Zur Ambivalenz des Papstbriefes Amoris laetitia

Eine andere Sprache – ein anderes Gespräch

In den ersten Tagen nach Erscheinen des päpstlichen Schreibens Amoris laetitia haben die Medien meist sehr freundlich reagiert. Dafür gab es gute Gründe, denn verglichen zum rigiden Moralismus und schulmeisterlichen Ton früherer kirchenamtlicher Dokumente wirkt dieser Text wie ein verständnisvoller und empathischer Windhauch, der dem früheren Rigorismus abschwört und weitere Öffnungen verheißt.

Zugleich fällt auf: Die evangelische, erst recht die säkulare, kirchlich nicht engagierte Öffentlichkeit nahm das Schreiben kaum oder nur distanziert zur Kenntnis. Auch dafür gibt es Gründe. Sie liegen im Abstand der römisch-katholischen Denk- und Verstehenswelt von anderen Denkwelten unserer Gesellschaft. Es gibt noch immer ein katholisches Sprach- und Denkmilieu, das von oben gespeist wird. So behandelt Papst Franziskus Probleme, die in der übrigen Gesellschaft nicht existieren. Er spricht eine Sprache, die Außenstehende (vor allem junge Menschen) kaum mehr verstehen. Was etwa ist mit der „Familie von Adam und Eva“ gemeint [8] und was bedeutet die „Heilsgeschichte“, die sich auf dem Weg der Zeugungsfähigkeit entwickelt [11]? Kommt ein demographischer Rückgang wirklich durch eine „geburtenfeindliche Mentalität“ zustande [42]? Welche Formen des Feminismus betrachtet der Papst nicht als angemessen [54] und mit welchem Recht disqualifiziert er Gendertheorien undifferenziert als Ideologie [56]? Wie soll man sich die „Verwurzelung der Brautleute in Christus“ vorstellen [67] und in welcher Weise bilden Liebende die „Vermählung des Gottessohnes mit der menschlichen Natur“ ab [73]? Ist es angemessen, zivil Verheiratete mit Samen zu vergleichen, die noch nicht reif sind [76], und war die Frau, die Jesus die Füße salbte, wirklich eine Prostituierte [289]? Was etwa ist eine „irreguläre Situation“ [296] und was ein Jubiläumsjahr der Barmherzigkeit [309]?

Für sich genommen wirken solche Fragen kleinkariert; immerhin wird Papst Franziskus wegen seiner verständlichen und menschennahen Sprache gerühmt. Zudem stammt er nicht aus unserem Kulturkreis. Doch in ihrer Summe, die man noch erweitern könnte, verweisen diese Beobachtungen auf ein schwerwiegendes Kommunikationsproblem zwischen offizieller Kirchenlehre und säkularer Öffentlichkeit. Bischöfe, das theologische und seelsorgliche Personal sollten sich endlich darum kümmern. Überdies sollten – nachdem die erste freundliche Rezeption geglückt ist – auch katholische Kirchenmitglieder ein Gespräch über die Grenzen führen, die in diesem Dokument noch nicht überwunden wurden. Andernfalls geht auch alle Überzeugungskraft nach innen verloren. Zur Eröffnung dieses Gesprächs seien hier einige Punkte genannt.

Offene Fragen offen besprechen

  1. Die Kraft der Inklusion, die der Papst zur Geltung bringt, wird in den meisten Berichten übertrieben. Sie ist gerade nicht umfassend, sondern nur partikular, also nicht konsequent. Die Situation der Homosexuellen hat sich um kein Haar geändert (vgl. den SZ-Artikel von Prantl). Bekundungen des Respekts und der Freundlichkeit sind schon von J. Ratzinger und im Katholischen Katechismus ausgesprochen. Sollen sie sich jetzt wirklich aufgenommen fühlen? Das wäre illusorisch.
  2. Diese Inklusion derer, die in einem irregulären ehelichen oder eheähnlichen Verhältnis leben, ist nicht offen, sondern nur verdeckt. Nirgendwo steht ausdrücklich, dass die Wiederverheirateten zur Kommunion zuzulassen sind. Was der Papst persönlich meint, ist relativ unwichtig, solange er es nicht klar formuliert. Die freundliche Rezeption des Schreibens in der Öffentlichkeit ist zu großen Teilen der engagierten Präsentation des Papiers durch Kardinal Schönborn zu verdanken. Gewiss hat er die Interpretation des Papstes hinter sich. Aber wer von uns wäre bei der Lektüre des Textes allein darauf gekommen, dass ausgerechnet in der Anm. 251 der Schlüssel zur positiven Antwort stecken soll? Wo steht denn, dass jetzt die Bischofskonferenzen am Zuge sind? Warum hat der Papst keine klaren Folgerungen gezogen? Hätten wir von ihm nicht ein „Ja-Ja“ oder ein „Nein-Nein“ erwarten können?
  3. An keinem einzigen Punkt konnte sich der Papst zu einer Modifikation der dogmatisch festgelegten Grundlagen überwinden. Humane vitae, die Dokumente von Johannes Paul II. und von Benedikt XVI., die bislang für den Ausschluss der Betroffenen sorgten, behalten ihre lehramtliche Kraft. Der Widerspruch zwischen Absicht und Geschriebenem ist nur schwer erträglich. Es braucht nicht viel Zeit, bis die gute Stimmung verflogen ist und sich die Lehrherren wieder auf die bleibende Lehre berufen. Haben wir vergessen, was nach dem 2. Vatikanum passiert ist?
  4. Die anrührenden und schönen Ausführungen zu Liebe, Ehe, zur Rolle von Eltern und Kindern oder zur christlichen Erziehung sind gewiss wertvoll. Aber selbst für engagierte Mitglieder der katholischen Kirche im westlichen Kulturraum enthalten sie nichts Neues und Fachleute (Pädagogen, Anthropologen, Philosophen, wissenschaftlich argumentierende Theologen) hätten das alles besser sagen können. Es geht nicht darum, diese päpstlichen Texte unangemessen zu relativieren. Man muss aber nüchtern sehen: (a) Für unseren Kulturkreis hat der Papst damit keine innovativen Impulse gesetzt. Er hätte besser daran getan, auf entsprechende gute Veröffentlichungen zu verweisen (die es in allen Kulturkreisen gibt). (b) Vielleicht hätten diese Texte vor 35 Jahren noch etwas bewegen können. Jetzt kommen sie viel zu spät.
  5. Viele Beobachterinnen und Beobachter betrachten das Ganze als ein Spiel, das sich in der innerkatholischen Sonderwelt noch prächtig inszenieren lässt. Schon die evangelischen Kirchen beobachten es mit ungläubigem Staunen. Andere Reaktionen zeigen mir, dass dieses Papier nur noch Wenige innerhalb und niemanden mehr außerhalb bewegt. Es wirkt ähnlich ambivalent wie die vor einigen Monaten gefällte Entscheidung, dass Priester am Gründonnerstag auch Frauen die Füße waschen dürfen. Ist das fortschrittlich oder überholte Sorge um alte Zöpfe?
    Wir müssen endlich realistisch werden: Was dieses Papier an Neuem bringt, interessiert in unserem Kulturkreis kaum noch jemanden. Betroffene haben – so oder anders – schon längst ihre Entscheidungen getroffen. Um einen grundlegenden Paradigmenwechsel zu vollziehen, wie Hubert Wolf ihn vorschnell entdeckt, müsste der Papst radikaler ansetzen. Zu Recht verurteilt er pauschal die starre und geistlose „Anwendung genereller Regelungen“ und im selben Atemzug wehrt er sich gegen das „ungezügelte Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung, alles zu verändern“ (Nr. 2). Doch diese Schwarz-Weiß-Alternative unterschlägt genau das, was wichtig wäre: Eine gut begründete und reflektierte Korrektur der Entscheidungskriterien, die schon lange aus dem Lot geraten sind und die katholische Kirche in eine Sonderrolle drängen, die selbst wohlmeinende Katholiken und Christen anderer Konfessionen nicht mehr nachvollziehen können.
  1. Ich erinnere an Walter Benjamins Bildinterpretation des ‚Angelus Novus‘ von Paul Klee: Der Engel möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. Für die katholische Kirche ist dieser Sturm das Aggiornamento, der ihr den Boden unter den Füßen wegzieht, weil sie ständig um ihre wohl etablierte Identität fürchtet. Der Wille, das Vergangene gut zu machen, ohne sich wirklich zu korrigieren, jagt sie endlos weiter. Retten kann sie dabei nichts, aber der Trümmerhaufen ihres Versagens wächst noch mehr zum Himmel, weil sie die fälligen Reformen nicht konsequent angehen will. Wer Benjamin genauer kennt, weiß um die todernsten Hintergründe, die ihn an diesem Bild hängen ließen.
  2. Reformgruppen haben die Losung ausgegeben, das Projekt Franziskus sollte gestärkt werden. Unbeschadet aller Papstsympathie klingt mir das zu vorbehaltlos und zu sehr nach alter Papstverehrung, gegen die wir seit Jahrzehnten angekämpft haben. Dabei sollten wir bleiben. Entscheidend ist und bleibt etwas anderes: Wir müssen hartnäckig an der biblischen Botschaft in ihrer Konfrontation mit der Gegenwart festhalten.

Um der Sache willen hart an der Sache bleiben

  • Wo die Homosexuellen im Stich gelassen werden, ist Widerspruch am Platz.
  • Wo die Anliegen der Frauen im Stich gelassen werden, ist Widerspruch am Platz.
  • Wo die Parole der Versöhnung mit Allen auf Einzelfälle eingeschränkt wird, ist Widerspruch am Platz.
  • Wo die Schrift nach wie vor unsauber zugunsten alter katholischer Vorstellungen interpretiert wird, ist Widerspruch am Platz.
  • Wo ein Jahr der Barmherzigkeit nicht dazu benutzt wird, um die unbarmherzigen Panzer der Institution Kirche aufzubrechen, ist Widerspruch am Platz.
  • Wo von den Gemeinden als den Subjekten der Seelsorge gesprochen wird, aber nur neue Vorschläge zu ihrer Betreuung ausgedacht werden, ist Widerspruch am Platz.
  • Solange von Synodalität gesprochen wird, ohne strukturell und rechtlich real synodale Strukturen zu installieren, die diesen Namen verdienen, ist Widerspruch am Platz.

Anders gesagt: Wer den Papst in der aktuellen Situation wirksam gegen die massiven Angriffe von rechts schützen will, sollte ihn nicht durch alle Böden verteidigen; das wäre kontraproduktiv. Stattdessen sollten wir den Reaktionären sagen: Nein, der Papst ist nicht zu links. Euretwegen, also aus falschen Rücksichten, ist er nicht konsequent genug. Lest endlich die Schrift, versteht endlich Eure eigene Geschichte und gebt dem Papst den Freiraum zur gebotenen Konsequenz. Dann muss er seine Anliegen nicht mehr nur indirekt und versteckt zur Geltung bringen, sondern kann sagen: „‚Ja-Ja‘ und ‚Nein-Nein‘, ich bringe neu die unverfälschte Botschaft der Schrift zur Geltung und beziehe mich auf unsere Glaubensgeschichte mit ihren Brüchen und neuen Möglichkeiten, auch den Möglichkeiten einer Korrektur um der Menschen willen.“

Ich will mit diesen Hinweisen keine großen Diskussionen in der Öffentlichkeit anzetteln. Wir müssen aber um die tiefe Ambivalenz der Ereignisse wissen und ich bin davon überzeugt, dass sie sich in den kommenden Monaten von alleine entzünden werden. Dafür sollten wir gewappnet sein und glaubwürdig reagieren.

(Erschienen in: QuerBlick 32, 44-46)

 

Letzte Änderung: 13. Juli 2017