Sprechen von den Abgründen der Welt – Ein Essay über das Böse als Reflexionsbegriff

Mit der Krise der klassischen metaphysischen Theologie ist auch die Rede vom Bösen in eine tiefe Krise geraten. Die neue Deutung des Schöfungsberichts durch Ellen van Wolde kann einen Ausweg bieten: Jahwe hat weder die Welt noch das Böse geschaffen. Vielmehr kämpft er immer gegen das Chaos an, ohne es definitiv zu besiegen.

„Ich aber sage euch:
Leistet dem, der euch etwas Böses antut,
keinen Widerstand.“ (Mt 5,39a)

In Klingenberg, einem kleinen Städtchen am Main, starb im Juli 1976 Anneliese Michel, eine junge und fromme Frau, im Alter von 24 Jahren. Monatelang versuchten zwei Priester, ihr Dämonen auszutreiben, diese Dauerfolter führte zu ihrem Tod [Adler, Faulstich]. Dieser bedeutete für die katholische Kirche Deutschlands einen Schock. Kurz darauf baten die deutschen Bischöfe in Rom, man möge der Praxis der Teufelaustreibung ein Ende machen. Sie hatten keinen Erfolg. Im Gegenteil, später grub man den Leichnam der Gequälten wieder aus, weil eine Nonne behauptet hatte, zur Verherrlichung Gottes liege Anneliese unverwest im Grab. An ihrem Grab trifft sich bis heute regelmäßig eine Gruppe von Unverbesserlichen, um für die Sünden der Welt, besonders für die Sünden der Priester, zu beten, denn Anneliese habe ihre Besessenheit zur Sühne für diese Sünden akzeptiert. Genau deshalb habe der Exorzismus ja keinen Erfolg gehabt. Der Kreis der Zurückgebliebenen darf sich bestätigt fühlen, denn 1999 legte Rom wieder einen offiziellen Ritus für Teufelsaustreibungen vor. Seit 2005 werden Exorzisten offiziell ausgebildet und der Hauptexorzist der Diözese Rom, Don Gabriele Amorth, muss keine Arbeitslosigkeit befürchten. Wie er sagte, steigt in diesen gottlosen Zeiten die Zahl der Besessenen dramatisch an. Mafiosi und einfache Frauen, sie alle kommen, um sich von ihm helfen zu lassen [Amorth]. Das alles spielt sich, wohlgemerkt, nicht in Zentralafrika ab, wo wir noch animistische Religionen vermuten. Helge Cramer, der diese Ereignisse erst kürzlich dokumentiert hat, zeigt eine junge Frau aus der Schweiz, die vergleichbare Prozeduren über sich ergehen lässt [Cramer].

Wie kommt es, dass der Mythos der Besessenheit so dramatisch zurückkehrt und von der katholischen Kirchenleitung gefördert wird? Warum wird er von so vielen wider besseres exegetisches, psychiatrisches und allgemein anthropologisches Wissen akzeptiert? Ich will hier versuchen, einer Teilantwort auf die Spur zu kommen. Es geht mir um die gefährliche Kunst der klassischen, im antiken Griechenland geborenen Metaphysik, die Fülle der Wirklichkeit in wenige, grobflächige und polare Begriffspaare einzuspannen. Dazu gehören das Sein und das Nichts, der Geist und die Materie, das Wahre und das Falsche, das Gute und das Böse. Dazu gehört auch die ständig wirksame Voraussetzung, dass Sein, Wahres und Gutes im Grunde eines sind. Es ist eine äußerst erfolgreiche, aber auch eine verführerische Kunst, die allmählich ihre Kraft verliert [Tugendhat].

I. Zusammenbruch der metaphysischen Theologie

Wir haben diese polare Weltbeurteilung mit ihren Techniken genossen und aus ihr intellektuellen Nutzen gezogen. Sie hat uns geholfen, die Welt in klare Kategorien einzuteilen. Die Metaphysik und eine metaphysisch grundierte Theologie brachten in unsere Denk- und Glaubenswelt Ordnung. Deshalb wussten wir auch genau, was das Böse ist und dass es einen Satan als den Gegenspieler Christi geben muss. Im vierten Jahrhundert war das noch nicht so klar. Der junge Augustinus fand noch ein großes Denkchaos vor, das unsystematisch, mehr rhetorisch als rational mit Zitaten der Schrift und mit archaischen Schöpfungsmythen argumentierte; das raubte ihm buchstäblich den Schlaf. Doch mit Hilfe der Metaphysik lernte er bald, die abstrakte Frage nach dem Wesen des Bösen zu stellen [Häring 2011]. Er definierte es als „Beraubung des Guten“ (privatio boni). Zwar hatte er diese Definition nicht selbst erfunden, aber er zog aus ihr klassische Konsequenzen. Das so definierte Böse konnte wirklich existieren und als Gegensatz des Guten erfahrbar werden. Alle üblen Erfahrungen von Menschen und alles Böse, das die Schrift in so schrecklichen Farben ausmalte, dies alles fand in der Bandbreite zwischen Gut und Böse seinen Platz. Allerdings wurden in dieser Bandbreite alle Unterschiede zwischen physischem Übel und moralischer Bosheit, zwischen der Tat des Übeltäters und dem Schicksal des Opfers gleichermaßen relativiert. Hat man deren konkrete Vielfalt überhaupt noch ernstgenommen oder sie alle im Blick auf Gott in eine Perspektive eingeebnet?

Zugleich war dieses Böse zwar schrecklich, aber es musste den Glauben an eine gute Welt nicht bedrohen, denn aus metaphysischer Sicht konnte es die große Weltharmonie nicht gefährden, weder die große Weltschau der Philosophen, noch den theologischen Kosmos von Gott, Schöpfung und Heil. Als Mangel (privatio) konnte es zwar alles infizieren und überall, selbst im Herzen des Menschen, gegenwärtig sein. Trotzdem relativierte es diesen metaphysisch bestimmte Böse den Vorrang des Seins nicht. Wegen seines Mangels war es perfekt domestiziert. Direkt oder indirekt bewies es die Macht des Schöpfers und die Güte seiner Schöpfung, zu der – wie bei einem Mosaik – immer auch dunkle Steinchen gehören. Erst durch Scheitern und Unheil, durch Dämonen und Teufel wird die Schönheit der Schöpfung vollkommen und als Drama verstehbar [Häring 1999]. Im Laufe von 1500 Jahren hat diese Spiritualität vom integrierten Bösen den christlichen Glauben so tiefgreifend geprägt, dass sich viele Christen das Gute nicht mehr ohne das Böse, Gott nicht mehr ohne den Teufel vorstellen können. Mehr als ein Theologe gab in den vergangenen Jahrzehnten zu erkennen, dass er den „Glauben“ an den Teufel als Test für einen wahren Gottesglauben sieht. So ist das Böse perfekt ins Gesamtsystem aufgenommen. Nach Augustinus vermehren selbst die auf ewig Verdammten den Triumph der göttlichen Gnade. Die Opfer der Gottesstrafe werden so instrumentalisiert, wie man die seelisch kranke Anneliese Michel für innerkirchliche Ziele instrumentalisiert und – zur Erhöhung von Gottes Triumph – zum Oper des Teufels hochstilisiert hat. Die Metaphysik lehrt uns nicht nur, die Welt in abstrakte Entitäten aufzulösen, sondern leitet uns auch dazu an, um der großen Gesamtschau willen über Einzelereignisse und Einzelschicksale hinwegzusehen.

Diese Sicht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert; nicht ohne Grund sprechen wir auch in den Kirchen vom Ende der Moderne. In allen Konfessionen sind die großen theologischen Systeme zerbrochen, weil sich ihre Träger, die umfassenden philosophischen Konzepte verflüssigt haben. Wo sie noch aufrecht erhalten werden, führten sie zu unerträglichen Friktionen. Gerade die polaren Spannungen, mit denen sie die Wirklichkeit durchzogen haben verlieren ihre erhellende Funktion: gerechtfertigt und Sünder, Kirche und Welt, gerettet und verdammt, gläubig und ungläubig, Christ und Heide, göttlich und satanisch, radikal gut und böse schlechthin. Nicht, als ob diese Worte und Erfahrungen aus unseren Weltbildern verschwunden wären. Im Gegenteil, sie begegnen uns vielleicht intensiver und vielfältiger als zuvor. Aber jetzt halten sie sich gegenseitig nicht mehr in Balance. Sie machen sich selbständig, explodieren oft zu wilder Ekstase oder Hoffnungslosigkeit, denn in ein umfassendes Weltbild sind sie nicht mehr eingeordnet. Rom hat seine kirchlichen Ereignisse zu Mega-Events aufgebläht und viele charismatische Gottesdienste eifern diesem Jubelrausch nach. Was unterscheidet diese kirchlichen Großfeste noch von den Trauer- und Hochzeitsfeierlichkeiten des englischen Königshauses?

Diese Maßlosigkeit ist wohl der Grund dafür, dass die Frage nach Normen, Werten neu gestellt wird; die alten Bezugsgrößen überzeugen nicht mehr. Wie früher kennen wir die individuellen und kollektiven Versagensängste und Grenzerfahrungen. Wir können sie aber in keine großen Zusammenhänge mehr einordnen. Denn jetzt, in dieser wilden Vielfalt, wirken Werte wie Findlinge, die wir aus sich heraus verstehen müssen. Grenzerfahrungen tauchen wie am Rande auf. Sie sind unvermittelt in das „Normale“ eingestreut, liegen irgendwie dazwischen. Psychologen deuten dieses Besondere, alles Böse eingeschlossen, als das Bedrohliche und das Verdrängte. Weder der säkularen noch der religiösen Sprache trauen wir zu, dass sie diese Erfahrungen definieren oder eingrenzen kann. Die Wirklichkeit gehorcht nicht mehr unseren Erklärungen und Deutungen. Vielmehr läuft unsere Sprache einer Welt nach, die geradezu explodiert und zu immer neuen „Events“ führt. Wer über sie reden will, hat gar keine andere Wahl, als bestimmte Ausschnitte aus dieser Wirklichkeit stillzustellen, um diese dann – wie ein Insekt unter dem Mikroskop – im einzelnen zu betrachten. Leider haucht das Insekt während dieser Prozedur sein Leben aus; die resultierende Lebensbeschreibung wird zum Trug. Denn eine Sprache, die diesen widersprüchlichen Prozeduren blind erliegt, kann kein überzeugendes System mehr bauen. Um zu funktionieren, muss sie ständige Aufschübe schaffen. Derrida nannte diese Sprache, die alles in ein zeitloses und wohlgeordnetes System zwängt, logozentrisch [Derrida 1967, Petermann].

In der augustinischen Definition des Bösen sehe ich ein Musterbeispiel für diese Mechanismen, mit denen die metaphysische Sprache die Wirklichkeit unter ihr Joch zwängt. In einem ersten Schritt wird das Böse – ganz gegen dessen eigene Tendenz – in den Bezugsrahmen des Guten eingeordnet und so für den Logos verfügbar gemacht. In einem zweiten Schritt werden alle konkreten Eigenschaften des Bösen aus dem Mangel an dem erklärt, was die Logozentrik eigentlich erwartet. Die eigentliche Testfrage, warum der perfekte Mangel überhaupt existieren kann, wird schließlich zum paradoxen Denkexempel deklariert. Statt zuzugeben, dass alles metaphysische Denken an der Wirklichkeit des Bösen scheitert, präsentiert Augustinus seine geniale Denkoperation als Beweis einer Schöpfungsordnung und als Triumph über eine unerträgliche Welt.

Die heutige Kritik an dieser Theologie des Bösen lebt von postmodernistischen Anstößen. Die traditionelle metaphysische Sprache bildet nicht einfach die Wirklichkeit ab. Auch kann man nicht behaupten, dass sie das Geheimnis der Wirklichkeit enthüllt. Denn diese Sprache legt der Wirklichkeit einen eigenen Denkzwang, eine rationale Einheitslogik auf, die schrittweise von Denkern wie Kant, Marx oder Adorno, dann mit Hilf postmodernistischer Theorien entlarvt wurde. Man sprach von einem „Logozentrismus“, den Derrida als „Imperialismus des Logos“ charakterisierte.

Allerdings hatte die Auseinandersetzung mit dem Bösen auch einen soziologischen Grund. Bislang ließ sich vieles Böse aus der menschlichen Freiheit erklären. Jetzt erschien es als die Konsequenz eines völlig a-logischen und unberechenbaren Systems, das die Individuen immer radikaler in die Unfreiheit zwingt, sich verselbständigt und sich seine eigenen Regeln setzt. So verwundert es nicht, dass 1995 ein Kongress über das Böse  mit der Leitfrage abgehalten wurde: „Ist der Teufel ins System ausgewandert?“ [Rötzer] Bei dieser Verschiebung der Problematik zeigt sich ein zweiter Fokus, der kaum unterschätzt werden kann: Die Moralisierung des Bösen tritt zurück, denn es erscheint weniger als die Eigenschaft von einzelnen Personen und ihren Taten. Es erscheint vielmehr als der Wesenszug eines Systems, das erst durch dysfunktionale Strukturen schädliche Folgen hat. Das Kriterium des Mangels wird durch das Kriterium der Konstellation ersetzt. Das Böse definiert sich als Dysfunktionalität und nähert sich stark dem Ansatz der Prozessphilosophie. Sie betont die unendliche Verkettung physischer Prozesse, in die alles Leben eingeschlossen ist. Diese ist also ohne gegenseitige Beeinträchtigung überhaupt nicht zu denken [Oomen]. Wer leben will, muss sich in dieses unbarmherzige Netzwerk einpassen. Sonst hat er überhaupt keine Chance.

II. Das Böse konkret benennen

Aber auch diesen Definitionen hängt eine letzte Unbestimmtheit an, denn in allen Fällen bleibt das Böse unterdeterminiert. Weder der Mangel noch eine dysfunktionale Konstellation, weder die Endlichkeit eine Seienden noch die Interaktion zahlloser Prozesse müssen vom Bösen sein. Je breiter wir diese Möglichkeitsbedingungen des Bösen ausweiten, umso weniger lässt sich das Böse wirklich abgrenzen. Lässt sich das Problem der Abgrenzung überhaupt lösen? Ist das Böse nicht immer und ausnahmslos das rein Faktische, das nur von seinen Wirkungen her zu beurteilen ist?

Was also ist das Böse? Faktisch und unbemerkt hat sich eine tiefgreifende Änderung vollzogen. Eindrucksvoll zeigt dies ein Text von I.U. Dalferth. Als Linguist weiß er, wie metaphysische Interpretationen unser Denken verzaubern und in welche Fallstricke uns paradoxe Definitionen locken können. Er weiß zugleich, dass sich das Böse nicht einfach auf Fragen von Moral und menschlicher Freiheit reduzieren lässt [Dalferth 2008]. Er entscheidet sich für eine nüchterne, aber bestechende Alternative: Er zeigt in konkreten Beispielen nur, was „böse“ alles sein kann, öffnet also den Containerbegriff des Bösen und greift beliebig etwa 40 verschiedenste Benennungen, Personen und Lebenssituationen heraus. Dabei begibt er sich nicht auf die Suche nach dessen Wesen, sondern umgrenzt es als ein Geschehen-in-Beziehung. Diese Beziehung konzentriert er schließlich auf einen einzigen Aspekt, der in der christlichen Tradition oft vergessen wurde. Ihn interessiert hier nicht der Täter, sondern das Opfer, das eigene und das fremde Leiden:

„Das Böse ist zu finden in physischem oder psychischem Übel als Unfall, Not, Krankheit, Hunger, Durst, Schmerz, Leiden, Dummheit, Verblendung, unerfüllte Wünsche, beleidigte Gefühle, zerstörte Hoffnungen; in Taten als moralisch Böses, Untat, Unrecht, Unbill, Kränkung, Krieg, Freiheitsberaubung, soziale Benachteiligung, rechtliche Verfehlung; in Personen als Übeltäter und Opfer, als Mörder, Betrüger, Diebe, Terroristen, Geiseln, vergewaltigte Frauen, geschundene Männer, missbrauchte Kinder; in Lebenssituationen als Verhängnis, Verstrickung, Verschuldung, Ausweglosigkeit, wirtschaftliche, politische oder persönliche Abhängigkeiten oder als Macht, der man hilflos ausgeliefert ist. Die Bezeichnungen von Bösem sind Legion, seine Wahrnehmungsweisen wechseln, immer aber tritt es in bestimmten Leben in Erscheinung und wird dort am und im Leiden bemerkbar, am Leiden anderer und am eigenen Leiden.“ (Dalferth, 2006, 18)

Hier multipliziert sich die Fülle der konkreten Aspekte, hinter denen das Wesen des Bösen geradezu uninteressant wird. In theologischer, philosophischer und linguistischer Hinsicht schrumpft die Apposition „böse“ nun wörtlich zu einem Nichts und man erinnert sich an den frühen Augustinus, der in der vor-platonischen Phase seine komplizierten Überlegungen auf die treffende Formel brachte: Das Böse ist „dasjenige, das schadet“ (id quod nocet). Wer sich aber in diese wiederum abstrakte Definition rettet, muss daran erinnern: Auch sie kann missbraucht werden und sie wurde missbraucht, denn meist fand der Täter mehr Aufmerksamkeit als das Opfer. Die Theologien aller Konfessionen griffen das Problem der Täter auf. Mit großem Pathos sprach man von der Versöhnung mit den Sündern statt von der Wiederherstellung der Gerechtigkeit und spielte damit ein vermeintlich christliches Anliegen gegen eine urjüdische Leidenschaft aus. Dieser Mechanismus lässt sich bis hinein in die Missbrauchsskandale der vergangenen Monate beobachten.

Wer also angemessen von den Geschädigten sprechen will, kann dies nur mit Worten tun, die das Konkrete beschreiben und analysieren. Es darf keine Tricks mehr geben, die uns ästhetisch oder pseudoreligiös ablenken von Schändung und Zerstörung, Missbrauch, Sexismus und verbaler Gewalt, zerstörten Menschenleben und verhöhnten Fremden, sei es in Afrika, Lateinamerika oder in europäischen Familien. Wer das Böse ernstnehmen will, muss den Begriff hintanstellen. Erst das differenzierte Reden macht es möglich, die Wirklichkeit selbst so ernst und differenziert wahrzunehmen, wie sie ist. Nur so können Glaube und Theologie wieder einen Diskurs entwickeln, der öffentlich ernstgenommen wird.

Neben dem Verlust der Metaphysik und dem Zwang zur konkreten Rede konnte die Theologie aus den linguistischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auch ein Drittes lernen: Wer (abstrakt oder konkret) vom „Bösen“ redet oder etwas böse nennt, überschreitet damit die Grenzen reiner Beschreibung. Mit dem Transfer von Wissen oder Tatsachen ist die Funktion der Sprache nicht erschöpft. Die Sprache kann appellieren und warnen, versprechen und sich distanzieren. Sie wertet, verrät oder unterstützt, verurteilt oder rettet. E. Schillebeeckx hat diese Erkenntnis schon früh in die niederländische Theologie eingeführt. Derrida hat später bis in letzte Feinheiten gezeigt, wie hochdifferenziert Sprache zu arbeiten weiß [Derrida, 1993]. Sie kann selbst Ungesagtes sagen, ihre eigenen Grenzen zur Sprache bringen und die Differenzen zwischen Gedachtem, Gesagtem und Geschriebenem ausloten. Wie schon K. Jaspers wies er daraufhin: Nicht in den Ergebnissen des Denkens, sondern in dessen Prozess ist die Wahrheit umfassend zu finden [Jaspers]. Die Sprache ist in die Wirklichkeit verwoben und schafft Differenzen; sie ist – bis in die Strukturen ihrer Grammatik und ihres Wortschatzes hinein – selbst eine Wirklichkeit, die über die Verstärkung oder Überwindung menschlichen Schadens entscheiden kann. Deshalb sind die ersten Ausführungen dieses Beitrags so wichtig. Wer ohne Vorbehalte vom Bösen redet und Ereignisse böse nennt, schafft damit (moralische, soziale und vielleicht physische) Ordnung. Er kann Missstände beherrschen, indem er sie enthüllt und gegen sie protestiert. Aber er kann sie auch legitimieren, indem er sie duldet und verschweigt.

Wer seine Sprachkompetenz mit solchen Absichten aktiviert oder ruhen lässt, trifft deshalb weitreichende Entscheidungen. Denn seine Ideologien, seine Sinn- und die Glaubensfragen hängen weitgehend von der Frage ab: Bringt er das (abstakte) Böse so zur Sprache, dass es immer schon in die höhere Ordnung der Metaphysik aufgehoben ist? Oder benennt er es in seiner Abscheulichkeit so konkret, dass – wie bei Ijob – die Ideologie vieler Erklärungen entlarvt wird? Zwingt er – wie ebenfalls Ijob – Gott selbst zur Rechtfertigung, also zur Offenlegung dessen, was in der Schöpfung geschah? Wie wir wissen, können offen vorgetragene Fragen nach Kontingenz und Theodizee ganze Weltanschauungen und Glaubenssysteme zum Einsturz bringen.

Mit der bisherigen Kritik an einem logozentrischen Denksystem wollte ich dessen heilsame Leistung nicht in Abrede stellen. Seine ordnende und regelnde Funktion hat in der westlichen Kultur eine unersetzliche Rolle gespielt. Aber im Zuge ihrer tiefgreifenden Hellenisierung hat die christliche Theologie zu diesem ordnenden (und abstrahierenden) Weltverständnis seine kritische Distanz verloren. Sie kultivierte ihre Fähigkeit, abzugrenzen und zu unterscheiden, den Logos vom Mythos zu reinigen, die Wirklichkeit als ein rationales System zu begreifen und auf ihre logischen Bestandteile hin zu konzentrieren [Geyer]. Die christliche Theologie konnte in dieses Weltbild ein monotheistisches Gottesbild einführen, das auf den einen wahren Logos ausgerichtet war. Gott erschien als der Ursprung allen Seins und die staatliche Großkirche sonnte sich im Bewusstsein, dass sie zur Hüterin letztgültiger Definitionen geworden ist.

III. Die Welt erschaffen?

Inzwischen sind die großen Themen von Philosophie und Theologie dieser logozentrischen Sprache entglitten. Zugleich werden die kanonischen Texte der Bibel von deren Vorherrschaft befreit. Über das Böse an sich wird nirgendwo nachgedacht. Dagegen ist konkret von Mord und Totschlag, Lüge und Betrug, Spott und Verrat, Untreue und Feigheit die Rede. Die Psalmen und die Klagelieder bieten ein Menschenbild voll Elend und Verzweiflung. Mit dem biblischen Vokabular könnte man die Aufzählungen von Dalferth leicht verdoppeln. Einen Durchbruch erzielte E. van Wolde, die am 8. Okt. 2009 die Volkskrant zur Schlagzeile provozierte: „Gott schuf die Erde nicht“ („God schiep de aarde niet“). Hat sie einen Fundamentalsatz des biblischen Glaubens geleugnet? Auf den ersten Blick klingt es gefährlich. Ihre Übersetzung der ersten drei Verse lautet:

Am Anfang, da Gott den Himmel und die Erde trennte,
und die Erde ungegründet war und ohne Fundament,
und Düsternis über der Tiefe lag,
und Gottes Atem über den Wassern schwebte,‘
sprach Gott: ‚Es sei Licht‘.

Ich nenne hier zwei überraschende Ergebnisse dieser Übersetzung:
(1) Der erste Satz der hebräischen Bibel (Gen 1,1-3) handelt nicht von einer Weltschöpfung, sondern vom Licht, dessen Werden Gott befiehlt.
(2) Vom Erschaffen der Erde spricht auch der Nebensatz Gen 1,2 nicht. Vielmehr geht es um die Trennung von Himmel und Erde innerhalb der Urwasser, die zuvor schon bestehen.

Die zusätzliche Präzisierung, Gott habe Himmel und Erde aus nichts gemacht, taucht erst im griechisch geschriebenen 2. Buch der Makkabäer:

Schau dir den Himmel und die Erde an mit allem, was es da gibt, und bedenke: Gott hat das alles aus dem Nichts gemacht und so ist auch das menschliche Geschlecht entstanden.“ (7,28).

Zudem führt dieser Gedanke zu erheblichen logischen Problemen (Moltmann, 85-92). Dennoch bedeutet diese Übersetzung für die traditionelle Schöpfungstheologie ein mittelschweres Erdbeben. Denn dieser Text setzt vorgängig zu Gottes Handeln etwas voraus, das zuvor schon existiert. Es gibt schon den bodenlosen und tödlichen Abgrund („tohu wa bohu“) mit den Urwassern und einigen Urwesen.

Diese Vorstellungswelt verträgt sich kaum mit dem Glaubenswissen, das die hellenistische Tradition später ausgebildet hat. Wir erwarten eine perfekte, rational zu Ende reflektierte Schöpfungsaussage, die Gottes letztgültige Herrschaft illustriert. Gewiss wird die hellenistische Schöpfungsaussage auch nicht geleugnet, aber offensichtlich findet sie kein Interesse. Eine solche Aussage scheint nicht zu den Aufgaben eines primären Religionsvollzugs zu gehören. Wenn E. van Wolde recht hat, spricht die Bibel von einem chaotischen Abgrund der Urwasser, in denen kein Leben möglich ist. Es geht der ordnenden Tat Gottes voraus und bleibt bestehen als die ständige Bedrohung des Lebensraums, den Gott durch sein Wort ermöglicht. Aus diesen Vorgaben „macht“ er Sonne und Mond, die Feld- und die Kriechtiere und schließlich den Menschen.

Wer aber in Gen 1 dennoch einen veritablen Schöpfungsbericht vermutet, kann nur darüber irritiert sein, wie ungenau die Darstellung vorgeht. Wer jedoch den mythischen Chaosbericht ernstnimmt, kann zu einer theologischen Umkehr bewegt werden. Ebensowenig wie die Bibel insgesamt liefert dieser Bericht ein Herrschaftswissen über Gott. Er macht einfach ernst mit der Tatsache, dass ein tödliches Chaos, dass Unbestimmtheit und Bedrohung der Ausgangspunkt aller religiösen Erfahrung sind. Selbst Gott tritt in diesem Bericht auf den Plan, indem er sich mit einer widerspenstigen Wirklichkeit auseinandersetzt. Zwar bleibt der siebte Tag eine tröstliche Erwartung, die hier schon wirksam ist. Aber seine Erfüllung steht bis zum Ende der Zeiten noch aus. Die christlichen Schöpfungs- und Hoffnungsgeschichten sind über diesem bleibenden Abgrund errichtet. Selbst der wegen seines Protests so rühmenswerte Ijob bekommt von Jahwe eine abschlägige Antwort:

„Wo warst du, als ich begann, die Erde zu bauen?
Sprich, wenn du so gut darüber Bescheid weißt.
Wer setzte ihre Maße fest? Du weißt es doch,
Wer hat die Messschnur gespannt? (Hiob 36, 4f)
Bist du zu den Quellen des Meeres durchgedrungen,
hast du die unermesslichen Tiefen des Meeres durchwandert?“ (38,16)

Jahwe rechtfertigt sich, indem er auf dieses bleibende Chaos verweist. Gott kämpft für die Menschen einen Lebensraum frei. Gen 1 dekodiert also den philosophisch so brillanten Gedanken einer fortwährenden Schöpfung [creatio continua] als einen bleibenden Kampf Gottes Jahwes gegen das bleibende Chaos, das unser Leben bedroht. In der biblischen Tradition geht es darum, dass Gott diesen Kampf auf unserer Seite mitkämpft. Aber besiegen lässt es sich nicht.

IV. Glaube elementar

Welcher Stellenwert kommt dem Bösen im christlichen Glauben zu? Offensichtlich bewegt sich Gen 1 auf der Ebene des elementaren Glaubensvollzugs. Es herrscht kein Bedürfnis, das Böse zu definieren. Besprochen wird dagegen die grundlegende Bedrohung des Menschen. Gen 1 charakterisiert diese Bedrohung gerade nicht als das Böse, sondern als das Undefinierbare. Der elementare Gottesglaube beginnt als Schrei und als Frage nach der Rettung. Wer auf dieser Schwelle zwischen Hoffnung und Verzweiflung glaubt, stellt alles Wissen zurück. Gottes Macht vernichtet nicht das Böse, sondern dämmt das Chaos ein. Der elementare und zukunftsfähige Kern einer Religion ist darin zu suchen, dass sie das Leiden als zentrales Problem des Menschseins erkennt.

Hans Küng hat schon in den 70er Jahren darauf aufmerksam gemacht: Im Verlaufe der Neuzeit hat sich die Dramatik des Glaubens auf den Streit zwischen Vertrauen und Zweifel verlagert. In mühsamen Einzelschritten wurde die elementare Ebene des Glaubens wieder entdeckt. Was sich als Religionskritik präsentierte, hat uns auf diese Kernfragen zurückgeführt. In diesem Prozess wurde nicht mehr das Böse, sondern das Schicksal von Mensch und Menschheit definiert. So wurde das Buch Ijob zu einem zeitgemäßen Text, weil er keine Gotteslehre mitteilen, sondern in diesen elementaren Glaubenakt einüben will.

Hat das Böse also doch mit dem chaotischen Weltursprung zu tun? In Jes. 45. 6-7 heißt es:

Ich bin Jahwe, es gibt keinen anderen, der das Licht bildet und das Dunkel trennt [schafft]. Ich bin Jahwe, der alle diese Dinge macht. (Jes 45,6b-7).

Bislang wurde dieser Vers auf der Sprachebene der Reflexion verstanden: Es gibt das Böse und selbst dieses hat Gott geschaffen. Doch lässt er sich auch auf der Ebene der elementaren Erfahrung verstehen: Alles, was uns bedroht, wird von Gott abgetrennt, also aus unserem Leben verbannt. Das Böse ist ein Reflexionsbegriff, der abstrahiert. Er versucht, eine komplexe und höchst vielfältige Wirklichkeit umfassend in den Griff zu bekommen. Deshalb nivelliert er wichtige Unterscheidungen, z. B. die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer. Aber die bedrohlichen und chaotischen Urwasser aus der Tiefe symbolisieren die Perspektive der Bedrohten und möglichen Opfer. Die moralische Qualität dieser Bedrohung interessiert nur in zweiter Linie, denn Hilfe suchen wir gegen das, was faktisch schädigt.

In einem weiteren Beitrag wäre von hier aus eine Brücke zur Verkündigung Jesu zu schlagen. Offensichtlich konzentrierte sich Jesus nicht wie Johannes der Täufer auf die Vernichtung des Bösen an sich. Wie Gen 1 setzte er auf das ordnende Wort Gottes, das trotz der Bedrohung sagen kann, dass alles gut sei. Deshalb kann er uns auftragen, „dem Bösen nicht zu widerstehen“ (Mt 5, 39) und mit Gottes Reich hier und jetzt beginnen. Nicht dass wir zum Sieger über das Böse werden, gehört zum Kern der jesuanischen Botschaft, sondern dass die Opfer einer chaotischen Welt unseren Beistand verdienen.

Anton van Harskamp kann nicht wissen, dass er am Beginn vieler Gedanken steht, die ich hier vorgetragen habe. Im Dezember 1994 bat er mich um ein Referat zum Roman von Harry Mulisch De ontdekking van de hemel. Seitdem ließ mich das Konzept dieses Buches nie mehr los. Mulisch behauptete, in diesem Roman gebe es keinen Zufall. Bis hin zu den skurrilsten Begebenheiten war alles von den Engeln vorherbestimmt, die über den Gang der Welt Regie führten. Bald entschlüsselte sich mir dieser Roman als eine höchst bissig-ironische Reaktion. Er gab die Antwort auf eine Weltanschauung, in der ohne Gottes Wille nichts geschehen, die Auschwitz dennoch nicht verhindern kann, – oder will? Möglicherweise war die Schoah die Folge eines Weltbildes, das die Allgegenwart des Chaos nicht zugeben wollte und das ständig um Gottes Allmacht fürchtete. Es war ein katastrophales Weltbild. Es verteufelte Menschen, klagte sie als Täter an und inszenierte die Erlösung aus einem Zustand, den es selbst heraufführte. Auch Christen sollten endlich zu ihrer elementaren Erfahrung stehen, dass Katastrophen und Elend uns immer einen Schritt voraus sind. Dem Glauben an Gottes Treue und Solidarität würde dies keinen Abbruch tun.

Literatur

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Gabriele Amorth (2001), Ein Exorzist erzählt, Stein am Rhein.
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Jürgen, Moltmann (1985), Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München, 85-92.
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Hans-Bernhard Petermann (2010), „… noch über Gott in eine Wüste ziehen …“: Derridas negative Theologie am Rande der Sprache, in: H.-J. Röllicke (red.), Denken der Religion, München, 136-178.
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Ellen van Wolde (2009a), Terug naar het begin. Waarom Genesis 1,1 niet gaat over Gods schepping van hemel en aarde, Nijmegen.
Ellen van Wolde (2009b), Why the verb bara’ does not mean “to create” in Genesis 1, in: Journal of the Study of the Old Testament 34, 9-23.


Veröffentlichung in niederländischer Sprache:
Spreken over de afgronden van de wereld. Een Essay over het kwaad als begrip in het denken, in: Het kwaad. Reflecties op de zwarte zijde van ons bestaan, hg. Bert Musschenga, Bettine Siertsema, FS Anton van Harskamp, Kampen 2011, 10-25.