteht er darauf, dass diese Maßstäbe konsequent, nicht nur gemäß katholischen Vorurteilen angewendet werden, vorbehaltlos auch die Ergebnisse kritischer Forschung spiegeln, dass sie Religions-, Kirchen- und Ideologiekritik zulassen. Zu welch enormen Widerständen dieser Ansatz geführt hat, muss ich hier nicht näher erläutern, ebenso wenig den unausrottbaren Vorwurf eines protestantischen Biblizismus widerlegen. Im Gegenteil, die mangelnde Sensibilität für die biblischen Dokumente bilden noch immer den Hauptgrund für das katholische Reformdebakel.

Küng hat es nie gestört, dass diese Maßstäbe, sofern man sie wirklich ernst nimmt, zu unterschiedlichsten Formen von Glauben und Theologie führen. So hat er sich immer mit großer Neugier um Kontakte mit anderen Theologen verschiedenster inhaltlicher und konfessioneller Couleur bemüht; dafür war er bekannt. Doch als eingefleischter Ökumeniker und durch Karl Barths Denken geschult, wurde er immer dann hellwach und allergisch, wenn die genannten, für ihn unverrückbaren Maßstäbe zu Gunsten kirchlicher Eigeninteressen, Selbstbestätigung oder Rechthaberei verdrängt, zurechtgebogen oder ausdrücklich verfälscht wurden. Hier liegt der eigentliche Grund für die ihm aufgezwungenen Zerwürfnisse. Für Küng bedeuten solche Verbiegungen nicht einfach ein Defizit neben anderen, die sich nie vermeiden lassen, sondern einen Angriff auf die Fundamente der christlichen Botschaft. Diese Verkürzungen nehmen der Kirche ihre Glaubwürdigkeit und treiben sie in uferlose Selbstwidersprüche, rauben ihr ihre Glaubwürdigkeit (wie wir es heute erleben). Dieser Elefant, dessen Gegenwart alle spüren, wird nun schon 50 Jahre lang geleugnet. Dies ruiniert auch die mächtigste Institution.

Pathologische Züge

Spätestens seit der Reformation sehe ich, von Hans Küng belehrt, genau darin die große Gefahr der römisch-katholischen Kirche. Sie hat ihren Antiprotestantismus und den reaktionären Triumphalismus, der daraus folgte, nie überwunden. Im Gegenteil, seit 1978 wurde dieser verhärtete Amts- und Wahrheitskomplex wieder vorangetrieben. Genauer gesagt, auch die endlosen Kompromisse des 2. Vaticanum konnten ihn nicht überwinden. Man hat von pathologischen Zügen geredet, weil frühere Wunden, Macht- und Überzeugungsverluste nie richtig vernarbten und die westlichen, säkularen Gesellschaften sich ausgerechnet nach dem Konzil der kirchlichen Lenkungs- und Definitionshoheit entziehen. Für diese Fehlentwicklung hat Hans Küng schon früh ein waches Sensorium, in etwa sieht er mit seiner Unfehlbarkeitskritik schon voraus, was seine Kirche noch erwartet. Denn Johannes Paul II. (1978-2005) baut einen identitären Herrschaftskomplex auf und sorgt für seine Konsolidierung. Dieser Komplex geht von einer geschlossenen, über die Völker hinweg absolut homogenen Kirchenkultur aus, die vielseitig von einer diffusen „Verweltlichung“ bedroht ist: von Wissenschaften, Herrschaftsansprüchen und sozialen Ideologien. Seine ständige Kampfesstimmung führt zu einer Nabelschau, die nach außen um Akzeptanz und Zustimmung ringt, nach innen aber intransigent und aggressiv agiert. Der Blick des vorhergehenden Konzils auf die Nöte der Welt („Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“) wird durch eine narzisstische Selbstbetrachtung der Kirche abgelöst, die Kardinal Suenens schon in die Formel gefasst hatte: „Kirche, was sagst du von dir selbst?“ Das Heil Christi wird jetzt bruchlos in der Kirche verortet und das macht einen Mahner wie Küng für die Kirchenleitung unerträglich.

Die sorgfältig organisierten Papstreisen mit ihren Massengottesdiensten steigern Roms Selbstdarstellung ins Maßlose und wer sich dagegen wendet, kommt sofort in den Ruch, die katholische Kirche im Kern zu verraten. Das „Exempel Küng“ macht damit einen Anfang, zu deren wichtigsten Fortsetzungen der Feldzug gegen die Befreiungstheologie gehört. Ein Recht auf Gehör und Verteidigung wird da überflüssig. Den römischen Herren entgeht dabei nur, dass sie damit die Generalkritik von Küng und anderen am absolutistischen Kirchensystem nicht zum Schweigen bringen, sondern bestätigten.

Die große Verdrängung

Zurück zu Küngs Unfehlbarkeitskritik. Am besten wird seine Kritik von den Kirchenleitungen verstanden, denn ihre Rechthaberei und ihre Interessen stehen unmittelbar im Spiel. Wer die Interessen der Hierarchie wahrnahm oder sich mit ihnen identifizierte, hatte Küngs Kritik sofort verstanden. Das galt auch für weitere innerkirchliche Kreise, die mit blankem Entsetzen reagierten. Allerdings lassen sich viele von ihnen einreden, Küng sei ein eingefleischter Kirchenkritiker, obwohl er als der Kirchenverteidiger schlechthin auftritt. Doch anders reagiert ausgerechnet ein Großteil reformgesinnter Kollegen und Amtsträger. In ihren zukunftsorientierten Entwürfen kommt die kritisierte Unfehlbarkeit gar nicht mehr vor. So kritisieren sie nach Belieben Küngs Mangel an exegetischer, historischer, philosophischer, hermeneutischer oder linguistischer Reflexion. Sie kritisierten den Ausdruck „unfehlbare Sätze“ als unreflektiert (und übersehen, dass Küng ebenso oft von „unfehlbar wahren“ Sätzen oder Aussagen spricht). Sie entdeckten im Unfehlbarkeitsdogma noch ganz andere Tiefen, die man gnoseologisch, spirituell oder transzendental doch ausloten müsse. Genüsslich zitierte K. Lehmann Nietzsches Bemerkung: „Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt“ und nimmt Hünermanns spätere Kritik vom 19.2.1996 vorweg, Küng regiere mit „beißender Polemik“ und löse so Irritationen aus. Er besitze jedoch nicht das „Charisma, auf schwierigen Problemfeldern ausgewogene Konsensformeln in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gesprächspartnern zu erarbeiten“. Weshalb diese Kritik einen Missioentzug rechtfertigen soll, bleibt ebenso ein Geheimnis wie weiland bei Galileis Verurteilung, die man mit Unduldsamkeit begründete, um sie nach 500 Jahren zu revidieren. K. Rahner rügt schließlich im Zorn, mit Küng könne man nur noch zusammenarbeiten wie mit einem „liberalen Protestanten“; die implizite Beleidigung seiner evangelischen Kollegen wird geflissentlich übersehen. Noch heute hört man das Klischee einer bloß rationalistischen Aufklärung, auf die man gerne verzichte.

Was war geschehen und wie sind alle diese Schlüsse und Schüsse zu erklären, die mit Küngs Projekt doch nichts zu tun hatten? Nach meinem Urteil hat der ungeheure Druck, der seit 1870 auf der katholischen Theologie gelastet hatte, zu massiven Verdrängungen geführt. Man errichtete glänzende und bestechende theologische Gebäude, die von der Neuscholastik ablenkten und sich dem römischen Lehramt entzogen. Auf diese Entwicklung, die mit dem Reformkatholizismus begann, ist hier nicht einzugehen. Allmählich stellte sich eine Strategie der gegenseitigen Duldung heraus. Man immunisierte die eigenen weiterführenden, spirituell gewiss wichtigen Entwürfe gegen römische Kritik, überhöhte damit auch den Sinn des kirchlichen Lehramts im Vergleich zu ihrer unerträglichen Realität. Das für Deutschland meist beeindruckende Beispiel sind Karl Rahners transzendentaltheologische Entwürfe. Sie alle gingen hoch hinaus, sprachen vom Fühlen mit der Kirche, ließen in den Seelen die Kirche, in den Geistern die Unendlichkeit erwachen („Geist in Welt“ war die Formel). Doch sie vermieden dabei genau verifizierbare historische und systematische Perspektiven sowohl in Fragen der Kirchenstruktur, der Christologie und der Gotteslehre, dies lange zum Schaden einer kritisch argumentierenden Exegese.

Dabei wirkte sich ein zunächst wohltuender Konsens aus. Unausgesprochen galten die römische Sanktionswut und Rechthaberei samt seinem vormodernen Kirchenrecht als unfein. Aber man klärte nichts, sondern überließ das Volk mit seinen konkreten Sexual-, Ehe-, Konfessions-, Sakraments- oder Katechismusfragen den Hierarchen. Nach dem 2. Vaticanum erfreute man sich einer erneuerten Liturgie-, Kirchen- und Bibelpraxis. Und wer intellektuell geschult war, flüchtete sich zu eleganten Lösungen der früher belastenden Glaubenssätze wie Fegefeuer, Hölle, Kirchengebote oder alleinseligmachende Kirche. Unbewusst stellte sich ein Überlegenheitsbewusstsein gegenüber Rom ein, verbunden mit der Hoffnung, dass die Unverbesserlichen wie etwa Kardinal Ottaviani bald aussterben würden.

Ausgerechnet in dieser Situation wirft Küng die unbequeme Frage auf, die man durch deren Verdrängung für überwunden hielt: Wie sollen wir mit der völlig überholten, juristisch verhärteten Unfehlbarkeitskompetenz umgehen, die das Lehramt beansprucht? Küngs Kritiker haben ja recht: das ist vorgestrige, rationalistisch verkürzte und juristisch verengte Problemstellung. Doch genau deshalb stellt Küng sie zur Debatte. Küng hängt der Katze nur die Schelle um, will die Unkultur der Verdrängung beenden. Doch der Unglücksbote erfährt eben keinen Dank.

Vierzig Jahre zu spät?

Diese Polarisierungen haben sich verschärft, die Grundsituation ist aber geblieben. Zu Recht hält die Basis die Unfehlbarkeitstheorie für überholt, doch meistens wird deren fundamentale Bedeutung übersehen. Es reicht nicht, sie gelegentlich zu nennen, denn sie ist kein Zusatzproblem zu den anstehenden Reformfragen; die Lage ist umgekehrt. Erst wenn die Unfehlbarkeitstheorie aufgelöst und in aller Form korrigiert bzw. widerrufen ist, kommen wir weiter. Daraus ziehe ich vier Folgerungen:

1. Nachweislich ist die real existierende Unfehlbarkeitslehre mit ihren unbarmherzigen Sanktionen und unverständlichen Reformblockaden das Produkt einer reaktionären Machtpolitik und deshalb in aller Form, also auch in ihrem theoretischen Ansatz zu korrigieren. Theologinnen und Theologen sind dazu aufgerufen, sich diesem Problem zu stellen, Gegenentwürfe zu entwickeln und gegebenenfalls den Kirchenleitungen zu widersprechen. Notfalls haben auch die Kirchengemeinden das Recht zu Gehorsamsverweigerung und Widerstand. Es kann nicht sein, dass wir von einer besseren Kirche träumen und die konkreten Strukturprobleme vernachlässigen.

2. Die meisten Reformkonzepte, die jetzt im Umlauf sind, bringen uns nicht weiter, denn um der innerkirchlichen Harmonie willen klammern sie die Problematik massiver Fehlentscheidungen aus. Das gilt auch etwa für die vormoderne Hermeneutik von Walter Kasper und die großräumigen Entwürfe von Michael Seewald. Nur solche Konzepte führen weiter, die getragen sind vom Freimut zur offenen Auseinandersetzung auch mit den gegenwärtigen Kirchenleitungen. Dazu gehört eine offene Auseinandersetzung mit Papst Franziskus, dem die systematische und kirchenstrukturelle Konsequenz seiner guten Reformansätze nicht hinreichend deutlich ist. Für eine Weltkirche mit über 2,3 Milliarden Mitgliedern reicht eine rein spirituelle Erneuerung nicht aus.

3. Die erbitterten und massiven Widerstände in Rom, in Bischofskonferenzen und an der Basis gegen die Reformpolitik von Papst Franziskus zeigen: Für unsere Kirche ist es unabdingbar, die nachkonziliaren Jahrzehnte selbstkritisch aufzuarbeiten, konkrete Fehlentscheidungen zu korrigieren und die Maßregelung und Verurteilung von zahllosen Frauen und Männern zu revidieren. Dabei kommt Hans Küng zwar eine Schlüsselrolle zu, aber andere Revisionen haben zu folgen. Die aktuelle Erfolglosigkeit von zahllosen Initiativen in Rom und Rottenburg zeigt, wie wenig Bereitschaft zur Umkehr vorhanden ist. Viele Anfragen werden nicht einmal beantwortet.

4.Unter diesen Umständen hat es keinerlei Sinn, auf einen Erfolg des Synodalen Weges zu hoffen. Deshalb seien wenigstens die Diözesen dazu aufgerufen, unter Leitung ihrer Bischöfe mit ihrer Vergangenheit zurecht zu kommen. Ihr Versagen betrifft nicht nur die skandalösen Fälle von Missbrauch und Vertuschung oder von finanzieller Intransparenz und Willkür, sondern auch die zahllosen Fälle, in denen erneuerungswillige Frauen und Männer aus ihren Ämtern gejagt, gedemütigt und eines irrgeleiteten Glaubens angeklagt wurden.

Genau an dem Tag, an dem in Rom das definitive Kesseltreiben gegen ihn begann, gab Hans Küng in Tübingen der WELT ein Interview unter dem Titel „Ich bleibe katholisch“. Er sagte: „Nicht nur der ist katholisch, der in allen einzelnen Punkten mit der katholischen Hierarchie übereinstimmt! Solche Totalidentifikation ist eine ungerechtfertigte Überforderung. Es gibt zahllose gute Katholiken in aller Welt, die sehr berechtigte Fragen an amtliche Lehre, Moral und Disziplin haben, die sich nicht dadurch erledigen, dass man diejenigen diskreditiert, die diese Fragen vorbringen.“ Die Anzahl dieser fragenden Katholikinnen und Katholiken ist inzwischen ins Maßlose gestiegen. Viele von ihnen verlassen das schützende Kirchendach, um sich in Christus wirklich frei zu fühlen. Küng hingegen ist bis heute katholisch geblieben. Angesichts der zahllosen Vorwürfe, Demütigungen und Ausschlüsse, die man ihm zugemutet hat, kann man für dieses Zeichen der Solidarität nur dankbar sein. Die von ihm gestellten Fragen und – vergessen wir das nicht! – zahllosen Antworten sind heute noch aktuell. Deshalb ist seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Trotz vierzig vertaner Jahre ist es noch nicht zu spät, den gläsernen Elefanten wahrzunehmen – vielleicht?