Verantwortung für eine menschlichere Zukunft

Aktuelle Überlegungen zur globalen Weltgestaltung

Jetzt muss jedem verantwortlich Denkenden in der Branche selbst klar geworden sein, dass sich die internationalen Finanzmärkte zu einem Monster entwickelt haben, das in die Schranken gewiesen werden muss.“ (Horst Köhler im Mai 2008) Wie tun und wie können wir das?
Viele andere aktuelle Worte zu Zustand der Politik-, Ökonomie- und Finanzwelt ließen sich diesem Wort hinzufügen. Es ist in dieser schwierigen Situation der Mühe wert, über die Bedeutung der Verantwortung nachzudenken, die heute – in wachsendem Maße auf uns allen lastet. Es geht um die gemeinsame Verantwortung für eine menschliche Zukunft unseres Kontinents und der ganzen Welt. Gestatten Sie, dass ich diese Verantwortung heute nicht so sehr von ihren objektiven Inhalten, sondern von ihren subjektiven Bedingungen her analysiere.

Zunächst möchte ich Ihnen danken für die ehrenvolle Einladung, heute bei dieser feierlichen Zusammenkunft  zu sprechen. Sie haben mich als academic advisor der Stiftung Weltethos eingeladen. Gestern noch habe ich Herrn Prof. Hans Küng in Tübingen gesprochen. … Gerade liest er die Druckfahnen seines neuesten Buches, das am 6. September erscheinen wird und den Titel trägt: Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht. Dies ist ein wahrhaft aktuelles Thema. Gestatten Sie, dass ich heute versuche, einige Hintergründe auszuleuchten, die dieser brennenden Aktualität vorausgehen.

I. Die Situation

Ob es Schwarzmaler oder Realisten sind, will ich hier nicht beurteilen. In jedem Fall haben die Warner seit gut drei Jahren Hochkonjunktur. Die Angstszenarios häufen sich. Ist die Endzeit einer Epoche, ist der Zusammenbruch der Weltsysteme wirklich gekommen oder stolpern wir seit 1990 nur von Fehlalarm zu Fehlalarm? Sind die Kassandra-Rufe nicht übertrieben? „Von den vermeintlich großen Zerstörern“, schreibt NINA PRAUER[1] vor wenigen Wochen, „sind uns nur die Namen im Gedächtnis geblieben. Sie hießen internationaler Terrorismus, Linkspartei, Facebook, Schweinegrippe oder Finanzkrise. Am Ende“, so ihre Folgerung, „hat uns keiner auch nur ein Haar gekrümmt. Niemand hat uns in die Luft gesprengt. Das Internet hat ebenso wenig unsere Seelen gestohlen, wie unsere Körper von mutierten Viren dahingerafft worden sind. Und aus dem EC-Automaten kamen immer ein paar Scheine.“ Zwar schreibt die junge Autorin das mit Hintersinn, wie wir noch sehen werden. Doch ich antworte ihr vorläufig: Wenn das alles so einfach wäre, dann ginge ich gerne mit ihr in den Sommerurlaub an den Strand von Mykonos. Denn dort, so schreibt sie, „werden die Sorgen von heute längst verschwunden sein. Vergessen im Endlager der falschen Alarme, wie alle anderen Bedrohungen der letzten Jahre.“

Wenn das nur so einfach wäre! Die Alarmsignale werden ja komplexer und intensiver; sie rücken uns auf den Leib. Politische Systeme Europas werden instabil: Instabil wird das Staatsgebilde Belgiens, und die interkulturelle Balance der Niederlande gerät in den Strudel. In Hessen und in Nordrhein-Westfalen bringen Wahlen keine politische Klärung. Ministerpräsidenten treten offensichtlich aus Perspektivlosigkeit zurück. Ein Bundespräsident, der unser aller Respekt verdiente, gibt auf und hinterlässt bohrende Fragen. Die Berliner Regierung zeigt, so der allgemeine Eindruck, Symptome der Überforderung. Angesichts eines hochkomplizierten Umfelds mag man dafür ja Verständnis haben. Denken Sie an die EU und die Euro-Krise, an unsere desintegrierte Weltwirtschaft und an die Kernschmelze unseres globalen Finanzsystems, die noch nicht überwunden ist. Niemand weiß, das in eine Jahr der Fall sein wird. Doch gerade deshalb erwartet unsere Bevölkerung eine verlässliche Führung, die Handlungsprinzipien kennt, diese offen legt und verantwortet. Die allgemeine Frage lautet: Worauf und auf wen können wir uns verlassen?

Verlässlichkeit ist zu einem Sehnsuchtswort der Bevölkerung geworden. Zuletzt haben dies die Diskussionen zur Wahl des Bundespräsidenten am 30. Juni gezeigt. Diese Verlässlichkeit ist vom Schlachtruf „Keine Experimente!“ aus den 60er Jahren zu unterscheiden. Denn inzwischen wurden nicht nur die Inhalte, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen unseres Lebens schon zum Experiment. Ein risikofreies öffentliches Handeln ist unmöglich geworden. Aber wir wissen auch: Die schweren Erdbeben, die unsere Systeme erschüttern, entstanden nicht einfach aus Fehleinschätzungen und handwerklicher Schlamperei, sondern aus einem schleichenden Orientierungsdefizit, wenn nicht gar aus dem Mangel an Handlungsstandards, die ethisch verankert und in unserer Gesellschaft gemeinsam akzeptiert sind.

Dabei sind nur moralisch verlässliche Instanzen vertrauenswürdig. Gewiss, ohne Sachkompetenz nützen auch ethische Standards nichts und zu oft stößt die Rede von der Gier der Finanzmanager, dem Machtwillen der Politiker oder dem Fachidiotentum der Wissenschaftler ins Leere, weil ihr keine Inhalte folgen. Aber auch viele Fehleinschätzungen entspringen dem Leichtsinn und der Überheblichkeit, wie zuletzt die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko gezeigt hat. Wen nur die kurzfristige Gewinnausschüttung interessiert, den interessieren, wie bekannt, eben nicht mehr die Folgen seines Handelns für die Arbeitnehmer oder für Entwicklungs- oder Schwellenländer, seien es Usbekistan oder Darfur, der Iran oder Somalia. Nicht dass allenthalben Korruptionsgelder fließen, ist unser Problem, sondern dass sie unentdeckt bleiben und langfristig die Spielregeln des Marktes ruinieren. Man weiß natürlich um moralische Regeln, aber oft wirken sie wie lästige, rational kaum begründbare Zwänge aus der Kindheit. Nichtssagend beschwören wir dann „Orientierungen“, „Normen und Werte“ oder unsere „Leitkultur“, was das auch immer sei. Konkreter wird der Diskurs unter solchen unreflektierten Bedingungen aber nicht. Selbst in religiösen Institutionen lässt sich dieser Verantwortungsmangel, dieses Wegschieben und Vertuschen beobachten, wie wir seit vergangenen März mit Entsetzen etwa bei der katholischen Kirche lernen mussten. Dies scheint aber auch andere Verantwortungs- und Eliteinstitutionen zu betreffen. Ich nenne nur die lange respektierte, konkret aber verschwiegene Heimerziehung in der Nachkriegszeit, den Leistungssport, der lange in endlose Dopingfälle verstrickt war und hoffentlich nicht mehr ist, oder die Odenwaldschule und die Ideale der Reformpädagogik.

Die Vertrauensverluste reichen also tief und erhalten immer neue Nahrung. Dabei vergessen wir gerne, dass diese Krisenstimmung in unserer Kulturgeschichte viel tiefere Wurzeln hat. Der Pessimismus reicht weit zurück. Was ist da ins Ungleichgewicht geraten?

Ich nenne drei Beispiele:
* Schon im Jahr 1881 verkündet F. NIETZSCHE (1844-1900) zum Schrecken aller Frommen und Idealisten den Tod Gottes.[2] Dies war keine religions- oder christentumskritische Prophetie, sondern eine breit angelegte, vernichtende werte- und kulturkritische Diagnose. „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“ Der Pastorensohn griff eine innerlich marode Kultur an, die schließlich in einem selbstgefälligen Nationalismus mit zwei Weltkriegen endete.
* 1918/22 erschien O. SPENGLERs Untergang des Abendlandes[3], das ebenfalls zu einer bemerkenswerten Ambivalenz führte. Zu Recht betonte Spengler, es ginge ihm um die Vollendung des Abendlands. Aber die herrschende Grundstimmung kam zu pessimistischen Folgerungen. Offensichtlich war ein unaufhörlicher Erosionsprozess in Gang gekommen und er selbst konnte ihn nicht leugnen.
* Die ungemein fruchtbare Stilrichtung des Expressionismus schöpft zum Jahrhundertbeginn seine Kraft aus einem vergleichbaren Zwiespalt. Man erstrebt neue Direktheit und Natürlichkeit, einen heilsamen Aufbruch. Massiv werden die herrschenden Tugenden des Bürgertums, die destruktiven Auswirkungen der fortschreitenden Industrialisierung kritisiert. G. HEYM (1887-1912) spricht in seinem berühmten Gedicht vom „Gott der Stadt“ schon ganz säkular, aber voll bedrohlicher Metaphern von diesem „Gott“, der schon lange kein Gott mehr ist, sondern voll Wut in die Einsamkeit schaut, vor dem die Städte mit ihren Rauchschloten niederknien, der die Nacht betäubt, Stürme wie Geier flattern lässt und die Menschen mit seiner „Fleischershand“ schüttelt. „Ein Meer von Feuer jagt / durch eine Straße. Und der Glutqualm braust / und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.“[4] Natürlich kann man dieses Gedicht als massive Zivilisationskritik und als Prophetie für den Ersten Weltkrieg lesen, der in wenigen Jahren losbricht. Aber es wendet sich auch gegen eine Menschheit, die diesen Weg ins Unmenschliche zulässt, also die Industrialisierung unmenschlich gestaltet. Schon damals herrscht der Eindruck, unsere traditionelle Ethik könne die neuen Herausforderungen nicht mehr schultern. Angst schon damals, und schon damals hat man wohl zu oft übersehen, dass eine Ethik sich mit den Verhältnissen entwickeln und an deren Herausforderungen wachsen muss.

Lange hielt man 1945 diese Intuition des umfassenden Niedergangs für abgeschlossen. Damals war Deutschland zerstört und wir hatten eine bittere Rechnung bezahlt. Im Nachkriegsdeutschland glaubten wir lange, wir hätten unseren grausamen Verlust an Moral mit dem Ende des Nationalfaschismus überwunden. Dafür gab es Gründe, denn an sich sind die politische Ordnung und die Rechtsgestaltung der jungen BRD vorbildlich. Erst in den 60er und 70er Jahren beginnen wir, gezwungen durch den Protest junger Menschen, uns unserer Vergangenheit wirklich zu stellen. Doch schon in den Nachkriegsjahren beunruhigt uns der ungeliebte und doch faszinierende französische Existentialismus eines J.-P. SARTRE (1905-1980) und A. CAMUS (1913-1960), später von SIMONE DE BEAUVOIR (1908-1986). Wieder bricht der Zwiespalt zwischen Absicht und Rezeption auf. SARTRE will seine Philosophie ja durchaus positiv verstanden wissen: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ schreibt er programmatisch[5]. Dennoch nehmen wir seine Philosophie als einen Nihilismus wahr, dem wir – als Christen oder Idealisten, als aufgeklärte oder als naturwissenschaftlich orientierte Zeitgenossen – lange nichts Positives abgewinnen können. Sie alle kennen SARTRES Meisterstück „Geschlossene Gesellschaft“ mit seiner zentralen Aussage: „Die Hölle, das sind die Anderen“. Solche Aussagen lehnen wir damals wegen seiner nihilistischen Tendenzen prinzipiell ab. Ist aber diese Aussage angesichts der Handlung falsch, in der eine Mörderin, eine Egomanin und ein unaufrichtiger Feigling zusammenkommen und miteinander leben? Offensichtlich fehlt einer ganzen Generation der Mut zu diesem hoffnungslosen Realismus, den Sartre im Paris des Widerstands gelernt und philosophisch verarbeitet hat. Wir waren nicht ehrlich genug, um diese Erkenntnis als Teil unserer Wirklichkeit anzuerkennen. Ich erinnere mich an zwei buddhistisch inspirierte Installationen von BILL VIOLA (The Crossing), in denen ein Mensch einmal im Wasser, dann im Feuer vergeht. Nach der Feuerprobe des Faschismus hatten wir uns der wahren, der noch ausstehenden, von innen her reinigenden Wasserprobe offensichtlich nie umfassend gestellt. Erich KÄSTNER (1899-1974) hat diese Halbherzigkeit ironisch entlarvt:

Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
‚Herr Kästner, wo bleibt das Positive?’
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt. …
Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen,
gescheit und trotzdem tapfer zu sein.
Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,
mit der ihr das trockene Brot beschmiert.
Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:
‚Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!’
Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben.
Im Osten zimmern sie schon den Sarg.
Ihr möchtet gern euren Spaß dran haben … ?
Ein Friedhof ist kein Lunapark.

Die Zeugen der Warnung, immer wieder verdrängt, ließen sich fortsetzen. TH. W. ADORNO (1903-1969) erklärt, schockierend und verzweifelt zugleich: „Wahr ist nur, das nicht in diese Welt passt“[6], und in bewusster Anlehnung an NIETZSCHE konstatiert der Franzose M. DE FOUCAULT 1963 den „Tod des Menschen“. Der Mensch verschwinde „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“[7]. Gewiss, de Foucault redet nicht als Ethiker oder Moralist, sondern als ein Historiker, der den wachsend prägenden Einfluss der Naturwissenschaften auf unsere Kultur beobachtet, und der mit großer Sensibilität konstatiert: Immer weniger interessieren wir uns für den Menschen, wie wir es in der Tradition humanistischer Aufklärung lernten. Wir interessieren uns für seine naturalen und materiellen, für seine neurologischen und kybernetischen Grundlagen, gemäß den explosiv aufblühenden Wirtschaftswissenschaften für den Menschen als Objekt eines gewinnbringenden Marktes. Wo bleibt hinter all diesem Berechenbaren der Mensch selbst?

Doch die Destruktion der humanen Lebensräume schreitet weiter voran und erneut reagiert das philosophische Denken. Es führt zu den postmodernen Theorien, etwa von J.-F. LYOTARD (1924-1998)[8]. Ihm zufolge ist die Epoche der Moderne endgültig abgelaufen. Bald wird „Postmodernismus“ für viele zum neuen Schimpfwort. Man sagt, das sei die Haltung des anything goes, in dem alles zugelassen ist. Aber auch LYOTARD will eben nicht die „großen Erzählungen“ der Tradition – gemeint sind der Idealismus, der Historismus und die Aufklärung – zerstören, also die Regeln der Rationalität nicht einfach ins Unrecht setzen. Aber er analysiert deren Grenzen und zeigt, wohin ihr Alleinvertretungsanspruch geführt hat. Kritisiert wird eine Rationalität, die emotionale und moralische Werte übersieht und sich von den Regeln des Messens und der Bürokratie zermürben lässt, am Ende selber inhuman wird, weil sie sich der westlichen Herrschaftsideologie mit all ihren unmenschlichen Folgen unterwirft.

Stehen wir also auf verlorenem Posten? Nun, wir kennen die wohlmeinenden Politiker und Wirtschaftsführer, die immer wieder versuchen, die Folgen der Herrschaftsrationalität zu mildern. Vielleicht gehören wir selbst zu ihnen. Nein, ungerecht wäre die Behauptung, dass auch unsere Eliten einfach das Geschäft des Inhumanen betreiben. Denn natürlich versuchen sie, unsere menschlichen Lebensräume zu erhalten, vor Missbrauch zu schützen und zugleich den neuen gigantischen Herausforderungen anzupassen. Aber auch keine Politiker- oder Wirtschaftselite kann leugnen, dass der politische Einsatz für eine human gestaltete Zukunft immer schwerer wird. Wir brauchen immer komplexere und intelligentere Lösungen. Wo sind die Diskurs- und Legitimitätsräume des Menschen und des Menschlichen heute noch angesiedelt? Natürlich können wir die großen Themen unserer Politik immer noch als Fragen nach dem Wohl von Mensch und Gesellschaft formulieren. Aber konkret drohen diese Debatten an Parteienperspektiven, an Steuerspezialitäten, an Standortinteressen zu ersticken.

Situationsbeschreibungen also, Situationsgefühle, allgemeine Stimmungen, von denen wir irgendwie alle betroffen sind und gegen die wir uns gleichzeitig wehren. Ich spreche hier nicht als der kompetente Fachmann in Sachen Politik, Ökonomie oder Bildung. Ich registriere nur, wenn Sie so wollen, die schwierige Lage und möchte zeigen, wie tiefgreifend und wie lange sie schon unsere gesellschaftspolitischen Debatten bestimmt. Diese Debatten begannen ja recht abstrakt, philosophisch sozusagen, als Grundfragen einer Weltanschauung, sorgfältig vom Tagesgeschäft ferngehalten. Doch inzwischen sind sie uns als konkret bedrohliche Tagesfragen auf den Leib gerückt. Die Fragen nach einer Neuarchitektur von Weltökonomie und Weltpolitik, von Klimawandel und den Globalisierungsprozessen mit all ihren weltweiten und lokalen Auswirkungen, die darin eingeschlossenen Fragen nach den Folgerungen für ein menschenfreundliches und friedensförderndes Handeln. Die simple Frage: Wir können wir anständig wirtschaften, eine qualifiziere Politik konzipieren und die Finanzwelt angemessen kontrollieren? Das sind gerade keine Eintagsfliegen, in den Medien alarmistisch hochgejubelt und ebenso schnell wieder vergessen. Es sind die schon lange vorbereiteten und identifizierten Kernfragen des begonnenen Jahrhunderts. Heute können wir ihnen nicht mehr ausweichen. Es ist die überfällige Frage, die uns alle umtreibt: Wie können wir für die gesamte Menschheit eine neue, gemeinsame Zukunft konzipieren, formulieren und gestalten?

Es ist überdies eine Sorge, der sich – wie ich manchmal fürchte – eine nachwachsende, mit soviel Geborgenheit und Verständnis aufgewachsene Generation erneut entziehen möchte, wie die genannte NINA PAUER sagt. Diese neue Generation der Wohlbehüteten, der international Engagierten, zwischen Silicon Valley und Shanghai Pendelnden, sie gibt sich als die Generation der Macher. Sie will ihr Pokerface noch nicht fallen lassen um zuzugeben, dass auch sie Angst hat und die Lösungen nicht kennt. Umso wichtiger scheint mir, dass die Vorgängergenerationen, zu denen wir gehören, die Debatte offen und kritisch vorantreiben. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben wir nicht nur das Ende der großen Ideologien erlebt – hoffentlich auch das Ende der Nationalismen und der Rassismen -, sondern wir erleben auch eine neue Unbefangenheit zum Dialog über die Gräben der Kulturen, der Religionen und der Ideologien hinweg. Wir wissen auch: Wir müssen es tun, wenn wir nicht dem prophezeiten Clash of Civilizations erliegen wollen.

Können wir aber sicher sein, dass uns dafür die notwendigen Instrumente zur Verfügung stehen?

II. Projekt Weltethos

Die Zeit für diesen neuen weltweiten Diskurs ist reif und erste Handlungsmodelle liegen vor. Man kann dies an der Erfolgsgeschichte des „Projekts Weltethos“ ablesen, das seit den 80er Jahren vornehmlich von Hans Küng entwickelt wurde und heute in die „Stiftung Weltethos“ eingebettet ist. Küng hat seine Ideen ja nicht aus freien Stücken lanciert, sondern Fragen aufgegriffen, die zuvor schon in Politik und Wirtschaft lebten. 1989 organisiert die UNESCO in Paris mit ihm ein Symposion zum Thema „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“. 1990 spricht Küng zum ersten Mal vor dem World Economic Forum in Davos zur Frage weltweiter ökonomisch ethischer Standards, ohne die ein Überleben der Menschheit unmöglich ist. 1993 entsteht ein großes Grundsatzdokument, das der 2. Weltkongress der Religionen in Chicago verabschiedet. 2009 erscheint schließlich das Manifest[9] zu einem globalen Wirtschaftsethos als das vorerst letzte Glied einer Kette von Erklärungen[10]. Bald ist klar: Nicht nur Politik, Ökonomie und Wissenschaften müssen endlich global zusammenarbeiten, wenn wir die Zukunft retten wollen, sondern auch die großen kulturellen Kräfte der Welt, die sich bislang auf ihre kulturellen Provinzen beschränkten. Wir brauchen weltweite Dialoge zur Frage: Was sind denn die zentralen Werte, Orientierungen und Standards, die unsere Kulturen leiten? Auch die Religionen, diese mächtigsten und wirksamsten Moralagenturen der Welt, müssen sich für diesen Austausch endlich öffnen. Sie müssen an einem vielfältigen Netzwerk transnationaler Übereinkünfte mitarbeiten, die sich auf diese minimalen Standards beziehen bei Individuen und Nationen, Politiken und Rechtssystemen, Wissenschafts- und Finanzwelten, den Leitbildern von Berufen und Unternehmen. Für alle Sektoren gesellschaftlichen Handelns brauchen wir inhaltliche Programme, die dem hippokratischen Eid vergleichbare Funktionen erfüllen.

Neu ist dabei die Vitalisierung verschiedenster Diskursebenen, die einen wirklichen Austausch ermöglicht, seien es in Weltanschauungen und Religionen, Wissenschaften, internationalen politischen oder ökonomischen Gremien, die ja alle ihre interkulturellen Fragen zu lösen haben. Neu ist zugleich die Erkenntnis, dass sich diese neue Ethik nicht auf hohe internationale Begegnungs- und Verhandlungsebenen beschränken darf. Es geht um keine Eliteethik der Globetrotter. Vielmehr muss diese Ethik vor Ort, in den Familien und Kommunen, in Schulen und auf Spielplätzen, bei den Kleinen in unseren Kitas beginnen.

Genau hier liegt für viele im Gespräch mit den Religionen der kritische Punkt, an den sich in den westlichen Kulturräumen bislang viele nicht heranwagten: Wir leben in einer säkularisierten Epoche und die Rahmenbedingungen der aktuellen Globalisierung sind allesamt säkularer Art. Das ist zwar richtig. Aber genau dies erschwert den Austausch nicht, sondern erleichtert ihn. Denn unter säkularen Voraussetzungen müssen wir die Religionen (die christliche eingeschlossen) nicht auf ihre innerreligiösen Sprachregelungen hin ansprechen, die oft hermetisch versiegelt sind. Vielmehr können wir sie begreifen in ihren säkularen, also kulturellen, politischen und ökonomischen Orientierungen und Wirkungen. Auf diesem Weg können wir allemal interessante Antworten finden: Was sagen sie über Mensch und Zusammenleben, was über die Zukunft der Menschheit? Welche Werte und orientierende Normen haben sich in ihren Innensystemen schon seit Jahrtausenden entwickelt? Wie können sie untereinander mit der säkularen Welt ins Gespräch kommen?

Es ist ja nicht zu übersehen: Diese neue Fragestellung führt zu einer massiven Entmythisierung alter religiöser Selbstansprüche, die oft genug Intoleranz und Gewalt legitimiert haben. Zugleich aber verhilft sie dazu, die positiven Kerne alter Religionen neu und so freizulegen, dass wir sie heute neu verstehen können. Über diesen Interpretationsweg zeigt sich seit nahezu 20 Jahren ein erstaunlicher Konsens der großen Religionen und Kulturen, der nichtreligiöse Weltanschauungen in erstaunlichem Maße mit einschließt.

Vier zentrale Konvergenzpunkte werden in vorliegenden Dokumenten (mit jeweils verschiedenen Akzentsetzungen) herausgearbeitet:
(1) Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben,
(2) Gerechtigkeit und bedingungslose Solidarität,
(3) Wahrhaftigkeit und Toleranz,
(4) gegenseitige Achtung und Partnerschaft, insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Zusammenhalt der Starken und der Schwachen.
Weitere Konsense zeichnen sich ab, so etwa ein nachhaltiger Umgang mit dem Klima, den Lebens- und den geologischen Ressourcen der Erde.
Diese Prinzipien sind zusammengefasst im alles steuernden
(5) Prinzip der Humanität oder der unverletzlichen Würde des Menschen. Sie hat sich in den großen Texten der Menschheit in Form der Goldenen Regel niedergeschlagen.

Zwar sind die genannten Prinzipien in den großen Weltreligionen einhellig präsent, doch bedürfen für den gegenseitigen Dialog keiner ausdrücklich religiösen Begründung. Denn inhaltlich sind die religiösen Ethiken selbst im Prinzip der Humanität verankert, auch wenn sie sich formal u. U. auf ein göttliches Prinzip berufen. Die Tragweite dieser Entdeckung lässt sich kaum überschätzen. Denn so können wir mit den Religionen auf eine säkulare Weise ins Gespräch kommen und sie auf gleicher Augenhöhe mit Philosophien, weltanschaulichen Entwürfen und Zukunftsprojekten vergleichen. Religionen fassen dies oft als Kritik an ihren religiösen Motivationen auf. Diese Angst ist aber unbegründet, denn dieser säkulare Dialog zeigt ja für alle, welch vernünftige, humane, durch und durch positive Impulse in den Religionen verborgen sind. Dies kann niemand kritisieren, dem eine kooperierende, friedensbereite, in Gerechtigkeit versöhnte Menschheit am Herzen liegt.

Bei diesem Vortrag hier weise ich vor allem auf den interkulturellen, den interdisziplinären und den prozessualen Ansatz des Projekts hin. Es hat zu ersten Entwürfen und Arbeitsprojekten geführt, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen kann[11]. Diese sind immer weiter auszubauen und in den verschiedenen Kulturräumen unterschiedlich zu konkretisieren. Kontakte mit den Handlungswissenschaften gehören zum Lebenselixier der Projektarbeit, Dialoge mit Weltanschauungen und Religionen zum wichtigsten Instrument für eine Breitenwirkung. Ziel ist nicht die Entwicklung einer neuen einheitlichen Ideologie, wohl aber die Schaffung von Diskussionsräumen, von Fragemodellen und Lösungsprofilen, die sich auf verschiedensten Ebenen vorantreiben lassen: in der Wirtschaft und in der Politik, in der Pädagogik und in humanwissenschaftlichen Disziplinen.
Zwei programmatische Veröffentlichungen sind hier besonders zu nennen:
(1) Das Manifest Brücken in die Zukunft (2001), das auf eine Initiative von Kofi Annan zurückgeht und konkrete Modelle für eine friedensfördernde Weltpolitik entwickelt, bis hin zum Modell einer Weltregierung[12].
(2) Das hochaktuelle Manifest Globales Wirtschaftsethos (2010), das konkrete Modelle zur Entwicklung und Durchsetzung eines nachhaltigen globalen Wirtschaftsethos entwickelt[13].

Das Projekt Weltethos geht nicht naiv vor. Die von mir genannten und andere Entwicklungen wurden gründlich durchreflektiert. Aber dieses Projekt agiert pragmatisch und arbeitet auf konkrete und wirksame Vorschläge hin. Diese sind vom existierenden Ethos der großen Religionen ebenso gedeckt wie vom humanen Impetus anderer weltanschaulicher Entwürfe. Das resultierende Ethos zählt. So lassen sich Begründungsdebatten weithin vermeiden; Realismus und Realitätssinn sind angesagt. Die Leitfragen lauten: Sind die großen Ziele wirklich begründbar und praktikabel? Strebt das Projekt nicht nach Gutmenschenart einer weltfernen Idylle, sondern einer handfesten Utopie nach? Lässt sich umgekehrt zeigen, dass ohne solche Minimalstandards die Menschheit ihre Minimalziele von Frieden und Gerechtigkeit verfehlt? Können wir wirklich die religiös ethischen Impulse für das Ziel des Weltfriedens und der Weltgerechtigkeit in der Tat mobilisieren? Um dieser Mobilisierung willen wird die Stiftung Weltethos auch keine weltweite Organisation gründen. Mehr Effektivität wird von einem Netzwerk unabhängiger Denk- und Organisationszentren erwartet, die über Kontinente und Länder verteilt sind und so flexibel reagieren können.

III. Kann ein weltethisches Denken und Handeln gelingen?

Gut und schön, möchten Sie vielleicht sagen: Es verhält sich mit dem Projekt Weltethos wie mit einer jeden Religion oder Erneuerungsbewegung: Sie alle sind nur so gut wie die partizipierenden Menschen. Können solche weltethischen Projekte überhaupt die Energien auslösen, die wir zur Erreichung ihrer Ziele benötigen? Wie können wir diesen Impulsen, deren Berechtigung ja niemand bestreitet, einen wirksamen, weltgestaltenden Schub verleihen? Wie können wir die Welt verändern?

Die aktuelle Gretchenfrage lautet ganz einfach: „Nun sag’, wie hast Du’s mit der Verantwortung? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du nimmst sie nicht so ernst.“ Ich versage es mir, Fausts Beschwichtigungen auf unsere Frage anzuwenden. Eine habituelle Selbsttäuschung ist allerdings zu entlarven: In einer hochdifferenzierten, medial verknüpften und extrem vernetzten Gesellschaft können wir keine großen politischen und moralischen Verantwortungspakete mehr an die klassischen Adressaten versenden, seien es politische, ökonomische oder religiöse Institutionen. Verwaltungsaufträge für Gewaltverhinderung und Weltversöhnung, für Menschenwürde und Vertrauensvorschuss, für Weltgerechtigkeit und Welterhaltung kämen als unzustellbar zurück. Hier ist nichts mehr zu delegieren, wenn es nicht hier schon begonnen hat. Gewiss, ein effektives Welthandeln setzt, um mit HENRY KISSINGER zu sprechen, eine Telefonnummer voraus. Aber ein weltweites Ethos kann nur im Rahmen partizipativer, kontrollierender und inspirierender Strukturen zur Wirkung kommen, nur von den unmittelbaren Trägern der Verantwortung internalisiert, erprobt und erfahren werden.

Je globaler also die Aufgabe der Weltgestaltung wird, umso unverzichtbarer ist die Kooperation einzelner Netzwerke von Individuen und vergleichbaren politischen, ökonomischen oder religiösen Gruppen. Der Anspruch ist in der Tat enorm. Ich denke an die Bürgerinnen und Bürger, die in allen Kulturen, auf allen Kontinenten, in allen Sektoren unserer Gesellschaften ihr Engagement, die Kraft ihrer Sachkenntnis und ihres Diskurses bereitstellen müssen. Doch wiederum brauchen wir in keinen Moralismus der erhobenen Zeigefinger zu flüchten. Denn spätestens seit Beginn der Neuzeit erhält das selbstverantwortliche Handeln des Menschen einen wachsenden Stellenwert. Es wird uns nicht aufgesetzt oder antrainiert, sondern wächst aus einem wachen Menschsein heraus. Selbst der Materialismus eines K. MARX (1818-1883) macht diese Lesart möglich. Denn schon er entdeckt im egoistischen Verhalten des Menschen die ganze Verantwortung für die selbstzerstörerischen Widersprüche einer Gesellschaft. Der in München lehrende Philosoph H.-M. SCHÖNHERR-MANN sieht schon in der Philosophie des 20. Jahrhunderts drei gemeinsame Grundsatzfragen wirksam[14]:
(1) Wie können wir miteinander leben lernen?
(2) Wie können wir den bisherigen Krieg der Weltbilder überwinden?
(3) Wie führt eine globale Kommunikation zu einer gemeinsamen Verantwortung?

Ich führe hier nicht die Liste der von SCHÖNHERR-MANN analysierten Philosophen auf[15], sondern belasse es bei nur wenigen Hinweisen. So können wir, wie schon gesagt, die genannten Nihilisten nicht sinnvoll kritisieren; sie heben ja höchst kritisch auf den praktizierten Nihilismus ihrer Gesellschaften ab. Ebenso wenig sollten wir etwa W. JAMES (1842-1910), Mitbegründer des Pragmatismus, oder R. RORTY (1931-2007), einen aufgeklärten Relativisten, als „pluralistisch“ denunzieren; denn sie suchen innerhalb des faktischen Weltpluralismus neue Wege der Kommunikation. Pragmatische Ansätze entstehen nicht aus Verzweiflung an der Wahrheit, sondern aus dem Willen, sich über ein gemeinsames Handeln zu verständigen. Ähnliches gilt für die Verantwortungsethik, über die der geniale MAX WEBER (1864-1920) schon 1919, also zu einer Zeit schreibt, da Deutschland mit gutem Grund an ihrer verhärtet rechthaberischen Ethik verzweifelte, da sie politisch mit der neuen Situation nicht mehr zu Rande kam. Gerade der schon genannte J.-P. SARTRE zeigt radikaler als andere, was damals im Paris der résistance kennen zu lernen war: In Extremsituationen ist ein jedes Individuum verantwortlich für sich, seine Umgebung und für die ganze Welt. Wenn für ihn die Hölle noch abstrakt die Anderen waren, dann sind heute die Hölle für viele die militärischen und die ökonomischen Mächte. Es ist eine Feststellung, die unsere Verantwortung neu aktivieren müsste. Von solcher Verantwortung können wir uns nicht absolvieren, ob wir es wollen oder nicht.

In Voraussicht genau dieser Situation haben Philosophen schon lange die Frage gestellt, wie eine weltweite Kommunikation überhaupt geschehen kann. So sieht schon K. JASPERS (1883-1969) Vernunft und Religion auf einer gemeinsamen Suche; er entdeckt im „philosophischen Glauben“ die Möglichkeit einer universalen, kulturübergreifenden Kommunikation[16]. H. KÜNG hat schon in den 70er Jahren, obschon damals als Theologe argumentierend, dem Grundvertrauen eine ähnliche, säkular universale Rolle zuerkannt.

Wir können – und müssen – heute also die Früchte einer langen Entwicklung ernten. Die Kernideen und Herausforderungen dieser universalen Verantwortung und Kommunikation lösen inzwischen die klassischen Differenzen zwischen aufgeklärt säkularem und archaisch religiösem Denken auf. Der bekennende Atheist E. BLOCH (1885-1977) etwa entpuppte sich vor gut 50 Jahren in seinem philosophischen Werk Prinzip Hoffnung als ein jüdisch religiöser Denker[17], der bekennende Zionist HANS JONAS hingegen in seiner Ethik Prinzip Verantwortung 20 Jahre später als säkularer Ethiker[18]. Er formuliert im Anschluss an I. KANT: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Genau darum geht es. Für beide ist klar: Wir können uns selbst nicht ausweichen, sondern sind uns aufgegeben. Religiöse Perspektiven entpuppen sich als weltliche und zutiefst weltliche Fragestellungen werden auf religiöse Hintergründe hin transparent. Mit der Verfügung über uns selbst beginnt unsere Verantwortung für die Welt. Für den jüdischen Denker E. LÉVINAS (1905-1995) ist unsere Verantwortung dem Antlitz der Anderen eingezeichnet. Erst mit dem Blick in das Antlitz des Nächsten, also erst mit diesem Spiel von Frage und Antwort, beginnt unser Menschsein. Das sind, wohlgemerkt, säkulare Positionen, aber so universal gültig, dass sich ihnen eine jede Religion von einigem Rang anschließen muss. Ich folgere daraus: Weltethisches Denken und Handeln kann über alle ideologischen Gräben hin gelingen und unsere Kultur ist darauf vorbereitet.
Bleibt nur die Frage: Wie können wir beginnen?

IV. Hic Rhodos, hic salta

Ist darauf zu hoffen, dass sich ein weltethisches Denken und ein weltethisches Handeln wirklich durchsetzen? Meistens bleibt es bei der Aufforderung: Hic Rhodos, hic salta: Hier ist Rhodos, also wage den Sprung. Doch dieser Moralismus macht es sich immer noch zu einfach. Gewiss, Sie alle, die Sie schon lange Verantwortung übernommen haben in Politik oder Wirtschaft, in Wissenschaft oder Kunst, im Rahmen einer öffentlichen Funktion oder als Glied der zivilen Gesellschaft, als Mitarbeiterinnen an einer gemeinnützigen Stiftung, vielleicht in einer NGO, Sie haben diese Frage für sich bereits gelöst. Und besser als ich kennen Sie auch die endlose Komplexität aller Handlungszusammenhänge, innerhalb derer Sie agieren. Es gibt die nahe- und die fernerliegenden Ziele, die abschätzbaren, die vermuteten und die unberechenbaren Wirkungen, die Spannungen zwischen Identität und Relevanz, die wechselnden Stimmungen und Erwartungshaltungen in der Öffentlichkeit, die kaum aufzulösenden Diskrepanzen zwischen Klientelerwartung und Allgemeinwohl sowie den unauflösbaren Streit zwischen Gesinnung und Verantwortung. Die Frage lautet ja nicht einfach: Wie muss ich hier und jetzt handeln? Die eigentlich spannende und für die Zukunft entscheidende Frage lautet: Wie breit kann und will ich den Horizont meines Handeln abstecken? Wie weit reichen mein individueller Atem und meine seelische Spannkraft? Wann ist der Augenblick für eine Horizonterweiterung gekommen? Wie konkretisiere ich in den vielfältigen Situationen meines Handelns die Minimalstandards, unter die ich in Fragen der Gewalt, der Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit nicht absinken darf? Wie viel Versagensangst kann ich ertragen, wenn ich an der Vermenschlichung meiner Lebensräume mitarbeiten will?

Ich glaube nicht, dass ein weltethisches Handeln je einfach und unkompliziert wird oder mühsame Diskussionen vermeiden kann. Da helfen auch keine gemeinsamen Programme. Umso wichtiger sind aber die Einigung auf unverrückbare Kernstandards und die Teilnahme möglichst vieler an konkreten Entscheidungsprozessen. Unser Alltagswissen aber sagt uns: Die uns gegebene Verantwortung kristallisiert sich bei einer jeden Person anders aus. Sie bemisst sich nicht nur nach den unterschiedlichen Sachkompetenzen, die uns gegeben sind, sondern auch an ethischen Grunderfahrungen und Eingebungen, die – oft unerwartet und biographisch bedingt – als zwingende Intuitionen in uns leben.

Wie uns der italienische Autor und Politiker E. LUSSU (1890-1975) berichtet[19], kam er während des italienisch-österreichischen Krieges 1916 durch einen mutigen Vorstoß eines Erkundungstrupps unerwartet in die Nähe des österreichischen Schützengrabens, von dem seine ständige Lebensbedrohung ausging. Plötzlich bekam er Einblick in das Leben der Feinde: „Wir sahen das Leben, den Alltag dieser Gräben. Das also war er, der Feind, das waren sie, die Österreicher! Menschen und Soldaten wie wir, die aussahen wie wir, in Uniform wie wir.“. LUSSU betrachtete die Feinde lange und zu seiner eigenen Bestürzung rüttelte diese Großaufnahme wieder sein Gemeinschaftsgefühl mit diesen Anderen wach, das der Krieg verschüttet hatte.

LUSSU wird, wie er sagt, „vom Blitzschlag der Evidenz getroffen“. Er entdeckt im Feind einen Mitmenschen und vergleicht den Geschädigten plötzlich mit seiner eigenen Situation. Er entdeckt, was er diesem antut. A. FINKIELKRAUT (geb. 1949), dessen Schicksal hier nicht weiter zu schildern ist, berichtet von diesem Ereignis und nennt es ein „Mitgerissenwerden von der Einbildungskraft“[20]. Ein Mitleid überwältigt LUSSU. Es macht ihn unfähig, auf den österreichischen Offizier zu schießen. Für FINKIELKRAUT, den großen Warner vor dem Verlust der Menschlichkeit in unserer Gegenwart, ist dieses Ereignis der unmittelbaren ethischen Evidenz sehr wichtig. Und A. BADIOU (geb. 1937), immerhin Marxist und Maoist seines Zeichens, vertritt eine vergleichbare Position[21]. Ausgerechnet er, der allen traditionellen Philosophien und Religionen den Abschied gegeben hat, findet den Kern des Menschseins in solchen Ereignissen. Er spricht von „überhistorischen Wahrheiten …, die gelegentlich wie Blitze in die Geschichte fahren. Eine solche Wahrheit ist, dass kein Mensch Sklave sein soll.“ Eine solche aktuelle Wahrheit könnte heute sein, dass ein Mensch, gleich ob Mann, Frau oder Kind, gerecht zu behandeln ist.

Ich persönlich meine: Die meisten von Ihnen haben irgendwann eine solche Erfahrung gemacht, vielleicht weniger dramatisch, auf Taubenfüßen daherkommend, aber eindeutig und zwingend. Dies gilt ungeachtet aller Bildung und allen moralischen Lernens, ungeachtet auch aller moralischen Grundhaltungen, Verhaltensweisen und Welten, die wir kennen gelernt haben. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir: In Sachen Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit können Kinder schon im Alter von fünf Jahren zu ersten kategorischen Überzeugungen kommen, die besagen: Du musst gerecht oder wahrhaftig sein, so oder anders handeln. Es kommt nur darauf an, dass wir uns solcher Erleuchtungen bewusst werden und zu ihnen stehen – dann nämlich, wenn wir wach und rational die Folgen unseres Handelns reflektieren.

Zum Schluss:

Verehrte Damen und Herren, die Erfahrung einer globalen Welt ist heute allgegenwärtig. Sie drängt sich in unseren politischen und ökonomischen Krisenerfahrungen förmlich auf. Angesichts der Weltsituation, auch das wissen wir, ist keine Zeit mehr zu verlieren. Das Projekt Weltethos und vergleichbare Projekte[22] tun ein Äußerstes zur Bewusstseinsbildung unter Fachleuten, in Schulen und in der Bevölkerung. Aber Menschen müssen diese Gedanken zu ihren eigenen machen, das nimmt ihnen niemand ab. Ethische Standards verpflichten und können als allgemeine Handlungsregeln statuiert werden. Wenn sie aber wirksam werden sollen, setzen sie die freie Zustimmung und Selbstverpflichtung der Handelnden voraus. Deshalb taugt auch das Projekt Weltethos langfristig genau so viel, als es bei den Akteuren ein Echo hervorruft. Das Gute entsteht, wie ein mittelalterliches Wort sagt, nur aus der integra causa, aus einem vereinten und integrierten Handeln.

Doch füge ich noch einen letzten Gesichtspunkt hinzu, über den man seltener spricht. Das Weltethos gibt es ja nicht, sondern es will als eine Summe praktizierter Werte, Normen und Standards entstehen. Deshalb lautet die große Frage: Wer beginnt mit ihm? Wer setzt die ersten kreativen Schritte? Wer entwickelt sie paradigmatisch im Alltag konkreter Beziehungen so, dass sie zum Vorbild für Andere werden können? Ein zukunftsfähiges Weltethos wird sich nur durchsetzen, wenn eine Elite von kompetenten und weltethisch sensiblen Männern und Frauen vorangeht. Diese neue Elite kann sich quer aus allen aktuellen Eliten unserer Gesellschaft rekrutieren. Sie muss sich nicht als solche darstellen oder organisieren. Es reicht, dass sie je an ihrer Stelle mit einem neuen Stimulus beginnt.

Die zu Beginn genannte N. PAUER behandelt in der ZEIT das Problem der Angst und Verletzlichkeit. Sie verweist auf die Angstverdrängung junger Menschen. Auch ich habe in meinem Referat den Aspekt der Angst hintangestellt. Deshalb ende ich mit den letzten Sätzen des genannten Artikels: „Die unendlich tröstliche Antwort auf die Frage danach, wer verletzlich ist, wer Angst hat vorm Leben, vor sich selbst und auch vor der Welt,“ sollte endlich ehrlich ausfallen: Wir alle haben Angst. Wenn sich aber alle, die offen zu ihrer Angst stehen, dann auch zu einer gemeinsamen Verantwortung zusammenschließen, dann führt ihr Bekenntnis zu dem einzigen, wofür eine verantwortliche Sorge gut ist: zu einem Handeln, das uns von den Abgründen unserer Ängste wegführt, mitten im Jahr 2010. Eliten entstehen dort, wo Menschen die Welt mit wachen Augen betrachten und zu ihren offenen Sorgen und Fragen stehen.

(Manuskript abgeschlossen am 12.7.2010)


Anmerkungen

[1] Nina Pauer, Wir haben keine Angst, DIE ZEIT vom 10.06.2010.

[2] Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125: „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“

[3] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1 Wien 1918, Bd. 2 München 1922.

[4] Georg T. F. A. Heym, „Der Gott der Stadt” (Gedicht), geschrieben 1910. In: St. Hermlin (Hg.), Georg Heym. Gedichte, Frankfurt/M 1999.

[5] L’existentialisme est un humanisme lautet der Titel des berühmten „Humanismusbriefs“, in dem Sartre seine philosophische Position darlegt und verteidigt: J.-P. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, Hamburg1994.

[6] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M 131995, S. 93.

[7] Michel de Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (franz. 1966), Frankfurt/M. 1988, S. 462 (= Schlusssatz): „Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgend ein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

[8] Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Bremen 1982. Eine Einführung in die Theorie(n) der Postmoderne: Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 62002.

[9] H. Küng, K. M. Leisinger, J. Wieland, Manifest Globales Wirtschaftsethos. Konsequenzen und Herausforderungen für die Weltwirtschaft (deutsch und englisch), München 2010.

[10] Einen Überblick über die Arbeit bietet: H. Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002.

[11] Zu Fragen der Theoriebildung und kontinuierlichen Auseinandersetzung: H. Küng, K.-J. Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 2001.

[12] Picco, Giandomenico; Küng, Hans; Weizsäcker, Richard von (u.a.), Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan, Frankfurt/M. 2001 (amerik.: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations, South Orange, NJ).

[13] Anm. 9.

[14] Hans-Martin Schönherr-Mann, Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen. Mit einem Essay von Hans Küng, München 2008; ders., Individuelle Verantwortung im Zeitalter der Globalisierung aus emanzipatorischer Perspektive, Würzburg 2010; ders., Globale Normen und individuelles Handeln. Die Idee des Weltethos aus emanzipatorischer Perspektive, Würzburg 2010.

[15] Verhandelt werden u.a.: Karl-Otto Apel, Hannah Arendt, Ernst Bloch, John Dewey, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas, Martin Heidegger, William James, Karl Jaspers, Hans Jonas, Emmanuel Lévinas, John Rawls, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Max Weber, Michael Walzer.

[16] Karl Jaspers, Der philosophische Glaube. Fünf Vorlesungen. (München/Zürich 1948) München 1962.

[17] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt/M. 1959.

[18] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 81988

[19] Emilio Lussu, Ein Jahr auf der Hochebene, Wien-Zürich 1992. Das hier besprochene Ereignis wird auf S. 163f. geschildert.

[20] Alain Finkielkraut, Verlust der Menschlichkeit, Stuttgart 21999, nimmt auf S. 36-40 Bezug auf Lussu. Fienkielkraut, polnisch-stämmiger Franzose, ist Sohn jüdischer Eltern.

[21] Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005.

[22] Ich nenne hier: Ruud Lubbers, Willem van Genugten, Tineke Lambooy, Inspiration for Global Governance, Kluwer 2009, die Fundación Ética Mundial (Mexico City). die selbständig arbeitenden Stiftungen Weltethos in Berlin, Wien, Zürich sowie in Übersee (weitere Informationen: www.weltethos.org).