Zu Gerhard Kardinal Müllers Der Papst ‑ Sendung und Auftrag
Das Selbstbewusstsein der Kardinäle ist erstaunlich. Schon Kardinal Kasper belehrte die Leser in seinem Buch Die Kirche (2011) zunächst auf 50 Seiten über sein eigenes Leben, ohne dass man darin Wegweisendes zur angekündigten Thematik finden konnte. Noch offensiver geht Kardinal Müller vor, der sein neues Buch Der Papst. Sendung und Auftrag mit einer 90seitigen Autobiographie eröffnet. Sie kulminiert mit dem triumphalen liturgischen Hymnus auf das glückliche Rom, das von den Apostelfürsten, diesen Leuchten des Weltalls, mit dem Purpur ihres Blutes geschmückt wurde, vom Pförtner des Himmels also und dem Apostel der Völker (108f). In diesem Glanz kann der Autor sich sonnen, hat er doch am päpstlichen Lehramt jetzt schon unmittelbaren Anteil (14, 90, 106), weiß sich also zum authentischen Erklärer des Papsttums legitimiert.
Zum Thema des Buches wählt der Autor vier Zugänge. Wie hat er selbst die Päpste seines Lebens erlebt (Kap. I)? Was hat die offizielle Lehre vom Papstamt zu sagen (II-V)? Wie verhält sich das Papstamt zu Protestantismus und Ökumene (VI, XI), Unfehlbarkeit (VII) und Bischofskolleg (VIII)? Was waren inhaltliche Schwerpunkte der letzten Päpste: Im Mittelpunkt des vierten Zugangs stehen Fragen nach Menschenrechten und Menschenwürde (IX), nach Glaube, Wahrheit und Freiheit (X), nach Glaube, Hoffnung und Liebe (XII).
Die Vielfalt der Themen auf diesen 605 Seiten ist unbestritten, doch nicht immer souverän dargestellt. Vermutlich sind schon geschriebene Texte von unterschiedlicher Gattung zusammengefügt, verdeckte Wiederholungen nicht ausgemerzt. Es finden sich ein Lebensbericht, Vorlesungstexte, theoretische Abhandlungen, problemorientierte Gutachten, Kommentare zu päpstlichen Texten und predigtartige Ertüchtigungen. Dementsprechend lassen sich viele Einzelteile gesondert lesen. Genutzt hätten konkretere Überschriften und eine erkennbare Unterscheidung zwischen Grundlagenfragen, Sachfragen zum Papsttum und die Darstellung einzelner Päpste, etwa Kommentare zu Texten von Benedikt XVI. und Papst Franziskus. In der gegenwärtigen Unklarheit lesen sich manchmal Müllers Lebenswege als Papstbeweise, dogmatische Papstdefinitionen als Bestätigung des Glaubenspräfekten und päpstliche Sachäußerungen als Rechtfertigung des päpstlichen Amtes.
Man ist von der stupenden Selbstsicherheit des Autors überrascht. Wo hat er sie nur her? Natürlich ist das Papsttum für ihn von Jesus direkt eingesetzt (II, IV), ergeben sich für ihn Unfehlbarkeit und Primat problemlos aus der Schrift (III), kulminieren Kirche und christliche Glaubenswahrheit vorbehaltlos im Papstamt (V und VIII) und ist ‑ bei aller Freundschaft ‑ noch keine hinreichende Übereinstimmung mit den Kirchen der Reformation zu erkennen. Genau besehen sind alle theologischen Argumentationen bekannt und gegenüber kritischen Anfragen verriegelt, wie in Zeiten der Neuscholastik weder exegetisch noch historisch oder philosophisch transparent und in ihren Spitzenaussagen am Konservatismus des Ratzinger-Papstes ausgerichtet, dessen umstrittenes, im Westen nie rezipiertes Dokument Dominus Iesus (2000) der Archimedische Punkt dieses Denkens bleibt (484, 508). Zweifelnde Anfragen werden konsequent ausgeblendet und kritische Diskurse schlicht ignoriert. So erfahren katholische Insider über Verständnis, Bedeutung und Auswirkungen des Papstamts buchstäblich nichts, was nicht schon in vorkonziliaren Lehrbüchern stand; gemäß diesem Belehrungsziel sind einschlägige Konzilstexte und spätere Lehrdokumente selektiert und notfalls entkernt.
Zu Änderungen angesichts der Gegenwart sieht der Autor keinen Anlass. Schließlich ist die christliche Offenbarung, wie mehrfach betont, von übernatürlicher Qualität (25, 62, 327, 466, 551), also gegen alle Kritik immun. Das Buch präsentiert insgesamt zehn teils ausführliche Zitate von J. A. Möhler (1796-1838), der von romantischem Gedankengut geprägt war (24f, 30f, 40,162, 260, 344f, 356f, 481, 487, 500f). Dessen mehr als vor-kritische Hermeneutik vom geschichtlich wirkenden Geist überhöht die Tradition zum mythisch-immunen Garanten kirchlicher Wahrheit. Wer sich auf diesen Tübinger einlässt, wird deshalb kritische Rückfragen nicht so schnell dulden und wer es wagt, im 2. Vatikanum neben aller Kontinuität auch einen Bruch zu entdecken, den erklärt der Autor schnurstracks zu einem dreisten, ignoranten und häretischen Kritiker (61, 351).
So könnte man dieses Buch getrost zur Seite legen, gäbe es neben dieser ergebnisarmen Innenperspektive nicht auch eine aufgeregte und kampfbereite, geradezu aggressive Außenperspektive. „Überlebenskampf des Papsttums“ lautet ein Untertitel (317), der für den Autor seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart gilt. Diesen Kampf gegen ein ganzes Arsenal von Bedrohungen greift das Buch in auffallend distanzloser Weise auf, und in den einschlägigen Kapiteln klappert zügellos ein Arsenal von Kampfbegriffen, die nirgendwo analysiert oder differenziert, sondern als oft diskriminierende Pfeile auf die Feinde des Papsttums abgeschossen, als vernebelnde Schlagworte eingesetzt und in reaktionären Kreisen wohl gerne gehört werden. Kein gutes Haar lässt der Autor am Atheismus, der sich mindestens zwölffach belegen lässt. Ihm schließen sich mehrere Angriffe gegen den Agnostizismus, einige gegen den (falsch verstandenen) Dekonstruktivismus an. Ein gutes Dutzend Mal ruft der Autor vermeintliche Staats-, Freiheits-, Fortschritts- und andere Ideologien zur Ordnung und schlecht kommt die historisch-kritische Forschung weg (169, 172), denn gemäß dem Autor „wird Simon zum Petrus gemacht [sic!]“ (198). Etwa zehnmal wird der Liberalismus verdammt, den der Autor mit totalitären und materialistischen Tendenzen verschwistert sieht. Vom Bösen sind natürlich der Nihilismus, der Rationalismus und der alles zerstörende Relativismus bis zu dessen Diktatur (445), die insgesamt 30mal beschossen werden, hinzu kommen die Bösewichter Säkularismus, Modernismus, Postmoderne und Pluralismus. Das dramatische Szenario sieht wie folgt aus: „Der ideologische Pluralismus, der letztverbindliche Wahrheit und eine normgebende Instanz zugunsten einer Pseudo-Toleranz aufgeben möchte und die Frage nach Gott mittels eines aggressiven Atheismus beantworten will, ist in erster Linie ein Kampf gegen den Menschen selbst. … Jede Transzendenz wird verneint. Der Mensch sei seinen Trieben ausgesetzt und daher erst unbedingt frei, wenn er sich nach dem Maß seiner Gelüste und Interessen aus der leeren Subjektivität heraus neu erschafft.“ (394f)
Das ist ein Weltbild, das der modern demokratischen Gesellschaft den Kampf ansagt und den Menschenrechten sowie der Demokratie mit hohem Misstrauen begegnet, solange sie nicht christlich kontrolliert sind (398-405). Mehr noch: in demokratischen Strukturen der Kirche sieht der Autor ein blankes Verderben. Zudem sei es „eine Anmaßung, wenn europäische Staaten“, so die Projektion des Autors, „unter dem Druck der Genderideologie oder den Homo-Lobbys anstelle der menschlichen Vernunft oder der göttlichen Offenbarung definieren wollen was Ehe ist. Den unmündigen Kindern einzureden, sie könnten ihr Geschlecht wählen und damit könnte man Manipulationen an ihren inneren und äußeren Geschlechtsorganen legitimieren, ist ein verabscheuungswertes Verbrechen an ihrer Würde.“ (403) Auf dieser Basis wird keine wirklich kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart möglich. Das Gesellschaftsbild des Autors wird von einem höchst autoritären Kirchenbild begleitet, das sich streng von oben organisiert: „Die Kirche entsteht von oben durch Gottes Wirken, verbunden mit der Kooperation der Apostel.“ (225) Er denkt höchst undemokratisch und konzentriert alle Kirchen-Macht im Papst: „Die Hände des Papstes mit den Schlüsseln zum Himmelreich sind wichtiger als die Fäuste irdischer Potentaten am Griff des Schwertes, d.h. heute die Daumen am Atomknopf, der die Pforten der Hölle auf Erden öffnen würde.“ (120)
Bei der Lektüre dieses Buches begreift man, warum sich die europäische Rechte so gerne auf christliche, zumal auf katholische Traditionen beruft. Dieses Buch, das einem freiheitlichen Menschenbild den Kampf ansagt, instrumentalisiert das Papsttum für ein atavistisches Freund-Feind-Schema, als befänden wir uns noch im Kirchenkampf der Französischen Revolution. Noch immer sieht der Autor, von Weltreligionen unbelehrt, im Christentum die einzige Kraft, die der Menschheit eine Zukunft geben kann (387). Vielen überzeugten Christen stockt dabei der Atem.
Es gibt allerdings eine wohltuende Ausnahme. Das sind die Kommentare zu den Texten von Papst Franziskus, insbesondere zu Laudato sí (411-422; 423-438; 528-564). Unversehens zeigt sich hier ein milder und versöhnlicher Ton. Die Kritik am Weltgeschehen wird transparent und konkret. Von einem Dialog mit allen Menschen ist die Rede und von einem „sympathetischen“ Umgang mit dem „modernen und postmodernen Menschen“, der „als Bruder und Schwester in der Suche nach der verlorenen Wahrheit“ ernst zu nehmen sei (533). Zwar konnte der Autor zuvor nicht darlegen, in welcher Hinsicht seine Begegnung mit der Befreiungstheologie eine „Wende“ einleitete und eine „einschneidende Erfahrung“ war (79). Auch ansonsten ist er mit dem Papst nicht ein Herz und eine Seele; in seiner Lebensbeschreibung versteckt er seine Thesen zu Ehe und Familie, mit denen er auf der Bischofssynode gescheitert ist (101-105). Offensichtlich ist dieser Fehdehandschuh noch nicht begraben. Dennoch lässt der neue franziskanische Ton vielleicht hoffen.
- März 2017
Hermann Häring
Gerhard Kardinal Müller
Der Papst: Sendung und Auftrag
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
ISBN 978-3-451-37758-7