Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden

Ein Gott, eine Welt, viele Religionen

Vortrag am 1. Juni 2017 in Weilheim (Obb.)

Einleitung: Religion, ein politischer Faktor

„Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden“ Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass dieses Motto so brisant werden könnte, wie es nach dem 11. September 2001 geworden ist, als die Twin Towers in New York zusammenstürzten! Nicht nur der Islam, auch andere Religionen wurden inzwischen wieder als hochpolitische Faktoren zur Kenntnis genommen. Wir haben das hoch explosive Spiel dieser Kräfte vor wenigen Tagen erlebt: Donald Trump besuchte gleich drei religiöse Zentren in einer Woche: Riad, Jerusalem und Rom, und er handelte, als habe er von Religionen und ihren politischen Tiefenwirkungen nichts begriffen. Offensichtlich hat er noch nicht gelernt, dass scheitern muss, wer Politik auf finanzielle Deals reduziert.

[Thesen und Gliederung s. am Ende des  Vortragstextes]

0.1 Politische Mächte

Religionen können ja kaum bezwingbare Kraftzellen und deshalb zutiefst segensreich, aber auch brandgefährlich sein. Sie können politische und wirtschaftliche Mächte stärken und mit ihnen Symbiosen eingehen. Nicht ohne Grund führen in Deutschland zwei Parteien das „C“ in ihrem Namen. Das heißt aber auch: Politische Mächte können Religionen instrumentalisieren und gerne lassen sie sich missbrauchen. Nur allzu oft führt dies zu eskalierenden Spiralen des Verderbens. Wir können es in unserer Gegenwart beobachten. Wo wir auch hinschauen, die Welt steht in Flammen und an vielen Orten gerät sie aus den Fugen. Der Präsident der USA zündelt im arabischen Raum, an der Grenze zu Mexiko und an der Küste vor Korea; an seiner Wahl zum Präsidenten hatten evangelikale Gruppen seines Landes einen erheblichen Anteil. In Europa erstarkt die Neue Rechte, in Ungarn, Polen und Frankreich massiv von Kräften unterstützt, die sich christlich nennen oder faktisch so geprägt sind. Teile der AfD berufen sich auf christliche Werte. Über die Schreckensregime im Namen des „Islamismus“, der sich auf eine an sich friedfertige Religion beruft, brauche ich mich nicht näher zu äußern. Und wer meint, der Buddhismus verbreite nur Frieden, schaue nach Myanmar, wo nicht-buddhistische Minderheiten, insbesondere die Rohingya mit größter Brutalität verfolgt, vertrieben oder ermordet werden.

0.2 Kulturen und Erinnerungen

Was ist nur los mit den Religionen? Warum geraten sie immer wieder in den Strudel politischer, gesellschaftlicher und gegenseitiger Gewalt? Seien wir nüchtern, denn alle Religionen, die wir kennen, sind hochkomplexe kulturelle Erscheinungen, weil die hochsensiblen Kernstücke ihrer Kulturen. Zwar bestimmen sie die Gegenwart, leben aber vor allem aus der Erinnerung. Sie verkörpern das jahrhundertealte Gedächtnis von Völkern, vergessen ihre Demütigungen, Verletzungen und Niederlagen so schnell nicht. Mit diesen Lasten auf dem Rücken verleihen sie ihren Anhängern eine Identität, die sich so schnell nicht auslöschen lässt, denn sie reichen in das innerste Fühlen und in die innerste Verbindlichkeit menschlicher Existenz. So deuten sie unsere Lebensentwicklungen von der Wiege bis zur Bahre und helfen uns, alle Unwägbarkeiten, freudige Überraschungen und schlimmsten Unglücke zu bewältigen. Die Weltreligionen leben geradezu von der Frage, wer ich bin.

0.3 Bevölkerungsgruppen

Dies gilt gleichermaßen für Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen. Was sich bei dieser Identitätsbildung abspielt, ist nur schwer zu definieren, denn Religionen umfassen immer eine ganzheitliche Lebenspraxis. Primär sind sie emotional und intuitiv bestimmt, prägen also die Emotionen und die Intuitionen ganzer Völker. Zugleich bieten Religionen ihnen weite Räume einer vielfältigen Welt- und Geschichtsdeutung. Sie geben Leitfäden für das Verständnis ihrer eigenen Entwicklung. Ihre Visionen und ihre Vorstellungen eines Jenseits präsentieren sie als lebensnahe und unbezwingbare Wirklichkeit. So schaffen sie höchst widerstandsfähige Kammern, die ganze Völker und Kulturräume zusammenhalten und rechtfertigen Konflikte, die gegenüber anderen aufbrechen. So haben kluge Vertreter anderer sozialer, ethnischer oder machtpolitischer Interessen schon immer versucht, Religionen vor den Karren ihrer Ziele zu spannen. Wenn das ihnen gelang, konnten sie sich eines machtvollen Bündnispartners sicher sein.

0.4 Ein dichtes Netz des Beharrens – oder der Humanisierung?

Bestehende und kulturell etablierte Religionen sind also tief in das Beharrungsvermögen von Gemeinschaften eingesenkt, denn um ihrer eigenen Identität willen bilden sie höchst dichte Netze des Beharrens. In der Regel gelten Religionen als konservative, wenn nicht gar nostalgische Phänomene. Sie leben aus ihrer Vergangenheit. Ihre Gründungsmythen, in denen ihre Hoffnungen und Ideale grundgelegt sind, bleiben unzerstörbar gegenwärtig. Deshalb können Religionen zu Querulanten und zu einem massiven Störfaktor werden, sobald sich Neues ankündigt. Das Beharrungsvermögen des christlichen Glaubens liefert durch Jahrhunderte hindurch dafür zahllose Beispiele. Auch in der Gegenwart wirken Religionen oft schon im regionalen Raum als bockiger Bremsklotz und auf Länder- oder kontinentaler Ebene werden sie zur Quelle der Gewalt. So gelten sie für ihre Kritiker als Quellen der Verweigerung, des Rückstands und der fanatischen Verhärtung. Die Losung lautet dann: Schafft die Religionen ab, dann hört die Gewalt auf.

Diese Meinung ist nicht nur naiv, sondern auch widerlegbar. Denn Fälle über Fälle lassen sich aufzählen, in denen religiöse Kräften für Versöhnung sorgten. Vor allem haben die Anhänger von Religionen ein ganz anderes Bild von dem, was religiöse Kräfte leisten können. Unermüdlich betonen sie, gerade Religionen könnten Konflikte auflösen, zu Quellen der Erneuerung und Gewaltlosigkeit werden, den Frieden und ein menschenfreundliches Zusammenleben fördern. Das Christentum definiert sich als Religion der Liebe, der Islam als Religion der Barmherzigkeit, das Judentum als Religion der Gerechtigkeit.

Welches der beiden Lager hat recht? Vielleicht sollten beide ihre Positionen differenzieren, denn nirgendwo auf der Welt gibt es die reine oder wahre Religion an sich. Eine Religion ist, etwas vereinfacht gesagt, nie besser als diejenigen, die sie praktizieren. Sie reagieren in verschiedensten kulturellen Kontexten und gesellschaftlichen Situationen, bisweilen müssen sie sich massiv verteidigen, bisweilen befinden sie sich auf dem Vormarsch und ich weiß nicht, was besser für sie ist. Manchmal stören sie einen unguten Frieden zu Recht, manchmal zerstören sie einen wertvollen Frieden aus purer Rechthaberei. Es gibt wohl immer eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Offensichtlich sind Religionen eben keine geschlossenen Gebilde. Deshalb sollten wir sie immer als ein Feld widerstreitender Kräfte begreifen. In ihnen verlaufen Prozesse, die nie zum Stillstand kommen. Die Frage lautet nicht: Sind wir eine Religion des Friedens oder eine Brutstätte der Gewalt? Sie muss lauten: Wie lässt sich verhindern, dass Liebe zu Hass, positive Begeisterung zum Fanatismus, Nächstenliebe zu einem Glutherd der Gewalt degeneriert?

Gerade die sogenannten „prophetischen“ Religionen (Judentum, Christentum, Islam), die mit der aktiven Vision einer in Frieden versöhnten Menschheit antreten, müssen sich fragen lassen, ob sie nicht wenigstens rettende Ressourcen für den Fall anbieten können, dass sie mal wieder in Gewaltexzesse abgleiten und in sich einen fürchterlichen Zwiespalt offenbaren. Als Angehörige des westlichen, maßgeblich vom Christentum geprägten Kulturraums haben wir uns mit Nachdruck danach zu fragen, ob nicht wenigstens diese prophetischen Religionen die Schwelle zu einer nachhaltig humanisierenden Religion überschreiten können, um dann auch vergleichbare Kräfte in den fernöstlichen Religionen zu entdecken. Anders gefragt: Warum verdirbt eine tiefe Ambivalenz der Religionen – die in Wirklichkeit die tiefen Abgründe von uns Menschen offenbart ‑ oft den entschiedenen Willen, die Zukunft der Menschheit so zu gestalten, dass die Menschen in Frieden leben können? Gerade die entschlossenen Weltverbesserer standen ja oft genug in der Gefahr gewaltsamer Menschenerziehung.

In vier Teilen möchte ich die aktuellen, für mich wichtigen Zusammenhänge dieses Problems beleuchten:
– die aktuellen Phänomene der Globalisierung (I)
– und Perversionen von Religionen durch den Fundamentalismus (II),
– das religionsübergreifende Anliegen eines Weltethos (III)
– und die alles entscheidende Frage nach dem Geheimnis des Göttlichen (IV), von dem alle Religionen durchdrungen sind bzw. durchdrungen sein sollten.

I. Religionen im Strudel der Globalisierung

1.1 Eine neue Ära

Seit 1989 wird unsere gesamte Welt in einen Globalisierungsstrudel ohnegleichen gerissen. Gewiss, Globalisierungsschübe sind in der Weltgeschichte nicht neu. Ich erinnere an die Globalisierung um die Zeitenwende, die wir Hellenisierung nennen und die das Christentum wesentlich mitgeprägt hat. Zu erinnern ist an den Globalisierungsschub, den vor 500 Jahren die beginnende Kolonialisierung vieler Weltteile durch Europa ausgelöst hat. Vergleichbare Schübe in kleinerem Maßstab erfuhren viele einzelne Länder, als sie von anderen erobert wurden.

Der gegenwärtige Schub ist mit den früheren kaum noch vergleichbar, weil er buchstäblich alle Kontinente und Kulturen mitreißt; zu viele Sektoren sind an ihm beteiligt. Er umfasst das Wirtschafts- und das Finanzwesen, die Naturwissenschaften und die Medizin, die Agrarwirtschaft und die Technik, den weltumspannenden Verkehr und die digitalisierte Kommunikation, die keine Distanzen mehr kennt und Zeitgrenzen nahezu überwindet. Einige wenige Weltsprachen bilden sich heraus und der Wettstreit um sie ist im vollen Gange.

Im Augenblick ist dieser Prozess, wie es scheint, von niemandem beherrschbar. Über viele ist er wie ein anonymes Schicksal hereingebrochen. Besser gesagt: bei vielen hat er sich hineingeschmeichelt und die Politik kann oder will ihn nicht steuern. Dieser Prozess vollzieht sich unter dem Siegel des Fortschritts und viele gesellschaftliche Kräfte arbeiten vereint an dessen Dynamisierung. Niemand will den Anschluss verlieren, denn er gilt als Unterpfand eines humaneren Lebens und Zusammenlebens.

Dabei wird die Ambivalenz dieser Entwicklung deutlich. Es sind die großen Nutznießer, die ihn vorantreiben. Das sind die Besitzenden und die Bestimmenden. Entgegen anderen Hoffnungen öffnet sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter. Seit dem Scheitern des Kommunismus leninistischer Prägung sind sozialistische Ansätze diskriminiert. Zudem wirken die Globalisierungsprozesse ‑ jedenfalls in ihrer Gesamtwirkung – auf kontinentaler, nationaler und regionaler, auch auf individueller Ebene wie ein massiver Angriff auf kulturelle Identitäten. Das macht zahllose Menschen und Gruppierungen orientierungslos und nimmt ihnen ihre innere und äußere Heimat. Die Migrationsströme von Asien nach Europa, in Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent sind enorm. Das schafft massive Orientierungsverluste, bewirkt einen vitalen Egoismus und eine Demoralisierung des sozialen Verhaltens. Auch in Europa erleben wir einen Niedergang politischer Kultur, der sich aus dem Gefühl speist, jetzt müsse sich retten, wer kann. Die Folgen sind katastrophal.

1.2 Erweiterung und Relativierung

Gewiss, die Vorteile sind nicht zu übersehen und nicht hoch genug zu werten. Bei allen, die konstruktive Teilhaber dieser Globalisierung sind, tritt eine Erweiterung des Bewusstseins ein. Ein universales Weltbewusstsein kann ebenso entstehen wie eine umfassende Kenntnis auch anderer Kulturen und anderer Religionen. Auch unsere Gesellschaft ist inzwischen durchwoben von Prozessen der Inkulturation. Viele von uns, deren Eltern vielleicht unterschiedlicher Nation oder irgendwann eingewandert sind, stehen mit sich selbst im Dauergespräch: „Wer bin ich?“, fragen sie sich? Bin ich Deutscher oder Türke, Europäer oder Afrikaner? Gibt es unterlegene und überlegene Kulturen und vor allem: Wie erlebe und lebe ich meine verschiedenen Herkünfte, ohne mein Ich zu verlieren?

Nun wissen wir, dass diese Erfahrungen kultureller Überschreitungen gar nicht so einfach sein. Viele bislang unverbrüchliche Überzeugungen zerbrechen, andere wissen nicht, wohin sie gehören. Plötzlich tauchen konkurrierende Wahrheiten auf; die innere Stabilität von Menschen wird bedroht, bevor sich ‑ im Glücksfall! ‑ das Verständnis Glück, Wahrheit oder guter Tradition erweitert und ein umfassenderes, toleranteres Menschenbild entsteht.

Ich kann hier die kulturellen und gesellschaftlichen Folgen dieser Transformationen nicht weiter verfolgen. Ich verweise nur auf die Herausforderungen, mit denen die Religionen konfrontiert sind. Die viel beschworene Krise der Religion in Deutschland bzw. in Westeuropa hat nicht einfach mit mangelndem Glauben zu tun. Langfristig steht uns in diesem Schmelztiegel der Identitäten eine tiefgreifende Metamorphose von Religionen bevor. Immer tiefer erkennen wir aus konkreter Anschauung, was Religionen miteinander verbindet und die Unterschiede zurücktreten. Die dogmatischen Selbstidentifikationen werden relativiert und keine Religion kann es sich mehr leisten, sich als die einzig Wahre zu präsentieren. Unbestreitbar scheint mir zu sein, dass die römisch-katholische Kirche diese Herausforderung noch nicht richtig wahrgenommen hat, aber in den Köpfen ihrer Mitglieder, ihrer Jugend zumal, hat sie sich schon lange eingenistet. Muss ich auf jeden Fall katholisch bleiben? Was darf ich vom Buddhismus lernen? Ist es nicht möglich, „flexibel zu glauben“, wie ein niederländisches Buch gerade titelte? Liegt die Wahrheit der Welt nicht jenseits der traditionellen religiösen Grenzziehungen? So schwanken viele von religiöser zu religiöser Inspiration.

1.3 Angst vor den Anderen

Auch die christlichen Glaubensgemeinschaften spüren natürlich dieses innere Erdbeben, das unter ihren Anhängern zutiefst menschliche Reaktionen hervorruft. Man spürt eine archaische Angst vor dem und vor den Anderen. Denn dieses Anderssein, das Ungewohnte und die daraus entstehende Unsicherheit gehen an die Nieren, weil sie das eigene Selbst erschüttern. Im Umgang mit ihnen verlieren wir den Boden unter den Füßen, ausgerechnet jenen Boden, der uns bislang als göttlich, unerschütterlich oder gar unfehlbar präsentiert wurde. „Außerhalb der Kirche kein Heil“ galt über Jahrhunderte als ein unerschütterlicher Lehrsatz.

Jetzt zeigen sich ringsum andere Religionen und weltanschauliche Entwürfe, die genauso eine Wahrheitsquelle sein könnten. Heute ist diese Herausforderung mehr als ein Denkspiel, denn diese Religionen sind uns plötzlich ganz nahe. Die von uns erwartete Akzeptanz und Toleranz wird leibliche Realität. Ich soll, muss oder darf mit Muslimen, Hindus, Sikhs oder Buddhisten reden, diskutieren, zusammenleben. Wie reagieren wir? Dabei wissen wir nur zu gut, dass wir diese neue Situation konstruktiv lösen müssen. Denn schon einmal ging in den 1930er Jahren diese Probe aufs Exempel in katastrophaler Weise schief, als Deutschland die wirtschaftliche und politische Emanzipation des Judentums nicht ertrug und mit dem Grauen der Shoah reagierte. Wir denken mit Schaudern an eine mögliche Wiederholung und fragen: Welche Schutzmaßnahmen kann der christliche Glaube entwickeln, damit dies nicht zum zweiten Mal passiert?

1.4 Grenzen von Sprache und Denken

Ich meine nicht, dass wir auf diese Fragen theoretische Antworten geben können. Solche Antworten wären hochkomplex, weil die aktuelle interreligiöse Situation hochkomplex ist. Wie wir Menschen ganzheitliche, unendlich ineinander verwobene Wesen sind, die sich nicht in Leib und Seele, Vernunft und Emotionen, Denke und Wollen aufteilen lassen, so sind auch die Religionen, diese ganzheitlichen Erscheinungen mit dem Willen und dem Vermögen, ganze Leben zu integrieren. Nicht Analysen, sondern nur Erfahrung und Handeln können befriedigende Lösungen schaffen.

Genau dieser Anspruch einer Religion ist seine Gefahr. Ihre Mitglieder sind schnell überfordert, sodass ihr Wille zum Verstehen und gegenseitigen Respekt erlahmt, weil sie in vor-religiöse, rituell abgeflachte Gewohnheiten verfallen. Das führt dazu, dass auch unsere religiöse Sprache schnell überfordert wird. Genauer gesagt, sie entlarvt den Wirklichkeitsverlust. Sie wird entleert und verkriecht sich in die Panzer überlieferter Formeln. Wie lebendig und sprühend könnte dagegen eine Sprache sein, die aus der Begegnung mit Kulturen und Religionen lebt und die Tiefen zur Sprache bringt, die der Alltag nicht mehr wahrnehmen kann. Wirklich Glaubender kann nur noch bleiben, wer in der eigenen Religion noch innere Heilungskräfte vermutet, die bislang noch nicht nach außen gedrungen sind. Zukunft entsteht nicht aus überlieferter Rechthaberei, sondern aus einer Geduld, die vital auf das Kommende zu hoffen weiß.

II. Die Störfeuer des Fundamentalismus

Faulheit, Bequemlichkeit und eine mit Verbitterung verschwisterte Rechthaberei führen zu der lebensbedrohlichen Krankheit, die inzwischen alle großen Religionen befallen hat. Es ist der Fundamentalismus.

2.1 Durch die Moderne verunsichert

Wenn ich recht sehe, ist der Fundamentalismus ein typisch modernes Phänomen, denn er reagiert auf die Geisteshaltung der Moderne. Die Moderne zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie kritisch zu denken lernt. Sie gibt sich nicht mit Autoritäten zufrieden, sondern hinterfragt die Realität dessen, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, gelernt haben und was früher behauptet wurde. Man nehme als Beispiel nur Einsteins spezielle Relativitätstheorie, die uns lehrt, unseren Sinnen nicht mehr zu trauen. Diese kritische und selbstkritische Haltung schafft Verunsicherung und ein massives Risikobewusstsein. Mehr denn je wirkt sich diese Verunsicherung in religiösen Fragen aus. Einen Vorgeschmack für den Fundamentalismus im christlichen Raum bot schon Lessings Drama „Nathan der Weise“ (1779), in dem die drei monotheistischen Religionen aufeinanderprallen und denen als Richtschnur nur noch die Ringparabel bleibt. Allein der Wettstreit um die Liebe zu Mitmenschen bringt die Wahrheit einer Religion ans Licht.

Umso mehr muss uns überraschen, dass wir nicht in Europa, sondern auf der arabischen Halbinsel die ersten Formen eines ausgesprochenen Fundamentalismus finden, der seine Positionen bis heute mit Gewalt durchsetzen will. Es ist der Wahhabismus. Der Beginn der Wahhabiya lässt sich auf die 1830er Jahre datieren. Seit den 1930er Jahren gilt er als die Staatsreligion Saudi-Arabiens. Seine übermächtigen geistigen und finanziellen Einflüsse sind bekannt. Der Salafismus, die Al-Qaida und der IS-Staat, vermutlich auch Boko-Haram sind seine geistigen Kinder. Akzeptiert wird im Prinzip nur eine eng wörtliche, d.h. eine ungeschichtliche Auslegung des Koran innerhalb der Sunna. Wir kennen die aktuellen Folgen zur Genüge.

Doch bevor wir den Fundamentalismus mit diesem gewaltbereiten Dschihadismus identifizieren, sollten wir nicht vergessen: Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, also vor hundert Jahren entstand im Südgürtel (dem bible belt) der USA der christliche Fundamentalismus. Es war eine Epoche sozialer Um- und Zusammenbrüche, die man gerne einer ungläubigen Schriftinterpretation in die Schuhe schob. Auch dieser Fundamentalismus präsentiert sich als eine Kampflehre zur buchstäblich engen Auslegung der biblischen Schriften. Zwar propagiert dieser Fundamentalismus keine Gewalt, aber gewaltaffine Anteile sind seinem Denken nicht fremd. Der Inhalt der Bibel wird auf wenige Kernpunkte konzentriert, die diese ungeschichtliche Schriftauslegung charakterisieren: Unfehlbarkeit der Bibel, Gottheit Jesu, Jungfrauengeburt, Letztes Gericht und Wiederkehr Christi. Ein intellektuell verantworteter, also offener Diskurs mit anderen Deutungen wird verweigert. Eine wichtige Rolle spielen bis heute die Verurteilung des Darwinismus, das absolute Verbot der Abtreibung und die Verurteilung der Homosexualität. Der gewaltige Einfluss dieses Fundamentalismus in den USA hat sich bei der letzten Präsidentenwahl gezeigt.

2.2 Zum Fanatismus aufgestachelt

Alle Formen des Fundamentalismus verbindet die Verweigerung des Gesprächs mit der Moderne. Im römisch-katholischen Raum hat sich der Begriff nicht durchgesetzt, weil sich dort der Begriff des Antimodernismus durchsetzte.

Für unsere Überlegungen ist der Fanatismus wichtig, der fundamentalistische Bewegungen bestimmt. Woher kommt er? Er kommt von der glühenden Leidenschaft, die in jeder Religion steckt, die diesen Namen verdient. Für mich bedeutet dieser Fanatismus eine kolossale Verengung und Ent-rationalisierung dieser Leidenschaft. Man kann ihn auch als eine fehlgeleitete Transzendenz verstehen; dabei gilt jede Erfahrung der Grenzüberschreitung (auch sie gehört zur Religion) als ein endgültiger Erkenntnisgewinn, der mich zur endgültigen göttlichen Wahrheit führt. Welch ein Irrtum, da wir uns der letzten Wahrheit immer nur schrittweise annähern und das Geheimnis selbst nie entschleiern können.

Wie sind solche irrationale und gewalthaltige Perversionen möglich? Von Muslimen hören wir in ihrer Argumentationsnot oft, dieses oder jenes Attentat habe mit dem Islam nichts zu tun. Ich verstehe diese Reaktion, aber sie stimmt nur zur Hälfte. Natürlich haben auch die Kreuzzüge nichts mit einem wohl verstandenen Christusglauben zu tun. Aber es waren eben Christen, die sich bei Mord und Totschlag, bei der Verbrennung von Ketzern und Hexen auf diesen ihren christlichen Glauben beriefen.

Die Lösung der Frage liegt wohl in der Tatsache, dass es die Religion an sich nicht gibt. Religion ist immer ein von Menschen ausgelegtes und verwirklichtes Modell der Sinngebung. Wir Menschen sind es, die eine Religion auf ihre Höhe führen oder pervertieren können.

2.3 Rationalität unverzichtbar

Deshalb sollten wir nicht vergessen: Die Lebenswirklichkeit Religion bewegt – oft ungleichzeitig ‑ in allen Schichten des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur. Idealtypisch lassen sich drei Schichten unterscheiden.

– Die erste Schicht ist die vitale Basis eines jeden menschlichen Lebewesens. Diese umfasst die unmittelbaren Sinneserfahrungen und körperlichen Bewegungen, elementaren Gefühle und Emotionen, aus denen sich eine umfassende Intuition der Freude, des Schmerzes, der Trauer oder des Glücks ergibt. Auf dieser Ebene können wir eine Religion kaum von der elementaren Selbst-  und Fremdwahrnehmung der Menschen unterscheiden.

– Auf dieser Basis bauen in einer zweiten Schicht die vielfältigen kulturellen Formen und Formgebungen auf, die wir aus unserer Umgebung lernen: Rituale und das Rhythmisieren der Zeit, die Unterscheidung zwischen profanen und heiligen Orten, Gebete und Glaubensäußerungen, religiöse Deutungen von Welt und Geschichte, auch die Anleitungen zu Meditation und Kontemplation, alles also, was uns eine Kultur zur Gestaltung unserer Transzendenzerfahrungen bietet.

– Wichtiger denn je ist eine dritte Schicht, die reflektierte Integration alles dessen, das wir vital übernommen und kulturell erworben haben. Diese Aufgabe der Vernunft ist unverzichtbar geworden.

Nur mit Hilfe dieses dreifachen, immer wieder unterscheidenden Blicks können wir die verstörende Metamorphose bewältigen, in der wir uns augenblicklich befinden, da die vitale Basis und die kulturellen Formen nicht mehr zusammenpassen, da sich viele einer vernünftigen Reflexion verweigern. Umso katastrophaler ist die kontinuierliche Bevormundung der Theologie durch amtliche Lehrinstanzen. Offensichtlich sind sie sich nicht des Schadens bewusst, den sie seit Jahrhunderten in der römischen Kirche angerichtet haben und noch immer anrichten. Sie arbeiten dem Fundamentalismus der Religionen in die Hände und treiben ihn voran, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Wichtiger denn je ist deshalb eine selbstkritische Erinnerung, in der Christen ihr eigenes Fehlverhalten und ihre menschenverachtende Gewaltgeschichte aufarbeiten. Nur so können wir heute selbstkritisch handeln und glaubwürdig bleiben, wenn wir anderen Religionen kritisch und korrigierend begegnen.

Der entscheidende Schlüssel zu solcher Selbstkorrektur und zur Abwehr von fundamentalistischen Perversionen ist das praktische Handeln. Die selbstkritische Geschichte vom barmherzigen Samaritan, nicht der Triumph gegen die Pforten der Hölle bietet den Schlüssel zu einer lebbaren und menschenfreundlichen Zukunft.

III. Was Religionen verbindet: ein Weltethos

Bis jetzt habe ich mich – global und recht oberflächlich ‑ mit der Struktur, den inneren Abgründen und den Gefährdungen der Religionen auseinandergesetzt. Dies geschah nicht aus Resignation. Vielmehr wollte ich ein Gespür für die Aufgabe wecken, mit der wir in Sachen Religion heute konfrontiert sind.

3.1 Eine gemeinsame Welt

Hier knüpfe ich noch einmal beim Problem der Globalisierung an, von dem heute die Weltreligionen gemeinsam betroffen sind. Gehen wir dafür zurück zum Jahr 1989, einem wichtigen Wendepunkt der neuesten Geschichte; ich meine das Ende des Ost-West-Konflikts. Der Eiserne Vorhang fiel und im Jubel dieser Befreiung ließen wir uns gerne erklären, das Zeitalter der Ideologien sei zusammengebrochen und jetzt beginne eine Ära des großen und unzerstörbaren Friedens.

1992 dachte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama über das „Ende der Geschichte“ nach, das jetzt beginne. Aller Streit sei jetzt überholt und im Namen des völkerverbindenden Austauschs und Handels ziehen die Nationen – der Völkerwallfahrt des Jesaja vergleichbar – in die gemeinsame Stadt des Friedens ein. Wie sich bald zeigte, sollte er sich massiv getäuscht haben. Die Konflikte unter den Nationen waren nicht beigelegt, sondern brachen umso unkoordinierter aus. Mehr Zustimmung erhielt bald der pessimistische Zeitphilosoph Samuel Huntington, ebenfalls ein Politikwissenschaftler, der jetzt einen ganzen Komplex von Konflikten ankündigte, die zwischen den Kulturen ausbrechen sollten und sich entlang der weltreligiösen Bruchlinien, also zwischen religiös bestimmten Kulturräumen entladen. Ich deute diese Räume kurz an mit China, Japan, Indien, den muslimischen Kulturraum, dem orthodoxen Russland, Westeuropa und Nordamerika, Lateinamerika, Afrika und Südafrika. Bruchlinienkriege sind also angesagt und in der Tat erleben wir heute massive Konflikte zwischen dem arabischen und westlichen Kulturraum. Huntington folgt einer klaren Intuition, aber seine Konkretisierungen lassen noch Vieles offen.

Entscheidender scheint mir dagegen die Intuition von wichtigen Repräsentanten der Weltreligionen im Jahr 1993 zu sein. Sie beriefen das „Parlament der Weltreligionen“ zu ihrer zweiten Versammlung ein. Ihre Frage war: Können die Weltreligion in einer Zeit der zerfallenden globalen Ordnung eine neue Orientierung anbieten? Diese Frage wurde zum Startschuss eines vielbeachteten Projekts, dem „Projekt Weltethos“, das maßgeblich von Hans Küng entwickelt wurde. Das Projekt ist nicht abgeschlossen und auch gar nicht abschließbar, denn es versucht, den immer neuen Entwicklungen auf den Versen zu bleiben. So gesehen steht diese Arbeit erst am Anfang.

3.2 Eine gemeinsame Menschheit

Doch setzen wir Schritt um Schritt. Nicht immer waren sich Menschen und ihre Religionen dessen bewusst, dass wir eine einzige Menschheitsfamilie sind. Man unterschied zwischen dem eigenen Stamm und den Halbmenschen dort draußen, zwischen den Zivilisierten und den „Wilden“, und noch heute wird die Welt gerne in entwickelte und unterentwickelte Gebiete eingeteilt. Es gehört deshalb zur Genialität der Weltreligionen, irgendwann die Frage zu stellen: Was macht den[!] Menschen in seinem Kern aus? Der Hinduismus entwickelte zwischen 750 und 500 v. Chr. die Lehre vom Atman (dem „Atem“), jenem feinen und unsichtbaren Lebenshauch, einen ungreifbaren und unvergänglichen Stoff, den wir ständig ein- und ausatmen und der das Leben ermöglicht. Dieses Atman konstituiert das individuelle Selbst, die ewige Essenz des Geistes. Die westliche Kultur entwickelte daraus die Lehre von der Seele.

Die jüdische Tradition führt im Schöpfungsbericht – etwa zur selben Zeit ‑ narrativ zu dem Schluss, dass die ganze Menschheit von Gott ins Dasein gerufen ist; Gott haucht Adam den Lebensodem ein. Gewiss sind die biblischen Schöpfungsgeschichten, ebenfalls wie die Lehre vom Atman, nicht als kausale Erklärungen für das physikalische Leben zu verstehen, sondern als Metaphern für unsere Herkunft aus einem göttlichen Grund, jenem Geist eben, der über dem Abgrund schwebte. Diese Bilder und Überlegungen rückten die Menschen in einen gemeinsamen Sinnhorizont ein. Deshalb konnte die Frage nach der Humanität, also dem Wohl der Menschen, zur entscheidenden Kernfrage der Weltreligionen werden. Die Jesuserzählungen der Evangelien können die Konzentration auf Menschen und Menschheit gut illustrieren. Jesus geht es immer um Beziehungen zwischen Menschen, um ihre Suche und ihr Verlorensein, um Verlust und Gewinn neuer Verhältnisse. Ich meine, dass die Weltreligionen gemeinsam letztlich von einem säkularen Humanismus getragen sind. Zeichen dafür ist die Goldene Regel.

3.3 Ein gemeinsames Menschheitsziel

Deshalb verwundert es nicht, dass sich in den Weltreligionen vier gemeinsame Grundregeln erkennen lassen. Sie entsprechen den vier Grunddimensionen des Menschen.

  • Die erste Grunddimension ist das organisch-leibliche Leben, das uns alle verbindet. Es stellt die Grundbedingung einer menschlichen Existenz überhaupt dar. Deshalb geht es bei der Sorge um die Menschen vor allem anderen um eine Kultur der Gewaltlosigkeit, um die grundlegende Würde dieses gottgeschenkten Lebens: „Hab‘ Ehrfurcht vor dem Leben!“
  • Die zweite Grunddimension ist unsere gemeinsame Abhängigkeit von gemeinsamen Lebensräumen und Lebensressourcen: Nahrung und Kleidung, ein Dach über dem Kopf und ein Besitz, der als Schutz und als angemessene Erweiterung unserer Lebensräume dient. Gemäß der Goldenen Regel müssen alle Menschen daran gleichen Anteil haben: „Handle gerecht und fair!“
  • Die dritte Grunddimension, die uns aneinander bindet, sind die Kommunikation und gegenseitige Orientierung. Sie sind für das Überleben unabdingbar. Niemand will und niemand darf durch falsche Informationen, durch Isolation und Lügen geschädigt werden. Deshalb lautet die dritte Weisung: „Rede und handle wahrhaftig!“
  • Schließlich können wir unser Leben und unser Zusammenleben für Gegenwart und Zukunft nur durch gegenseitige Zuwendung, durch Achtsamkeit und Empathie schützen, dies bis in den intimen Raum der Sexualität. Gegenseitige Treue ist überall dort gefordert, wo wir schutzbedürftig und voneinander abhängig, einander zugetan sind und uns für zukünftiges Leben einsetzen: „Achtet und liebet einander!

Im Projekt Weltethos erscheinen diese Weisungen nicht als abstrakter ethischer Pflichtenkatalog. Es geht nicht um Ethik, sondern um Ethos, d.h. um faktisch wirksame, eingeübte und verinnerlichte Haltungen, die man früher Tugenden nannte. Die gemeinsame Vision der Weltreligionen lässt sich umschreiben als eine Kultur der Gewaltlosigkeit, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der unverbrüchlichen Treue zwischen Mann und Frau (aber auch zwischen Eltern und Kindern, Jungen und Alten, Starken und Bedrohten).

Nun mag die gelebte Präsenz dieser Werte immer bedroht und gefährdet sein, auch das wissen die Religionen. Deshalb haben sie ihre Methoden zu deren Stärkung entwickelt: in Verkündigung und Gebet, in Erziehung und konkreter Einübung, in Meditation und steter Selbstbeobachtung. Man weiß, dass von der Wirksamkeit diese Werte das Überleben der Menschheit abhängt. Welch ein Fortschritt, dass solche Worte wieder gehört und ernstgenommen werden. Vor wenigen Jahren wurden sie noch belächelt. Heute können wir beobachten, welche lebensgefährlichen Bedrohungen ein solcher Ethos-Verlust mit sich bringt. Sie zeigen auch im Gegenzug: Faktisch sind die Religionen nach wie vor die einzigen wirksamen moralischen Weltagenturen. Damit seien weltanschauliche Ansätze nicht diskriminiert und Weltreligionen tun gut daran, sich gegebenenfalls von neuen Interpretationen belehren zu lassen. Aber ich sehe noch nicht, dass sie die Rolle der Religionen übernehmen und ersetzen können.

3.4 Jesuanisch prophetischer Impuls

Deshalb ist es für Christen wichtig, dass sie auch in ihrer eigenen Religion diese universale weltethische Struktur erkennen. Sie ist nach wie vor im jüdischen Dekalog mit seinen vier Weisungen grundgelegt: Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, Treueverhältnisse nicht verletzen. Jesus hat dieses „Gesetz“ in keiner Weise abgeschafft; vielmehr hat er, der Gerechte, dieses Grundmodell einer gerechten Gesellschaft aus der jüdisch-prophetischen Tradition übernommen. Er hat ihm aber mit aller Leidenschaft einen neuen unerwarteten Rahmen gegeben, der lautet: Diese gewaltlose, gerechte, wahrhaftige und treue Gemeinschaft kann hier und jetzt beginnen; es hängt nur von uns ab, ob sie Gegenwart wird. Sie ist nicht vorläufig blockiert, als müssten wir erst einen zürnenden Gott versöhnen.

Wer diese Bedingungslosigkeit eines vorbehaltlos guten Gottes verstanden hat, kann dieses Weltmodell mit einer ungeheuren, sozusagen ungebremsten Leidenschaft beleben, dynamisieren, mit aller Leidenschaft, derer Religionen und Religiosität überhaupt fähig sind. Gottes Reich beginnt hier und jetzt und dieser Beginn hängt nur von unserem guten Willen ab. Man mag den Begriff „Reich Gottes“ veraltet finden, weil er noch viele hierarchische Züge enthält. Deshalb spreche ich gerne von der universalen Zukunft einer in Gerechtigkeit versöhnten Menschheit, in der der Wille des göttlichen Geistes geschieht. Ich meine, dass dies nicht nur einen Aspekt, sondern den Kern der christlichen Botschaft schlechthin zum Ausdruck bringt.

IV: Woraus Religionen leben: Geheimnis des Göttlichen

Das Projekt Weltethos möchte die interreligiöse Gemeinsamkeit dieser Werte und dieses Handelns, also die gemeinsame „Außenseite“ der Weltreligionen herausarbeiten. Doch wird oft die unverzichtbare Innenseite und innere Tiefe vergessen, aus der dieser Wertekosmos lebt. Deshalb spricht die Gemeinsame Erklärung der Weltreligionen (Chicago 1993) auch von einer „spirituellen Erneuerung“, von „religiös oder spirituell orientierten Menschen“, von Grundvertrauen und Sinnhorizont, vom Wandel des Bewusstseins und der „Umkehr der Herzen“. Mit diesen Hinweisen ist eine Dimension angedeutet, die wir nie vergessen sollen. Wir sollten uns nicht einfach um die Frage kümmern, wie Religionen die Welt gestalten wollen. Genauso wichtig ist die Frage: Aus welcher Mitte und Tiefe leben sie? Woraus schöpfen sie ihre Leidenschaft? Wie nähern sie sich dem Göttlichen und Unaussprechlichen, das ihnen ihre spezifische Identität verleiht? Ich versuche, dies mit vier Hinweisen zu umreißen.

4.1 Erfahrungen des Geschenks

Religion und Religiosität beginnen nicht mit außerordentlichen, göttlich-überweltlichen, vielleicht ekstatischen Erfahrungen. Nicht jeder, der Göttliches erfährt, sieht wie Moses den Dornbusch brennen. Religion und Religiosität bedürfen einer sorgfältigen Achtsamkeit, die zutiefst menschliche Erfahrungen ermöglicht. Ich spreche von den Erfahrungen des Beschenktseins und des Geschenks. Solche Erfahrungen gehen meiner Identität immer voraus. Wenn ich frage, wer ich bin, stoße ich – schon in meiner vitalen Wahrnehmung ‑ immer auf ein Woher, auf einen Ursprung und auf Quellen. Allgemein gesagt: Meine Eltern waren vor mir da. Dazu kommen die Luft, die ich seit meiner Geburt in einem meist unbewussten Handeln atme, und das Licht, das mir von meiner ersten Weltstunde an Orientierung gibt. Diese meine Welt umgibt mich schon immer. Ich erschöpfe mich nie in mir selbst.

Deshalb sind vitale Religionen immer schon weltbezogen. Primär leben sie nicht von einem überweltlich-transzendenten Gott, sondern von einer immer gegenwärtigen Wirklichkeit voller Geheimnis, in der wir das Göttliche wahrnehmen. Leider blendet das moderne, außengeleitete Weltverständnis diese elementaren Zusammenhänge aus. Sie erklärt alle Abhängigkeiten von und alle Verwicklungen in das Vorgegebene zu objektiven Tatsachen, löst sie also aus meiner objektiven Beziehung zu ihm heraus. Wir beschreiben kausale Abhängigkeiten, statt ihren übergreifenden Zusammenhängen nachzuspüren. Heute lässt sich diese Reduktion schon physikalisch nicht mehr rechtfertigen.

Wer dies begriffen hat, wir auch begreifen: Mein Leben ist nicht einfach mein Leben, als ob ich es einfach besitzen könnte. Vielmehr lebt es in mir wie es in zahllosen anderen Menschen und Organismen lebt. Das hat nichts mit einem weltanschaulichen Vitalismus zu tun, der den Egoismus und das Recht des Stärkeren, das Fressen und Gefressenwerden verherrlicht. Es hat vielmehr alles zu tun mit dem ganz tiefen Respekt vor allem Leben (der etwa im Hinduismus besonders ausgeprägt ist). Deshalb hat es auch zu tun mit unserer Fähigkeit zu einer selbstvergessenen zwischenmenschlichen Liebe, gar mit einer Sexualität, die zum Ort heiligster Erfahrungen werden kann. Mehr denn je ist es an der Zeit, diese vitale Lebenserfahrung, die weit in unsere Körperlichkeit hineinreicht, wieder als religiöse Triebkraft zu erkennen.

Natürlich schließen diese Dimensionen die personal-existentielle Dimension unserer Lebenserfahrungen nicht aus. Ich bin ein Selbst mit einer unvergleichlichen Selbsterfahrung, die niemand je wiederholen kann. Meine jeweilige Identität ist unwiederholbar und es wäre unverantwortlich, sie mir nehmen zu wollen. Zugleich entspringt dieser Selbsterfahrung, sofern sie gelingt, auch meiner Fähigkeit, mich Anderen zu öffnen und sie als eine Bereicherung anzunehmen.

Im letzten Grund beginnt auch hier eine Dialektik des Beginns aus einem Andern. Wie ich es auch drehe und wende, so sehr ich auch meine Identität betone: ich bin mir nie selbstursprünglich, sondern mir zugleich gegeben und aufgegeben. Sich selbst geschenkt zu sein, das ist unsere tiefst mögliche, im Grunde unzerstörbare und absolute Erfahrung. Genau aus dieser Erfahrung leben Religionen, nämlich aus einem unnennbaren Geheimnis, das uns immer schon überschritten hat.

4.2 Eingehen in die Wirklichkeit

Wie alle existentiellen Erfahrungen, sind auch die Erfahrungen des Beschenktseins keine Vorkommnisse, die ich verifizieren und objektiv beschreiben könnte. Es ist meine Entscheidung, ob ich ein Geschenk annehme, ob ich also die Welt, meine Biographie zur meinen mache und mich in die Welt einfüge, die mir angeboten ist. Nur wer dieses Geschenk annimmt, erfährt sich selbst als angenommen. Es geht dabei um ein grundlegendes Vertrauen, das ich zulassen kann, und es eröffnet mir umso mehr Sinn, als ich es lerne, in ihm und aus ihm zu leben. Dieser Prozess hat viel mit der Reifung und dem Erwachsenwerden von Menschen zu tun. Deshalb verlangt auch Religiosität menschliche Reife. Die Psychologie spricht von einem Grundvertrauen des Kindes, einer geradezu selbstverständlichen und naturgegebenen Haltung, die erst etappenweise auf die Probe gestellt und in ein freies Ja überführt wird.

Ich begreife Religion – auf allen drei Ebenen – als eine Einübung, als ein spirituelles Hineinwachsen in die mir gegebene Wirklichkeit, das für grenzenlose Steigerungen offen ist. Auch dies ist kein Weg der objektivierenden Analyse, sondern des Hineinfallens in einen tiefen Grund, in dem ich mich zu Hause fühle.

Was aber ist diese Wirklichkeit? Sie ist eben weit mehr, qualitativ geradezu etwas anderes als die physikalische Dingwelt, ihre Energien und unerforschten Dimensionen eingeschlossen. Religiöse Menschen werden diese Wirklichkeit immer neu als ein Geheimnis, in ihr immer neue Tiefen erfahren, über die sie nur staunen können. Ruhe und Frieden treten dann ein, wenn mir etwas Unnennbares gegenübertritt, das mich auffängt. Karl Rahner sagt einmal: Das Geheimnis des Göttlichen soll nicht gelüftet, sondern in seiner Unergründlichkeit begriffen werden. Mit einer solchen Erfahrung sind wir nahe am Göttlichen. In jedem Fall erfahren wir Gott und das Göttliche als das Allgegenwärtige. Ignatius von Loyola lehrte uns, Gott in allen Dingen zu finden. Papst Franziskus entdeckt Gott in allen Menschen, den Armen und Ausgestoßenen zumal.

4.3 Sich dem Geist anheimgeben

Daraus ergibt sich eines der elementarsten Bilder und Symbole, die die Religionen ausgebildet haben. Die Bibel spricht wiederholt vom Geist, in dem wir leben. Es ist ein Bild, das die Religionen, aber auch Kunst und Literatur durchzieht. Man muss nicht religiös sein, um es zu verstehen. Man sollte aber lernen, es richtig zu deuten. Dieser Geist meint, wie schon gesagt, das Ungreifbare, das in mich hineingeht und aus mir heraustritt, das Leben schafft, das Ungeklärte reinigt und das Verhärtete löst.

Mir fällt auf, dass dieses Leben im Geist gerade keine Ortlosigkeit bewirkt, sondern eine große Gelassenheit und Überlegenheit über alle Zufälle des Lebens, über Leiden und – in glücklichen Fällen ‑ selbst über den Tod. Das Leben in diesem Geiste, gleich, ob wir ihn göttlich oder menschlich nennen, verleiht den Menschen Verankerung und Stabilität. In der Kraft dieses Geistes kommen wir zu uns. So ermöglicht er uns Versöhnung, Zugewandtheit und vorbehaltlose Öffnung zum Anderen. Die Religionen sprechen von Licht und von Liebe.

4.4 Erfahrungstreue

Licht und Liebe, sind das keine unverbindlichen, nahezu kitschigen Metaphern? Sie können es sein, selbst in dieser Tiefe sind Religionen den Menschen ausgeliefert, nicht vor Missbrauch und einem oberflächlichen Umgang gesichert. Deshalb ist in diesem Raum nichts wichtiger als das, was ich Ehrlichkeit, die Fähigkeit zur Konfrontation, den aufrechten Gang oder unbedingte Erfahrungstreue nenne. Wir können keine allseits gesicherte, im Sinne der Titanic sozusagen unsinkbare Religion konstruieren. Allein diese Erfahrungstreue, die streng bei der Sache bleibt, kann eine innere Freiheit und Überlegenheit schaffen und dafür sorgen, dass Religionen auch wirklich ihrer großen, von ihnen gezogenen Spur treu bleiben. Dazu bedarf es wirklich gereifter, wissender und zugleich weiser Menschen. In ihrer Erfahrungstreue können wir offen und schonungslos, aber ohne Verzweiflung mit unseren Grenzen umgehen. Aus ihr erwachsen dann Dankbarkeit und Empathie.

Wer zu dieser inneren Erfüllung gekommen ist, kann auch wirklich verstehen, dass es im Grunde nur eine Welt und eine Wahrheit und nur ein Gutes, nur eine Schönheit, nur diese eine göttliche Spur gibt, die auch Christen als den einen umfassenden Geist verehren. Ich vermute, dass unser religiöser Weg nicht mit einer machtvollen Gotteserfahrung, sondern mit der Erfahrung des umfassenden Geistes beginnt.

Schluss: Herausforderung des Westens

Habe ich trotz allen Willens zur Erfahrungstreue nicht phantasiert und einfach wiedergekaut, was ich an anderen Orten gehört habe? Ja, das habe ich. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich wenigstens dies: In den aktuellen Turbulenzen sind wir auf die einigende Kraft der Religionen angewiesen und wir brauchen Menschen, denen diese religiöse Erfahrungstreue gelingt.

5.1 Wir brauchen spirituelle Menschen

Wir brauchen deshalb spirituell verankerte Menschen, die unserer Geschichte neue Orientierung bieten. Roland Ropers hat in seinem jüngsten Buch eine faszinierende Porträtsammlung von „Mystikern unserer Zeit“ herausgegeben. Ich nenne hier nur einige:
Dag Hammarskjöld, den ersten Generalsekretär der UNO
José Bergolio, den jetzigen Papst Franziskus
Hans Peter Dürr, Atom- und Quantenphysiker
Dorothy Day, die einflussreiche amerikanische Pazifistin (Catholic Worker)
Raimon Panikkar, den großen spanischen Initiator des interreligiösen Dialogs
Majella Lenzen, die als Missionsschwester in Afrika tätig war und 1989 vom Orden entlassen wurde, weil sie im Kampf gegen AIDS Kondome verteilte
Annette Kaiser, Sufi-Lehrerin in der Schweiz.

Karl-Josef Kuschel widmet in „Leben ist Brücken schlagen“ großen Brückenbauern zwischen östlichen und westlichen Religionen ein ausführliches Buch. Er präsentiert: Vivekanda, Richard Wilhelm, Hermann Hesse, Mahatma Gandhi, Thich Nhat Hanh, Hugo Enomiya Lassalle, Thomas Merton, Martin Buber, Abraham Heschel, Louis Massignon und Hans Küng.

Solche Menschen (und viele mehr) sind die großen Hoffnungsträger der Welt. Sie haben den Willen und die Kraft, über den Tellerrand ihrer Kulturen und ihrer partikularen Interessen zu schauen. Angesichts des drohenden Ruins brauchen wir mehr als eine Pflichtethik, nämlich ein Ethos, das auch den Überforderungen standhält, die wenigstens einige auf sich nehmen müssen.

5.2 … eine prophetische Spiritualität

Aus christlicher Perspektive füge ich einen wichtigen Aspekt hinzu. Uns als Juden und Christen steht es gut an, die jüdisch-prophetische Spiritualität Jesu neu zum Leben zu erwecken. Wir sind visions- und einfallslos geworden. Wir träumen nicht mehr von einer besseren Zukunft. Uns fehlt die leidenschaftliche Zukunftsvision, von der die Verkündigung des vor-kirchlichen Jesus beseelt ist. Jesuanisch gesehen zeigt sich Gott in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Gerechtigkeit, in einer versöhnten Menschheitsfamilie; das ist sein „Reich“.

5.3 … eine weltweite Verständigung

Wir haben es gesehen: Religion ist schon lange keine Privatsache mehr. Sie ist auch keine Angelegenheit begrenzter kulturelle Räume mehr. Religion hat die Welt zum primären Gesprächspartner, die Wissenschaft, die Medien und die Politik. Um dieses Gespräch zu führen, reicht die Kompetenz der Kirchenleitungen schon längst nicht mehr aus. Gefragt sind die Kompetenzträger der Wissenschaft, des Journalismus und der Politik; bei uns werden sie immer noch „Laien“ genannt. Im Grunde ist dieser Titel eine Schande. Solange nur die Kirchenleitungen das Sagen haben, wird niemand ungehindert die Kraft des eigenen Standpunkts einbringen können. Er aber ist dringend notwendig.

5.4 … eine Erneuerung der Religionen

Wir brauchen eine Erneuerung der Welt. Doch das zu sagen, ist inzwischen zur banalen Selbstverständlichkeit geworden. Denn bevor die Welt sich erneuert, kommt den Religionen die Aufgabe zu, sich selbst zu erneuern. Dazu hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein neues Instrument entwickelt. Das ist das interreligiöse Gespräch. Es ermöglicht eine offene Selbst- und Fremdkritik. Religionen müssen einander sagen können, wo ihre blinden Flecken sind und was sie ändern können. In diesem Rahmen, also aus interreligiöser Perspektive, findet auch eine zeitgemäße Erneuerung der christlichen Kirchen ihren Ort. Die Freiheit der Kinder Gottes ist kein christliches Privileg, sondern ein Privileg derer, die sich in unbedingter Erfahrungstreue auf ihre Tiefenerfahrungen des Göttlichen verlassen.


Zusammenfassende Thesen

These 1:
Seit 1991 ist die politische Bedeutung der großen Religionen neu ins öffentliche Bewusstsein des Westens gerückt. Religionen sind komplexe kulturelle Erscheinungen. Sie können eine enorme Gestaltungsmacht entwickeln, aber auch von politischen oder ideologischen Mächten missbraucht werden. Sie verleihen Kulturen und Gemeinschaften eine stabile Identität und können zu dichten Netzen der Humanisierung oder des irrationalen Beharrens führen. So gesehen sind Religionen höchst ambivalente, gleichwohl hoffnungsvolle Größen.

These 2:
Unter dem massiven Druck der aktuellen Globalisierung können sich auch Religionen verändern. Diese Globalisierung erweitert das religiöse Bewusstsein, führt zur Relativierung gültiger Werte, steigert Ängste vor dem Neuen und erschwert den Versuch, die neue Komplexität gesellschaftlicher und religiöser Prozesse zu formulieren. Darauf müssen die Weltreligionen auf Grund ihrer inneren Heilungskräfte reagieren.

These 3:
Die Verunsicherung durch die Moderne hat in Islam und Christentum zu massiven fundamentalistischen Tendenzen geführt. Zu nennen sind der arabische Wahhabismus, der Gewalt zur Wiederherstellung eines vermeintlich ursprünglichen Islam akzeptiert, und der westlich christliche Fundamentalismus, der auf einer vermeintlich wörtlichen Auslegung der Bibel besteht. Diese Bewegungen verweigern ein rational basiertes Gespräch mit der Moderne; dadurch wird alle religiöse Leidenschaft zum Fanatismus pervertiert.

These 4:
Im Gegenzug hat eine zeitgemäße Interpretation der Weltreligionen auf deren gemeinsame Basis zu achten; das ist die gemeinsame Frage nach der einen Menschheit, der einen Welt und dem einen göttlichen Grund, über den in verschiedenster Weise gesprochen wird. Diese Gemeinsamkeit lässt sich an einem gemeinsamen Ethos verifizieren, das das Parlament der Weltreligionen 1993 in vier Weisungen beschrieben hat. Dieser Ansatz wurde vom „Projekt Weltethos“ übernommen.

These 5:
Die vier Weisungen beziehen sich auf die Grundwerte des Lebens (Gewaltlosigkeit), der notwendigen Lebensressourcen (Gerechtigkeit), der Kommunikation (Wahrhaftigkeit) sowie der gegenseitigen Verlässlichkeit (Treue zwischen Mann und Frau, Verlässlichkeit zwischen Starken und Schwachen). Sie lassen sich in der Goldenen Regel bzw. dem Grundgebot der Humanität zusammenfassen.

These 6:
Ethos meint mehr als eine Ethik der Ratschläge und Pflichten. Gemeint ist eine von Menschen eingeübte und verinnerlichte Haltung und Orientierung des Verhaltens. Religionen können als Orte seiner solchen Verinnerlichung gelten. So gesehen sind Religionen die großen moralischen Weltagenturen, ohne die eine moralische Grundorientierung weltweit scheitern würde.

These 7:
Die nachhaltige Kraft menschlicher Orientierung erwächst unverzichtbar aus einer spirituellen Identifikation der Religionen mit dem Geheimnis des Göttlichen. Dazu gehört es:
– sein eigenes Beschenktsein wahr- und ernst zu nehmen,
– vorbehaltlos in die Wirklichkeit einzutauchen,
– sich dem alles belebenden Geist anheimzugeben unddiese Erfahrungen in größtmöglicher Treue zu leben.

These 8:
In einer politisch, sozial und mental höchst gefährdeten Epoche sind wir auf spirituelle Menschen angewiesen; ihr Wirken lässt sich vielfältig beobachten. Sie sind die wahren Hoffnungsträger der Welt. Von besonderem Gewicht ist eine Wiederentdeckung der jüdisch-prophetischen Spiritualität des vorkirchlichen Jesus von Nazareth.

These 9:
Ungeachtet ihrer starken zukunftsfähigen Kräfte bleiben die Religionen ständig von einer tiefen Ambivalenz bedroht. Deshalb sind sie von innen her zu erneuern. Von höchstem Gewicht sind dabei eine wirksame Selbst- und Fremdkritik, die nur in einem interreligiösen weltnahen Dialog gelingen kann.


Gliederung

Einleitung: Religion, ein politischer Faktor

0.1 Politische Mächte
Bestätigung durch Macht – Instrumentalisierung ‑ Spiralen der Eskalation
0.2 Kulturen und Erinnerungen
Religionen = kulturelle Erscheinungen ‑ Leben aus der Erinnerung ‑ Verleihen Identität
0.3 Bevölkerungsgruppen
Emotional und intuitiv bestimmt ­ Existentielle Konfrontationen ‑ Rechtfertigung der Konflikte
0.4 Ein dichtes Netz des Beharrens – oder der Humanisierung?
Störfaktor Religion? ­ Gibt es rettende Ressourcen? – Frage an die prophetischen Religionen

I. Religionen im Strudel der Globalisierung

1.1 Eine neue Ära
Nicht neu, aber nicht mehr beherrschbar ‑ Unter dem Siegel des Fortschritts – Angriff auf die kulturelle Identität
1.2 Erweiterung und Relativierung
Erweiterung des Bewusstseins ‑ Konkurrierende Wahrheiten ‑ Metamorphose von Religion?
1.3 Angst vor den Anderen
Archaische Reaktion – Unberechenbarkeit ‑ Wie mit ihnen zusammenleben?
1.4 Grenzen von Sprache und Denken
Hohe Komplexität ‑ Überforderung oder Verfall der Verständigung ‑ Entleerung der religiösen Sprache?

II. Die Störfeuer des Fundamentalismus

2.1 Durch die Moderne verunsichert
Wahhabismus ‑ Christlicher Fundamentalismus ‑ Salafismus, Dschihadismus und die Folgen
2.2 Zum Fanatismus aufgestachelt
Leidenschaft der Religionen ‑ Fehlgeleitete Transzendenz ‑ Religionen, nur so gut wie ihre Anhänger
2.3 Rationalität unverzichtbar
Drei Schichten der Religion (Reflektierte Integration [Vernunft], Kulturelle Form [Kultur], Vitale Basis [Intuition] )- Selbstkritische Erinnerung ‑ Im praktischen Handeln

III. Was Religionen verbindet: ein Weltethos

3.1 Eine gemeinsame Welt
Ende des Ost-West-Konflikts ‑ Erklärung von Chicago 1993‑ Die Arbeit muss beginnen
3.2 Eine gemeinsame Menschheit
Genialität der Weltreligionen ‑ Mensch-Welt-Gott als ein Sinnhorizont ‑ Säkularer Humanismus der Religionen (Goldene Regel)
3.3 Ein gemeinsames Menschheitsziel
Vier Grundregeln (Hab‘ Ehrfurcht vor dem Leben! Handle gerecht und fair! Rede und handle wahrhaftig! Achtet und liebet einander!) – Gemäß humaner Konstitution ‑ Ethos, nicht Ethik ‑ Überleben der Menschheit ‑ Religionen: moralische Weltagenturen
3.4 Jesuanisch prophetischer Impuls
„Gottes Reich kann beginnen“ ‑ Die Zukunft einer in Gerechtigkeit versöhnten Welt ‑ Kern der christlichen Botschaft

IV: Woraus Religionen leben: Geheimnis des Göttlichen

4.1 Erfahrungen des Geschenks
Welt umgibt mich schon immer ‑ Mein Leben lebt in mir ‑ Ich bin mir gegeben
4.2 Eingehen in die Wirklichkeit
Angenommensein und Annehmen ‑ Vertrauen zulassen ‑ Was ist das Geheimnis?
4.3 Sich dem Geist anheimgeben
Verankerung und Stabilität ‑ Kausaldenken überwinden ‑ Licht und Liebe
4.4 Erfahrungstreue
Innere Freiheit ‑ Umgehen mit Grenzen ‑ Dankbarkeit und Empathie

Schluss: Herausforderung des Westens

5.1 Wir brauchen spirituelle Menschen
Von Hammarskjöld bis Bergolio ‑ Hoffnungsträger der Welt ‑ Angesichts des drohenden Ruins
5.2 … eine prophetische Spiritualität
Inspiration Jesu und der Propheten ‑ Leidenschaftliche Zukunftsvision ‑ Gott: Beziehungen und „Reich“
5.3 … eine weltweite Verständigung
Religion keine Privatsache ‑ Wissenschaft, Medien, Politik ‑ Mut zum eigenen Standpunkt
5.4 … eine Erneuerung der Religionen
Selbstkritik und Fremdkritik ‑ Erneuerung der Kirchen ‑ Freiheit der Kinder Gottes