Das Schicksal der Prophetie in der (tschecho)slowakischen und in der niederländischen Kirche I.

„Im Totalitarismus das Leben meistern“

Öffnung und Aufbruch nach dem 2. Vatikanischen Konzil

Für alle Kirchen Europas bedeutete das 2. Vatikanische Konzil einen epochalen Durchbruch. Wir entdeckten uns als aktiv partizipierendes Volk Gottes. Doch hatte dieses Ereignis unterschiedliche Auswirkungen. Im folgenden vergleiche ich die (tschecho)slowakische mit der niederländischen Kirche1.1 In der niederländischen Kirche

In der niederländischen Kirche führte dieser Durchbruch zu einer geradezu explosiven Kreativität in Liturgie und Gemeindeleben, Katechese und Theologie. Die erste Generation der Bischöfe unterstützte diesen Aufbruch. Der charismatische Wilhelmus Beckers, Bischof von Den Bosch, setzte sich an die Spitze der Erneuerung. Mit seinem frühen Tod (1966) verlor die Erneuerungsbewegung einen ihrer großen Inspiratoren.

Das 2. Vatikanische Konzil wurde von Anfang an in Kirche und Gesellschaft intensiv diskutiert. Viele alle Reformideen zu Lehre, Liturgie und Kirchenstruktur, die z.B. in Deutschland schon bekannt waren, wirkten völlig neu, geradezu revolutionär, und viele Gemeinden und Gruppen gingen in großer Spontaneität eigene, oft eigensinnige Wege. So war es auch für die progressiven Bischöfe nicht leicht, gemeinsame Linien zu entwickeln. Diese explosive Situation führte zu vielen Spannungen und Spaltungen. Eine große Hilfe waren der erneuernde und zugleich mäßigende Einfluss von einigen Theologen (z.B. Piet Schoonenberg und Edward Schillebeeckx) sowie der immer lernfähige und ausgleichende Metropolit der Niederlande, Kard. Bernardus Alfrink, der 1955-1976 Erzbischof von Utrecht war.

Zum Markstein wird die Pastoralsynode von Noordwijkerhout (1968-1970). Mit ihren Forderungen zur Abschaffung des Zölibats, ihrer offenen Kritik an Humanae Vitae und ihren gesellschaftskritischen und befreiungstheologischen Ideen tritt sie offen in Konflikt mit Rom.

Dennoch war das Gefühl der inneren Befreiung ungeheuer. Jetzt konnte man den beiden großen reformierten Kirchen [Hervormde kerk und Gereformeerde kerk] auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten, dann man war nicht mehr direkt von Rom gesteuert. Die Bibel wurde neu entdeckt; man entwickelte eine eigenständige Exegese. In der systematischen Theologie wurden eigene Akzente gesetzt (Kritik an der Neuscholastik, neue Konzeptionen, biblische Inspirationen). In den vielen missionarischen Aktivitäten begann man, außereuropäische Kulturen ernst zu nehmen. So entwickelte sich das Gefühl einer eigenständigen Kirchenpraxis.

Für diesen neuen Aufbruch bot die staatsrechtliche Stellung der katholischen Kirche enorme Vorteile. Staatsrechtlich war sie absolut frei. Zwar war sie durch keine Konkordate geschützt, sondern dem politischen Kräftespiel ausgesetzt, aber dieses Kräftespiel war für die katholische Kirche sehr günstig. Sie war eine der drei unverzichtbaren „Säulen“ der niederländischen Gesellschaft. Zu den staatlichen Organen gab es eine kooperationsbereite Distanz, zugleich hatte sie ein eigenes Bildungs-, Gesundheits- und Freizeitsystem entwickelt. Ihre innere Distanz zu den staatlichen Organen war größer als die der reformierten Kirchen, doch für das gesamtgesellschaftliche Leben war sie unverzichtbar. Neben der protestantischen und der sozialistischen bildete sie eine der drei großen Säulen der Gesellschaft. Ein gutes Drittel der Jugend besuchte katholische Schulen und seit 1923 unterhielt sie eine eigene Universität (Katholieke Universiteit Nijmegen). Die ganze Gesellschaft war „versäult“. Jede der drei Säulen hatte ein je eigenes Bildungssystem, Gesundheitssystem und Freizeitsystem ausgebildet. Die Schulen waren größtenteils konfessionell organisiert. Es gab also in den katholischen Teilen des Landes ein dichtes katholisches Milieu. Man kannte sich und hatte sich in zahlreichen Vereinen vernetzt. Durch alle strömte jetzt ein Geist der Erneuerung

Diese Entwicklung korrespondierte stark mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Seit den 1960er Jahren hießen die großen Stichworte Emanzipation, Gleichberechtigung (Entwicklung der feministischen Theologie), gesellschaftliche Gerechtigkeit (früher Einfluss der Befreiungstheologie) und Solidarität mit den Opfern der Gesellschaft. Viele dieser Einflüsse sind heute rezipiert, aber säkularisiert und massiv verbürgerlicht und in Interessengruppen aufgespalten.

Heute werden diese innerkirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen meistens kritisch gesehen, weil sie innerkirchlich und gesellschaftlich Prozesse der Säkularisierung einleiteten und zu Zersplitterungen führten. Dennoch bleibt wahr, dass die großen Aufbrüche nach dem 2. Vaticanum auch das Gesicht der zivilen Gesellschaft massiv verändert haben. Die katholische Kirche wurde zur ebenbürtigen Partnerin im gesellschaftlichen Dialog und man nahm sie als ebenbürtige politische Kraft ernst. Was später auch immer passierte: die katholische Kirche sollte jetzt nicht mehr als eine Institution wahrgenommen werden, die von Rom abhängig, also unselbständig ist.

1.2 In der tschechoslowakischen Kirche

Doch überwog die kritische Auseinandersetzung mit dem atheistischen staatlichen Regime. Zwar gab es auch einen starken innerkirchlichen Reformbedarf, doch dieser war relativ. Es gab nämlich zwei Spannungsfelder, die miteinander ausgeglichen werden mussten:

(a)  Zwischen Hierarchie und reformorientierten innerkirchlichen Kräften, zu denen in bestimmtem Maße die Verborgene Kirche gehörte,
(b)  Zwischen der tschechoslowakischen Amtskirche als umfassender Körperschaft und dem repressiven staatlichen Regime.

Für beide Spannungsfelder bildete das 2. Vaticanum eine enorme Quelle der Kraft und inneren Inspiration. Doch schon aus Gründen der Selbsterhaltung betonte man nach außen keine Distanz zu Rom, schließlich fühlte man sich von Rom geschützt und benötigte diesen Schutz. Alle innerkirchlichen Spannungen mussten innerhalb dieses römischen Schutzraums ausgetragen werden.

Zwar nahmen einige Prälaten aus der Tschechoslowakei am 2. Vaticanum teil, doch sie konnten mit ihrem Heimatland nicht unkontrolliert kommunizieren.[1] So wurde das 2. Vatikanische Konzil eher als eine Leistung Roms und westeuropäischer Landeskirchen rezipiert. Seine Impulse wurden eher passiv übernommen.

Man betrachtete sie weniger als den Beginn eigener kreativer Innovationen, sondern als die Übernahme beschlossener Regelungen, die für die universale Kirche zu gelten hatten. Auch wurde der universale Charakter der Weltkirche neu entdeckt, aber man verstand ihn eher als eine geschlossene und unüberwindliche Front, nicht als den Beginn eines vielfältigen, vitalen und sehr flexiblen Netzwerks. Das wäre überhaupt nicht möglich gewesen.

Viel wichtiger war das Interesse an bestimmten Freiräumen gegenüber dem totalitären staatlichen Regime. Man hoffte auf eine Humanisierung der Staatsraison und unterstützte die große Errungenschaft der 1960er Jahre, den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der im August 1968 brutal beendet wurde. Diese Zeit wurde für mögliche Öffnungen nach außen benutzt. Die Konzilsdokumente und zahlreiche Bücher, die in Rom in die slowakische und tschechische Sprache übersetzt wurden, konnten jetzt ins Land geschmuggelt werden.

2. Kirchen in der Krise

2.1 Die Krise der niederländischen Kirche

Die Krise der niederländischen Kirche beginnt mit einer schleichenden, bald offenen Entfremdung von der römischen Zentrale. Bischöfe und Theologen wurden gemaßregelt, der „Holländische Katechismus“ wurde offiziell kritisiert und verboten. Eine schleichende Polarisierung zwischen konservativen und progressiven katholischen Kräften bricht jetzt offen auf. Sie hatte 1968 mit Humane Vitae begonnen. Diese Enzyklika wurde vom Gros der Katholiken abgelehnt, doch eine neue Generation von Bischöfen hielt offensiv an ihr fest. Im Jahr 1979 enden die 1970er Jahre schließlich mit einem offenen Konflikt, als die niederländischen Bischöfe im Herbst 1979 zu einer außerordentlichen Synode nach Rom zitiert und E. Schillebeeckx kurz danach mit einem Prozess überzogen wurde.

Diese Entwicklungen galten offiziell als das Ende des „niederländischen Experiments“. Sie waren auch das Fanal zum ausdrücklichen innerkirchlichen Widerstand, der beim Papstbesuch im Mai 1985 seinen Höhepunkt erreichte.

Jetzt reagierten progressive Gruppen und Gemeinden mit klarem Widerstand, offenen Konfliktstrategien und demonstrativen Zusammenkünften (Entstehung der „8-mei-beweging“). Später zersplittert sich die Kirche. Viele emigrieren, bilden unabhängige Gruppen. Eine wichtige Rolle spielt bis heute die Ekklesia von Huub Oosterhuis in Amsterdam. Sein großer Einfluss entsteht durch seinen spirituellen Einfluss in Sprache, Musik und liturgischer Gestaltung. Die Dauer bestimmter Gemeinden hängt oft von der finanziellen Basis ab.

2.2 Die tschechoslowakische Kirche

Auch diese Entwicklungen blieben nicht ohne Einfluss auf die tschechoslowakische Kirche. Zum Beispiel war der „Holländische Katechismus“ bekannt; er wurde schon 1970 ins Slowakische übersetzt und im Samisdat vertrieben. Einen großen Einfluss hatten die Bücher von Hans Küng, die allmählich auch übersetzt wurden.

Doch die Unterschiede wurden jetzt eklatant. Die Anknüpfung an das 2. Vaticanum war, wie gesagt, weniger intensiv, über Impulse und Auswirkungen konnte man kaum offen diskutieren, also auch nur wenig kreativ damit umgehen.

Gleichwohl bedeutet Humane Vitae 1968 für viele Katholiken auch der Tschechoslowakei einen Schock, aber man nahm diese Enttäuschung eher resigniert hin. So geriet die Kirche nach innen unter einen gewaltigen Leidensdruck, dem sie kaum Ausdruck verschaffen konnte, denn sie lebte unter einem totalitären Regime. So erfuhr man zwar auch viel von theologischen Entwicklungen im Westen, aber man hatte keinen uneingeschränkten Zugang zu Literatur und Personen. Das Gefühl der Isolation war enorm. Sie wurde vom staatlichen Regime aufrechterhalten, aber die Kirchenleitungen setzten dem kaum Widerstand entgegen. Im Gegenteil, auch der Hierarchie galten die Kirche und die Theologien Westeuropas und der USA als gefährlich.

So standen die reformorientierten Kräfte unter doppeltem Druck. Das staatliche Regime betrachtete sie als Feinde des Systems und die Kirchenleitungen als Bedrohung des kirchlichen Glaubens. Notfalls war ihre Kooperation mit staatlichen Organen stärker als mit progressiven Kräften.

2.3 Die Verborgene Kirche

In dieser enorm verhärteten Situation entstand die Verborgene Kirche, ein unglaubliches Unternehmen mit drei charakteristischen Kennzeichen:

(a) Streng methodisch gesehen wollte die Verborgene Kirche nicht innovativ arbeiten, sondern mit den traditionellen und von den Bischöfen anerkannten Mitteln der Pastoral. Es ging ihr um Verkündigung und Sakramente. Deshalb war die Mitarbeit von Priestern unverzichtbar.

(b) Sie entfaltete ihre Arbeit unter erhöhter Freiheits-, wenn nicht gar Lebensgefahr. Auch ihre Kooperation mit der Hierarchie bzw. mit Rom musste geheim bleiben und wurde nie dokumentiert. So begab sie sich – um der kirchlichen Sache willen – in einen strukturell illegalen, nur inoffiziell legalisierten Raum. Genau dieses Wagnis sollte ihr später zur Falle werden.

(c) Die Verborgene Kirche setzte um der kirchlichen Ziele willen Freiheit und Leben aufs Spiel. In dieser Situation wurde mit der Ordination von Frauen sowie der Ordination von verheirateten Männern zu Bischöfen eine für Rom höchst sensible Grenze überschritten. Man war in eine schier unlösbare Ausweglosigkeit geraten. Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im Sommer 1968 war die totale Vernichtung der Kirche zu befürchten. Die Hoffnung auf eine neue Religionsfreiheit schlug über Nacht in Angst der Kirche vor einem sibirischen GULAG um. So hatte auch die Untergrundkirche keine andere Wahl: sie musste sich eng an die klerikale Struktur der offiziellen Kirche angleichen. Dies ging nicht ohne die Ordination von Menschen, die im Sinne der katholischen Kirche Seelsorge betreiben wollten.

3. Die große Asymmetrie nach 1989

Im Vergleich der Kirchen der Niederlande mit dem tschechoslowakischen Raum kommt es nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes zu einer großen Asymmetrie.

In der niederländischen Kirche ändert sich wenig, vielmehr setzt die Hierarchie ihre destruktive Arbeit fort. Das Misstrauen gegenüber den Gemeinden und innovativen Gruppen nimmt eher zu. Hinzu kommen die dramatisch voranschreitenden Prozesse der gesellschaftlichen Säkularisierung. Die Hierarchie fühlt sich durch diesen Zusammenbruch in ihrem Misstrauen bestätigt und versucht, die verbleibenden theologischen Institutionen in den Griff zu bekommen, wenn nicht gar zu zerstören. Die aktiven progressiven Katholiken organisieren sich in kleinen Gruppen oder unabhängigen Gemeinden, teils in interreligiösen Vereinigungen. Die innere Emigration aus der Kirche nimmt zu, ebenso ihr gesellschaftlicher Relevanzverlust. Das führt zumal die reformorientierten Gruppen in eine schwere Krise.

Die Kirche im tschechoslowakischen Raum erfährt den unerwartet schnellen Zusammenbruch des kommunistischen Regimes zunächst als eine große Befreiung. Jetzt fällt der staatliche Druck weg und die Kirche wird wieder zu einer öffentlich anerkannten Größe. Aber sie reagiert restaurativ und ist unfähig, alte Wunden zu heilen.

Ihre Hauptziele sind: Wiederherstellung alter Macht, Rückgabe alter Besitztümer, Wiederherstellung der alten (vorkonziliaren) bischöflichen Autorität. Jetzt erst wird deutlich, wie sehr sich die Hierarchie den totalitären Methoden ihrer staatlichen Gegenspieler angeglichen hatte. Dieser Rückfall in alte autoritäre Verhältnisse erklärt, warum diese Kirche unfähig ist, zu den alten prophetischen Entscheidungen zu stehen.

Zugleich erfahren Bischöfe und Rom die neuen Entwicklungen als eine große Bestätigung ihres eigenen restaurativen Kurses. Johannes Paul II. gilt als der geistige Zermalmer des Ostblocks mit den Mitteln eines unveränderlichen autoritären und kirchlich streng geregelten Glaubens, der auf Rom und die Macht der Bischöfe baut und auf die traditionellen Grundregeln des römisch-katholischen Glaubens ausgerichtet ist.

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen: Die Existenz von verheirateten Priestern und Bischöfen, mehr noch von offiziell ordinierten Priesterinnen bedroht die universale Identität des römisch-katholischen Systems. Die faktische Verleugnung ihrer prophetischen Existenz zeigt, dass das dogmatisch und rechtlich fixierte System keine Ausnahme erlaubt und sie rechtfertigt selbst eine strukturelle Lüge und die existentielle Demütigung von Menschen, die sich unter Lebensgefahr der Sache des Glaubens verschrieben haben.

4. Verrat an der Prophetie und die Folgen für die Reformarbeit

Der Vergleich mit der niederländischen Kirche führt zu einer genaueren Profilierung dessen, was hier „Verrat an der Prophetie“ genannt wird:

  • Was ist der gemeinsame Kern dieses Verrats an der Prophetie?
  • Welche Formen hat dieser Verrat hier und dort angenommen?
  • Wie wird dieser Verrat hier und dort begründet?

4.1 Was meint im christlichen Zusammenhang Prophetie?

Propheten und Prophetinnen, so meine Interpretation, tragen mit höherem Anspruch (geistlich oder göttlich legitimiert) eine Wahrheit oder eine Forderung vor, die traditionelle Grenzen (rechtliche Festlegungen und festgelegte Kompetenzen, Strukturen, selbstverständliche Gewohnheiten) durchbricht oder verlegt. Als Christ kann ich von einer Prophetie sprechen, wenn der Geist Christi aus einer Neuerung spricht.

Als großes Vorbild kann die Kritik Jesu an der Thora gelten. Er hebt die Thora nicht auf, aber er kritisiert ihren Missbrauch, bringt ihre tiefere Einheit und ihren tieferen Sinn zur Geltung: „Der Sabbat ist um des Menschen willen da.“ (Mk 2,27).

Als großer Inspirator gilt der Hl. Geist: „Wasche, was beflecket ist; Heile, was verwundet ist; Tränke, was da dürre steht; Beuge, was verhärtet ist; Wärme, was erkaltet ist; Lenke, was da irre geht!“ (aus Veni Sancte Spiritus)

 

Mit dem 2. Vatikanischen Konzil erhalten Prophetie und prophetisches Handeln einen neuen Stellenwert, weil die Erneuerung der Kirche ins Zentrum des Interesses rückt. Verbunden waren damit

– ein neues geschichtliches Bewusstsein:
Die aktuelle Praxis des Glaubens, der Nachfolge und der Kirche ist das Resultat von hochkomplexen geschichtlichen Entwicklungen, auf die schon die Bibel hinweist. Das Bild von einer unveränderlichen Kirche ist ein Irrtum; der christliche Glaube und die christliche Glaubenspraxis müssen kreativ auf neue Entwicklungen reagieren. Nach biblischer Überzeugung haben alle Getauften dazu den Heiligen Geist empfangen.

– eine neue gesellschaftliche Aufgabe:
Sie ist nicht primär mit traditionellen, in Jahrhunderten erprobten Sitten und Ritualen zu beurteilen, sondern an Hand der Frage: Wie ist eine Gesellschaft ‑ letztlich in weltpolitischer Verantwortung ‑ in Frieden und Gerechtigkeit zu gestalten? Denselben Kriterien sind auch Struktur, Lehre und Praxis der christlichen Kirche zu unterwerfen.

– neue kontextuelle und interkulturelle Konzepte:
Es gibt weder einen christlichen Glauben noch eine christliche Ethik an sich, vielmehr nur in konkreten Symbiosen mit unterschiedlichen Kulturen, Kontexten und Biographien.

Erforderlich ist deshalb mehr denn je „ein eigenständiges Reflektieren der historischen Situation der Kirche und ein unabhängiges Weiterdenken im Geist des Evangeliums“[2]. Das gilt als Prinzip eines jeden zeitgemäßen Verhaltens, erst recht in hochkomplizierten und existentiell bedrohlichen Situationen, in denen Christinnen und Christen auf ihr Lebensrisiko hin zu einem angemessenen Verhalten herausgefordert waren. Dieser Aspekt scheint mir für unsere Erinnerung an die Verborgene Kirche umso wichtiger, als man nicht nur in isoliert traditionalistischer Manier das „Seelenheil“ der Menschen im Auge hatte, sondern die Zukunft einer zutiefst veränderten Kultur. So kümmerte sich z.B. Felix Maria Davídek, der große kirchenpolitische Visionär, auch intensiv um neue Einblicke in Medizin, Biologie und Kybernetik, um Psychologie, Geschichte, Musik und Literatur. Vor allem interessierten ihn die großen Perspektiven von Teilhard de Chardin.[3]

So gesehen hat Prophetie nicht nur mit einem wachen Christentum zu tun, das immer neu auf Gottes Willen achtet, den man neu in der eigenen Vergangenheit lesen kann, sondern in erster Linie mit einem zutiefst menschlichen Interesse an der Zukunft von Menschen und ihrer Gesellschaft.

So kann das damalige Handeln der Verborgenen Kirche als hervorragendes Beispiel eines prophetischen Handelns und einer prophetischen Leidensbereitschaft zum Wohle der Menschen gelten. Sie hat die strukturellen und juridischen Grenzen sowie die Regeln des amtlichen Handelns durchbrochen, wie sie im real existierenden Katholizismus als unverrückbar galten und immer noch gelten. Sie handelten zweifellos um der Menschen willen, aber ihr Heroismus und ihr zutiefst christliches Wagnis wurden später von ihrer eigenen Kirche verleugnet.

4.2 Was meint „Verrat an der Prophetie“?

Begriff und Metapher „Verrat an der Prophetie“ finden sich im gleichlautenden Titel des genannten Sammelbandes[4], den die Herbert Haag-Stiftung zur erinnernden Würdigung der beschämenden Vorgänge um die Verborgene Kirche publizierte. Hans Jorissen hat die desaströsen Normen von 1992 kurz charakterisiert und deren Wirkungen umrissen. Deren Abfassung, Inhalte und Durchführung sind eine besonders krasse und offenkundige Art dieses Verrats. Trotz vorhergehender offizieller Absprachen wurden alle geheim vollzogenen Weihen prinzipiell angezweifelt und waren bedingungsweise zu wiederholen. Verheiratete Priester konnten allenfalls als Diakone weiterarbeiten. In allen Fällen waren sie wie unerfahrene Anfänger einer neuen theologischen, spirituellen und pastoralen Prüfung zu unterziehen. Von den betroffenen Bischöfen, verheiratet oder nicht, wurde eine Verzichtserklärung verlangt und der frühere Geheimstatus wurde in jedem Fall offengelegt. Gegebenenfalls konnten sie als Priester oder als Diakone weiterarbeiten. Die schlimmste Demütigung erfuhren die todesmutigen Frauen, die mit keinem Wort erwähnt wurden. Für Rom und die Hierarchie waren/sind sie schlicht inexistent. Die römische Zentrale wickelte dieses Modell in Kooperation mit der tschechoslowakischen Hierarchie unter ebenso beschämenden Umständen ab.

Dies war ein hervorragendes Beispiel für einen Verrat an einem zeitgenössischen prophetischen Handeln. Die an sich zuständigen Behörden entzogen ihm in zynischer Weise seine christliche Legitimation.

Zum Verrat wurde dieser Legitimationsentzug in dreifacher Hinsicht.

(a) Subjektiv gesehen wurde der christliche Gewissensernst der Betroffenen verleugnet. Sie waren bereit, bekennend zu handeln, ihre Freiheit zu opfern, die Zerstörung ihrer Lebensführung in Kauf zu nehmen und ihre Familien mit auf diesen Weg zu nehmen. Dies wurde zynisch ignoriert, damit wurde in Vielen von ihnen wohl der kostbarste Anteil ihrer religiösen Identität zerstört.

(b) Objektiv gesehen wurde vor allen Augen ein Kernelement christlicher Existenz desavouiert, nämlich die existentielle und selbstlose Identifikation mit dem prophetischen Geist Christi, ohne die eine Nachfolge Christi überhaupt nicht zu denken ist. Es ist ein Geist, der ein konsequentes Handeln zum Wohl der Menschen einfordert.

(c) Als zentrales Motiv dieser Leugnung vermute ich einen geradezu neurotischen, theologisch rationalisierten Narzissmus.[5]
Dieser theologische Narzissmus entsteht durch ein
[1] sakramentalistisches Bild von der Kirche, kombiniert mit einem
[2] sakramentalistischen Bild des kirchlichen Amtes und einer
[3] unreflektierten und undifferenzierten Identifikation der Kirche mit diesem sakramental agierenden Amt.
Ein Indiz dafür ist der absurde Vorwurf gegen die Verborgene Kirche, sie spalte die Kirche; es sei nicht möglich, dass es „zweierlei Priestertum, zweierlei Gottesdienste, zweierlei Sakramentenspendung, zweierlei Evangeliumsverkündigung gebe.[6]

Dieser Vorwurf zeigt auffallende Parallelen mit den Ängsten, unter denen auch reformorientierte Gruppen in den Niederlanden bis heute zu leiden haben. Dabei spiegelt auch dort der häufige Vorwurf der Kirchenspaltung die monokratische Kirchenstruktur, an der man eifersüchtig festhält. Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hat sich das römische Kirchenregime sakramentalistisch verengt und verhärtet. Rom und die Hierarchie wurden unfähig, auf spezielle Kontexte, auf pastorale Situationen und auf das persönliche Engagement zu achten. Die Demütigung von Personen, die Zerstörung ganzer Gemeinden, Gruppen, theologischen Fakultäten spielten keine Rolle.

Dieser Verrat wirft massive Fragen auf: Warum ist dieses hierarchische Handeln immer mit einer strengen Geheimhaltung verbunden? Warum blockiert man einen jeden Diskurs über die Fragen der Kirchenerneuerung, die uns seit 30, wenn nicht gar 50 Jahren bedrängen? Welches Recht hat eine solche Hierarchie noch auf die Loyalität von Kirchenmitgliedern? Sind aus christlichen Gründen nicht offener Widerspruch und massiver Widerstand geboten?

Meine Absicht ist es nicht, den Vertretern der Hierarchie dieses verwerfliche Handeln als persönliche Schuld anzulasten. Mich interessiert der menschenverachtende, geistfeindliche und destruktive Charakter dieses Verhaltens, das dem jesuanischen Grundimpuls einer solidarischen Nachfolge widerspricht. Wie kann es sein, dass ein solches Verhalten keine moralischen Bedenken hervorruft? Warum wird der Narzissmus dieser Theologie nicht durchschaut? Katholische Reformarbeit muss in allen Ländern und mit vereinter Kraft wieder zur Kernfragen zurückfinden: Wie haben wir ihn theologisch zu behandeln? Denn die Wurzeln dieses Narzissmus sind bis heute theologischer Art.

In biblisch-theologischen Worten ausdrückt: Eine jede Hierarchie, die autoritär handelt und sich von sakramentalistischen Motiven leiten lässt, ist verblendet, Opfer einer Ideologie, die sich im Verlauf von Jahrhunderten entwickelt hat. Primär ist gegen diese Verblendung zu kämpfen. Nach meinem Urteil kennzeichnet dieser Verrat am prophetischen Geist Christi nahezu alle Länder und Gruppen, die in der kirchlichen Reformarbeit heute zur Debatte stehen. Deshalb ist das Schicksal der Verborgenen Kirche ein hervorragendes Paradigma für das nachkonziliare Schicksal kirchlicher Reformarbeit. Es geht nicht darum, sich auf diese Erinnerung zu fixieren, aber wir sollten sie wegen ihres abschreckenden Zeichencharakters nicht vergessen. Sie kann die westliche Reformarbeit davor hüten, unsere Alltagskonflikte auf die Psychologie eines Bischofs zu reduzieren oder zu meinen, wir könnten unsere Grundkonflikte mit mehr Freundlichkeit besser lösen.

Umso wichtiger ist es, alle Reformanliegen in der Kirche wirklich offen zu diskutieren, statt die Handlungsträger zu schonen. Wer ein öffentliches Amt hat, muss sein amtliches Handeln öffentlich begründen. Wir müssen zwar aggressionsfrei, in der Sache aber unnachgiebig und konfliktfähig handeln.

4.3 Was sind die Grundsatzthemen einer prophetisch orientierten Reformarbeit?

Dieses Papier setzt den nachkonziliaren europäisch-katholischen Kontext voraus und hat die Reformdiskussionen im Blick, die eine grundlegende Erneuerung innerkatholischer, d.h. auch ökumenischer Strukturen zum Ziel haben. Die dominanten Reformthemen reagieren auf die kontinuierliche und wohl bedachte Leugnung oder Missachtung prophetischer Elemente und Ereignisse in Kirchenverfassung und Kirchenpraxis durch die Amtskirche. Dabei muss klar sein: Eine prophetisch kompatible Kirchenverfassung leugnet feste Strukturelemente der Kirche nicht, aber relativiert und unterwirft sie einer gebotenen prophetischen Kritik.

Historisch gesehen beginnt ein prinzipieller Verrat an kirchlicher Prophetie mit der Gregorianischen Reform (11. Jh.). Die ganze Welt wird dem päpstlichen Gerichtsspruch unterworfen; alle kirchlichen Vorgänge massiv verrechtlicht. Die Kirche wird primär zum Rechtssystem, die Sakramente in diese Entwicklung eingeschlossen. Der Verrat vertieft sich mit der Ablehnung der Reformation (16. Jh.). Das Konzil von Trient (1545-1563) unterwirft die Seelsorge und eine sakramentale Profilierung einer strengen römischen bzw. bischöflichen Kontrolle. Charismatische Elemente werden massiv eingeschränkt und als Bedrohung einer charismatischen Grundstruktur betrachtet. Ein bis heute umstrittener Höhepunkt dieser Entwicklung wird mit dem 1. Vatikanischen Konzil (1870) erreicht. In antimodernistischer Frontstellung werden der päpstliche Rechtsprimat und seine Lehrvollmacht verabsolutiert.

Trotz der erneuernden Impulse des 2. Vatikanischen Konzils wurde dieser Prozess seit den 1970er Jahren nicht umgekehrt, sondern vertieft. Die Unfehlbarkeit wurde auf alle Bischöfe ausgeweitet, die Produktion einseitig römischer Lehrdokumente stieg ins Unermessliche und die Kirche wurde konsequenter denn je als Sakrament betrachtet (Joh. Paul II: Ecclesia de Eucharistia, 2003).

Auf Grund dieser Geschichte stehen wir heute einer undifferenzierten sakramentalen Verkettung von drei Größen gegenüber: Christus, Kirche, Amt: Christus ist unmittelbar in der Kirche gegenwärtig, das Amt verwirklicht diese Gegenwart gegenüber den Gläubigen. Diese Identifikationslinie von christlichem Heil, kirchlichem Heilsanspruch und sakralisierter Repräsentation führt faktisch zu einem vorbehaltlosen Identifikationszwang der Gläubigen mit der kirchlichen Amtskirche. Christus, Kirche und kirchliches Amt verschmelzen ineinander im Rahmen eines autoritär monarchischen Gesellschaftsbildes. Das 2. Vatikanische Konzil konnte diese völlig unkritische Erfahrungs- und Glaubenseinheit nicht wirksam überwinden. Es hat Tendenzen zur Entflechtung vorgegeben, aber nicht konsequent ausgeführt. Die spätere reaktionäre Wende hat die innovativen Ansätze zunichte gemacht. Sie geschah unter dem Einfluss von Theologen, die erneut auf eine vorkritische Theologie zurückgriffen. Zu nennen sind Henri de Lubac, Hans Urs von Balthasar und Joseph Ratzinger.

Diese geschichtsfeindliche, antireformatorische und antimodernistische Engführung führte zum gegenwärtigen Integralismus eines erneuerten Dogmengebäudes, das völlig in sich selbst verkrümmt ist. So wird z.B. beim Ordinationsverbot von Frauen erklärt, Jesus sein ein Mann gewesen, die Formel Das ist mein Leib müsse also von einem Mann gesprochen werden. Dies entlarvt ein rundum narzisstisches Amtsverständnis. Aus ihm folgt eine absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber allen neuen Kontexten, geschichtlichen Entwicklungen und Menschen, die prophetisch handeln. Neo-Antimodernismus kann und will zwischen einer konkret begründeten Kirchenkritik, einem fundamentalen Mangel an kirchlicher Loyalität und einer fundamentalen Ablehnung des christlichen Glaubens nicht mehr unterscheiden.

Die Grundstruktur dieser Erneuerungsphobie lässt sich am Fall der Verborgenen Kirche leicht ablesen. Keine der genannten Positionen berücksichtigt geschichtliche Veränderungen und keine achtet den gebotenen Respekt vor Menschen. Doch führt in West- und in Mitteleuropa diese Rücksichtslosigkeit oft nicht mehr zum offenen Konflikt. Sie führt zur Resignation oder zum Exodus. Zudem haben sich viele Christinnen und Christen an eine heteronome Kirchlichkeit gewöhnt. Dies ist ein grobes Missverständnis. Auch dies ist ein Grund, die fälligen Reformdiskussionen immer konfliktoffen und konfliktbereit zu führen.

Zur Reformarbeit gehören deshalb
– alle Kritik an real existierenden Kirchenstrukturen, die auf die universale Vollmacht einer römischen Monokratie hinauslaufen,
– alle Kritik an einem bischöflichen Handeln, das die Stimme seiner Kirchenmitglieder nicht hören will oder sich als Vollzugsbeamten von Papst oder Kurie versteht,
– alle Kritik an einer Amtsführung, die nicht auf die Stimme der Benachteiligten, Ausgeschlossenen und Verstummten höre will,
– alle Kritik an einer Amtsführung, die zwischen „geweihten“ und nicht geweihten Christenpersonen einen qualitativen Unterschied akzeptiert, die Geschlechter und sexuelle Grundneigungen diskriminiert,
– alle Kritik an einem Wahrheitskonzept, das sich auf unveränderliche, weil dogmatisierte Grundwahrheiten, bzw. auf ein unfehlbares Lehramt beruft,
– alle Kritik an einer sakramentalistischen Grundkonzeption, die alle Leitungsämter sakralisiert und die Kirche als Institutionen des Heils monopolisiert.

4.4 Reformorientierte Grundentscheidungen und deren Begründung

Um die Reformarbeit konsequenter zu leisten und zwischen West- und Mitteleuropa konsequenter zu koordinieren, plädiere ich für einige Grundoptionen, die unseren Handlungshorizont bestimmen sollten:

  1. Ein Bischof, der nicht unter der Mitwirkung der betroffenen Diözese ernannt wird, kann nicht legitim als Bischof dieser Diözese auftreten.
  2. Ein Bischof, der die Ordination von Frauen ablehnt oder prinzipiell für ungültig erklärt, ist nicht als Bischof anzuerkennen.
  3. Ein Bischof, der dem Glauben der „einfachen Gläubigen“ nur eine passive Funktion zugesteht, ihnen also kein Gehör schenkt, kann den christlichen Glauben nicht glaubwürdig und mit der nötigen Autorität verkünden.
  4. Wer den Schwesterkonfessionen als christliche Kirchen keinen ebenbürtigen Status zuerkennt, hat bei der Beurteilung ökumenischer Fragen kein Recht auf Gehör.
  5. Wer behauptet, das Heil werde allein durch Jesus Christus vermittelt und der ganzen Welt nur durch die christliche Kirche angeboten, ist im Namen des christlichen Glaubens öffentlich zur Rede zu stellen.

Zur Begründung der Reformanliegen werden verschiedenartige Argumente eingesetzt.
– Oft wird funktional argumentiert: Faktisch können bestimmte Strukturen und Verhaltensweisen das erhoffte Ziel nicht erreichen; dazu gehören Argumente im Namen der Transparenz, der Partizipation und offenen Kommunikation.
– Oft wird menschenrechtlich argumentiert. Dies gilt für Debatten um demokratische Strukturen innerhalb der katholischen Kirche, um Gleichberechtigung, z.B. von Frauen, sowie um Genderfragen.
– Andere Argumentationen berufen sich auf geschichtliche, kontextuelle oder interkulturelle Argumente. Sie machen klar, dass sich grundlegende gesellschaftliche oder individualethische Vorstellungen ändern können.
– Nach meinem Dafürhalten sollte immer der prinzipiell prophetische Charakter bzw. die gebotene prophetische Relativierung bestimmter Verhältnisse im Auge behalten werden. Theologisch gesehen ist dieses prophetische Argument das schärfste Schwert, das uns zur Verfügung steht. Es ist zudem unverzichtbar. Diesem Argument können sich die Antipoden der Kritik am wenigsten verschließen; denn es beruft sich unmittelbar auf die christliche Botschaft.
– Dabei sind mehrspurige Argumentationen natürlich nicht auszuschließen. Im Gegenteil, sie liegen dort auf der Hand, wo sowohl eine innerkirchliche wie eine säkulare Öffentlichkeit zu überzeugen ist. Ich persönlich verstehe eine jede menschenrechtliche Argumentation im Sinne der jesuanischen Botschaft auch als eine theologische Argumentation. Doch diese Identifikation gehört oft auch zum Lernprozess, den reformorientierte Diskussionen auslösen.

4.5 Wie ist mit dem Verrat an der Prophetie umzugehen?

Jeder Verrat an der christlichen Prophetie ist öffentlich anzuprangern und zu verurteilen. Die Gründe für die Kritik sind immer offenzulegen. Die Betroffenen und Zeugen dieses Verrats sind zu konsequenten Schritten zu ermutigen und dabei zu begleiten. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, ist das nicht immer einfach, denn auch die real existierenden Reformgruppen haben oft unterschiedliche Vorstellungen und Prioritäten. Wir müssen lernen, mit diesen Enttäuschungen umzugehen und einander bei deren Verarbeitung zu unterstützen.

Dies gelingt umso besser, je gründlicher wir einen Katalog von konkreten Verratsfällen entwickelt und erklärt haben, aus welchen Gründen wir sie verurteilen. Bei den Begründungen sollte man nur in Ausnahmefällen auf das 2. Vaticanum zurückgreifen, denn dieses Konzil ist stark von Kompromissen durchsetzt und wird allmählich Geschichte. Die entscheidende Argumentationsbasis sind die Heiligen Schriften und die Geschichte des Glaubens: Ich möchte sie in der heutigen Situation nicht mit dem klassisch katholischen Begriff der „Tradition“ identifizieren, denn er wird oft zur Blockade von Neuerungen missbraucht. Zugleich ist ein Katalog von angemessenen Reaktionsmustern zu entwickeln, die das selbstverständliche Gewissen der Betroffenen und der Protestierenden konsequent stärken.

Schluss:
Wie können west- und mitteleuropäische Gruppen zusammenarbeiten?

Die Reformgruppen der westlichen Kirchen sollten in besonderem Maße zur Solidarität mit osteuropäischen Schwestergruppen bereit sein, denn sie stehen oft unter einem ungleich stärkeren Druck von Seiten der Amtskirche. Die Stimmung ist meist repressiver und sie verfügen über weniger Mittel, oft auch über weniger theologische Ressourcen. Dagegen kann der Westen von der Entschiedenheit und Standhaftigkeit, auch der elementaren Glaubenspraxis östlicher Gruppen lernen.

Zudem ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir auch als katholische bzw. ökumenisch orientierte Christen ein gemeinsames europäisches Bewusstsein entwickeln. Wenn wir unsere Reformanliegen vor Ort ernst nehmen, muss uns auch ein gesamteuropäisches prophetisches Reformbewusstsein zum Anliegen werden. Gemeinsam stehen wir großen religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen gegenüber. Wie verhalten wir uns gegenüber rechten Gruppierungen, autoritären Staatssystemen, der wachsenden Entfremdung unserer Staaten von Religion und christlichem Glauben, dem wachsenden Druck des globalisierten Kapitalismus?

Gewiss, als kirchliche Reformgruppen sollten wir weder Kultur- noch Gesellschaftspolitik als unsere Hauptaufgabe begreifen, doch eine solidarische Kirche kann nur ihre Identität finden, wenn sie ihre kulturellen, politischen und sozialen Kontexte im Auge behält.

Bei allen Christen und Kirchen Europas sehe ich ein schwerwiegendes gemeinsames Problem: Wir haben unsere Visionen verloren. Die alten haben sich überholt und neue, zeitgemäße Zukunftsvisionen zu Kirche und Gesellschaft hat noch niemand entwickelt. Das ist auch der Grund für ein doppeltes Problem, mit dem wir Reformgruppen zu kämpfen haben. Zum einen kämpfen wir mit einer stagnierenden Amtskirche, die sich zunächst um sich selbst dreht und sich deshalb polarisiert und in internen Flügelkämpfen erschöpft; selbst Papst Franziskus ist, wie es scheint, zur Überwindung dieser Auseinandersetzungen zu schwach. Zum andern haben auch die Reformgruppen keine große Vision anzubieten, die uns alle trägt und hilft, erneuernde Ideen in die Kirche hineinzutragen. Deshalb bleiben auch wir meistens in Reaktionen hängen, statt unsere Themen auf die Tagesordnung zu setzen und die Frontstellungen von unten her aufzuweichen.

Dabei wissen wir besser als frühere Generationen: Von Anfang an war Jesus von einer urjüdischen prophetischen Vision erfüllt, die er „Reich Gottes“ nannte und die den Rahmen der späteren Kirche schon immer sprengt. Es ging ihm um die Zukunft einer in Gerechtigkeit und Frieden versöhnten Menschheit, die hier und jetzt, also vor Ort beginnen kann. Aufgabe der Christen ist es nicht, unsere Kirchen zu reparieren, sondern die säkulare Welt voranzubringen und diese Vision in die Tat umzusetzen. Doch es braucht Phantasie und Energie, Denk- und Tatkraft, dieser Vision für unsere Gegenwart eine gemeinsame und gemeinsam überzeugende Gestalt zu geben.

Wir, Reformgruppen West- und Mitteleuropas, sollten mit der Suche nach dieser gemeinsamen Vision beginnen: Nennen wir es: Projekt solidarisches, vom Geist der Versöhnung getragenes Europa.

Anmerkungen

[1] Bekannt ist vor allem das Schicksal von Kardinal Josef Beran (1888-1969): 1942-45 Häftling der Konzentrationslager Theresienstadt und Dachau, 1946 Erzbischof von Prag, 1949 verhaftet, bis 1963, 1965 Kardinalsernennung und nach Rom verbannt, wo er am Konzil teilnahm und 1969 verstarb. Am 20.04.2018 wurde sein Leichnam nach Prag überführt.

[2] Erwin Koller, Hans Küng, Peter Križan, Die verratene Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus, Edition Exodus, Luzern 2011, ISBN 9783905577792.

[3] E. Koller, Die verborgene Kirche ‑ Ein Stein des Anstoßes, in: E. Koller …, 17-30; zit. 27; ferner Hans Jorissen, Das ausgeschlagene Erbe. Die römischen <Normen> im Umgang mit der Verborgenen Kirche, ebd. 132; zit. 47.

[4] Siehe Anm. 2.

[5] Von Narzissmus rede ich nicht wie Papst Franziskus in einem psychologisierenden, sondern in einem theologisch objektivierenden Sinn.

[6] Jorissen, 127

Dieser Text wurde ursprünglich am 12.06.18 in engl. Sprache in Pezinok bei Bratislava vorgetragen. Ich danke Perter Krizan für seine Unterstützung.
Siehe auf dieser Website auch die gekürzte Version und die Thesen gleichen Titels.