Visionen bitte, statt nostalgischer Nabelschau!

DIE ÖKUMENE HAT IHR REFORMPOTENTIAL VERSPIELT

„Die große Zeit des Christentums liegt nicht hinter uns. Sie liegt noch vor uns“, mit solch ungetrübter Zuversicht kommentierte Kardinal R. Marx den ökumenischen Jubiläumsbeginn der Reformation (ZEIT, 27. Okt. 2016). Ich würde ihm gerne zustimmen, doch der Zustand der Ökumene spricht für das Gegenteil. Seit 50 Jahren versucht man sich in Vergangenheitsbewältigung, doch keine der großen Blockaden ist aus dem Weg geräumt. Erfolglos ging es erst um Konsens, dann um Konvergenz, schließlich nur noch um versöhnte Verschiedenheit. Amts- und Eucharistieverständnis bleiben umstritten, das Verhältnis von Schrift und Tradition ist ungeklärt. Das Papsttum mit seinen Exklusivansprüchen sorgt nach wie vor für Streit.

Dennoch loben die Kirchenleitungen unermüdlich die Annäherungen, die niemand so richtig sehen kann; ihre Worte sind inhaltsleer geworden. Bischöfe und Bischöfinnen, die vor kurzem das Heilige Land besuchten, feierten Abendmahl und Eucharistie im Beisein der Anderen jeweils konfessionell getrennt, angesichts der Wirkungs- und Leidensstätten Jesu ein grandioses Absurdistan. Dass vor allem Rom im Bremserhäuschen sitzt, kann auch die jüngste Erklärung von Lund nicht überspielen. Gewiss, man hat freundlich miteinander geredet, doch nach fünf Jahrzehnten reicht es nicht mehr, erneut zu einer großen Reise zu ermuntern.

In zahllosen christlichen Gemeinden und Gruppierungen sieht es ganz anders aus. Gegenseitige Begegnungen und die Anerkennung der Strukturen, gemeinsame Gottesdienstbesuche, Abendmahls- bzw. Eucharistiefeiern sind selbstverständlich. Man liest die Bibel gemeinsam, kooperiert bei sozialen Aufgaben schon lange und findet die unterschiedlichen Denk- und Lebensstile bereichernd. Bisweilen klingt diese erfolgte Versöhnung auch in bischöflichen Worten an, doch meistens wird sie kritisiert oder mit Sanktionen belegt. Ich werfe den Kirchenherren nicht einfach Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit vor, denn vermutlich handeln sie aus einem theologisch aufgerüsteten Kirchengewissen. Doch es ist von überheblichen Kirchenkonzepten verbildet. Leider fehlt den evangelischen Adressaten die Kraft zum Widerspruch. Wie es scheint, hat die für ein glaubwürdiges Christuszeugnis so unverzichtbare Ökumene ihre Ressourcen zur Selbstheilung verloren. Endlos dreht sie dreht sich um sich selbst wie ein Kompass am magnetischen Nordpol; zu lange ist man den Kernfragen ausgewichen.

Rechtfertigung des Sünders ‑ man redete aneinander vorbei

Vor 60 Jahren legte Hans Küng zur Frage nach der Rechtfertigung eine aufsehenerregende Studie vor. Sie konstatierte zwischen den Konfessionen einen Konsens, der bis in die Alte Kirche zurückreicht. Zur Überraschung vieler hatte Karl Barth, der damalige Übervater evangelischer Theologie, dieses Ergebnis bestätigt und mit Freude aufgenommen. Widerlegt wurde Küng damals von niemandem, also hätten auf höchster Ebene Versöhnungsgespräche beginnen müssen, denn das hatten wir doch gelernt: Der tiefste Grund aller Spaltung liegt in der Lehre von der Rechtfertigung ohne Werke.

Doch weit gefehlt, denn die römische Lehrzentrale hatte inzwischen andere Trennungsgründe gefunden: das Bischofs- und Papstamt, die Lehrvollmacht der Kirche und (ausgenommen die Taufe) die Sakramente. Damit hatte die große Ablenkung ökumenischer Nabelschau begonnen. Zwar handelte man die einzelnen Themen ab, doch über deren gemeinsame Mitte wurde kaum mehr nachgedacht. So brachten die kommissions- und papierreichen Jahrzehnte seit 1965 viele Einzelergebnisse von hoher Qualität, doch keinen messbaren Fortschritt. Man verstand manche Differenz jetzt genauer, doch die unverbindlichen Resultate erzielten keinen Durchbruch.

Gegen diese Bilanz mag man Einspruch erheben, denn am Reformationstag 1999 haben Rom und der Lutherische Weltbund (später vom Weltrat methodistischer Kirchen bestätigt) in Augsburg die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Doch theologische Uneinigkeit war damit nicht überwunden. In den Gemeinden wurde es merkwürdig still und wenige Wochen später rieb man sich die Augen: Als wäre nichts gewesen, erneuerte Rom das Ablasswesen und erklärte im Sommer 2000, nur in ihrer römisch-katholischen Ausfertigung sei die Kirche Christi voll verwirklicht. Selbst dies hatte keinen reformatorischen Protest zur Folge. Offensichtlich war Luthers „ich kann nicht anders“ in freundlicher Watte erstickt.

Seitdem dümpelt das Ökumeneschiff ziel- und antriebslos vor sich hin. Zu Recht erklärte der Chef des vatikanischen Ökumenerats, Kardinal Koch, es habe seine Richtung verloren. Wohin die Reise gehe, sei unklar, und zum Feiern bestehe 2017 kein Grund. Ist die lange noch glühende Asche am Erkalten? Man kann es kaum glauben: Für Luther wirkte die Rechtfertigung noch als Kampfansage an alle persönliche und kirchliche Selbstgerechtigkeit. Sie war ihm „Lehrer und Fürst, Herr, Leiter und Richter über alle Arten von Lehren.“ Im Jahr 1999 wurde sie zum geruhsamen Lehrstück neben anderen Lehrstücken degradiert. Offensichtlich hat sie neben ihren Gegnern auch ihre Verteidiger verloren.

Eine Kampflehre ohne Gegner: von Paulus bis Luther

Wie konnte das geschehen? Vielleicht änderte sich zu viel seit Paulus, der die Rechtfertigungslehre als Erster für ein heißes Kampfziel einsetzte. Sein bahnbrechendes Programm eines beschneidungs- und thorafreien Christusglaubens brachte ihn gegenüber Jerusalem unter schwersten Legitimationsdruck; er musste jüdische Ausschließlichkeitsansprüche unnachgiebig widerlegen. Seine nicht immer eindeutige Argumentation durchlief wohl mehrere Phasen: von einer respektvollen Parallelisierung zwischen Judentum und eigenem Glauben über dessen Ablösung durch den Christusglauben bis zu dessen Herabstufung auf das Niveau des fluchbesetzten Heidentums. Zwar hat er sein Ziel erreicht, doch dem späteren Christentum auch den Stempel der Rechtfertigungsbotschaft aufgedrückt und das Judentum für alle Zeiten stigmatisiert. Die Folgen sind bekannt.

Luther hatte erneut unberechtigte Heilsansprüche abzuwehren und für seinen wirksamen Widerspruch können wir ihm nur dankbar sein: mit welchem Recht stellt sich die Kirche in Sachen Sünde und Vergebung an Gottes statt? Doch an der Basis hat diese Rückfrage ihren Biss verloren, denn sie hat solche kirchliche Anmaßung schon lange entmythisiert. Zudem geriet Luthers Anfrage seit der Aufklärung in einen Strudel sachfremder Interpretationen; sie haben den Anfangskontext, damit auch die performative Kraft von Luthers Kritik aus dem Auge verloren. Statt von der Rechtfertigung ist heute von Freiheit die Rede. Das reicht aber nicht, denn mit der Freiheit hatte Luther selbst massive Probleme, als er vom versklavten Willen schrieb und im Kirchenstreit damit die möglichen Vermittler diskriminierte. Zudem müsste man da schon konsequent erklären, was denn sich die neue Freiheit erkämpfen muss. Möglicherweise geht es heute um eine eminent politische Frage, deren theologische Qualität erst erarbeitet werden muss und vor der die verinnerlichte Frage nach der Gerechtigkeit versagt. Solange die Ökumene daraus keine Konsequenzen zieht, sich also als ein rein innerkirchliches Unternehmen versteht, nimmt sie dank schlaffer Segel kein neues Tempo auf; vielleicht hat dieser Mangel dafür gesorgt, dass die Gottesfrage aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden ist.[1]

Ein angstbesetzter Impuls: Augustinus als Zwischenstation

Bei der Auseinandersetzung um das seit Paulus umsorgte Rechtfertigungsprojekt kamen den Großkirchen jede Weltläufigkeit und jeder jesuanische Impuls abhanden. Natürlich polemisierte auch Jesus gegen alle Selbstgerechtigkeit, so etwa in seinem Gleichnis vom Selbstgerechten und dem Zöllner: „Herr, ich danke dir, dass ich nicht bin wie jene …“ Paulus hätte sich auch darauf berufen können. Stattdessen entwickelte er ein hochtheologisches Theoriegebäude über unsere Sündenverfallenheit und wich damit an einem zentralen Punkt von der Gotteserfahrung Jesu ab. Ganz im Sinn der antiken Opferreligionen fiel er auf die Angst vor einem zürnenden Zorn zurück, der durch den Kreuzestod Jesu versöhnt wurde. Dieses Erbe vergiftet die christliche Heilsfrage bis heute mit Verdammungsängsten, von denen sich das Christentum nicht erholt hat. Dementsprechend wurde diese Versöhnungstat Christi als ein streng jenseitiges, buchstäblich über-weltliches Geschehen definiert. Es spielt sich ausschließlich zwischen Gott und Christus ab und wir Menschen können es nur noch vertrauensvoll bejahen.

Augustinus hat diesen Impuls aufgenommen und zum Mythos von der einen Ursünde verdichtet, die uns alle vor Gott schuldig macht und die Taufe zur Eintrittskarte in den Himmel instrumentalisiert. Luther übernahm diese Angsttheorie ebenso wie zuvor die Kirche, die er zu reformieren gedachte. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott!“, das war nicht nur der Hilfeschrei des Reformators, sondern auch all derer, die vor Gott entmündigt waren. Deshalb standen sich Katholizismus und Protestantismus in ihrer angstbesetzten Kernfrage immer schon näher, als sie selbst es vermuteten. Doch ihr Streit hat dieses Grundproblem bis heute unsichtbar gemacht; vielleicht hat die Ökumene es nie richtig durchschaut.

Natürlich sind die vielfältigen Zusammenhänge hochkomplex. Doch ich frage mich: Warum setzte sich die Kritik an diesem (paulinisch- augustinisch- anselmianischen- lutherischen) Sühnemechanismus erst in unserer Generation durch, obwohl eine kritische Exegese und Dogmatik das schon lange wusste? Denn die Folgen sind deprimierend. Diese über-empirische Jenseitsideologie hat das gesamte Christentum auf einen Jenseitstrip geschickt, der den (vermeintlichen) Gottesverlust der „säkularisierten“ Welt zu großen Teilen in Bewegung setzte; es ist eine Entwicklung, als deren Opfer sich die Kirchen heute darstellen. Gewiss, heute helfen kirchlich engagierte Christinnen und Christen fraglos den Geflüchteten, den Ausgeschlossenen und Diskriminierten. Das ist gut und die Erklärung von Lund ermuntert nachdrücklich zu solchem Handeln. Doch die meisten Christinnen und Christen sehen noch nicht den entscheidenden Umschwung: Aus jesuanischer Perspektive beginnt Gottes Heil nicht durch einen Sühnetod, sondern durch diese mitmenschliche Solidarität. Offiziell hören wir noch immer, für unsere Gottesnähe bedürfe es jenes Sühneopfers, das die katholische Kirche wöchentlich, wenn nicht gar täglich zu begehen beansprucht. Doch nach jesuanischer Botschaft ist die Nächstenliebe das Eingangstor zur Gottesliebe. Gemäß ihr begegnen wir dem Messias in den Armen, Hungernden und Entrechteten. Dass wir seine Nähe in der Eucharistie feiern können, ist eher die Folge, nicht der Grund dieser Zusage. Die Rechtfertigungslehre hat unseren Blick auf eine sekundäre Frage verengt, weil von Jesu prophetischer Leidenschaft für Gottes Reich abgelenkt. Angesichts dieser Blindheit für den zentralen jesuanischen Impuls hat uns die Ökumene in ökumenischer Verbundenheit in die Irre geführt.

Ein ökumenisch fruchtbares Thema

Auf Grund dieser Verengungen liegt unsere Ökumene am Boden. Nein, weder Paulus noch Luther sind daran schuld, denn in ihrer jeweiligen Situation traten sie in einer bestimmten Situation als Kämpfer für die Befreiung von einem gottwidrigen Verhalten auf. Aber schon die Generationen nach Paulus ließen es zu, dass die sekundäre Frage nach dem persönlichen Heil vor Gott zur Kernfrage des Christentums wurde. Diese persönliche Heilsfrage ist im Sinne Jesu endlich zu relativieren, nachdem sie enorm heilsegoistische und weltflüchtige Tendenzen entfaltet hat. Dagegen meint die Gerechtigkeit der jüdisch und jesuanisch prophetischen Tradition keine Befreiung von einer vorhergehenden, über uns verhängten Schuld, sondern die Leidenschaft für ein gerechtes, in Frieden versöhntes Zusammenleben.

Gott rechnet dem Abram gemäß Gen 15,6 sein Vertrauen ja nicht ersatzweise als Gerechtigkeit an; vielmehr rechnet Gott dieses Vertrauen zu Abrams erwiesener Gerechtigkeit hinzu. Martin Buber spricht in seiner Übersetzung von Abrams Bewährung. Von der späteren Verachtung des „Gesetzes“ gegenüber dem „Evangelium“ ist hier keine Spur zu finden. Es geht deshalb nicht darum, die Reformation einfach zu radikalisieren. Sie muss korrigiert werden, ein neues Thema finden. Wir müssen ihre impliziten Engführungen durchschauen und uns mit der Hypothese auseinandersetzen: Dieses angstbesetzte Gottesbild, das sich uns mit der Idee der Rechtfertigung tief eingegraben hat, ist der tiefste Grund für den Gottesverlust, den die „christliche“ Kultur im Augenblick erlebt.

Die jesuanische Vision

Der Umbruch, den wir gegenwärtig erleben, betrifft kulturelle Tiefenschichten, die seit der hellenistischen Inkulturation des Christentums stabil waren. Wir erleben keinen Verfall, sondern eine tiefgreifende Metamorphose des Glaubens. Dabei ist die Mythologie des Opfers, damit auch die unterschwellige Streitfrage verdunstet, die westliche Ökumene trennte und zugleich zusammenschweißte. Auch die Bruchstelle zwischen vor- und nachpaulinischem Christsein steht zur Diskussion. Die Kirchen des Westens haben nur eine gesellschaftsrelevante Zukunft, wenn sie neu in die urjüdische Vision des Propheten Jesus hineinwachsen. Seine Leidenschaft für eine gerechte Menschheitszukunft ist aktueller denn je, ebenso seine Überzeugung: Diese Vision kann hier und jetzt beginnen, falls wir es nur wollen. Seine elementaren und welthaltigen Bilder von Gottes Reich sind bekannt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein (vgl. Mt 11,4f). Kein Verweis auf ein weltflüchtiges Jenseits ist zu finden, nur dessen Einzug ins Diesseits. Für die Gemeinschaft der christlichen Kirchen bleibt heute nur eine Chance, wenn sie genauso visionär wird, sich an der Zukunft der Befreiten orientiert und die ererbten Ängste hinter sich lässt, statt sie in ihrer Überwindung zu legitimieren. Wir sollten die Evangelien nicht mehr von den nachösterlichen Vorstellungen her nach rückwärts lesen, sondern mit Jesu Reich-Gottes-Botschaft beginnen, um von ihr her die nachösterlichen Zeiten kritisch zu durchleuchten.

Diese Bekehrung zur Zukunft gelingt nur, wenn sie nicht mit neuen Ideologien der Weltrettung, sondern in christlichen Gemeinden und Gruppierungen durch solidarische Arbeit im angestammten Sozialraum beginnt. Dabei bleibt gelebter Glaube ein vielfältiger Prozess. Er schließt Innerlichkeit und Spiritualität, Gebet und ritualisiertes Feiern, archaische Symbolwelten und eine wohlausgewogene Weisheit nicht aus. Doch kommt heute alles darauf an, dass diese Vielfalt dem einen großen Kriterium einer Menschheit unterstellt wird, die in Frieden zusammenlebt. Denn allein sie garantiert die ökumenische Weite unserer Kirchen.

(Erschienen in QuerBlick 33, Ökumenisches Netzwerk Initiative Kirche von unten, 25-28)

 

[1] Die Theologin Ethel L. Berendt hat in ihrem lesenswerten Buch den Finger auf diese Wunde gelegt: Ethel L. Berendt, die Gnade Gottes. Warum die Kirchen sie entwertet und GOTT unkenntlich gemacht haben, München 2015.