Am 15. Januar 2020 erreichte uns aus den Vatikanischen Gärten ein Text zur Aufrechterhaltung des Pflichtzölibats und er sorgte für reichliche Diskussion. Geschrieben wurde er vom schweigenden und gehorsamen Mönch, der sich dort niederließ, um für die Kirche zu beten und „beim Kreuz Christi“ zu bleiben. Die römisch-katholische Welt, zu sehr noch auf alte Autoritäten fixiert, war erregt. Sie fürchtete einen Aufstand der Reaktionäre, der unter ex-päpstlicher Führung zu einer Kirchenspaltung führen könnte. Doch dafür ist der Text zu weltfremd, zu kurzatmig und ‑ anders als es Kardinal Sarah vielleicht lieb wäre – er schlägt keinen kämpferischen oder polemischen Ton an. Zwar verteidigt er die allseits ausgehöhlte Ehelosigkeit der Priester, doch er ist in einem professoral belehrenden und schwer verständlichen Stil abgefasst. Gemessen an seiner anspruchsvollen These entfaltet der Autor keine diskursive Kraft mehr. Dabei beschwört er seine „christologisch-pneumatische Exegese“, doch auf welches Pneuma, welchen konkreten Geist er sich beruft, weiß er nicht mehr zu erklären. Es ist, wie ich vermute, der Geist seiner eigenen Innenwelt.
Welcher Geist?
Gewiss, Ratzinger bezieht sich zunächst auf biblische und historische Bausteine und man nimmt sie mit Interesse zur Kenntnis. Bald aber greift er pauschal auf Band II seiner Jesusbücher zurück, um sich auf das Johannesevangelium zu konzentrieren und das Heilsgeschehen des „Neuen Bundes“, das mit Jesu Abendmahl begann, klar gegen den „Alten Bund“ abzusetzen. Das Abendmahl Jesu soll ein qualitativ neues Priestertum begründet haben. Doch damit hat Ratzinger schon im Juli 2017 die jüdische Theologie verprellt und die katholische nicht überzeugen können. Diese pauschale These ist auch deshalb befremdlich, weil ausgerechnet das Johannesevangelium statt eines Abendmahlsberichts den Bericht von der Fußwaschung kennt, der durchaus sakramentskritische Akzente setzt. Doch der Autor erhebt sich in erhabene Denkhöhen und flüchtet ‑ wie schon in den Jesusbüchern ‑ früher in so hehre Worte wie: „Das Kreuz Jesu Christi ist der Akt der radikalen Liebe, in dem sich die Versöhnung zwischen Gott und der sündigen Welt real vollzieht.“ Dadurch werde das „überwesentliche“[?] zugleich zum „täglichen“ Brot der Kirche. Solche Umschreibungen tragen, wie ich fürchte, zur Verteidigung des katholischen Pflichtzölibats nur wenig bei. Auch lässt sich das kategorische Eheverbot der Gegenwart nicht durch den Bericht aus archaischen Davidzeiten begründen, als sich junge Männer vor der Überreichung eines heiligen Brotes von Frauen fernhalten mussten (1 Sam 21, 5f).
Ungeklärt ist auch Ratzingers Denkreise, wenn er anschließend nicht vom christlichen, sondern nur noch vom „katholischen“ Priestertum spricht. Dabei nehmen nicht-katholische, insbesondere die reformatorischen und nachreformatorischen Kirchen die alte katholische Überheblichkeit wahr, weil diese Institution die genuin biblischen Impulse etwa eines Martin Luther immer noch nicht verstanden hat und für sich ein legitimes Priestertum reserviert. Zur Erhärtung der mit Pathos getränkten „pneumatischen“ Interpretation passt auch Ratzingers Deutung anderer Worte: „Der Herr ist mein Erbteil“ (Ps 16,5), „… vor dem Herrn stehen und ihm dienen“ (Hippolyt von Rom, gest. 235) oder „Heilige sie in der Wahrheit“ (Joh 17,17). Was können sie belegen? Schließlich treffen sie eine Aussage über alle jüdischen bzw. christlichen Personen, die sich ihrem biblischen Glauben verpflichtet wissen. Welcher Geist gibt dem Autor das Recht, solche Worte zum Privileg katholischer Priester umzumodeln, die dafür zur Ehelosigkeit verpflichtet sind? Das kann auch Joseph Ratzinger nicht plausibel machen; eine subklerikale Einübung in die Unterscheidung der Geister wäre wohl hilfreich.
Unkritisches Kirchenbild
Überzeugend finde ich den Hinweis, dass diese Ausführungen den persönlichen Erfahrungen des jungen Mannes entsprechen, als er die Tonsur und die Priesterweihe (1948 und 1951) empfing. Ohne Antwort bleibt aber die darauf folgende Frage, welche Folgerungen der bischöfliche, kuriale und päpstliche Oberhirte aus den weltweiten, oft destruktiven Zölibatserfahrungen seiner Mitbrüder zog, mit denen er doch täglich konfrontiert war. Auch ihm hätte es gutgetan, in dieser Zeit einmal die Geschichte des katholischen Pflichtzölibats aus der Perspektive der Opfer zu lesen und den daraus folgenden menschlichen Katastrophen und grauenvollen Entwürdigungen auf den Grund zu gehen. Von Anfang an und für Viele, so meine Überzeugung, hatte das kategorische Sexual- und Eheverbot eine toxische Wirkung. Umso unverständlicher ist Ratzingers Intervention im Augenblick, da auch sein eigenes Verhalten (als Erzbischof, Glaubenspräfekt und Papst) gegenüber Sexualverbrechen zur Debatte steht.
Vermutlich verdrängt der römische Altbischof noch immer den geistlichen und politischen Kontext der aktuellen Diskussion, statt ihn aktiv zu begreifen. Einerseits erschaudern wir vor dem spirituellen Chaos, in das zahllose, vom Zölibat überforderte Priester noch immer getrieben werden, andererseits erschreckt uns die spirituelle Wüste, in die das aktuelle Priestermodell zahllose Gemeinden führt. Verstörend muss diese Diskussion von vorgestern für alle Beobachterinnen und Beobachter auch deshalb sein, weil der mögliche religiöse Sinn eines ehelosen und enthaltsamen Lebens überhaupt nicht bestritten wird („Wer es fassen kann, der fasse es!“ [Mt 19,12]) Hoch geachtet bleibt dieses Leben ja in den religiösen Gemeinschaften von Mönchen und Nonnen. Warum reicht das nicht aus?
Allerdings wird auch Ratzingers Plädoyer von einem Gedanken zusammengehalten, für den er leider keine biblischen Argumente anführen kann. Gemäß seiner Theologie nimmt „der Herr“ das Leben von Priestern so umfassend in die Pflicht, dass für Vater- und Familienpflichten kein Raum mehr bleibe. Das ist nun eine Behauptung, die schon empirisch widerlegbar ist; man spreche nur mit Politikern oder beruflich überlasteten Ärzten, seien es Frauen oder Männer, die ihre Strapazen nur dank einer solidarischen Partnerschaft durchhalten können. Zudem dichtet Ratzingers Behauptung Gott eine unerträgliche Heteronomie, also einen eifersüchtigen Verfügungs- und Besitztrieb an, vor dessen Auswirkungen man zumal junge Menschen nur warnen kann. Man erinnert sich an den grandiosen, von Ratzinger wohl immer bewunderten Fehlschluss des Augustinus, der bei seiner Bekehrung meinte, er müsse seine jahrelange, ihm treue Lebensgefährtin buchstäblich in die afrikanische Wüste schicken, um seiner christlichen Berufung folgen zu können. Das war ein verheerender Beschluss, weil er sich bis heute wie ein Fluch über das katholische Priesterbild legt.
Zwischen Platonismus und Erbsündenmythos
Allerdings sollten wir bei der Suche nach Ratzingers Zölibatswelt noch tiefer graben. Ich stoße auf drei weitere Aspekte, die vielleicht weit wegliegen, aber seinen Fehlschluss von ferne steuern und ihn erst verständlich machen. Zum einen ist Ratzinger mit seiner gesamten Theologie das grandiose Opfer eines Platonismus, der geradezu zwanghaft „ontologisch“ denkt, weil er allen zeitlichen Bedingungen entrinnen will. So reduziert er alle Erscheinungen auf ein uns unsichtbares und unvergängliches, den Tod überdauerndes Wesen und zerschlägt, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, die Theologie der Alten Kirche alle funktional orientierten Erzähltraditionen der Bibel und destilliert aus ihnen Wesensaussagen heraus. Aus dem von Jahwe erwählten „Sohn Gottes“ wird die zweite, vor aller Zeit geborene göttliche Person, und aus der „jungen Frau“, die empfängt und einen Sohn gebiert (Jes 7.14), wird die „immerwährende Jungfrau“ (in, während und nach der Geburt). Nach demselben Denkmuster gerät der funktional sachgemäße Lebensstil der katholischen Priester in ein zeitlos ontologisches Konstrukt, zu einer – man höre genau: ontologischen Enthaltsamkeit. „Man könnte sagen, die funktionale Enthaltsamkeit war von selbst zu einer ontologischen[!] geworden. Damit war von innen her ihre Begründung und Sinngebung verändert.“ Es reicht also nicht, dass ein Priester seinen priesterlichen Funktionen unverkürzt nachgeht, denn ontologisch gesehen muss seine Sexualität an und für sich verschwinden. Wie das gehen soll, wird nirgendwo erklärt.
Diesem Platonismus schließt sich eine unkritische (man kann auch sagen: vormoderne) Identifizierung von göttlichem Heil und den kirchenamtlichen Institutionen an. Ratzingers Gedankenwelt wird nur unter dieser Voraussetzung schlüssig. Man kann das an seinem Umgang mit den drei von ihm angeführten Schlüsselzitaten erkennen. Zunächst zitiert er die Schrift, gemäß welcher „der Herr“ Ratzingers und aller Priester Los in Händen hält. Das postpäpstliche Unbewusste aber ersetzt „den Herrn“ durch „die Amtsträger der Institution Kirche“. Die römisch-katholische Hierarchie bestimmt also vorbehaltlos über das Leben ihrer Priester, als wäre sie der Herr selbst (der Fachjargon spricht vom „sichtbaren Oberhaupt“ der Kirche). Unter der Hand und vom hochreflektierten Meistertheologen unbemerkt wird also eine frei gewählte, religiös motivierte Lebensform zum hierarchiedienlichen Mittel, das junge Männer für diese Institution absolut, also für einen totalitären Dienstanspruch verfügbar macht.
Doch selbst der römisch-katholischen Kirche steht es nicht zu, ihre Erwartungen an verfügbare Personen unbedacht als Gottes Willen darzustellen. Genau dieser Heilsanspruch führte schon in biblischen Zeiten dazu, dass das exklusive Priesterprivileg ad absurdum geführt wurde: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“ (1 Pt 2,29) Paradoxerweise erklärt dieses Schriftwort alle Getauften unterschiedslos zu Priesterinnen und Priestern; eine Differenzierung zwischen Priestern und Anderen wird sinnlos. Die spätere Unterscheidung zwischen „Besonderem“ und „Gemeinsamem“ Priestertum ist nur noch als ein peinlicher Rückfall zu entlarven (was dem 2. Vatikanum leider entging). Doch auch in Zeiten höchster Amtsgnaden hat dies der Theologe auf dem Papstthron nie begriffen: Entweder man hält formal am Gedanken des Priestertums fest, dann kann es keinerlei unterscheidendes Privileg mehr bedeuten, oder man erkennt: christlich gesehen geht unsere Erwählung durch Gott allem menschlichen Handeln und aller platonischen Ontologie voran. So kann das Heil auch nicht mehr von einer kultischen Opferfeier abhängig werden, denn jetzt gilt die Verkündigung des Wortes, wie das zitierte Schriftwort sagt. Die Kirche lebt also nicht von der Eucharistie, wie eine nachvatikanische Theologie gerne unterstellt, sondern ist und bleibt die Kreatur des Wortes.
Zum Schluss sei ein letzter Motivstrang angedeutet, der dem Augustinuskenner Ratzinger wohl besonders gelegen kommt: Warum konnte die Tradition der kategorischen Ehelosigkeit über Jahrhunderte hin diesen unwiderstehlichen Bann entfalten? Hinter diesem Menschenbild, das sichtlich aus latent sexualfeindlichen Motiven lebt, steckt der augustinische Mythos von der Erbsünde. Sie hat unsere Impulse zu Freiheit und Selbstbestimmung schon immer vergiftet. Dieser Mythos nährt sich vom heiligen Schrecken darüber, eine Frau könnte unseren Stammvater zur Sünde aller Sünden verführt und damit alles menschliche Streben mit Unheil infiziert haben. Diese Sexualangst sprengt alle Grenzen und wird in ihren Folgen potenziert. Am Portal der Jungfrau in Notre-Dame von Paris wird sogar die Schlange als eine betörende Frau mit nacktem Oberkörper dargestellt. Offensichtlich muss auch jede entfernte Sexualerfahrung weit vom Altar gehalten werden. So erfordert die Heilung von der Zölibatsneurose die Verarbeitung der immer noch theologisch begründeten und gepflegten Sexualphobien. Sie aber setzt eine Überwindung des Platonismus voraus. Zu Recht spricht die französische Zeitung Le Figaro deshalb von den „manichäischen Theologenduellen“, die der alte Kardinal und Roms Altbischof einer staunenden Öffentlichkeit vorführen. Und man weiß nicht, ob sie sich wütenden Fragen oder einer demütigenden Lächerlichkeit preisgeben.
Quasipäpstlicher Privatsekretär
Ich nehme dieses Schauspiel mit gehörigem Ärger, aber nicht ohne Mitleid für Joseph Ratzinger wahr; denn sein hohes Alter und seine Gebrechlichkeit machen ihn zunehmend verletzlich. Je älter er wird, umso mehr fällt auf, wie sehr er sich geradezu schutzlos von den religiösen, oft unausgereiften Emotionen seiner Kindheits- und Jugendjahre bestimmen lässt. Diese Gefahr müssten diejenigen erkennen, die täglich um ihn sind und – ob sie es wollen oder nicht – Verantwortung für ihn zu übernehmen haben. Dies und die peinlichen Missverständnisse im aktuellen Veröffentlichungsstreit führen mich zur Frage, ob der quasipäpstliche Privatsekretär dieser Verantwortung wirklich gewachsen ist, ob er seinen hochbetagten Meister angemessen berät und davor bewahrt, dass er von Dritten für unangebrachte Ziele missbraucht wird. Josef Ratzinger aber ist – gerade wegen seines Alters ‑ nachdrücklich an das Schweigen zu erinnern, zu dem er sich 2013 gegenüber seinem Nachfolger verpflichtete. Vermutlich kann er den epochalen Erneuerungswandel nicht mehr verarbeiten, der nach seinem Rücktritt an Fahrt aufgenommen hat. Als von allen Ämtern entbundene Person müsste er aber zu einer vertrauenden Gelassenheit finden, zu einer „kirchlichen Gesinnung“, die er früher im Übermaß von Dritten abverlangt hat.