Mystisch, männlich, unfehlbar: Das Amt in der römisch-katholischen Kirche ist modernen Menschen nicht vermittelbar. Doch den Vatikan und sein deutsches Sprachrohr ficht das nicht an: Bischof Gerhard Ludwig Müller ruft einen Theologen zur Ordnung, der »das System« hinterfragt.
Es sollte wie ein Paukenschlag wirken und verfehlte seine Wirkung nicht. Der emeritierte Bamberger Theologe Georg Kraus, wegen seiner soliden Bücher zu Gott und Heil, Christus und Kirche bekannt, beschrieb in den Stimmen der Zeit, wie er dachte, in Sachen Frauenordination den bescheidenen Fortschritt, der sich seit kurzem abzeichnete: Trotz gegenteiliger römischer Äußerung dürfe die Frage exegetisch, historisch und kirchenrechtlich wenigstens diskutiert werden.
Dafür nannte Kraus eine Wolke von Dogmatikern, die für alle Fälle auf bischofskonforme, theologisch untadelige Männer beschränkt blieb: Wolfgang Beinert, Peter Hünermann, Medard Kehl, Peter Neuner, Siegfried Wiedenhofer. Nur eine Frau, Sabine Demel, wurde zusätzlich als Kirchenrechtlerin genannt. Dabei verschwieg Kraus die breite, schon seit 50 Jahren entfachte Diskussion, die in hohem Maß von Frauen vorangetrieben wurde. Schon lange hatte sie für alle, die hörbereit waren, zu vielfältigen und bewusstseinsverändernden Ergebnissen geführt. Erst vor kurzem brachte Bibel und Kirche (4/1020) eindrucksvolle Kurzporträts über führende Frauengestalten aus frühchristlicher Zeit. Doch drangen solche Erkenntnisse weder bis zum römischen, noch bis zum Regensburger Bischofsstuhl vor.
Eine verfahrene Situation
Wenn diese Forschungen beim römischen Lehramt schon kein Gehör fanden, würde wenigstens die neuere so zurückhaltende Bitte um Diskussion einen Erfolg erzielen? Rom und sein deutsches Sprachrohr Gerhard Ludwig Müller haben dem sanften Autor Kraus diese Gunst nicht gewährt und das ließ sich, wie ich finde, vorhersehen. Denn wie bei Dogmatikerinnen und Dogmatikern inzwischen üblich, hat Kraus die entscheidenden Argumente gegen Roms Anspruch auf Wahrheit gerade nicht ausgespielt.
Ganz anders Bischof Müller in einem Gegenartikel, zu dessen Veröffentlichung die Redaktion der Stimmen von Rom angehalten wurde. Ihn interessieren weniger die Argumente als die »Lehre der Kirche«; diese will er nicht kritisch untersuchen, sondern »adäquat« darstellen. Man liest also gespannt und mag dafür dankbar sein, dass dieser Lehramtsmann, immer für klare Worte bekannt, die Katze aus dem Sack lässt. Seine These lautet: Das Verbot und die Unmöglichkeit einer Frauenordination entsprechen dem unfehlbaren, nicht weiter zu diskutierenden Lehramt der Kirche; man spare sich deshalb jedes weitere Wort. Diese Position entspricht durchaus der offiziellen römischen Linie. Inzwischen wurde ein slowakischer Priester der Häresie bezichtigt und vor seinen Bischof zitiert, weil er eine solche Diskussion begrüßte.
Wie will Müller seine Position begründen oder erklären? Auch wer seinen abstrakten Beweisgängen nicht folgen kann, versteht schnell seine Absicht; seine apodiktische Wortführung sagt schon alles. Zwar nennt er den unbotmäßigen Theologen nicht einen »Parasiten« wie vor kurzem reformwillige Gruppen, aber die Vorwürfe gegen Kraus sind ungleich härter: Er stelle den geoffenbarten Willen Jesu in Frage, beschädige die moralische Integrität des Lehramts, missachte das offizielle Urteil des Papstes und der gesamten Glaubenskongregation. Er stelle sich über die Lehrkompetenz der Kirche und schalte das »dogmatische Gewicht der apostolischen Tradition« aus. Das ist starker Tobak. Müller führt sich auf, als hätte Kraus die Grundfesten von Kirche und christlichem Glauben erschüttert. Dabei will er ihr nur aus einem gefährlichen Engpass helfen, in den Rom sie unnötig manövriert hat.
Wie aber kommt es zu dieser vulkanischen Eruption und warum spielt der Regensburger plötzlich den gesamtrömischen Großinquisitor? Ein wichtiger Grund ist wohl die Nervosität, die sich unter römischen und deutschen Purpurträgern angesichts unbotmäßiger Theolog/Innen und Katholik/Innen ausbreitet. Da argumentieren diese Gläubigen doch immer selbstbewusster und mit wachsender Kompetenz; Bischöfe werden öffentlich ausgebuht. Mit dem Totschlagargument, die Kirche sei eine göttliche Institution, dringen sie nicht mehr durch.
Doch an diesem Punkt beginne ich auch, die Bischöfe zu verteidigen. Nicht ihre persönliche Sturheit macht sie so unbeweglich, sondern ihr Gewissen. Sie sind nämlich einer Theologie verpflichtet, die in Sachen Kirchenstruktur im Jahre 1962 stehen geblieben ist. Konzil hin oder her, sie haben nichts dazugelernt, denn vom Geist dieser Kirchenversammlung haben sie nichts begriffen und der Papst, der das Image eines tiefschürfend spirituellen Denkers pflegt und behütet, tut alles, um die konziliaren Sprengsätze zu entschärfen. Kurz: Wie in einem Hamsterrad bleibt die Hierarchie in neuscholastischen Konstrukten hängen, die rationalistisch formatiert und perfekt immunisiert sind gegen Schrift und Geschichte, gegen die Moderne und die Fragen einer Welt, die gerade aus den Fugen gerät. Defensiver und ichbezogener als dieses System es tut, lässt sich nicht argumentieren und verächtlicher gegenüber der Glaubensgemeinschaft kann man kaum agieren.
»Ich will die Kirche hören«: Wie die Neuscholastik funktioniert
An wenigen Gesichtspunkten sei das Grundproblem erklärt: Wie funktioniert das lehramtlich neuscholastische Denken des Bischofs und Theologen Müller? Folgende Prinzipien prägen seine Positionen:
Bevor er sich bestimmten Lehrinhalten zuwendet, schafft er Klarheit über die formalen Rechte der Kirchenleitung: Es gibt in der Kirche eine Instanz, die die göttliche Wahrheit untrüglich erkennen kann. Gemeint sind das Kollegium der Bischöfe bzw. der Papst. Wer aber die Wahrheit untrüglich erkennen kann, so die Folgerung, kann sie gegebenenfalls auch unfehlbar formulieren und dogmatisch festlegen. Diese dogmatischen Definitionen funktionieren wie die Urteile eines Gerichts und unter bestimmten Umständen arbeitet deren letzte Instanz (Konzil oder Papst) wie ein Oberstes Gericht (Kassationsgericht), das keine Berufung mehr zulässt und zulassen kann. Mit gutem Grund müssen Revisionsversuche ins Leere laufen. Denn einmal gefällt, ist ein solches Urteil aus sich heraus irreformabel und unfehlbar, so die Unfehlbarkeitsdefinition von 1870.
Zwar wird diese Konstruktion immer wieder mit dem Argument verteidigt, in dieser Weise lasse sich nur eine schon überlieferte apostolische Wahrheit dogmatisieren und damit sei jede Willkür ausgeschlossen. Was aber zur apostolischen Wahrheit gehört, bestimmt allein diese Letztinstanz selbst; dazu zählt für Rom auch die Himmelfahrt Mariens, nach der man im Neuen Testament erfolglos suchen wird. Zudem müssen an diesem System kritische Rückfragen und besänftigende Auslegungen abprallen, denn sie hat sich selbst als unfehlbar definiert und schreibt – in einem klassischen Zirkelschluss – auch dieser Definition eine unfehlbare Geltung zu; weder Papst noch Konzile können sie zurücknehmen. Je nach eigenem Standpunkt sitzt man also in der Falle oder man fühlt sich unangreifbar und dokumentiert dies in einem absolutistischen Rechtssystem. Für Müller gilt Letzteres. So braucht er zum Ordinationsverbot von Frauen nur noch dies eine darzulegen: Nach Überzeugung des »Lehramts« entspricht es einer unfehlbaren Lehre, deshalb sind – wiederum unwiderruflich klar – weitere Diskussionen sinnlos.
Wie Müllers Artikel illustriert, muss ein Lehramt dieses Zuschnitts nur noch die Durchsetzung seiner eigenen Autorität durchpeitschen; denn wer diese anerkennt, übernimmt automatisch das Gesamtpaket der »kirchlichen« Wahrheit. Also ist für Müller und seine Kollegen ein Disput über Glaubenswahrheiten uninteressant, deren Verbindlichkeit festgelegt ist. In einem vorkonziliaren Kirchenlied haben wir gesungen: »Fest soll mein Taufbund immer stehen, ich will die Kirche hören!« Der Glaube wird auf Amtsgehorsam reduziert. Damit tritt die Kirche (sprich: das kirchliche Lehramt) distanzlos an die Stelle von Schrift und Offenbarung; genau genommen ist das Blasphemie. Die Gegenseite kehrt diese Erkenntnis in tollkühner Weise um. So erklärt Kardinal Marx aus München: Wer glaubt, über verbindliche Lehren noch rechten zu können, verwechselt die Kirche mit einem demokratisch organisierten Fußballclub.
Dieser blasphemische Autoritarismus ist der Grund für Müllers Schwarz-Weiß-Argumentation in Sachen Frauenordination: Wer für sie eintritt, stellt sich über das Lehramt, die Kirche und die göttliche Offenbarung. Zugleich hebelt Müller den Stellenwert eines allgemeinkirchlichen Glaubensbewusstseins und die Funktion der Theologie aus. In einem frühen Stadium der Meinungsbildung dürfen sie vielleicht noch mitreden. Sobald aber das Lehramt gesprochen hat, mögen sie, bitte schön, den Mund halten. Für die da unten tritt dann eine »Unfehlbarkeit im Hören« in Kraft. Theologen können das Dogmatisierte höchstens noch verteidigen und mit einigem Weihrauch umkränzen. Dies ist der neuscholastisch-theologische Grund dafür, dass sich einige Bischöfe überhaupt vehement gegen einen Dialog auf Augenhöhe wehren und 2011 alle Postulate sofort als »nicht verhandelbar« abservierten. Wie die Lehrer des alten Frontalunterrichts würden die Lehrbefugten ja ihre Aufgabe vernachlässigen, wenn sie mit jeder und jedem einfach redeten. Punktum, die Kirche ist keine Quasselbude.
An einer Schlüsselstelle seines Artikels bringt Müller die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (Nr. 25) ins Spiel. Zwar ist seine Behauptung Unsinn, Kraus mache das »authentische Lehramt« zum Ausführungsorgan führender Theologen und Laiengremien. Aber er kann nicht anders reagieren, denn Vertreter dieser durch und durch autoritären Doktrin denken eben in Kategorien von Befehl oder Gehorsam, Über- oder Unterordnung, Ergebenheit oder Destruktion. Dennoch ist dieser Konzilstext für die Zwecke eines Lehramtsverteidigers sehr wertvoll. Er hat in der Unfehlbarkeitsdoktrin ja eine Lücke geschlossen, die früher zumindest noch undicht war. Im entsprechenden Abschnitt steht zu lesen, unfehlbar sei auch eine Lehre, die von den Bischöfen über einen längeren Zeitraum hin eingeschärft wird, auch wenn diese über die Erde verstreut sind. Wie erinnerlich, traf das schon für das Verbot künstlicher Geburtenregelung zu, an dem Rom trotz massiven Autoritätsverlusts bis heute festhält: Kein Bischof erlaubte je die künstliche Geburtenregelung (die es früher nicht gab). Und genau derselbe Tatbestand trifft für das Verbot der Frauenordination zu (die lange überhaupt nicht gefordert wurde). Schon vor den hinzugefügten Verlautbarungen war Roms Unfehlbarkeitsargumentation wasserdicht.
Wo soll die Kritik ansetzen?
Dass Georg Kraus und seine kenntnisreichen Gewährspersonen diesen Tatbestand bei ihren Argumentationen übersahen, mag erstaunen. Denn darüber zu diskutieren, wie sehr ein römisches Diskussionsverbot (1995) bindet, wird vor diesem Hintergrund zum Streit um des Kaisers Bart. Zu Recht gingen Glaubenspräfekt und Papst damals davon aus, dass es nicht mehr zu definieren ist. Sie mussten nur darauf hinweisen, dass die Angelegenheit schon längst geregelt ist. Dass Müller dies klarstellte, geschah – aus seiner neuscholastisch rationalistischen Perspektive gesehen – mit vollem Recht.
Darf über das Verbot der Frauenordination also wirklich nicht mehr diskutiert werden? Doch, um der Sache willen muss darüber diskutiert werden, denn genau besehen hat auch die offizielle Argumentation ihre Lücken. Wie die internationale Priesterinnenbewegung (RCWP) mitteilt, gibt es heute etwa 130 ordinierte katholische Frauen, die an verschiedensten Orten ihren Dienst ausüben. In der ehemaligen Tschechoslowakei hat der visionäre Bischof Davídek – vermutlich 1970 – an vorderster Front drei Frauen ordiniert. Die Einmütigkeit der über die Welt verstreuten Bischöfe war also nur bedingt gegeben. Ungeklärt ist ferner die Frage, von welchem Moment an es eine solche Einmütigkeit (die ja an Hand einer neuen Fragestellung erst entstehen muss) wirklich gibt, geben konnte; darüber hat Rom noch nicht nachgedacht.
Aber das sind nicht die entscheidenden Stolpersteine. Meine Folgerung aus der Diskussionslage lautet: Nicht das isoliert betrachtete Ordinationsverbot ist zu diskutieren, damit kommen wir nicht weiter. In Frage zu stellen ist vielmehr die ganze unbiblische, autoritäre, antimodernistisch geprägte Lehramts- und Unfehlbarkeitskonstruktion. Sie spricht dem Geist der Evangelien Hohn, verachtet die kirchliche Gemeinschaft und reißt die genannte Konzilsaussage aus ihrem Zusammenhang.
Damit wird ein ernstes Problem angesprochen. Gemessen an theologisch haltbaren Kriterien und nach rasant wachender Überzeugung in unseren Gemeinden haben die Bischöfe in ihrer Gesamtheit ihre Leitungsfunktionen massiv ausgehöhlt, ihre Lehrautorität verspielt und besser als alle Romkritiker die Unhaltbarkeit ihrer Ideologie bewiesen. 45 Jahre lang haben sie sich, von ihrem Herrschaftsmythos irregeleitet, der innerkirchlichen Erneuerung verweigert, sich in kirchlichen Kernfragen um keine biblisch orientierte Theologie bemüht und die Stimme der Gläubigen missachtet. Durch den massiven Druck eines autoritären Papstes war der römisch-katholische Kirchenapparat vor 140 Jahren in die Unfehlbarkeitsfalle getappt. Wie will sie ohne Bekehrung und ohne epistemologischen Bruch aus dieser absurden und destruktiven Selbstfixierung wieder herauskommen? Sie hat die Jahre des Zweiten Vatikanums dazu ebenso wenig genutzt wie die Grundsatzdebatte, die Hans Küng 1970 in Gang setzte. Damals hoffte man, man könne das lästige Problem durch hermeneutische Überhöhungen entschärfen und mit einem Bauernopfer aus der Welt schaffen. Danach wurde die Unfehlbarkeit zum Tabuthema. Allmählich wird klar, welch hoher Preis dafür zu bezahlen war.
Aber es bleibt eine Chance: Wir Gemeinden nehmen unsere Geschicke selbst in die Hand und erlauben uns – auf Grund der Schrift, der frühen Traditionen und der gegenwärtigen Nöte – über die Autorität unserer Bischöfe ein ungeschminktes Urteil. Wir behaupten nicht, wir stünden über ihnen, und wir sehen wohl, wie behutsam die Struktur einer Weltkirche zu verändern ist. Aber die Frage, wie legitim eigentlich ihre Amts- und Funktionsansprüche sind, muss gestellt werden. Es reicht nicht mehr, systemimmanente Reformen anzumahnen. Das römisch-katholische System selbst steht auf dem Prüfstand.
Wir erinnern uns unserer Schriftkenntnis: Der berühmten und reichlich strapazierten Binde- und Lösevollmacht des Petrus (Mt 16,18) stellt derselbe Matthäus die Binde- und Lösevollmacht der Gemeinde (Mt 18,18) gegenüber. Purpur hin oder her, wie wollen die Bischöfe ihre Autorität denn inhaltlich legitimieren, Gemeinden nach eigenem Gutdünken installieren und ausradieren? Wir sollten bei den Altkatholiken und den Protestanten zur Schule gehen, indem wir endlich einen Dialog aus eigener Kompetenz führen. Sollten sich die Bischöfe daran beteiligen wollen, sind sie herzlich eingeladen. Biblisch gesehen beginnt so wirkliche Katholizität. Gemäß einer Pressemeldung vom 8. Juni 2012 forderte die Initiative Kirche von unten (Ikvu) den Rücktritt von Bischof Müller als Ökumene-Beauftragter der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Dafür gibt es hinreichende Gründe. Allerdings ist hinzuzufügen: Unter den gegenwärtigen Umständen ist das gesamte römische System nicht mehr ökumenefähig. Nach wie vor spaltet es die Christenheit.
Hermann Häring, geboren 1937, ist katholischer Theologe und emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie und Theologie im niederländischen Nijmegen. Häring, der seit Jahren auch als wissenschaftlicher Berater im Projekt »Weltethos« engagiert ist, lebt heute in Tübingen. Er arbeitet eng zusammen mit dem Konzilstheologen und Gründer der Stiftung Weltethos, Hans Küng.
(Publik Forum online vom 20.06.2012)