„Benedikt versteht die Moderne nicht“

Tübinger Theologe kritisiert Kirchenoberhaupt

Vor fünf Jahren titelte die „ Bild“-Zeitung „ Wir sind Papst“. Wo steht die katholische Kirche heute?

HERMANN HÄRING:
Die Euphorie ist weg. Die katholische Kirche steckt in einer tiefen Krise, die sich langsam aufbaute. Papst Benedikt ist in einige Fettnäpfchen getreten: Im Verhältnis zur evangelischen Kirche, der er das Kirchesein abgesprochen hat. Ebenso gegenüber  den Juden, was sich in der Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte äußerte,  in der Regenburger Rede  und in Bezug auf die Urvölker in Lateinamerika, denen er nachsagte, sie hätten auf die Christianisierung gewartet.

Wie bewerten Sie das?

HÄRING:
Man sieht daran, dass dieses Pontifikat nicht begriffen hat, wo die Welt steht. Benedikt versteht die Moderne nicht. Seine Heilmittel bezieht er aus alten Denk- und Handlungsformen.

Warum agiert gerade der intellektuelle Papst Benedikt so unglücklich?

HÄRING:
Benedikt hat kein Gespür für mediale Öffentlichkeit. Dann ist er ein Mann   mit einer rückwärtsgewandten Intellektualität. Sein Ideal fußt im griechischen Denken. Hinzu kommt, dass er mit seinem Regierungsapparat kaum etwas bespricht.

Dabei trat Benedikt mit dem Vorsatz an, in der Kurie für einen geordneten, ruhigen Gang zu sorgen.

HÄRING:
Jetzt ist es in der Kurie nicht nur ruhig, sie ist ruhig gestellt. Auch wurden die Strukturen nicht geordnet, sondern rational rigide gestaltet. Das sah man im Umgang mit dem notorischen Antisemiten Bischof Williamson. Da wusste eine Abteilung nicht, was die andere tat.

Ist  Benedikt die Schreibstube vertrauter als das reale Leben?

HÄRING:
Ja. Er ist Professor geblieben. Er tut nicht, was erwartet wurde: sachkundig, klug auf aktuelle Fragen zu reagieren. Sein Motto ist die Kontinuität. Doch um 1,2 Milliarden Menschen zu leiten, reicht das nicht.

Ist die Kehrseite dieser Stärke gleichzeitig Benedikts Schwäche?

HÄRING:
Ja. Benedikt kommt 50 oder 60 Jahre zu spät. Seine Studienzeit fiel mit den 50er Jahren in eine konservative Zeit. Das prägte seine Denkform. Deshalb scheint er unfähig, angemessen auf eine Zeit tiefer kultureller Umbrüche zu reagieren.

Es gab die Hoffnung, dass das Papstamt den Menschen formt. Stellen Sie Veränderungen fest?

HÄRING:
Nein, leider nicht, auch deshalb nicht, weil der Papst nicht in Kategorien der Kommunikation denkt. Doch Aufgabe des Pontifex ist es nicht, eigene theologische Positionen durchzusetzen, sondern das Gespräch zu leiten. Den Übergang vom Lehrer zum Kommunikator hat Benedikt nicht geschafft.

Mit der Annäherung an die Pius-Bruderschaft stärkt der Papst den rechten Rand. Steuert er die Kirche um?

HÄRING:
Nicht aus seiner Perspektive. Er will die Kirche so halten wie sie einmal war. Das ist ein Versuch, all die Aufbrüche spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu stoppen. Benedikt versucht zurückzugehen zur alten, klar gegliederten Kirche, wie sie in der Antike angefangen und sich im Mittelalter entwickelt hat. Es ist zugleich der Versuch, den alten Autoritätsgedanken einer feudalen Kirche zu beleben. Im Kern ist das ein autoritärer Ansatz, der kritisch, wenn nicht feindlich dem Demokratiegedanken gegenübersteht.

Nach den Missbrauchsfällen warten deutsche Katholiken noch immer auf ein Wort des Papstes. Hat er das Gespür fürs Kirchenvolk verloren?

HÄRING:
Er hatte es noch nie richtig entwickelt. Jede Kritik, jede widerspenstige Meinung, jede Frage von unten ist für ihn nicht Ausdruck von Leben, sondern ein Zeichen des Unglaubens, der Unbotmäßigkeit. Benedikt glaubt, er könnte in Formen des alten vatikanischen Hofprotokolls auf Krisen reagieren. Er ist nicht willens, einmal etwas Persönliches zu einer Sache zu sagen.

Auf die nächsten Jahre gesprochen: Glauben Sie, dass es mit diesem Papst Strukturreformen  geben wird?

HÄRING:
Das bin ich skeptisch. Die Kirche wird nachdenken, aber nicht weil der Vatikan den Startschuss dazu gibt, sondern sich das  in den vom Missbrauch betroffenen Ländern nicht mehr verhindern lässt. Wenn Rom wollte, könnte es die vielen Gremien, die die Kirche hat – die Bischofskonferenz, die Laiengremien – auf demokratische Füße stellen. Dann würden alle problematischen Themen zur Diskussion gestellt.  Benedikt wird aus eigener Motivation keine Debatte über Strukturen, den Abbau von Autorität, die Beendigung des Zölibats oder die Priesterweihe für Frauen starten.

Elisabeth Zoll
in: Schwäb. Tagblatt vom 15. April 2010