Mythos Konzil?

Oder: Wie der verträumte Blick zurück Reformen verhindert

Der Eindruck, den das 2. Vatikanische Konzil in der römisch-katholischen Kirche hinterließ, war gewaltig; noch heute scheint er ungebrochen zu sein. Doch bis heute wird gestritten über die Botschaft der 16 Dokumente, die diese Megaversammlung der römisch-katholischen Kirche in nur drei Jahren verabschiedete; die Glaubensgemeinschaft ist polarisierter denn je. Was sind die Gründe für diese fatale Entwicklung? Von Anfang an war klar, dass dieses Konzil härteste innere Konflikte zu überstehen hatte, und immer wieder stellte sich die Frage: Wurde es wirklich vom Geist geleitet oder blieb es von der Kurie geknebelt? Wer so kontrastfreudig fragt, provoziert natürlich eine differenzierte Antwort, die etwa in der Mitte liegt.

Gebotene Nüchternheit

Auch bei den Frankfurter Werkstattgesprächen vom 19. Oktober 2012 im Rahmen der Konziliaren Versammlung konnte es nicht darum gehen, die segensreichen Wirkungen des Konzils madig zu machen. Sie sind enorm. Schon die Losungen vom „Volk Gottes“, von einer zeitgemäßen Liturgie und von einer ökumenischen Annäherung haben eine Dynamik entfaltet, ohne diese Kirchengemeinschaft mit ihren weltweiten Ausmaßen nicht mehr zu denken ist. Hinzu kommen ein unerwartetes Interesse für nichtchristliche Religionen und für die Fragen einer weltweiten Solidarität, ganz abgesehen von einer Wertschätzung der Menschenrechte und dem Gedanken der Religionsfreiheit. Doch wie sind Leistungen und Grenzen des Konzils konkret zu verorten?

Bernd Hans Göhrig, Uwe-Karsten Plisch und ich wollten einem verständlichen, aber gefährlichen Phänomen auf die Spur kommen: Beide Flügel dieser extrem polarisierten Kirche sind immer noch so auf dieses Konzil fixiert, als hätte es erst gestern getagt und als sei es an die Stelle der Frohbotschaft getreten. Wir haben vergessen: Wie etwa die Vollversammlungen des Ökumenischen Rats der Kirchen, spiegelte auch diese Kirchenversammlung die Hoffnungen und Grenzen ihrer Epoche, damit auch die inneren Konflikte einer Weltkirche. Wie alle wichtigen Dokumente der Kirchen- und der Weltgeschichte, sind sie historisch zu beurteilen. Falls wir Jesus von Nazaret folgen und nachfolgen, haben wir sie dem Urteil der christlichen Botschaft selbst zu unterstellen.

Deshalb eröffnete Bernd Hans Göhrig die Gespräche mit einer bunten Präsentation gesellschaftlich-ideologischer und politischer Ereignisse, öffentlicher Hoffnungs- und Sehnsuchtsgestalten, technischer Errungenschaften und kultureller Neuaufbrüche, die sich auf ihre Art alle im Neuaufbruch der damaligen katholischen Kirche spiegelten. Uwe-Kasten Plisch, evangelischer und ökumenisch engagierter Theologe, hielt uns seinen protestantischen Spiegel vor, und klarer Protest bis hin zum ungeminderten Unfehlbarkeitsanspruch war zu hören, der diese Kirche immer noch im Griff hält. Obwohl im Teilnehmerkreis nur reformgesinnte kritische Katholikinnen und Katholiken zu sehen waren, regte sich Unwille. Anscheinend hatten wir diese nüchterne Bestandsaufnahme von ökumenischen Stagnationen in unseren Wunschbildern schon längst überrundet, ein verträumter Blick hatte das Konzil unmerklich mit goldenem Glanz umhüllt. So war der Boden für einige nüchtern kritische Stichproben bereitet. Wenn ich manche Äußerung der Teilnehmenden richtig interpretiere, zeigten auch sie eine verdeckt doppelbödige Reaktion. Wir kannten natürlich die Schwachpunkte, aber nur selten stellen wir uns ihnen schonungslos. Für beide Parteien wurde das Konzil zum Mythos. Für die Reaktionären rückte es an den Rand des Glaubensabfalls, während es die Reformer zum Urquell aller Erneuerung machten. Wo also liegt das Problem?

Ein erster Hinweis lautet: Die Schlussabstimmungen versprechen mehr, als sie halten konnten. Das Konzil arbeitete ja nicht nach einem mathematischen Mehrheits-, sondern einem moralischen Konsensprinzip. Nach zahlreichen Zwischenabstimmungen und der Verarbeitung zahlloser Änderungsvorschläge erreichten die wichtigsten Dokumente eine Zustimmungsrate zwischen 96,8 und 99,7%. Dabei wurde auf die Abstimmenden nie Druck ausgeübt, wie das 1870 der Fall war. Aber vorausgegangen waren immer exorbitante Verhandlungswege mit endlosen Differenzierungen und Kompromissen, so dass mancher Bischof vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sah und den steuernden Bürokraten das Handwerk erleichterte. Viele Interventionen führten zur Streichung oder Einfügung von einzelnen Worten oder Formeln, andere zur Festlegung von Kapitelfolgen, einige gar zur Frage, ob ein Text überhaupt behandelt oder aus der Konzilsaula verschwinden soll. Die Erklärungen zum Judentum wurden nur gerettet, indem man sie in die Erklärung über die nichtchristlichen Religionen einfügte, und einige Male wurde dem Redner das Mikrophon abgestellt. Im Gedächtnis blieb schließlich die Einfügung eines klärenden Textes „aus höherer Autorität“, die das Konzil als „Nachbemerkung“ zur Kirchenkonstitution übernahm. Ihre zentrale Aussage lautet alles andere als ökumenisch, der Papst als höchster Hirte der Kirche könne „seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben“. Man muss kein profilierter Kirchenkritiker sein, um sich darüber zu wundern, dass sich das Konzil einen solchen Zwang von „oben“ bieten ließ. Hinzu kamen die autoritären Diskussionsverbote zu Ehemoral und Zölibat mit den bekannten dramatischen Spätfolgen. Wir können nicht mehr nachvollziehen, dass sich ein Konzil dermaßen einschränken ließ.

Ein zweiter Hinweis ist zuzufügen: Nach allem, was wir wissen, kämpfte die übergroße Konzilsmehrheit mit einem mentalen Freiheitsproblem. Mit Kirchenkritik, d.h. mit Kritik an Papst und Institutionen, an Lehre und Geschichte der Kirche konnte man nur schwer umgehen. Pius XII., der große autoritäre Übervater des römischen Katholizismus, war 1962 gerade mal vier Jahre tot. Seit gut 100 Jahren hatte sich eine romzentrierte Kirchenverehrung mit intensiver Marienminne verkoppelt und band die Gemüter aus tiefster Seele an ein überhöhtes Einheitsideal, das kaum Konflikte vertrug. Viele standen für ihre Interessen und Einsichten zwar tapfer ein, umso nachdrücklicher aber dokumentierten sie kirchliche Gesinnung. Für ihre vermeintliche Unbotmäßigkeit standen sie unter innerem Verteidigungsdruck, denn der Geist des Freimuts hatte noch kein selbstverständliches Heimatrecht. Dies zeigte sich in der Demonstration einvernehmlicher Endabstimmungen.

Und schließlich: Auf Seiten der reaktionären Minderheit stand die (vermeintliche, bisweilen schriftwidrige) Tradition, aus der man instinktiv die katholische Identität herleitete. Für die Mehrheit wog dieses Argument schwer, obwohl die reaktionäre Minderheit (vor allem Kurienmitglieder, die den komplizierten Verwaltungsapparat steuerten) weder Diskussionsfreude noch Argumentationsstärke oder Fairness zeigte. Dem Althergebrachten widersprach man nicht und Kritik am höchsten kirchlichen Amt blieb tabuisiert. Daraus lässt sich manche Ungereimtheit erklären, die wirkliche Reformer konsequent hätten anprangern müssen. Aus einer konfliktunfähigen „Liebe“ zur Kirche stimmten sie schließlich auch mancher Fehlentscheidung zu, die ein souveränes Parlament wohl abgelehnt hätte. Diesen Hintergrund muss mitbedenken, wer sich heute über manche Entscheidungen die Augen reibt. Dafür gibt es viele Beispiele.

Folgenschwere Brüche

Nur so lässt sich der amateurhafte Umgang mit der Volk-Gottes-Idee erklären. In Kapitel 2 der Kirchenkonstitution wurde – mit starken biblischen, historischen und spirituellen Argumenten – ein zukunftsweisendes Kirchenkonzept verankert, das heute noch Erneuerungsprozesse vorantreibt. Dennoch gewährte man dem Folgekapitel über die Privilegien der „Hierarchie“ eine überwältigende Zustimmung, so als gäbe es doch noch keine Gemeinschaft von Getauften, keine Charismen in römisch-katholischen Gemeinden und kein Gemeinsames Priestertum kraft dem Fundamentalsakrament der Taufe. Die absolutistische Unfehlbarkeitsdoktrin von 1870 wurde ungeschmälert wiederholt und – zum ersten Mal ausdrücklich – auf das weltweit verstreute Kollegium der Bischöfe ausgeweitet. Bis heute will man nicht wahrhaben, dass dieser reaktionäre Gegenentwurf den unsäglichen Entscheidungen zu Sexualmoral, Homosexualität, Kondomverbot und zur Nichtordination von Frauen zugrunde liegt. Zu Recht können sich die Päpste auf die konziliare Beschlusslage berufen.

Nur so erklärt sich der nach wie vor ungeschmälerte Heilsanspruch der römisch-katholischen Kirche. Das 1. Kapitel der Kirchenkonstitution (Nr. 8) bietet dazu höchst differenzierte Wendungen mit dem Aussageziel, dass sich die geistliche Gemeinschaft der Kirche mit keiner sichtbaren Institution einfach identifizieren lässt. Dennoch wird daraus gefolgert, die Kirche Christi „subsistiere“ in der vom Papst geleiteten Kirche. Man hat zwar kompliziert formuliert und Hintertüren eingebaut, aber die Reaktionäre scherten sich nicht um diese verdeckten[!] Vorbehalte. Nur innerlich verunsicherte Parlamentarier lassen eine dermaßen sensible Frage ohne nähere Klärung durchgehen. Die Rache kommt spätestens 2000, als Kardinal J. Ratzinger – in einem beispiellosen Mangel an historischer und theologischer Fairness – den evangelischen Kirchen ihre kirchliche Würde abspricht.

Nur so erklären sich schließlich die Kompromisse im Ökumenedekret, die uns bis heute am Bein hängen. Insgesamt präsentiert es einen hart erarbeiteten, durchreflektierten und geschichtswirksamen Text. Es spricht von der „Hierarchie der Wahrheiten“, die alles Denken in Katechismusnummern ad absurdum führt. Es fordert uns Katholiken auf, die Traditionen der anderen Konfessionen erst zu studieren, bevor wir sie beurteilen. Schließlich verordnet es uns gründliche Bekehrung, die aller ökumenischen Annäherung voranzugehen hat. Aber auch dieser Pioniertext stellt klar, von wem das Heil ausgeht: „Nur durch die katholische Kirche … kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben.“ (Nr. 3) Damit ist eine Rückkehrökumene legitimiert, wie sie Benedikt XVI. mit aller Macht vorantreibt. Solchen Aussagen liegt wiederum eine Asymmetrie zugrunde, die keiner der Reformer anzugreifen wagte. Die von den Vorkämpfern aufgezählten Einzelqualitäten prallen vor dem umfassenden Geltungsanspruch ab, den die Bewahrer in Anschlag bringen. O. H. Pesch formuliert in seinem hervorragenden Konzilsbuch: „Elemente“ werden zur Kirche. Leider war das Gegenteil der Fall, denn die Dogmatisten und Formalisten ließen sich durch keine Empirie belehren. Insofern hat sich das Galileiproblem wiederholt. So ist der unbestrittene, aber zu weiche Verständigungswille der Ökumeniker am Tabu des Dogmatismus, an der Mauer der Unbelehrbarkeit abgeprallt, und wiederum wurde dieser Mangel mit einem hohen Konsensergebnis zugedeckt.

Mangelnder Weitblick oder Verstrickung in Widersprüche?

Es gibt einige Dokumente, die aus unserem Konzilsgedächtnis beinahe verschwunden sind, dazu gehört das Dekret „Über Dienst und Leben der Priester“. Man hat hart an ihm gearbeitet. Der kuriale Vorentwurf wurde rundweg abgelehnt und nach offiziöser Mitteilung mehr als 10.000 Änderungsvorschläge wurden bearbeitet. Viele Einzelwünsche hat man den Priestern auferlegt. In den Gemeinden sollen sie als Vertreter des Bischofs agieren, zugleich kontaktfreudig die Gläubigen mit ihren Vorhaben vertraut machen. Sie sollen die Schrift und die Wissenschaften studieren und nicht versäumen, was ihre pastoralen Fähigkeiten fördert. Nur über ihr Selbstverständnis und ihre Spiritualität wusste man nichts Neues zu sagen. Konsequent, aber folgenlos werden sie presbyter (also nicht sacerdos) genannt; die Unterscheidung zwischen sakralem Heilsspender und Gemeindeleiter hat niemand aufgegriffen.

Als Resultat schärft das Dekret eine Priesterspiritualität ein, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Verlangt wird die „innere Bereitschaft …, nicht den eigenen Willen zu suchen“, die Arbeit demütig zu verrichten, Papst und Bischof Folge zu leisten, in allen Lebenslagen Christus gleichförmig zu werden und deshalb oft die Eucharistie zu feiern. Maria sollen sie kindlich verehren und lieben; sie ist die „Mutter des höchsten und ewigen Priesters, die Königin der Apostel und Schützerin ihres Dienstes“. Die Ermutigung zur „reiferen Freiheit der Kinder Gottes“ wird gleich mit mehreren Gehorsamsappellen umgeben. Nicht ausbleiben kann bei diesem mönchischen Ansatz die Einschärfung des Zölibats mit den gängigen Argumenten: „Durch die Jungfräulichkeit und die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen werden die Priester in neuer und vorzüglicher Weise Christus geweiht; sie hangen ihm leichter ungeteilten Herzens an, schenken sich freier in ihm und durch ihn dem Dienst für Gott und die Menschen, dienen ungehinderter seinem Reich und dem Werk der Wiedergeburt aus Gott und werden so noch mehr befähigt, die Vaterschaft in Christus tiefer zu verstehen.“ Schließlich ist es ihre Aufgabe, „die Gläubigen einem Mann zu vermählen und sie als keusche Jungfrau Christus zuzuführen“. (Nr. 16) Kaum ein Dokument zeigt deutlicher, wie unvorbereitet das Konzil Fragen der Spiritualität gegenüberstand, ohne die eine Erneuerung der Kirche nicht wirksam wird.

Das bei den Fachleuten bis heute umstrittenste Dokument ist dasjenige, welches m. E. zum Schlüsseldokument des Konzils hätte werden müssen, dies nicht nur aus Gründen der Kirchenreform, sondern auch aus Gründen der Ökumene und der weltweiten Solidarität. Gemeint ist die Konstitution über die Offenbarung, in der es faktisch um die Bedeutung der Schrift geht. Wenn ich das Urteil von O. H. Pesch richtig verstehe, sprengten die Kompromisse in diesem Dokument auch nach ihm alle erträglichen Grenzen. Dass die Schrift neu zur Geltung kommen muss, war schon damals verbreitete Überzeugung. Aber wie weit durfte diese – ökumenisch unabdingbare, innerkatholisch höchst sensible – Aufwertung gehen, solange die Deutungshoheit des kirchlichen, im letzten päpstlichen Lehramts mit ihr konkurrierte? Wie soll man die offizielle „Tradition“ einstufen, die keine biblische Basis findet (man denke etwa an Mariä Himmelfahrt)? Gegensätzliche Aussagen durchziehen das Dokument. Einerseits heißt es: „Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird.“ (Nr.10) Das ist eine klare Ansage des römischen Lehramtsanspruchs. Dennoch lautet der Folgesatz gut evangelisch: „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist.“ Was also gilt? Die Fachwelt hat von einem „kontradiktorischen Pluralismus“ gesprochen, in dem andere schlicht ein Wahrhaftigkeitsproblem entdecken. Formal sind die gegensätzlichen Aussagen nur möglich (und aus dritter Perspektive zu verteidigen), weil man beiden Positionen schon im vorhergehenden Paragraphen die Zähne zog, indem die Konstitution erklärt, einen Widerspruch zwischen Schrift und (spezifisch kirchlicher) Überlieferung gebe es nicht: „Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen“; beide geben Gottes Wort unversehrt weiter. Und obwohl an anderer Stelle schon geklärt war, dass in der Schrift die ganze Offenbarung enthalten sei, wird auf massiven päpstlichen Druck jetzt hinzugefügt, die Kirche schöpfe ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein. (Nr. 9)

Das ist für die Kirchen der Reformation eine fatale Hinzufügung, die selbst den inneren Konsens mit der eigenen Vergangenheit in Frage stellt. An dieser Stelle zeigt sich eine grundsätzliche Grenze dieses Konzils. Letztlich hat es das katholisch-reformatorische Grundproblem nicht begriffen. Man vergesse nicht: Die ganze reformatorische Bewegung lebt aus dem Schock eines selbstgerechten, machtbezogenen und kapitalisierten Papsttums, das an zentralen Punkten der Schrift die Ehre verweigerte. 450 Jahre lang hat man diese Verstocktheit verdrängt. Offensichtlich gelang es auch dem Konzil nicht, diesen Panzer aufzubrechen.

Wie geht es weiter?

Lange hoffte man vergebens, eine andere Einsicht könne sich im Laufe der Zeit auch bei Papst und Bischöfen durchsetzen. Unter einer Bedingung bleibt eine Erneuerung dennoch möglich (und dieser Punkt wurde im Gespräch unabweisbar): Im Namen des Konzils und seiner großen Ziele sind die ihm aufgezwungenen Inkonsequenzen und Widersprüche offen zu bekämpfen und tätig in die Hierarchiekritik einzubeziehen. Das heißt: Um der Sache willen werden offener Widerspruch, verantworteter Ungehorsam und der Appell an die Botschaft Jesu entscheidend. Solche Illoyalität und – damit verbunden – ein selbstkritischer Umgang mit der eigenen Kirchenwirklichkeit sind der entscheidende Beginn einer Erneuerungsphase. Gebe Gott, dass dies uns endlich gelingt.

Hat sich dieses Werkstattgespräch mit solchen Ergebnissen nicht von der gegenwärtigen Resignation überrollen lassen? Meines Erachtens ist das nicht geschehen, denn man hat auch gesehen: Die Erfolge des Konzils sind unbestritten; die heutige Gestalt der römisch-katholischen Kirche ist mit der vorkonziliaren nicht zu vergleichen. Aber entscheidende Fragen sind eben nicht gelöst und die stagnierende Ökumene ist dafür der verlässlichste Indikator. Sie lassen sich aber nur lösen, wenn wir auch die Grenzen des Konzils zur Kenntnis nehmen, statt es mythisch zu überhöhen. Global lassen sich dafür mehrere Gründe nennen, die verhängnisvoll zusammenwirken. Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass

  • Sich eine übermächtige Minderheit den grenzüberschreitenden Reformzielen des Konzils mit Erfolg verweigerte,
  • die reformorientierten Kräfte an den entscheidenden Punkten vor den Reaktionären einknickten und
  • der Bann eines unausgesprochenen Gruppenstolzes beide Parteien zusammenschmiedete und zu fragwürdigen Konsensen verurteilte.

Ein Durchbruch lässt sich nur in dem Maße erzielen, als es gelingt, die Schwerpunkte kirchlichen Geschehens wieder in die Lebenspraxis vor Ort, also in die christlichen Gemeinden an der Basis zu verlagern.

(QuerBlick, Nov. 2012, 6-10)

Letzte Änderung: 13. Juli 2017