Rasur der Bibel? Mit den Standards der Evolutionsbiologie

Diese evolutionstheoretische Untersuchung der Bibel ist ein hochinteressantes intellektuelles Vergnügen. Doch bleibt zu fragen, ob es angemessen in den Geist der Bibel einführt.

Ein phantasievolles und hoch interessantes Buch (1-569)

Das Buch hat Aufsehen erregt und trotz seiner 569 Seiten lesen es viele begeistert. Fachleute (auch Theologen) loben es wegen einer Originalität, die an die Seriosität keinen Tribut zahlt. Schon die Anzahl der Fußnoten zeigt, dass die beiden Autoren wissenschaftlich gearbeitet haben. Dabei gibt es keine Wissenschaftstümelei, auch keinen Gestus der Besserwisserei, obwohl ich bisweilen über das Selbstbewusstsein der beiden Autoren staune. Autor Carel van Schaik ist ein niederländischer Zoologe, Anthropologe und Evolutionsbiologe, der heute in Zürich arbeitet; in seinem Berufsleben forscht er über Primaten. Der Koautor Kai Michel, den Lesern der ZEIT vielleicht bekannt, versteht sich als Historiker und Literaturwissenschaftler. Ihre Zusammenarbeit hat sich gelohnt. Sie hatten sich vorgenommen, die Bibel aus einer evolutionären Perspektive zu lesen und sie taten es mit großem Erfolg. Ihre Reise geht von den ersten Geschichten über die Schöpfung der Erde und den Anfang der Menschheit bis zu den apokalyptischen Endzeitperspektiven der letzten Seite dieses für sie faszinierenden Buches. So wurde ihnen die Bibel zu einem informationsreichen „Tagebuch der Menschheit“, das sie in fünf Teile aufteilen:
– Die Genesisgeschichten (37-155),
– die Geschichten von Mose und vom Exodus (157-258),
– die Zeit der Könige und der Propheten (259-316),
– die Psalmen und übrigen Schriften (317-371) sowie
– das Neue Testament (373-476),
alles, wie es sich gehört, umrahmt von einer Einleitung und einem Epilog.

Als Theologe kann ich dieses Buch nur begrüßen. Es behandelt die Bibel mit Respekt, allerdings nicht als Heiliges, sondern – im besten Sinn des Wortes – als ein weltliches Buch. „Die Bibel ohne Heiligenschein geht alle an“ (8). Es wird dadurch auch einem gesunden religiösen Selbstverständnis gerecht, denn Religionen präsentieren ja keine Überwelt, die über den Wolken schwebt. Vielmehr werden sie schon immer von einer menschlichen Kultur und von vielfältigsten menschlichen Erfahrungen, Weltdeutungen, Ritualen, kulturellen Kontexten und Umgangsformen getragen. Religionen sind selbst ein Stück Kultur und ohne deren Unterbau könnte es – einem Eisberg gleich – nicht jene imposanten und formenreichen Massen auftürmen, die sich weit über die Meeresspiegel erhöhen. Auch trauen die Autoren der Bibel einen großen Reichtum von evolutionstheoretischen Informationen zu, die man bislang nicht erwartet hat.

Eine Schlüsselrolle spielen die drei Naturen des Menschen, die Evolutionstheoretiker im Menschen und seiner Geschichte situieren.
– Die erste Natur sind die angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben: Natur und Bauchgefühl.
– Die zweite Natur ist der Erfolg der Zivilisation, in der bestimmte Erfindungen kumulieren und dadurch bestimmte kulturelle Verhaltensweisen eben zur festen und selbstverständlichen Angewohnheit werden.
– Die dritte Natur, das ist die Vernunftnatur, also Maximen, Praktiken und Institutionen, denen wir aufgrund einer bewussten Rationalität folgen.
Natürlich lassen sich in der Schrift zahllose Berichte bzw. Ereignisse finden, in denen die erste und die zweite Natur miteinander in Konflikt geraten, einander überlagern oder sich überraschend zu Wort melden. Die Vernunftnatur setzt sich durch, sobald Institutionen, Gesetze und ein monotheistisches Gottesbild entstehen. Eine große Bedeutung erhält für die Autoren der Übergang vom Jäger- und Sammlerdasein zur Sesshaftwerdung, also von einer egalitären zu einer hierarchischen Welt mit ihrem Streit um Besitz und Erbrechte, mit Gewalt und der Frage, wie mit Krankheitserregern umzugehen ist.

Die Autoren erklären, dass sie aus der Bibel vieles gelernt haben. Was aber genau ist die Art der Erkenntnisse, die sie gewonnen haben? Das wurde mir nicht klar. Immerhin erklären sie selbstbewusst: „Wir wissen, was geschah, bevor die Bibel wurde, und wir wissen, was danach passierte … Wir wissen, wie der Homo sapiens wurde, was er ist, und wir wissen, wie sich die Menschwerdung über die letzten zwei Millionen Jahre hinweg vollzog, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die prähistorischen Umwelten die menschliche Psyche prägten.“ Daraus folgern sie: „Mit dieser Kenntnis lässt sich Erstaunliches aus der Bibel herauslesen, denn wir haben ein Gespür für die Probleme, auf die sie eine Antwort ist, können aber auch jene Probleme identifizieren, die von der Bibel erst in die Welt gesetzt wurden.“ (13)

Bei solchen Erklärungen gesellen sich zu meiner Begeisterung dann doch einige skeptische Fragen, denn schlussendlich illustriert eine solche Bibelauslegung nur das, was die Autoren schon vorher wissen und ehrlich gesagt: Der neue entwicklungsbiologische Blick hat mir ‑ bei der zugegeben nur kursorischen Lektüre des Buchs – nicht viele neue Einsichten vermittelt. Dass etwa der Verlust des Paradieses vom Verlust der glücklichen Zeit der Jäger und Sammler zeugt oder die Bibel – etwa in der Fallgeschichte – „ein überraschend aufschlussreiches Bild der kulturellen Evolution“ zeigt oder dass es in dieser Geschichte um die Erfindung des Eigentums geht, das kann man als Hypothese für eine genauere Erforschung der Zusammenhänge vorgeben, aber in dieser Selbstverständlichkeit, die das Buch unterstellt, hat es sich mir nicht erschlossen. Ähnliches gilt für die Informationen, die „all about Eve“ zu berichten wissen. Das sind nahezu belanglose, nicht humorlos vorgetragene Nebenbemerkungen zweier Männer. Auch diese Zuordnungen sind mir zu zufällig und bringen keinen zwingenden Erkenntnisgewinn.

Kain und Abel, zweite Chance für den Alpha-Wolf (78-87)

Nehmen wir die Geschichte von Kain und Abel. In der Tat steckt in dieser Geschichte viel Überraschendes und Ungereimtes und die Autoren bringen uns dazu, sie mal wieder ganz neu, mit unbefangenen Augen zu lesen. Zur Technik, diese und andere Geschichten interessant zu machen, werden im Buch zwei, oft wiederkehrende Methoden angewandt.

Erstens, es werden bewusst naive Fragen im Stile „Wie kann Gott das zulassen?“ gestellt, die heute kein kundiger Bibelleser von einigermaßen geschichtlichem Bewusstsein so stellen würde: „Fängt man erst einmal an, sich über Gott zu wundern, tauchen weitere Fragen auf. Warum bevorzugte er [Gott] Abel, ließ es dann aber geschehen, dass dieser erschlagen wurde, und bestrafte den Mord so nachsichtig?“ (79). Die Autoren setzen also schon anspruchsvolle und zugleich unreflektierte Gottesbilder voraus.

Zweitens werden Meinungen oder Positionen von Fachexegeten mit einer gewissen Willkür ausgewählt, auch wenn sie in der Exegese schon lange als überholt gelten. Gewiss ist z.B. die Frage wichtig, warum Gott von den beiden Brüdern nur einen bevorzugte. Aber die Antwort, dies sei die Folge der neuen Ackerbau- und Landbesitzkultur halte ich für möglich, aber für viel zu global und zudem recht willkürlich. Noch weniger überzeugt mich die recht phantasievolle Erklärung für den göttlichen Schutz, den Kain nach seinem Mord erhält. Nach Meinung der Autoren erhalten die machtgierigen Alphas eben eine zweite Chance, denn „ihr Hang zum rücksichtslosen Gewalteinsatz erweist sich als Adaptionsvorteil“ (86). Zum Schluss wird die Geschichte hochstilisiert: „Es ist der Schlüssellochblick auf das soziale Chaos, der die Kain-und-Abel-Episode so wertvoll macht. Die eigentumsbasierte Gesellschaft setzte Konkurrenz, Ungleichheit und Gewalt in die Welt.“ Dass die Kain-und-Abel-Geschichte von Gewalt berichtet, ist unbestritten. Dass sie aber vom Beginn der eigentumsbasierten Gesellschaft zeugt, scheint mir eine reine Vermutung zu sein. Auseinandersetzungen zwischen besitzenden und Wohnsitzlosen gibt es in zahllosen Staaten bis heute. Evolutionsbiologen mögen irgendwann zu ihrer agrarkritischen Erkenntnis gekommen sein, ihre Begründungen kenne ich nicht. Ich kenne sie aus meiner Lektüre von Karl Marx und wir wissen von seinem Namensvetter Karl May, dass den Wohnsitzlosen Gewalt ebenfalls bekannt ist; Speere und andere Tötungswerkzeuge sind auch ihnen bekannt. Also hält sich mein Erkenntnisgewinn auf diesen Seiten in Grenzen.

Wie nimmt man die Bibel ernst? (131-132)

Es ist nicht einmal eine Seite, aber sie gibt Einsicht in ein wichtiges methodisches Prinzip, über das sich van Schaik auch an anderer Stelle geäußert hat. Er hätte sich auch auf Thomas S. Kuhns Paradigmentheorie berufen können. Wo sich beim Verständnis einer Materie Rätsel und Probleme zeigen, sich möglicherweise sogar häufen, nehmen auch die Antworten, ergänzende Erklärungen und Zusatzhypothesen zu. Ein neues Paradigma hat den Vorteil, dass es diese Zusatzhypothesen überflüssig macht und die Fragen viel eleganter beantwortet. Eine vergleichbare Beobachtung machte im Spätmittelalter schon der scharfsinnige Philosoph und Logiker Wilhelm von Ockham (1288-1347). Nach ihm genießt die sparsamste Argumentation immer den Vorrang vor den kompliziertesten. Die Fachwelt spricht vom Prinzip der Parsimonie (Sparsamkeit) oder von Ockhams Rasiermesser, das gnadenlos mit allen überflüssigen Erklärungen aufräumt.

Mich erschrecken diese Hinweise im Buch. Nicht als ob dieses Prinzip für die beschreibenden und erklärenden Wissenschaften nicht sehr sinnvoll und nützlich wäre. Für eine Wissenschaft der Textauslegung ist aber Vorsicht geboten. Denn Texte, zumal mit dieser langen, hochkomplizierten Geschichte, Texte also, deren ursprünglichen Sitz im Leben wir in der Regel nicht mehr rekonstruieren können, tragen viele Aussage- und Bedeutungslagen, oft einen ganzen Chor von inneren Stimmen in sich. Das Rasiermesser mag da für eine glatte Oberfläche sorgen, aber alles Widerborstige im Text, das allmählich und unsystematisch gewachsen ist, sowie alles Metaphorische, das sich definitionsgemäß genauen und objektivierbaren Deutungen entzieht (und religiöse Texte sind nun mal voll von Metaphern), dies alles wird von diesem Rasiermesser nun mal wegrasiert.

Was alles von diesem Rasiermesser abgehobelt wird, zeigt sich an einer anderen, der unsystematisch eingestreuten Paragraphen (100-103), die von der Auslegung der Bibel abweichen und sich zu Grundsatzfragen äußern. Es wäre besser gewesen, die Autoren hätten diese Grundsatzerklärungen in einem Kapitel zusammengefügt. Vielleicht wollten sie die geneigten Leser nicht überfordern oder ihre ziemlich harten Prinzipien durch interessante Materialvermittlung abfedern. Was ist Religion? lautet der Titel. Gemäß dem Gewährsmann Jared Diamond, einem renommierten (zugleich umstrittenen) Evolutionsbiologen, zeichnen drei Merkmale eine Religion, „wie wir[?] sie heute[?] verstehen“, aus: Sie erklären Übernatürliches, entschärfen Ängste und bringen für die schmerzhaften Seiten des Lebens Trost. Gegen den Hinweis auf diese Funktionen ist ebenso wenig zu sagen wie gegen die nachfolgenden Ausführungen. Die Funktion von Religion hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Religion ist schon in der ersten Natur, also dem primären Erfahren und Fühlen der Menschen verankert, Kinder glauben gerne an übernatürliche Wesen. Animistische Anteile sind in Religionen stark präsent, Rituale sind kulturelle Produkte und Religion ist das Ergebnis eines Institutionalisierungprozesses. Ursprünglich war Religion nicht für die Moral zuständig.

Auch ein Theologe kann diesen Feststellungen nur zustimmen, denn um Religionen zu verstehen, müssten wir sie als kulturelle Produkte begreifen, in denen alle menschlichen Lebenswelten integriert sind. Das Buch nennt zu Recht drei Sphären, in denen Religion präsent ist: der Alltag, der lokale Raum und die größeren Territorialgebiete, in denen sich ein Expertentum, oft ein Staatsgott mit offiziell öffentlicher Geltung herausbildet. Damit schaffen die Autoren – auch in vielen einzelnen Interpretationen – ein starkes Gespür für die ungeheure Vielfalt von Religion; genau deshalb empfehle ich auch seine Lektüre. Überhaupt nennt er die Bibel (die Thora und die übrigen Schriften) ein glänzendes „Hybridprodukt“. Die Autoren sehen in ihr den „vermutlich ambitionierteste[n] Versuch, jene menschlichen Probleme in den Griff zu bekommen, die den Homo sapiens seit dem Sesshaftwerden plagen – auf individueller Ebene genauso wie auf gesellschaftlicher, sie wirkt psychologisch wie sozial. Gott als Retter – das funktioniert für den Menschen ebenso wie für ein Volk oder eine Nation.“ (334f.)

Dann aber folgt ein Schluss, der mich zu Rückfragen ermuntern: „ Gott wird multifunktional.“ Was soll das denn sein, ein multifunktionaler Gott? Ich spreche den Autoren nicht das Recht zu dieser Formulierung ab. Sie macht aber auf die für mich entscheidende Grenze des Buches aufmerksam. Die Religion wird von einigen Funktionen her definiert, die – einzeln und in ihrer Gesamtheit – hinter dem Selbstverständnis der Religion zurückbleiben. Das Buch will Bibel und Religion von außen her erklären, sie aber nicht verstehen. Es arbeitet analytisch und scheut sich vor der synthetischen Ergänzung. Es springt mit den Texten wie mit zu entschlüsselnden Apparaten um, die funktionieren oder ihre Funktion verfehlen. Die Ergebnisse des Buches sind nicht falsch, aber sie bleiben im Vorraum dessen stehen, was Religionen wirklich interessant macht, nämlich die Konfrontation der Menschen mit einer letzten Wahrheit und einem letzten Selbstverständnis. Nicht dass das Buch mit funktionalen Kategorien arbeitet und in ihnen denkt, ist für mich das Problem. Aber es weckt den Anschein, dass damit alles gesagt ist, dass Religion mit diesen Kategorien zu rasieren ist, wenn man sie rational durchschauen will.

So gesehen nehmen die Autoren viele Aspekte der Bibel ernst, nicht aber die Kernintentionen der meisten ihrer Texte. Ähnlich wie literarische Texte wollen religiös ambitionierte Texte eben nicht funktionieren, sondern Welt und Erfahrungen zusammenfügen und auf zentrale Punkte ausrichten. Sie setzen sich mit dem Unerwarteten (Gefürchteten oder Erhofften) auseinander und begehen es, um sich ihm zu stellen. Eine solche religiöse, letztlich also existentielle Auseinandersetzung kann ja nur gelingen, wenn sie das Staunen, das Leiden und das Beschenktsein, die Mortalität und die Natalität ernst nimmt. Auch diese Dimension lässt sich von der Religionswissenschaft besprechen; dazu bedarf es nur eines hermeneutischen Zugangs, der spätestens seit Wilhelm Dilthey (1833-1911) wissenschaftlich diskutabel und akzeptiert ist. Stattdessen betreibt das Buch einen Denkstil, der mir zwar nicht unsympathisch ist. Aber er hat seine Grenzen und da diese Grenzen nicht benannt, sondern eher gerechtfertigt werden, treibt es den Lesern das Staunen über eine uns vorgegebene Wirklichkeit aus.

Jesus – „hybrides Akkumulationsprodukt der kulturellen Evolution“ (377-450)

Zur Entschlüsselung ihres Tagebuchs der Menschheit haben die Autoren hart gearbeitet. Das zeigt sich in allen Kapiteln. Im ersten steht oft der Übergang zur Sesshaftigkeit des Menschen im Mittelpunkt. In späteren Kapiteln zu Moses, den Propheten und den Psalmen gewinnen die Wege von der zweiten zur dritten Natur der Menschen mehr Interesse. Ernst und meines Erachtens mit großem Gewinn für die Leser setzen sie sich wiederholt mit Entstehung und Grenzen des Monotheismus auseinander. Allerdings treten die evolutionsbiologischen Kategorien allmählich zugunsten der Einträge des Historikers Michel zurück. Oft wirken die Hinweise über die erste oder dritte Natur und über die Sesshaftwerdung nur noch wie eine interessante Reminiszenz. Stattdessen gewinnen schon bekannte archäologische, historische und psychologische Zusammenhänge an Bedeutung. Zugleich spüre ich auch eine gewisse Spracharmut. Abgesehen von der unbestrittenen historischen Sachkunde wirkt z.B. was über die Psalmen und Propheten gesagt wird, für meine Erwartungen ziemlich dünn.

Das gilt auch für das Neue Testament, insbesondere für den aus historischer Perspektive ebenfalls differenziert dargestellten Jesus. Man ist auf der Höhe der aktuellen Forschungsstände. Aber die gewählte Methode nimmt den Autoren die Möglichkeit, etwa die spirituelle Tiefe der jesuanischen Worte und seines Handelns oder die ungeheure Wirkungsgeschichte seines Todes und der Auferstehungsberichte auszuloten. Stattdessen kommt das Buch zu folgendem Schluss:

„Kommen wir zum Ende unserer Argumentation: Der doppelte Jesus, wie ihn uns das Neue Testament präsentiert, ist ein hybrides Akkumulationsprodukt der kulturellen Evolution. Die intellektuelle Religion hat ihre Welterklärungsmatrix auf faszinierende, apokalyptische Weise revolutioniert – und damit eine Welt von Gut und Böse geschaffen. In dieser Welt kommt Jesus Christus die Rolle des Heros im Kampf gegen die Mächte der Finsternis zu. Auf der anderen Seite tritt er uns in den Evangelien auf eine Weise entgegen, die mit unseren alten psychologischen Bedürfnissen übereinstimmt, für die selbst ein Papst [gemeint ist Benedikt XVI.] das Wort «Freundschaft » wählt. Wir treffen also neben dem eschatologischen Jesus auf Jesus, den Freund.“ (423)

Das sind im Denkrahmen der Autoren Worte voller Hochachtung und Respekt, und doch ist die Wirkung der vorhergegangenen, alles auf Analyse glättenden Rasur nicht zu verkennen.

Zusammenfassung

Trotz aller Kritik sehe ich in dem Buch von van Schaik und Michel eine große intellektuelle Leistung. Das Buch wimmelt nur so von interessanten Widerhaken, an denen sich allzu Fromme ruhig reiben sollen. Angesichts des neuen methodischen Ansatzes kann diese Publikation aber nicht mehr sein als ein erster respektabler Versuch.

– Vielleicht eröffnet er einen neuen Forschungszweig der wissenschaftlich verantworteten Exegese. In der Folgezeit dürfte die ganze Bibel nicht mehr in das Prokrustesbett einer einzigen Monographie gezwängt werden, denn der zu klärenden Rückfragen, Differenzierungen und Einordnungen wären zu viele.
– Dann müsste dieses Unternehmen aus Gründen der wissenschaftlichen Seriosität wenigstens vorläufig auf die locker-geschwätzige, sich selbst interessant machenden Sprache verzichten. Nur so kann die Wissenschaft ihre Tiefenwirkung gewinnen.
– Schließlich könnte dann die Phase eintreten, in der die evolutionstheoretischen Erkenntnisse in das umfassende Geschäft biblischer Auslegung integriert werden ‑ ohne Rasiermesser und im Versuch, die Flut analytischer Einzelergebnisse in ein zusammenfassendes Verstehen der Bibel und ihrer einzelnen Texte einzuordnen.

So könnte deutlich werden, dass und in welchem Sinn die Bibel als ein Tagebuch der Menschheit gelten kann, in keinem Fall als das Tagebuch, wie es der Buchtitel unterstellt.

Carel van Schaik und Kai Michel, Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät (Hamburg 2016)