Sexueller Missbraucht im Schutz der katholischen Kirche. Erklärungsversuch eines Theologen
Die Canisiusschule in Berlin ist wegen Missbrauchs von Abhängigen ins Gerede gekommen. Und viele fragen sich: Warum ausgerechnet diese Schule? Sie ist als katholische Eliteinstitution bekannt und angesehen. Sie wird geleitet von anerkannten Männern des katholischen Eliteordens schlechthin. Das Debakel passiert ausgerechnet in einer Phase, da sich die katholische Kirche in Berlin auch auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet ein gutes Renommee aufbaut. 20 % der Schüler sind zudem evangelisch und die Jesuiten gelten auch unter Benedikt XVI. nicht als rückwärtsgewandt. Dabei haben sie es im Augenblick schwer genug. Auch sie haben gravierende Nachwuchssorgen. An vielen Orten Deutschlands müssen sie ihren Rückzug planen und der gegenwärtige Papst fordert auch von ihnen seinen Tribut. Innere Spannungen gibt es da genug zu bewältigen.
Aber wer den Skandal nur von dieser Warte aus betrachtet, kann sich über Rektor Mertes nur wundern. Jetzt trägt er Missbrauchsfälle in die Öffentlichkeit, die zwischen 1975 und 1983 geschehen, also ein Vierteljahrhundert vergangen sind. Er tut dies seinen heutigen Schülern an. Was haben sie damit zu tun? Trägt er in seine Schule nicht eine lähmende Unruhe hinein, die das nicht verdient hat? Wie man hört, wehren sich Schüler heftig gegen diese Diskussion: „Wir sind keine Vergewaltigerschule.“ Sind die 25 bis 35 Jahre alten Ereignisse noch wirklich ein Skandal oder wird nur ein Skandal aufgeputscht, weil es mal wieder um das Schlüssellochthema von Kirche und Sexualität geht?
Das wäre kurzsichtig und unmoralisch gedacht. Denn zu den Skandalen von damals kam erst der eigentliche hinzu, denn die Kette des Missbrauchs von Abhängigen wurde verschwiegen und die Opfer ließ man im Stich. Schon vor Jahrzehnten konnten die Folgen eines solchen Schicksals bekannt sein, denn die Opfer aus Jugendgruppen und Internaten lebten unter uns, oft depressiv und mit Unglück geschlagen. Wir konnten ihnen kaum helfen. Inzwischen wissen wir mit großer, empirisch unterbauter Gewissheit: Solche Erfahrungen stoßen Menschen nicht nur in Einsamkeit und Scham, sondern nehmen den Betroffenen auch ihre Würde, zerstören ihre Biographien und ruinieren ihre Fähigkeit zu Liebe und Vertrauen zu anderen Menschen. Manches Mal zwingen sie das Opfer ein Leben lang, dieses nagende Geheimnis mit sich herumzutragen; auch den engsten Vertrauten, Freunden und Partnerinnen konnten sie es nie mitteilen.
Vielen bleiben nur noch Wut und Verzweiflung; das ist schlimm. Noch schlimmer ist, wenn die Opfer den Missbrauch in einer Art Notwehr „vergessen“, also verdrängen. So spalten sie ein Stück ihres Lebens von sich ab, und dieses Verdrängte kann ihr ganzes Leben vergiften. Und ganz katastrophal ist es, wenn schwere Depressionen, die Neigung zu Selbstverletzung und Suizid übermächtig werden. Wieder andere nehmen sich nicht mehr als ein verantwortliches, gar freies Ich wahr. Sie stehen buchstäblich neben sich – die Fachleute reden von dissoziativen Erfahrungen. Ihre Identität ist ein für allemal beschädigt.
Genau deshalb ist es ein noch größerer Skandal, wenn die Täter von damals zu keiner Genugtuung aufgefordert, keiner öffentlichen Verurteilung zugeführt oder dazu angehalten werden, sich den Opfern wenigstens zu stellen und sie um Entschuldigung zu bitten. Verzeihung könnte höchstens am Ende eines langen und schmerzlichen Prozesses stehen, den Dritte begleiten müssen. Keine dieser Beziehungstaten hat Aussicht auf eine hilfreiche Bearbeitung, wenn das Opfer nicht anerkannt, nicht ernstgenommen und unterstützt wird.
Aus diesem Grund verdient der Rektor der Schule höchste Anerkennung, wenn er vorbehaltlos und ohne Entlastungsversuche über die Vergangenheit redet, die Betroffenen in einem ersten Schritt um Entschuldigung bittet und sie einlädt, sich ihm oder der unabhängigen Vertrauensperson Ursula Raue anzuvertrauen. Inzwischen ist bekannt, dass er sich damit drei Jahre Zeit ließ; aber die Betroffenen hatten ihn um Vertraulichkeit geben. Um jede neue Vertuschung und Verharmlosung zu verhindern, geht er jetzt an die Öffentlichkeit, die ihm im rauen, nicht unbedingt religionsfreundlichen Berlin nicht angenehm sein kann. Aber dies ist der einzige Weg, auf dem er die Würde der Opfer in einem ersten Akt respektieren, nach Möglichkeit stärken und wiederherstellen kann.
Dass dieser Aufruhr die heutigen Schüler beunruhigt und verstört, ist verständlich. Man muss ihnen klar machen: Dieser Einschnitt betrifft nicht sie, sondern vergangene Jahrzehnte, zugleich geschieht er zu ihrem langfristigen Schutz. Wie wir aus der deutschen Geschichte hinreichend wissen, führt für spätere Generationen an der aktiven Erinnerung vergangenen Unrechts kein Weg vorbei. Dazu gehört auch, dass aufgehäuftes Unheil sich nur bedingt wieder zum Guten wenden lässt. Manche sind schon endgültig daran zerbrochen, andern wird man nur noch hilflos und mit einigen symbolischen Gesten beistehen können, wieder andere wird auch die aktuelle Aktion nicht mehr aus ihrer Isolation holen. Über Ausmaß und konkrete Umstände des Unrechts lässt sich gegenwärtig ohnehin nicht viel sagen. Endgültige Zahlen sind noch nicht bekannt; über diejenigen, die wegschauten und nicht gegen die Täter intervenierten, wurde noch nicht gesprochen, ebenso wenig wie über frühere Signale, die von den Verantwortlichen ignoriert wurden. Dass einer der beiden Beschuldigten auch später wieder mit Jugendlichen arbeitete, macht die Sache nicht einfacher. Wichtig ist deshalb, dass die Opfer jetzt sprechen können und professionell begleitet werden. Der Jesuitenorden trägt dafür die erste Verantwortung.
Natürlich wird das Aufsehen gesteigert, weil eine katholische Institution und zwei Jesuiten in den Skandal verwickelt sind. Manche sehen sich in ihrer Religionsdistanz bestätigt. Darüber ist bei den Betroffenen keine Wehleidigkeit am Platz, denn sie müssen sich dem selbstverordneten Wettbewerb stellen. Mit hohen Maßstäben und Orientierungsversprechen traten sie an. Im Ansehen vieler fallen sie umso tiefer, denn die Realität wird an ihrem Selbstbild gemessen. Deshalb ist eine tiefe Enttäuschung bei den Andern im Spiel, die auf die Schule gebaut haben und bislang – so meinten sie – nie enttäuscht wurden. In einer Epoche wachsender Werteproblematik haben sie ihre Kinder dieser selbstbewussten Institution anvertraut und zum Teil ihr Spiel verloren. Wie viele von diesen Außenstehenden haben weggeschaut, um das Ansehen ihrer Kirche zu retten? Auch darüber wird noch zu reden sein.
Schließlich war mehr als pädagogischer Eifer im Spiel. Innerhalb der Schule hatte sich die „Gemeinschaft des christlichen Lebens“ etabliert, die inzwischen wohl in die „Ignatianische Schülergemeinschaft“ (ISG) übergegangen ist. Solche Organisationen bieten den Jugendlichen über die schulische Arbeit hinaus seelsorgerliche Betreuung an, die noch intensiver die existentiellen, emotionalen und religiösen Tiefenschichten Jungendlicher intensivieren. Ein Eingriff in diese Bereiche verlangt noch drastischere Schutzmechanismen: Unbedingte Professionalisierung der Betreuer, Klärung und Festigung ihrer eigenen psychischen Situation, ein System von konsequenter Transparenz, Kontrolle und intensiver Supervision. Die Sensibilisierung des gesamten beteiligten Umfelds kommt hinzu.
Wirklich hilflos macht eine letzte Frage: Wie ordnen wir diese Affäre in die vielen Missbrauchsfälle ein, die im vergangenen Jahrzehnt die katholische Kirche weltweit erschüttern? Wir haben das schändliche Schauspiel des ehemaligen Wiener Kardinals und Kinderschänders J. Groher nicht vergessen, der zu seinen Untaten nie auch nur ein Wort über die Lippen brachte und die Betroffenen in ihrer Scham ließ. Man erinnert sich an die Verurteilung der Diözese Chicago zu enormen Geldbeträgen an die Opfer. Man liest von der Bereitschaft etwa der Diözese Fairbank in den USA, die sich wegen des Missbrauchs von fast 300 Opfern zur Zahlung von 10 Millionen Dollar bereit erklärte. Wir sind Zeugen einer neuen Skandalwelle, in der es um insgesamt 320 000 Kinder geht, die zwischen 1914 und 2000 in ganz Irland zu Opfern des Missbrauchs und der Gewalt wurden. Die Ausmaße des Unrechts sind unermesslich. Gewiss, der gegenwärtige Papst schreitet gegen Missstände nach Möglichkeit entschieden ein. Er zitiert Bischöfe nach Rom und bewegt andere zum Rücktritt. In eigenen Konferenzen bespricht er die Situation mit den verantwortlichen Kirchenführern. Schon mehrere Male hat Benedikt XVI. sich bei Betroffenen in persönlichen Gesprächen entschuldigt. Seit 2001 ist der Missbrauch von Minderjährigen der römischen Glaubenskongregation zu melden, die ihn (nach innerkirchlichem Recht) als schwere Straftat zu ahnden hat. Sie gilt bis zum 18. Lebensjahr des Opfers; erst dann läuft eine Verjährungsfrist von zehn Jahren.
Das ist viel zu wenig. Die päpstlichen Aktionen wirken hilflos, weil es bei diesen Direktmaßnahmen bleibt. Nach wie vor beschwört der Papst Priesteramtskandidaten, intensiver zu glauben und mehr beten. Es gibt z.B. Priesterseminare, in denen der Fernsehempfang und die Benutzung des Internet streng reguliert sind. Mehr nicht? Der Kern des Problems scheint noch nicht erkannt zu sein. Die römischen Strafbestimmungen sind unter dem Titel „Schutz der Heiligkeit der Sakramente“ veröffentlicht und man hängt die Straftat des Missbrauchs einem Katalog von Regelverletzungen gegen Eucharistie, Priesterweihe und Bußsakrament an. Offensichtlich sollen sich die Priester als heilige Personen nicht mit solchen Handlungen beschmutzen. Was für eine Psychologie! Von den Opfern ist keine Rede.
Die deutschen Bischöfe haben mit ihren Leitlinien vom September 2002 zu bestimmten Fragen Nägel mit Köpfen gemacht; sie erwähnen wenigstens das Leid der Opfer. Sie geben zu, dass man die Tragweite des Problems lange verkannt hat. Eine Vertrauensperson hat tätig zu werden und das Gespräch mit den Opfern ist zu suchen. Ferner muss der Bischof unterrichtet und die Öffentlichkeit angemessen informiert werden. Von großer Wichtigkeit sind vorbeugende Maßnahmen gegen Wiederholung der Tat. So muss der Dienstherr etwa bei einem Ortswechsel des Delinquenten die dort Verantwortlichen entsprechend informieren und eine weitere Arbeit mit Jugendlichen unterbinden. Von der Suspension eines Kinderschänders hat man noch nie etwas gehört. Hingegen verliert ein Geistlicher, der heiratet, automatisch Ämter und Klerikerstand. Nach welchen Regeln wird hier vorgegangen?
Die bischöflichen Bestimmungen sind gut sieben Jahre alt. Haben sie etwas bewirkt? Gewiss, mit diesen Bestimmungen lassen sich bekannt gewordene Fälle offensiver regeln und eine vorbeugende Wirkung ist ihnen nicht abzusprechen. Dennoch schafft die Kirche nach wie Randbedingungen, die pädophile Handlungen begünstigen und eine wirksame Prävention schwächen. Damit sei keinen Einzelpersonen Schuld zugesprochen, aber das klerikale Selbstverständnis der katholischen Kirche ist einer kritischen Analyse zu unterziehen. Vier Punkte seien hier genannt:
Erstens ist über die Sakralisierung der priesterlichen Kernfunktionen nachzudenken. Sie ist vom Neuen Testament nicht gedeckt und steht mit einem modernen Priesterbild nicht in Einklang. Um die Priestern schwebt immer noch eine Sphäre des Heiligen und Unberührbaren. Der Papst bestärkt diese Haltung massiv. Dadurch wir die Abhängigkeit zumal junger Menschen von ihnen gefördert. Gegebenenfalls wird geschwiegen, weil man diesen heiligen Stand nicht schädigen will.
Zweitens ist der katholische Klerus von einem intensiven Corpsgeist geprägt. Das fördert die Mechanismen der Geheimhaltung und der Sorge um das eigene Image. Deshalb muss der katholische Klerus endlich die urdemokratischen Tugenden der Transparenz und Partizipation lernen.
Drittens sagen uns Psychoanalytiker, dass pädophile Neigungen oft mit Ichschwäche, Anlehnungsbedürfnis und dem Willen zur Einordnung einhergehen. Aber stärker als in vergangenen Jahrzehnten fordern die katholischen Seminare und Studienhäuser wieder Gehorsam und Unterordnung; die Braven werden privilegiert und die Rebellen weggeschickt. Das ist für einen eigenständigen und selbstbewussten Lebensstil schädlich. Man kann nicht behaupten, die Anzahl der Pädophilen sei unter katholischen Priestern signifikant höher als unter anderen Bevölkerungsgruppen. Aber die Chance, unbemerkt und ungestraft seiner fehlgeleiteten Neigungen nachzugehen, ist größer.
Viertens ist über den Zölibat zu reden, denn das Problem der Pädophilie lässt sich nicht von der zölibatären Gesamtsituation trennen. Priester haben sich einer jeden Sexualität zu enthalten, deren Verlockung aber immer präsent ist; sie werden deshalb in eine Tabuzone abgedrängt. Das schafft Unsicherheit; die wiederum zum Schweigen führt, dieses zur Individualisierung schambesetzter Probleme und zur Unfähigkeit, sich in persönlichen Fragen beraten und helfen zu lassen.
Generalisierungen sind immer gefährlich, aber mit Gewissheit waren die vermuteten Täter zu ihrer Zeit unzureichend ausgebildet. Nehmen wir an, dass die Täter ihre lange jesuitische Ausbildung in den späten 50er oder 60er Jahren genossen haben, dann wurden die Fragen der Sexualität höchstens unter Aspekten der Selbstdisziplin verhandelt. Man kann davon ausgehen, dass es damals noch keine psychologische, gar psychoanalytische Begleitung gab. Sexualität hat man Fragestellung mit spitzen Fingern angerührt. Gewiss, zumal unter Jesuiten wurde immer auf Korrektheit geachtet, aber man glaubte auch, die Welt ließe sich mit moralischen Regeln ordnen. Es war eine Welt, in der die Opfer leider keine Rolle spielten.
(erschienen im Tagesspiegel, 02.02.2010, 21)