Identität und Wandel – Wo verlaufen die Grenzen des Katholischen?

Die römische Kirchenleitung ruft das Kirchenvolk nachdrücklich zu Kontinuität und bleibender Identität auf. Damit verbindet sie ein statisches Ideal, das sich jeder Erneuerung verschließt.

Einleitung:

Am 15. Februar 2009 schrieb Gregor M. Hanke, Bischof von Eichstätt, einen Hirtenbrief unter dem Titel „Identität und Kontinuität“. Er forderte seine Diözesanen auf, nicht mehr zwischen vor- und nachkonziliar zu unterscheiden, und statt dessen die Texte des 2. Vatikanischen Konzils neu zu lesen. Schließlich verteidigte er im Rest des Briefs die Haltung des Papstes gegenüber der fundamentalistisch reaktionären Piusbruderschaft, insbesondere gegenüber Bischof Richard Williamson, der die Vergasung von Millionen von Juden geleugnet hatte. Dem Papst gehe es nur um die Einheit der Kirche.

Wer sich ohne weiteres Wissen in den Inhalt des Briefs vertiefte, konnte kaum entdecken, was nun wirklich den Zusammenhang von Identität, Kontinuität, Konzilslektüre und Papstverteidigung ausmacht. Wer aber um die damaligen kirchenpolitischen Spannungen wusste, dem war die Generallinie dieser Aktion schnell klar: Der Papst, selbst Garant der Einheit und katholischen Identität, handelt im Sinn des Konzils, das Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Ich zitiere: „Identität und Kontinuität! Geistliche Schätze und Erfahrungen der Vergangenheit gilt es mit den neuen Herausforderungen des Pilgerweges durch die Gesellschaft und die moderne Zeit zu verbinden, auf dass auch heute ein neuer geistlicher Reichtum entstehe. Das ist eines der Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils.“ In einer Diskussion vom April 2009 ergänzte ein Mitarbeiter von Bischof Hanke in Ingolstadt, seinem Bischof gehe es, ganz im Sinne von Benedikt XVI., um die Konsolidierung der Kirche in einer äußerst krisenhaften Zeit.

Identität, Kontinuität, Konsolidierung, alle diese Begriffe signalisieren – jedenfalls auf den ersten Blick – eine konservative Tendenz. Die Begriffe „Identität“, „Kontinuität“ und „Konsolidierung“ gehen dann ineinander über. „Keine Experimente!“ hätte man in der Adenauer-Republik gerufen, und Ähnliches hören wir seit nunmehr drei Jahrzehnten, seit fünf Jahren mit wachsender Intensität, aus Rom. Ansonsten ist – ähnlich wie bei politischen und ideologiebeladenen Parolen – keineswegs klar, was diese Worte konkret meinen. Versuchen wir also, wie wir mit diesen Schlagworten konkret umgehen. Andernfalls verkommt die Diskussion zu ideologischen Schlagworten.

Deshalb möchte ich mit Ihnen heute über die Frage einer Identität nachdenken, die uns allen am Herzen liegt, über die im Augenblick jedoch innerhalb der katholischen Kirche ein großer Dissens herrscht.

I. Eine dramatische Angelegenheit

Um es vorweg zu sagen: Über Identität und Kontinuität denken wir erst dann nach, wenn sie vermisst werden oder gefährdet sind.

  • „Was ist das?“, das fragt, wer sich der befragten Sache, eines Phänomens, eines Schmerzes, eines Ereignisses unsicher ist.
  • „Wer bin ich?“ Was ist meine Identität? Womit und woher definiere ich mich?, das fragen Leute, die sich vielleicht als Jugendliche zum ersten Mal entdecken oder die als Ältere endlich mit sich ins Reine kommen möchten.
  • „Wer sind wir?“ Von welchen Erfahrungen und Ereignissen her definieren wir uns?, das fragen die Mitglieder eines Bundes, einer Gemeinschaft, vielleicht eines Volkes, die sich über ihre Herkunft, ihren Sinn, ihre Ziele verständigen möchten.

Der Ruf nach Identität wirkt deshalb nur selten als neutraler (oder neutralisierender) Appell zur nüchternen Beschreibung einer Sache, Person oder Institution. Identität berührt das Wesen, den Kern, die Verbindlichkeiten, Herausforderungen. Wir können jemandem seine/ihre Identität zusprechen, indem wir ihm/ihr einen Namen geben, zu einer Aufgabe herausfordern, ihn/sie in eine Gemeinschaft aufnehmen. Oft wird eine Identität beschworen – wahrscheinlich dann, wenn sie ins Wanken gerät. Und manchmal wird auf eine Identität gesetzt, um Schwierigkeiten abzuwehren und sich vor Herausforderungen zu drücken. „Wir sind Deutsche!“ heißt es dann und fordern eine deutsche Leitkultur. „Wir sind katholisch!“ sagte meine Mutter gern, um mir kritische Bemerkungen über die Sonntagspredigt zu verbieten. Identität kann auch als ein Versprechen im besten Sinne des Wortes wirken, dann etwa, wenn unser Glaube uns sagt, dass wir Kinder Gottes oder in Gottes Barmherzigkeit geborgen sind. In diesem Sinn lässt sich die Identitätsrede auch als Drohung einsetzen. Dante etwa versetzte alle Häretiker in glühende Gräber, die am Jüngsten Tag in diesem Zustand verschlossen werden. Ich hoffe, dass mich das nicht trifft.

Der Umgang mit Identitäten begleitet also unser ganzes Leben und deshalb auch die Frage nach unserer religiösen Identität. Die Rede von ihr ist eher ein Zeichen der Unruhe als der Stabilität. Ein Sprachinhalt, der ex contrario, also aus seiner Bestreitung, seinem Verlust, seiner hart erarbeiteten Akzeptanz oder aus seiner Ablehnung wirkt, dann nämlich, wenn man sie nicht los wird.

Zunächst werden wir zwischen den drei grundlegenden Formen oder Schichten von Identität unterscheiden. Die Wissenschaften nähern sich der Wirklichkeit entweder in der Es-, der Ich- oder der Wir-Perspektive. Es geht um Natur, um den Menschen, um Kultur und Gesellschaft.

  • Die Es-Perspektive liefert aus der Empirie gespeiste wertfreie, möglichst objektive Beschreibungen einer Identität. Diese Es-Identität sucht ihre Kriterien in möglichst messbaren, in jedem Fall verfügbaren Fakten. Ich kann, wenn es gut geht, Sachen genau und objektiv definieren, was etwas ist, wann und wie es gewesen ist.
  • Die Ich-Perspektive liefert aus subjektiver Erfahrung erhobene, wertende, möglichst angemessen verstehende Interpretationen unserer Identität. In jeder Angabe über mich oder einen anderen Menschen steckt ein Stück Selbst- oder Fremdinterpretation. Die Ich-Identität suchen wir deshalb in möglichst überzeugenden, in jedem Fall verstehbaren Dabei können wir andere Menschen vielleicht verstehen, aber eben nicht definieren, obwohl wir dazu immer versucht sind.
  • Die Wir-Perspektive liefert aus kumulativen Beobachtungen ermittelte Beschreibung und Interpretation integrierende Eine jede Gemeinschaft macht sich von sich selbst ein Bild, interpretiert sich, zugleich greift jede Wir-Interpretation auf Hilfsmittel aus der Gegenwart oder der Vergangenheit zurück. Die Wir-Identität sucht sich also in Vollzügen der gegenseitigen Akzeptanz einer Gemeinschaft in ihrer aktuellen oder zeitlichen Erstreckung. Bei der zeitlichen Erstreckung sprechen wir von Kontinuität. Alle Katholiken etwa wissen was vom Papst, von der Glaubenslehre, von Gottesdiensten und von der Geschichte ihrer Kirche. Alle Christen berichten von Jesu Tod und Auferstehung, von Ereignissen Israels usw..

Eine solche Aufzählung wirkt schematisch und langweilig, solange wir nicht auf die Frage achten, wie diese Identitätsschichten nun miteinander zusammenhängen. Denn sie stehen nicht beziehungslos nebeneinander. So zeigt schon meine Frage nach Sachidentitäten etwas von meinem Interesse: bin ich Geologe, Neurowissenschaftler oder sammle ich Bierdeckel? Im übrigen gibt es schon auf der Sachebene der Fakten keine absolute Identität. Schon auf dieser Ebene sollte man von der Idee loskommen, man könne mit sich identisch bleiben, oder eine Gemeinschaft wahre schlicht ihre Identität. Schon zwei identische in allen Parametern verwechselbare Steine unterscheiden sich zumindest in ihrer Lage. Was dem einen sein Links des Zwillings, ist dem andern sein Rechts. Die berühmte Frage des Zöllners, der meine Identitätskarte sehen will: „Sind sie identisch?“ ist schlicht Unsinn. Dennoch liegt das Schwergewicht der Analyse eindeutig auf den Fakten, die sich gegeneinander isolieren lassen.

Aber noch wichtiger ist, dass meine Ich-Identität immer Bezüge zur Es-Identität einschließt. Unter diesem Aspekt wird vielen jungen Menschen zum ersten Mal klar, wie spannend die Identitätsfrage sein kann. Denn obwohl sie seit ihrer Geburt ihr Aussehen nachhaltig geändert haben, behalten sie ihre Identität. Diese Identität hält sich durch, obwohl sie heute ganz andere Interessen haben als damals, heute ganz Anderes leisten und in 20 Jahren wieder Anderes leisten werden, obwohl die Fußball spielenden Jungen oder Mädchen von heute einmal Väter oder Mütter sein werden, obwohl sich alle sieben Jahre alle ihre chemischen Stoffe ausgewechselt haben. Sie werden – persönlich und bürokratisch – immer denselben Namen tragen und in ihrem Selbstbewusstsein mit sich identisch bleiben (jedenfalls erwarten wir das von ihnen). Obwohl sie sich in ihren verschiedenen Lebenssituationen (als Schüler, Studierende, Berufstätige, Senioren) also ständig geändert haben, blieben sie mit sich identisch. Mehr noch, gerade weil sie sich änderten, konnten sie ihre Identität bewahren. Wir sprechen von einer Selbst-Identität, die Veränderung fordert, und nur monologische Menschen können das nicht begreifen. Dieses „Selbst“ drückt schon eine Beziehung aus und diese Selbstbeziehung ergibt sich aus Fremdbeziehungen. Ich komme nur zu mir durch Vermittlung anderer. Bei dieser Behauptung aber werden manche unter Ihnen zögern und darauf hinweisen, dass diese spannungsreiche Identität ja auch zu ungelösten Problemen und Katastrophen, zu Überschüssen oder verfehlten Hoffnungen führen kann. Was auf der Ebene der Es-Identität naturnotwendig ist, kann auf der Ebene der Selbst-Identität zum Risiko werden.

Um eine weitere Stufe kompliziert sich die Wir- oder Gemeinschafts-Identität (bzw. Kontinuität). Auch sie schließt ein: (a) sachhafte oder wenigstens verfügbare, dem Buchstaben nach gleichbleibende Elemente, die Fakten, (b) eine hohe, oft unübersehbare Anzahl von Selbst- und Fremdbeziehungen. Sie entwickeln in ihrer Gesamtheit eine weiterer Schicht. Sie kann die individuellen Identitäten nie aufsaugen, aber sie steht mit ihnen in einer ständigen Interaktion, die sich in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckt. Die Frage, ob und wie eine Gemeinschaft mit sich identisch bleibt, bleibt immer ein waghalsiges Unternehmen.

In jedem Fall besteht immer dann, wenn wir endlich Sicherheit haben wollen, die Gefahr, dass wir bei der Ich-Identität auf die Es-Identität, bei der Wir-Identität auf Ich- und Es-Identität zurückfallen. Bei jedem Rückfall geht es um eine defiziente Identitätsdeutung bzw. Identitätsrekonstruktion, die die Komplexität der Fragestellung übersieht oder verdrängt.

Wirklich spannend ist deshalb nicht eigentlich die Frage, wie Identitäten zusammenkommen, sondern die Frage: Wie können wir Identitäten definieren, verstehen, akzeptieren und entwickeln? Auf der Ebene des Wir und der Gemeinschaft hat Identität immer mit unserer eigenen Freiheit, Kreativität und Phantasie, mit unseren Versprechen und unserer Solidarität zu tun. Genau deshalb kann man sich auch Fragen: Gibt es in einer Person oder in einer Gemeinschaft überhaupt so etwas wie Identität, oder ist Identität im letzten nicht eine Fiktion, sein Suchprojekt oder vielleicht ein utopisches Versprechen? Im letzten Fall hätte Identität unmittelbar mit Sinnfragen und mit Religion zu tun.

Bevor ich diese Frage aber weiterspinne, möchte ich Ihnen noch drei Assoziationen mitteilen, die mir in den vergangenen Tagen begegnet sind.

 

1.1 Gespaltene Identität, die man leben kann

Salomon Korn, Vizepräsident des deutschen Zentralrats der Juden in Deutschland, wurde vor einigen Tagen in 3Sat von einer Journalistin gefragt, was denn die jüdische Identität sei. Seine nüchterne Antwort: Heute, in Deutschland, gebe es die jüdische Identität nicht. Er verwies auf eine gespaltene Mauer und bemerkte: So gespalten, wie diese Mauer, sei hier die jüdische Identität, auseinandergerissen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, auch zwischen der neuen Identität Israels und der 2000jährigen Geschichte der jüdischen Diaspora. Diese Antwort gab mir als katholischem Christen sehr zu denken, und Sie können darüber nachdenken, warum das wohl der Fall ist. Alle Brüche eines Leben und einer Gemeinschaft, alle Enttäuschungen, alles Versagen und alle nicht eingelösten Versprechen gehen in diese Identität ein und bleiben in ihr gegenwärtig. Vielleicht sind gespaltene Identitäten erst wirkliche Identitäten.

1.2 Widersprüche der Identität, die man sich erarbeiten muss

Von Peter Prange erschien 2006 ein Buch mit dem Titel: „Werte. Von Plato bis Pop. Alles, was uns verbindet.“ Darin führt er uns eine paradoxe These vor. Nichts von dem, was uns an europäischen Werten begegnet und auf das sich unsere Identität beziehen kann, nichts von dem ruht in sich, sondern existiert nur im Widerstreit mit einem Gegenpart. So kann Prange nur paradoxe Wertepaare beschreiben, von denen keines in sich zur Ruhe kommt.

Er spricht von Leben und Sinn, Natur und Kultur, Glaube und Vernunft, Mensch und Recht, Wissen und Phantasie, Arbeit und Muße, Schönheit und Wahrheit, Eros und Agape, Glück und Askese, Idealismus und Realismus, Zivilcourage und Pflichtbewusstsein, Selbstverwirklichung und Solidarität, Gleichheit und Elite, Fortschritt und Skepsis, Freiheit und Verantwortung, Toleranz und Prinzipientreue, Bewahrung und Erneuerung, Friede und Selbstbehauptung, Heimatliebe und Weltoffenheit, Nation und Union.

Ein „dynamisches Koordinatensystem“ nennt Prange diese in sich paradoxen Wertekonstellationen. Nicht dass wir uns dem einen oder anderen definitiv verschreiben, macht die Kraft Europas aus, sondern dass wir ständig zwischen ihnen hin- und hergerissen sind, vermitteln müssen, dabei immer wieder scheitern und doch nicht aufhören, zu vermitteln. So gesehen ist Identität überhaupt nichts Statisches, irgendwann Abgeschlossenes, sondern ein unaufhörlicher Prozess.

1.3 Identitätskonkurrenz auf Leben und Tod

Wenn Sie in Google „Identität“ anklicken, stoßen sie auf den gleichnamigen Filmtitel, 2003 von James Mangold auf dem Markt gebracht. Dieser Film ist ein Thriller und Horrorfilm. Zehn oder zwölf Menschen treffen sich in einem Schloss. Sie sind dort eingeschlossen und eine anwesende Person nach der anderen wird ermordet. Keiner weiß, wer Täter oder Täterin ist, aber alle sind auf der Hut, bis das grausame Spiel grausam endet. Die Lösung der Knotens: Es handelte sich um die verschiedenen Personen (Identitäten) einer gespaltenen Persönlichkeit. Sie brachten einander um. Wer oder was überhaupt noch übrig blieb, ist hier nicht so wichtig. Wichtig ist mir nur der Bezug auf unsere Identität, die zu solchen gefährlichen selbstaggressiven, destruktiven Folgen führen kann. Genauso geht es bisweilen in unserer Kirche zu. Wir bedrohen einander, indem wir uns gegenseitig die christliche oder katholische Identität bestreiten. In diesem Sinn bedrohen wir einander auf Leben und Tod.

Nein, dieser Film ist gar nicht so lustig, weil er uns die grausamen Selbsterfahrungen vieler Menschen und vieler Gemeinschaften vor Augen führt, die sich in unserer Epoche steigern, weil frühere Sinnangebote und Lebensformen in Patchworkstücke auseinanderfallen. Doch als ich vor einigen Tagen einen Text von Papst Benedikt über den „Selbsthass“ Europas las, dachte ich: Ich möchte ja nicht einfach widersprechen, aber wärest du doch bei deinem Leisten geblieben und hättest du über den Selbsthass der katholischen Kirche nachgedacht. Denn unsere katholische Kirche nimmt geradezu distanzlos an dieser Selbstzerstückelung unserer Traditionen teil. Vielleicht hätte uns ein solcher Text über die inneren Widersprüche der Kirche, über ihre Polarisierungen, über unsere Unfähigkeit zu einem verstehenden Dialog weiter und zur Besinnung gebracht. Überlebensnotwendig ist in jedem Fall das Nachdenken über die Frage, wer wir denn als Christen, als Katholiken sind. Allerdings ist eine solche Selbstreflexion alles andere als ein Zuckerschlecken. Es ist eine hochdramatische Angelegenheit.

Kommen wir aber zur Thematik zurück: Wo verlaufen die Grenzen des Katholischen? Wie können wir, dem Rat von Bischof Hanke folgend, der katholischen Identität treu bleiben, oder sagen wir doch lieber: Wie können wir sie uns erarbeiten? Ich will in drei Stufen darüber nachdenken.

Im Sinne der Sach-Identität (Stufe 1) fragen wir: An welchen Fix- oder Eckpunkten können wir die katholische Identität anknüpfen? Ich frage nach einer belegbaren Kontinuität. In der Regel wird sie als Aufweis der Kontinuität formuliert.

Im Sinne der Selbst-Identität (Stufe 2) fragen wir: Wie können wir im Wandel der Zeit neu zu uns selbst finden?

Im Sinn unserer Gemeinschafts-Identität (Stufe 3) fragen wir: Welcher Identitätswandel ist uns in der Menschheitsfamilie dieses Jahrhunderts aufgetragen?

II. Traditionen werden gemacht (Stufe 1)

Bischof Hanke fordert Identität und Kontinuität. Genau gesehen denkt er an eine Sachebene. Er spricht von der Tradition der Kirche, ordnet das 2. Vatikanische Konzil möglichst bruchlos in sie ein und fordert für die Gegenwart eine Kontinuität, die er nicht neu beschreibt, sondern an der Vergangenheit orientiert.

Dies entspricht ganz der Art, wie die katholische Kirche vor dem 2. Vatikanischen Konzil argumentiert und ihre/unsere Identität konstruiert hat. Drei Säulen haben das Gebäude getragen: Ich nenne sie Dogmatisierung, Sakralisierung und Verbeamtung.

2.1 Dogmatisierung

Seit dem vierten Jahrhundert ließ sich die Kirche auf ein Wahrheitskonzept ein, das die Wahrheit definiert und objektiviert hat; wir sprechen von Hellenisierung. Die Wahrheit wurde zum Dogma, d.h. zu einem staatsrechtlichen Beschluss von Richtigkeit. Ich habe über die Legitimität dieses Prozesses nicht zu urteilen, denn es war das Ergebnis einer perfekten, rundum gelungenen Inkulturation. Aber die offizielle Kirche hat diese Dogmatisierung nicht als einen Prozess der zeitbedingten Inkulturation, sondern der zeitlosen Wahrheitsfindung betrachtet. Die hellenisierten Glaubenssätze gelten als unfehlbar.

Damit hat die Kirche ihre eigene Tradition verstümmelt. Denn der Prozess der inneren Hellenisierung setzte erst allmählich ein; erst im vierten Jahrhundert wurde er für die Glaubensgestalt normativ. Seitdem hat die Kirche immer mehr vergessen, was dem dogmatisierten Glauben vorangeht:
(a) die Erinnerung an die Gestalt Jesu, also die Bindung des Glaubens an die Lebenspraxis einer Person;
(b) die Bindung der Glaubensverkündung an Berichte und Erzählungen, die immer wiederholt und immer wieder verändert werden;
(c) der Anredecharakter der Verkündigung; Menschen werden nicht informiert, sondern angesprochen;
(d) eine Glaubenssprache, die mit Symbolen, Metaphern oder Gleichnissen arbeitet, also das Bewusstsein wach hält, dass wir immer nur in Annäherungen sprechen, Gott selbst also ein Geheimnis bleibt;
(e) die Rückbindung der Botschaft an eine Lebenspraxis, eine „Fundamentaloption“, die von der Bereitschaft lebt, das Leben zu teilen und für andere einzutreten.

2.2 Sakralisierung

Seit derselben Zeit hat die Kirche die Botschaft Jesu wieder in die Form einer Religion, genauer: in die Form einer Volks- und Staatsreligion gegossen. Hochsakrale Formen haben sich herausgebildet. Die Eucharistiefeier wurde zur feierlichen Selbstrepräsentation, Sakramente (Taufe und Eucharistie vor allem) wurden zu sorgfältig geschützten Ritualen. Wichtiger noch sind die Rolle und die Selbstrepräsentation der Amtsträger. Der Purpur der Bischöfe und ihre Phrygische Mütze, Mitra genannt, signalisierte den Rang hoher kaiserlicher Beamter. Dieser Rang begründete und stärkte den sakralen Charakter dieser Funktion.

Genau dies zeigt auch, dass diese Art feierlich dargestellter, als Hoheitsfunktion ausdifferenzierter Sakralität nicht aus der christlichen Tradition, sondern aus der sakralen Machtsphäre politischer Ämter kommt. Die Entwicklungen verlaufen langsam, aber stetig. Karl der Große etwa (gest. 814) legt sich den politisch gemeinten Titel „Stellvertreter Christi“ zu. 400 Jahre später übernimmt ihn der Machtpolitiker Innozenz III, um zu demonstrieren, dass er über Kaiser und weltlichen Fürsten steht. Die Titel „mystischer Leib“ mit dem Gedanken, dass der Papst Haupt des Leibes ist, stammt nicht von Paulus, sondern aus dem 13. Jahrhundert. „Mystischer Leib“ war schlicht mit „Korporation“/Körperschaft zu übersetzen. Erst später wurden diese Titel re-sakralisiert. Im 12. Jahrhundert ist von der Wandlungsvollmacht der Priester/Bischöfe die Rede. Allmählich wird der Zölibat als allgemeinverbindlich eingeführt wird. 1022 verbietet die Synode von Pavia die Ehe. 1059 verbietet eine lateransynode den verheirateten Priestern, die Messe zu lesen. In Deutschland wagten nur drei Bischöfe, die römischen Dekrete zu verkünden. Der Bischof von Passau wäre vom Klerus beinahe gelyncht worden und wurde schließlich vertrieben. Gerade Geistliche des niederen Klerus waren besonders betroffen, und zu Tausenden protestierten sie gegen die neuen Gesetze. Allein in der Diözese Konstanz waren 3600 Geistliche auf einer Synode. Erst 1139 geschah auf dem 2. Laterankonzil der Durchbruch, das verheiratete Priester jetzt ihre Benefizien verloren. Der Begriff der „Ordination“ wurde erst auf dem Konzil von Trient auf die Priesterweise eingeschränkt. Auch der negative Begriff als „Laien“ taucht erst seit Beginn der Gregorianischen Reform (12. Jh.) auf. Der Komplex der aktuellen Sakralvorstellungen und Sakralisierungen hat also starke politische Wurzeln und ihre Massierung erst seit dem Mittelalter erfahren.

Auch hier haben wir es mit einer verstümmelten Tradition zu tun, die sich von den Ursprüngen und den ersten Jahrhunderten abgekoppelt hat. Nach allem, was wir wissen, hat Jesus keine sakralen Intentionen verfolgt. Er ist eher – je nach Forschungsrichtung – als Prophet oder als Weisheitslehrer anzusehen. Seine Auseinandersetzung mit der Tora zielte nicht auf Sakralisierung, sondern recht autoritätskritisch auf Verinnerlichung und Vermenschlichung. Die ersten Titel für Funktionen innerhalb der Gemeinden beinhalteten keine sakralen Hinweise, sondern funktionale Beschreibungen. Frauen waren Gemeindeleiterinnen. Die Eucharistie wurde sehr nüchtern als Brotbrechen und Mahl beschrieben. Nirgendwo war das Bedürfnis nach besonderer Kleidung und besonderer Autorität, geschweige denn nach einer klerikalen Kaste zu spüren. Nirgendwo eine Zweiteilung der Gemeinden in Klerus und Laien. Kurzum, wer sich wirklich auf die Tradition berufen will, darf sie sich nicht nach eigenen Interessen zusammenschustern, sondern muss sich ihr stellen.

2.3 Monopolisierung der Autorität

Zu den Kennzeichen der katholischen Kirche gehört ihre monopolistische autoritäre Struktur. Die gegenwärtige Kirchenleitung versucht sie immer mehr zu stärken und alle gegenläufigen Strömungen werden als Zug zum Relativismus diskriminiert.

Schauen wir auf die Tradition, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Lassen Sie mich – vielleicht unsystematisch, aber nicht populistisch – einige Fakten nennen: Die ersten Kirchenstrukturen sind auf kollegiale Strukturen gegründet und diese halten sich durch das gesamte Altertum stabil. Gewiss, die Bischöfe, die Metropoliten und die Patriarchen traten bald als machtvolle Gestalten auf, aber sie wurden von unten kontrolliert und in kollegialen Gremien ausbalanciert. Nach allem, was wir wissen, war die Wahl (oder Akklamation) von Bischöfen durch ihre Gemeinden selbstverständlich und sie ihrerseits, die Repräsentanten ihrer Gemeinden, hatten auf die Gemeinschaft mit den Mitbischöfen zu achten. Vom Zusammenbruch des Römischen Reichs und den Jahrhunderten der „Völkerwanderung“ haben wir wenig konkrete Informationen. Aber sicher ist. In dieser Ära zusammenbrechender Rechtsstrukturen, brachen auch die Rechtsstrukturen der Gemeinden zusammen. Es war verständlich und richtig, dass die hierarchischen Strukturen dann das Heft in die Hand nahmen und nach Art einer Notverordnung für die Weitergabe des christlichen Glaubens sorgten. Übrigens blieben demokratische Strukturen in den älteren Orden erhalten (Benediktiner, Dominikaner) und ein gutes Anschauungsmodell für das, was heute wieder zu beleben wäre.

Es wäre deshalb Sache der Hierarchie gewesen, diese Strukturen wieder herzustellen, als im (frühen) Mittelalter allmählich wieder Gemeinde- und Stadtstrukturen entstanden. Es gab sie und ein neues Gemeindebewusstsein meldete sich zurück. Jetzt aber entstand der moderne Begriff des Laien als einer Gruppe von Christen, die den Klerikern und Ordensleuten in harter Konkurrenz gegenüberstanden. Man hat sie gedemütigt (Innozenz VIII. 1296, Clericis laicos) und in die Ecke der Häretiker gedrängt. Seitdem ging die Hierarchie einen unseligen Weg ständiger Monopolisierung, bis sich – spätestens seit dem 19. Jahrhundert – Rom auch über die Bischöfe erhob. In dieser Entwicklung zu einer undemokratischen, schließlich absolutistischen Kirchenstruktur liegt die vielleicht schlimmste Verstümmelung der Tradition. Und man kann sich schon darüber wundern, dass Rom im Namen dieser Tradition Rechte einfordert, die man schwerlich als christliche erkennen kann.

III. Gegenwart verlangt Erneuerung (Stufe 2)

3.1 Glaube: Identität in Beziehung

Die von mir in Sachen Tradition angeführten Argumente sind nicht neu. Aber leider haben sich keine große Wirksamkeit entfaltet. Sie sind vielleicht nicht einmal sehr überzeugend, wenn man sie nicht in einen weiteren Zusammenhang einordnet. Denn keine Epoche lässt sich rechnerisch auf eine andere zurückführen. Auch innerkirchliche Entwicklungen gehen legitime Wege. Z.B. wäre es heute nicht sehr sinnvoll, die Gemeindeleiter, Bischöfe oder Päpste nach dem Losverfahren zu ernennen oder Entscheidungen mit den Träumen frommer Katholikinnen und Katholiken zu begründen. Deshalb ist beim Blick auf Tradition und Kontinuität nicht nur auf die Fakten, sondern auch auf die Beziehungen zu achten, die sich für die Christen in Auseinandersetzung mit jeweils ihrer Zeit ergeben. Das ist ein hochkomplexes Feld, denn es wäre bei Millionen von Angehörigen der katholischen Kirche die Frage zu stellen: Was erfährst du und wie erfährst du dich bei der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit Kirche? Das ist kompliziert, aber nicht unmöglich, denn zahllose pastoraltheologische, –psychologische und –soziologische Studien setzen sich damit auseinander.

3.2 Vatikanum II: Erneuerung als Prinzip

Für uns gibt es aber eine ausgezeichnete Möglichkeit, diese Perspektive des „aggiornamento“ und der Begegnung mit Menschen und Welt zu bündeln. Gerade das 2.Vatikanische Konzil hat sich nicht auf die Faktenlage des Glaubens spezialisiert. Deshalb wurde ausdrücklich erklärt, dass dieses „Pastoralkonzil“ keine neuen Glaubenswahrheiten definieren wolle. Es hat sich auf die Beziehungslage der Kirche in der Gegenwart konzentriert und damit die zweite Schicht der Identitätsfrage angesprochen, in der sich Personen mit sich und mit anderen in Beziehung setzen. Sie wollen und können ihre Identität also nicht produzieren und durch direkte Aktionen herbeiführen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Glaubende sich wie alle Menschen im Andern (anderen Personen, anderen Erfahrungen, anderen Herausforderungen, anderen Situationen) ändern. In neuen Kontexten bleiben sie also nur Glaubende, Christen, Katholiken, wenn sie sich selbst, ihre Glaubensformeln und Glaubenspraxis neu justieren, ändern, indem sie auf kulturelle Brüche mit Brüchen reagieren, um neu zu den alten Quellen zurückzufinden.

Es mag ja so gewesen sein, dass die vorkonziliare, die anti-reformatorische Gestalt der Kirche unsere Großeltern noch überzeugte. Heute darf diese alte Form jedoch nicht dazu führen, dass die Quellen zu den Ursprüngen verstopft werden. Alle Erfahrungen, die wir gemacht haben, zeigen: Jene verdrängten und abgestorbenen Traditionsteile der frühen Zeit bieten genau jenen Zugang zu den christlichen Ursprüngen, den wird brauchen.
– Es ist die Erinnerung an Jesus selbst, wie es sich aus der direkten Lektüre des Neuen Testaments ergibt.
– Es ist die Neubelebung von Gemeinden, die sich neu als Gemeinschaft erfahren, keine ehrfurchtgebietenden Väter mehr vor sich haben, sondern glaubwürdige Autoritätspersonen, die in partizipativen Strukturen arbeiten und bei deren Wahl sichergestellt ist, dass die Gemeinden repräsentiert sind.
– Es ist eine neue Glaubenssprache, die wir nicht zu erfinden brauchen, sondern im Umgang mit der Schrift lernen können.
– Es ist auch die Erinnerung an das Konzil selbst, auf dem prinzipiell alle Teilnehmer ein Rederecht hatten, auf dem Meinungsunterschiede ausgetragen werden konnten und die am Schluss doch immer zu einem erstaunlich hohen Konsens führten.

Natürlich verlangt der Weg zu dieser Ich-Identität wirksame Beziehungen, die den Faktenzwang überwinden. Die Reformer auf dem Konzil sprachen vom Geist des Konzils, den sie dem Buchstaben gegenübersetzen. Wir sehen an den Konzilstexten aber auch: Der „Buchstabe“, also Formeln an sich können die Kernfragen nicht lösen. Die Texte sind voll von schwierigsten Kompromissen, die ohne intensive Interpretation überhaupt nicht zu verstehen sind.

3.3 „Geist“ des Konzils

Dies ist der schwierigste Punkt. Er hat die katholische Kirche inzwischen in eine Dauerkrise geführt. Denn Fragen der Beziehungsidentität lassen sich nicht durch zwingende Beweise lösen. Sie sind auf freie Zustimmungen, auf Interpretationen, auf offenes Verstehen, auch auf die Bereitschaft zu einem demokratischen Respekt angewiesen. Zugleich zeigt dieser Punkt, in welche Krisensituation uns die vorhergehende Traditionsverstümmelung geführt hat. Angesichts des hellenistischen Denkmodells können wir nicht einfach sagen: ‚Heute stehen wir aber in einem neuen Kontext.’ Denn die Anhänger des hellenistischen Modells lehnen gerade die Bedeutung von Kontexten ab. Für sie ist die Hellenisierung nicht ein Prozess der Inkulturation, dem in einer neuen Epoche natürlich eine andere Inkulturation folgen muss. Für Ratzinger hat dieser Prozess den Zugang zur Welt des (überzeitlichen) Denkens überhaupt bedeutet. Angesichts der Entwicklung zu einer monopol-autokratischen Struktur behaupten die Verteidiger des alten Modells, nur dieses Monopol sei legitim. Und die Diskussion zur Rolle des Priestertums, insbesondere zum Priestertum der Frau, ist hier nicht zu wiederholen.

Meine Folgerung lautet: In dieser Situation hilft nur der Hinweis weiter: Nach den christlichen Grundsätzen, wie sie sich uns nach intensivem Studium und nach langer, langer Geduld zeigen, können wir nur sagen: Das alte, in kurzen Zügen beschriebene Modell von Glaube und Kirche hat keine bindende Autorität mehr. Zur Not sind Protest, Ungehorsam, berechnete Regelverletzung erlaubt und geboten. Dabei geht es uns nicht um unser Recht, sondern um die Zukunft unseres Glaubens, um die unbeschädigte Erinnerung an Worte, Lebenspraxis und Geschick Jesu von Nazareth. Die Grenzen des Christlichen liegen dort, wo diese Erinnerung als Modell der Nachfolge behindert und beschädigt wird.

IV. Zukunft aus Solidarität mit der Welt (Stufe 3)

Als Christen – und als Menschen überhaupt – leben wir nicht nur aus der Kontinuität von Fakten, nicht nur im Fließgleichgewicht von Beziehungen, sondern auch in und aus Gemeinschaften, die unsere Identität als integrierende Horizonte, als lebenspraktische Umgebungen, als selbstverständliche Lebenswelten bestimmen.

Welches aber ist die entscheidende Gemeinschaft eines Christen oder Katholiken? Darauf ist gar nicht so einfach zu antworten. Gewiss, Jesu Leben hat zu einer Gemeinschaft der Nachfolge geführt, die wir heute Kirche nennen und nach allgemeinem Bewusstsein steht seit dem Pfingstfest und seiner Geistaussendung die Kirche im Zentrum aller Fragen. Wir leben in der Epoche der Kirche.

4.1 Kirche versus Reich Gottes

Aber ich zögere aus mehreren Gründen.
Erstens gibt es keine Anzeichen dafür, dass Jesus eine Kirche gründen wollte. Er wollte Menschen zu Jahwe, dem Gott der Väter Israels führen.
Zweitens steht im Zentrum der jesuanischen Verkündigung keine Kirche, sondern Gottes Reich. Im Gebet Jesu heißt es nicht: „Die Kirche komme!“, sondern „Dein Reich komme!“
Drittens zeigen die Evangelien an Schlüsselstellen die Spannung zwischen Kirche und Gottes Reich. In Mt 18 zum Beispiel werden Regeln für kirchliche Verhältnisse aufgestellt. Auffälligerweise nehmen sie Bezug auf das Reich Gottes. Jesus stellt etwa ein Kind in ihre Mitte, um es zu segnen (18,3) und er wünscht allen einen Mühlstein an den Hals, die sich an ihm vergehen (18,6f.).
Viertens wollte es während der ganzen Kirchengeschichte nie überzeugend gelingen, die Grenzen des Kirche aufzuzeigen, denn die ganze Dynamik der christlichen Botschaft ist auf diese Welt gerichtet. Wahrscheinlich liegt darin der Sündenfall der katholischen Kirche, dass sie sich selbst mit dem Gottesreich verwechselt. Genau deshalb hat sie vermutlich politische Machtphantasien und Machtallüren übernommen. Wenn aber eines klar ist, dann dies: Die Kirche ist nicht Gottes Reich, sondern steht in dessen Dienst.

4.2 Wem dient die Kirche?

Die Frage lautet im Sinne der Identitätsfrage also: Womit identifiziert sich die katholische Kirche, womit sollten sich christliche Gemeinden identifizieren? Auf was für eine Zukunft hoffen sie? Über Jahrhunderte weg sah die offizielle Kirche dieses Ziel im privatisierten Heil der Menschen. Wir sollen alle in den Himmel kommen. Um dieses Zieles willen haben Menschen ungeheure Anstrengungen unternommen. Man hat die ganze Welt missioniert. Auch hier hat sich uns die biblische Botschaft mit ihren universalen, utopischen, aber durch und durch politischen Zielen erschlossen. Es geht um die Zukunft der versöhnten Menschheit. Wir sind es aber nicht, die monologisch eine neue Wahrheit zu verkünden haben. Wir haben eine Wahrheit weiter zu tragen, die in eine Praxis eingebettet ist und praktische Ziele verfolgt. Das Christentum ist von der unbeugsamen Hoffnung getragen, dass das Gottes Reich in diese Welt einbrechen kann.

Wie aber kann das geschehen? Hier sind keine sozial- oder weltethischen Anweisungen zu geben. Ich weise nur darauf hin: Einerseits kann dieses Ziel zum entschiedenen Kampf für eine erneuerte Kirche motivieren. Wir wollen eine erneuerte Kirche, weil wir fordern, dass sie sich zu dieser Aufgabe befähigt. Andererseits kann uns dieses Ziel auch zu einer großen Gelassenheit gegenüber der aktuellen Kirchenkrise befähigen. Denn es gibt wirklich Größeres und Wichtigeres als die Autorität eines Papstes oder die Heiligkeit eines Priesters.

4.3 Leidenschaft für Gottes Reich

Diese Leidenschaft für Gottes Reich müsste unsere Spiritualität zunehmend bestimmen, denn aus dieser Leidenschaft erwächst die christliche Botschaft; „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe!“ (Mk 1,15) Von dieser leidenschaftlichen Erwartung werden auch die Abendmahlsberichte belebt: „Von nun an werde ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt.“ (Lk 22,18) Und diese Leidenschaft zieht sich bis zur Geheimen Offenbarung durch: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Apg. 6,10) Sie könnte und müsste zur Leidenschaft von uns allen werden. Allein diese Leidenschaft, die den Kontrast zwischen unserer Gesellschaft und dem Reich herausarbeitet und spürt, kann die Kirche aus ihren Machtzwängen lösen, die den Klerus noch immer im Griff hält. Es ist die Gier danach, die Welt, ihr Verhalten und ihre Weltinterpretation zu bestimmen und sich zugleich ihr anzugleichen. Sie wird erst aufgelöst, wenn die große Utopie in Solidarität umschlägt. In dieser Leidenschaft werden die kirchlichen Selbstdarstellungen schrumpfen, weil sie sich als Mauer gegenüber der Welt erweisen.

4.4 Katakombenpakt

Diese Gedanken erinnern mich an ein Ereignis, das im November 1965 in Rom, wenige Tage vor Beendigung des Konzils, stattfand. In den Katakomben der Domitilla trafen sich etwa 50 vor allem lateinamerikanische Bischöfe, um miteinander einen Pakt zu schließen. Sie beschlossen, wie es heißt, „ein einfaches Leben zu führen und den Machtinsignien zu entsagen, sowie einen Pakt mit den Armen zu schließen – die sog. ‚Option für die Armen’. Sie bedeutet, die Welt mit den Augen der arm gehaltenen bzw. arm gemachten Bevölkerung zu sehen und solidarisch mit ihnen gegen die Armut handeln zu wollen.“ So haben sie einander versprochen:

Zu leben, wie die Armen, leben im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und was sich daraus ergibt:
Verzicht auf teure Amtskleidung und teure Amtsinsignien,
Verzicht auf Immobilien, Mobiliar und Bankkonten,
Verzicht auf offizielle Titel und Amtsbezeichnungen,
keine Vorzugsbehandlung von Reichen und Mächtigen,
keine Schmeicheleien für Menschen, die spenden,
Errichtung sozialer Werke, die Männer und Frauen gleichermaßen im Blick haben,
Arbeit an einer neuen gerechten Gesellschaftsordnung,
internationale Aktivitäten für eine bessere Weltordnung,
das Leben mit den „Geschwistern in Christus“ teilen: mit Priestern, Ordensleuten und Laien, „damit unser Amt ein wirklicher Dienst werde“. Sie wollen „vom Heiligen Geist inspirierte Animateure werden, statt Chefs nach der Art dieser Welt zu sein“.

Es ist ein sehr beeindruckendes Dokument, denn es zeigt, wie auch Bischöfe von der Botschaft Christi umgedreht zu einem wirklichen gemeinschaftlichen Leben bekehrt werden können. Und man spürt, wie bei solchen Tönen die gängigen Vorbehalte gegenüber den Bischöfen über Nacht verschwinden. Der Grund liegt, noch einmal darin, dass hier eine Perspektive, ein Horizont erscheint, der die engen Grenzen einer Orts- oder Landeskirche übersteigt. Dieser Horizont fehlt unseren Amtsträgern und dem Klerus in hohem Maße. Bischof Tebart van Elst (Limburg) hat neuestens beschlossen, den Gebrauch alter Titel („Prälat“, „Päpstlicher Hausprälat“, „Monsignore“, „Geistlicher Rat“ und wie sie allen heißen) wieder einzuführen.

V. Grenzkorrekturen des Katholischen

5.1 Neue Grenzverläufe unabdingbar

Seit Jahren hat die katholische Kirche in Deutschland hohe Austrittszahlen zu verzeichnen. Sie reichen von 92.766 Personen im Jahr 1992 über 84.389 im Jahr 2006 und wieder 123.681 im Jahr 2009. Aus den bekannten Gründen steigt die Austrittszahl dieses Jahr wahrscheinlich auf über 200.000. Die Anzahl der Katholiken ist 2009 auf 30,5% der deutschen Bevölkerung gesunken; zum ersten Mal sank sie unter die Grenze von 20 Mio. Für die vergangenen 20 Jahre bedeutet das einen Verlust von 2,6 Mio. Mitgliedern. Die Gründe für diese Austritte sind komplex und mit den Austritten aus den evangelischen Kirchen vergleichbar. Gerade deshalb sollten wir nicht nur auf Einzelereignisse schauen. Es reicht auch nicht, unsere Oberflächen besser zu polieren und zu meinen, mit mehr PR-Aktivitäten kämen wir voran. Es geht um tiefe innere Entfremdungen, die sich nur durch eine grundlegende innere Umorientierung bewältigen, und nicht nur durch fromme Appelle und etwas guten Willen regeln lässt. Neu scheint zu sein, dass die Zahl derjenigen wieder ansteigt, die als engagierte Katholiken in ihrer Kirche die Heimat verlieren. Eine Katastrophe wäre es, wenn ausgerechnet jetzt kritische intellektuelle Köpfe die Kirche verlassen würden.

Diese Zahlen stehen den vielen Katholikinnen und Katholiken gegenüber, die inzwischen mit religiösem Engagement, mit guten theologischen Kenntnissen und mit hohem Selbstbewusstsein der Kirche die Stange halten. Viele von ihnen bedauern, dass diese Kirche den Reichtum ihrer eigenen Tradition beschneidet und sich mit den berechtigten Anliegen der Moderne immer noch nicht versöhnt hat. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Deshalb erwarten wir, dass die Kirchenleitungen sich auf ihre großen Traditionen besinnen und – mit ihnen als Maßstab die Grenzen des Katholischen neu vermessen.

5.2. Echte Katholizität

Zu den herausragenden katholischen Merkmalen gehört, wie das Wort schon sagt, deren vorbehaltlose Internationalität. Mit etwa 1,3 Mrd. Mitgliedern ist sie ein global player, der Gesamtzahl der Muslime aller Konfessionen vergleichbar. Allerdings bleiben die inneren Grenzen des Denkes und der Lehre streng alteuropäisch (hellenistisch); sie werden von Papst Benedikt wieder stärker festgelegt als es seit langem der Fall war.

Diese Enge widerspricht den ursprünglichen Identitätsregeln der katholischen Kirche. Die Urkirche und die ersten Jahrhunderte waren ausgesprochen multikulturell; zur Pfingstgeschichte gehört die Aufzählung von 17 Nationen (Apg. 2,7-11). Der Übergang in den hellenistischen Kulturraum schloss zunächst andere Kulturräume nicht aus und kann als ein gelungenes Beispiel der Inkulturation gelten. Diese alte Tradition ist wieder aufzunehmen, so dass die katholische Kirche sich wieder zu einer dialog- und inkulturationsfreudigen, zur einer multikulturellen Gemeinschaft mit großer innerer Weite entwickeln kann.

5.3 Sinn für Feste und Feiern (Liturgie)

Die katholische Kirche war immer eine ausgesprochen feierfreudige Kirche mit reichen liturgischen Schätzen und Phantasien. Allerdings hatte sie als Kirche des Westens ihre liturgischen Grenzen schon früh auf die lateinische Sprache, die westliche Theologie und einen lateinischen Stil mit Orientierung am kaiserlichen bzw. römischen Hofzeremoniell eingeengt. Diese Engführung schloss allerdings bis hin zum Beginn der Neuzeit eine innere Vielfalt nicht aus.

Zur wirklich destruktiven Verengung geriet sie durch den Ritenstreit, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufbrach und die Inkulturation der Riten im asiatischen Raum unterband. Von einer Zwischenpause nach dem Vaticanum II abgesehen, hat sich die katholische Theologie nie mehr wirklich erholt. Diese Verengung missachtet ihre Ursprünge in der jüdischen Liturgie ebenso wie die Vielfalt der ersten Jahrhunderte. Zur katholischen Identität gehört – in einer globalen Weltsituation – eine neue Offenheit für interkulturelle Einflüsse und liturgische Riten, jedenfalls in den asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Kulturen. Die gegenwärtige Kontrolle aller liturgischen Texte auf der Welt durch Rom ist geradezu absurd.

5.4 Dreiämterstruktur

Als katholisch im weiten Sinn gelten alle Kirchen, die sich die klassische Struktur der drei Ämter (Diakon – Priester – Bischof) bewahrt haben. Diese Struktur schafft eine hohe Stabilität, Rechtssicherheit und Vergleichbarkeit mit anderen Kirchen. Doch hat sich die Tradition der katholischen Kirche an zwei Punkten verengt.

Die erste Verengung betrifft den Verlust bzw. die Missachtung der frühen partizipativen Strukturen. Die Dreiämterstruktur bleibt in der gegenwärtigen Epoche nur glaubwürdig und akzeptiert, wenn sie wieder auf demokratische Füße gestellt wird. Dazu gehört die Wahlbeteiligung von Gemeinden bei Bischöfen und Priestern sowie ein ausgeprägtes Mitspracherecht von Gemeinden bei allen relevanten Entscheidungen auf der Ebene von Gemeinden, Diözesen und übergeordneten Strukturen. Nach Hippolyt von Rom (gest. 235) gilt: „Als Bischof wird ordiniert, wer vom ganzen Volk gewählt wurde.“ Und Leo I. (400-461) betont wiederholt: „Wer allen vorstehen soll, soll von allen gewählt werden.“
Als minimale Regel galt: Gemeinde musste bei der Bischofswahl anwesend sein, Beschwerden einbringen können und nach der Wahl applaudieren (Akklamationsrecht).

Die zweite Verengung betrifft die massive Überordnung des Bischofs von Rom über seine Mitbischöfe und ein Rechtssystem, das den römischen Bischof im Sinn des Absolutismus über alle Mitbischöfe und Christen stellt. Diese Struktur kann die regelmäßigen Krisenerscheinungen nur noch erhöhen. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese eminente Vormachtstellung mit der altkirchlichen, vom Papst so geschätzten Kirchenstruktur nur noch wenig gemein hat. Nach Cyprian (gest. 258) etwa wird der Petrusdienst von einem jeden Bischof versehen.

5.5 Sakralisierung des Priesteramtes (Klerikalisierung, Zölibat und Frauenordination)

Von Seiten der Identitätsfrage ist gegen die Sakralisierung und Verfeierlichung der Liturgie in der katholischen Kirche nicht viel einzubringen. Sie setzt früh ein und ist bis hin zur Reformation nie auf nennenswerten Widerstand gestoßen.

Eine starke Verengung der Tradition trat mit der Gregorianischen Reform ein, als die Sakralität des Priesteramtes nach den Regeln des Mönchtums bemessen wurde. Das war einer der Gründe, die zur Zölibatsregelung führten und es ist – neben anderen soziologischen Einflüssen – der wichtigste Grund dafür, dass den Frauen bis heute der Zugang zum Priestertum verwehrt wird. Denen, die um die Identität der Kirche besorgt sind, sei gesagt: Die Urkirche kennt Gemeindeleiterinnen, u.a. die Apostolin Junia, und bis weit ins Hochmittelalter hinein konnten Äbtissinnen ordiniert werden, wenn sie denn 40 Jahre alt waren.

Johannes Viannay, der berühmte „Pfarrer von Ars“, sagte einmal: „Oh, wie groß ist der Priester! … Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben … Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein … Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. …“

Man möchte das als eine seltsame Priesterspiritualität aus dem 19. Jahrhundert abtun. Aber dieses Zitat findet sich in einem päpstlichen Schreiben aus dem Jahre 2009! Die Reaktion treibt seltsame Blüten.

5.6 Ökumenischer Schulterschluss

Bisweilen rühmt sich die römische Kirchenleitung, sie sei das „Vaterhaus“ aller Kirchen, die sich irgendwann von der katholischen Kirche getrennt haben. Wer aber trägt an diesen Trennungen schuld und was waren dafür die inneren Gründe?

In einem ökumenischen Zeitalter bietet diese Tatsache Anlass zur Neubestimmung der katholischen Identität. Es ist an der Zeit, dass die katholische Kirche in diesen späteren Kirchen ihre eigenen spirituellen, theologischen und kulturellen Werte wiedererkennt und anerkennt, die einst zu ihr gehörten. Sofern die katholische Kirche durch Rechthaberei und Unbarmherzigkeit Schuld auf sich geladen hat, steht es ihr gut an, tätige Reue zu üben, um Vergebung zu bitten und diese Kirchen als ihre Schwestern anzuerkennen. Wenn sie dies tut, eröffnet sich in ihr ein ungeheures Potential zu geistigen und spirituellen Weiten.

Schluss

Was sind die Grenzen kirchlicher Identität? Wir haben gesehen, dass die Identität ein komplizierter Begriff ist. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die damit verbundenen konkreten Probleme uns alle berühren. Identität, habe ich gesagt, ist keine einfache Sache; sie ist auch keine selbstverständliche Sache. Deshalb sollten wir bei allen Diskussionen um die Identität von Christsein und Kirche dies eine nicht vergessen: Zumal in einer Zeit, in der vielen ihre Orientierung abgeht, gibt es viele Menschen, die ihre Identität verloren haben. Umgekehrt: Es ist auch ein Wunder, wenn und dass wir – und sei es auch nur unvollkommen – sagen können, wer wir sind, was wir wollen und aus welchen Horizonten wir leben.

Eine Identität zu haben ist ein Geschenk. Sie kann uns eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens geben, das die Reaktionen des Misstrauens und der Kontrollzwänge überwindet. Im Letzten können wir überhaupt nichts erzwingen. Das sollte uns auch dankbar machen, allerdings mit einer Dankbarkeit erfüllen, die uns auch selbstbewusst macht. Denn eine als Geschenk erfahrene Identität macht auch frei: „Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“ (Ps 124,7)


These 1:
Die Wissenschaften nähern sich der Wirklichkeit entweder in der Es-, der Ich- oder der Wir-Perspektive. Es geht um Natur, Kultur und Gesellschaft.
Die erste liefert aus der Empirie gespeiste wertfreie, möglichst objektive Beschreibungen;
die zweite liefert aus subjektiver Erfahrung erhobene, wertende, möglichst angemessen verstehende Interpretationen,
die dritte liefert aus kumulativen Beobachtungen ermittelte, Beschreibung und Interpretation integrierende Rekonstruktionen.

These 2:
Entsprechend wird unterschieden zwischen einer objektiven Es– oder Idem-Identität [a ≡ a], einer subjektiven Ich– oder Ipse-Identität [ich bin ich] und einer kulturellen oder geschichtlichen Kollektiv– oder Con-Identität.

These 3:
Die Es-Identität sucht ihre Kriterien in möglichst messbaren, in jedem Fall verfügbaren Parametern.
Die Ich-Identität sucht sie in möglichst überzeugenden, in jedem Fall verstehbaren Eigenschaften.
Die Wir-Identität sucht sie in Vollzügen der gegenseitigen Akzeptanz einer Gemeinschaft in ihrer aktuellen oder zeitlichen Erstreckung. Bei der zeitlichen Erstreckung sprechen wir von Kontinuität.

These 4:
Die Ich-Identität schließt Bezüge zur Es-Identität, die Wir-Identität bzw. Kontinuität schließt Bezüge zur Ich- und Es-Identität mit ein. Deshalb besteht die Gefahr, bei der Ich-Identität auf die Es-Identität, bei der Wir-Identität auf Ich- und Es-Identität zurückzufallen. Bei jedem Rückfall geht es um eine defiziente Identitätsdeutung bzw. Identitätsrekonstruktion, die die Komplexität der Fragestellung übersieht oder verdrängt.

These 5:
Wegen dieser Gefahren sind Identitätsstrategien immer kritisch zu hinterfragen. Individuen wird oft nicht klargemacht:
Ihre Identität schließt immer organische und mentale Veränderungen nach innen und wechselnde Bezüge nach außen ein. Die Identität einer Person setzt also einen ständigen Wandel voraus.
Ihre Identität (als Identität mit sich selbst) enthält zudem ein reflexives Moment. Sie müssen sich in Freiheit zu sich selbst verhalten. Selbstidentität beinhaltet eine Selbstakzeptanz.
Dieses reflexive Moment prägt die kollektive Identität mit; durch sie werden Es-Identität und Ich-Identität massiv relativiert.

These 6:
Der römische Ruf nach Identität legt sich keine Rechenschaft von der Komplexität dieser Verhältnisse ab.

These 7:
Suggeriert wird aber eine Es-Identität, die an möglichst vielen verfügbaren Parametern messbar ist. Beispiele:
– ein von Anfang identischer, formelgeeichter Glaube,
– eine von Anfang an klare und unverrückbare Sakraments- und Ämterstruktur,
– ein von Anfang an funktionierendes, mit Vollmachten ausgestattetes Papsttum,
– ein von Anfang an klares, im Abendmahlssaal legitimiertes Verständnis von Eucharistie,
– eine von Anfang an geregeltes Zweiteilung in Kleriker und Laien mit dem Ausschluss von Frauen aus dem Priesteramt.

These 8:
Suggeriert wird ferner eine Ich-Identität, die neben den verfügbaren Parametern das individuelle Verstehen zum Maß der Kollektiv-Identität macht. Vorausgesetzt werden z.B.
– der offizielle Ist-Stand als der Stand der kollektiven Identität,
– die offizielle Interpretation des Vaticanum II als Erweis kollektiver Identität,
– kulturelle und politische Veränderungen als unerheblich für kollektive Burteilungen.

These 9:
Aus den vielfältigen verfügbaren Anteilen einer jeden Identität folgt in Verbindung mit den reflexiven Momenten der individuellen und der kollektiven dies: Es gibt auf keiner einzigen Identitätsebene Eindeutigkeit, sondern immer nur Auswahl und Wertung. Für das Problem katholischer Identität heißt das: die kollektiven und die historischen identitätsbildenden Traditionen bestehen nicht an sich, sondern werden gemacht. An ihren Grundlagen stehen Wertungen und Interessen. Deshalb sind sie kritisch zu beurteilen.

These 10:
Identität erfordert ein Kriterium. In ihr vermischen sich immer Gegebenes und Erarbeitetes. So bleiben Ich- und Wir-Identität bleiben immer in Spannung.


Zwei Glückwünsche

Liebe Freundinnen und Freunde der KirchenVolksBewegung!
Gerne wäre ich wie beim Start der KirchenVolksBewegung in Köln, so auch jetzt nach fünfzehn Jahren auf der Jubiläumsschiffstour dabeigewesen. Wir haben ja allen Grund zum Feiern: Während die Bischöfe sich in den vergangenen Jahren immer mehr vom Volk abhoben und, die Augen starr auf die Peterskuppel gerichtet, auf Wolken der Illusion schweben, sind wir der Erde treu geblieben, haben die Anliegen des Kirchenvolkes wachgehalten und sehen uns heute auf unserem Kurs vielfach bestätigt.
Oft schien es ja in den vergangenen Jahren, wir Reformer seien angesichts der hierarchischen Macht ohne Chancen. Aber nun hat gerade der Restaurationskurs der römischen Hierarchie das Volk aufgerüttelt, das sich nicht in eine mittelalterliche-barocke Kirche, Liturgie und Theologie zurückzwingen lässt. Die Krise der Kirche hat bei allem ungeheuren Schaden auch positive Folgen.

  • Die Aufnahme von vier konzilsfeindlichen Traditionalistenbischöfen hat dem Zweiten Vatikanum neue Aufmerksamkeit beschert.
  • Die unter den beiden Restaurationspäpsten um sich greifende Vertuschung zahlloser Fälle von sexuellem Missbrauch durch Kleriker hat das Versagen des absolutistischen römischen Systems aufgedeckt.
  • Die Ernennung zahlreicher konservativer, ja reaktionärer Bischöfe hat in der Bevölkerung die Frage nach Kriterien und Modus der Auswahl akut werden lassen.

Ja, wenn ich mich nicht täusche, hat sich an der Basis der Kirche auch unter konservativen Katholiken eine Trendwende vollzogen. Die Kritik am restaurativen kirchenpolitischen Kurs findet immer mehr Zustimmung. Was wir schon so lange sagen, ist weithin Konsens geworden: So kann es nicht weitergehen mit unserer Kirche! Die Menschen haben es satt, von weltfremden, machtverliebten, allzu römisch denkenden Hierarchen gegängelt zu werden. Wir wollen die von Rom verhinderten Reformen, wie sie schon auf der Würzburger Synode (1971-75) gefordert wurden, endlich durchführen. Wir wollen in der Ökumene nicht weiter nur fromme Worte hören, sondern konkrete Schritte tun, besonders im Hinblick auf die Abendmahlsgemeinschaft.

Die Anliegen der KirchenVolksBewegung finden heute mehr Anklang denn je. Und so lasst uns durchhalten, weiterhin deutlich reden, die Reformen, die von oben verhindert werden, von unten in Gang setzen. Denn: »Wir sind das Volk«. Und vielen ist bewusst geworden: »Wir sind die Kirche!«, der die leider oft blinden und tauben Führer zu dienen haben.

Vertrauen wünsche ich Ihnen, liebe Freundinnen und Freunde, Zivilcourage, Durchhaltevermögen. Freie Fahrt also gegen den Strom – von Rom. Ohne Angst vorwärts,
mit viel Freude und Hoffnung!                                            Hans Küng

* * *

Liebe Freundinnen und Freunde von Wir sind Kirche!
Ich freue mich mit Euch über diesen Geburtstag, der auch meiner ist, denn ich bin von Anfang an mit Euch verbunden. 15 Jahre sind es jetzt also schon, dass Ihr den Widerstand begonnen habt, indem Ihr „gegen den Strom schwimmt“.
Widerstehen heißt aber auch etwas schaffen. Ihr habt den Mut gehabt, mit Tiefgründigkeit das Verhältnis der katholischen Kirche zur modernen Gesellschaft aufzuzeigen. Ihr habt es verstanden, auf ihre Moral und auf schwere strittige Sachen hinzuweisen und einen offenen und realistischen Dialog vorzuschlagen. Ihr habt gezeigt, dass der männliche Priesterstatus überholt ist und dass Frauen das Recht haben auf Zugang zu allen Verantwortungen in der Kirche. Das ist eine prophetische Aufgabe. Danke und Bravo für Eure Existenz und Euer Durchhalten. Der Morgen ist angebrochen. Eine andere Kirche ist möglich. Gottes Atem begleitet Euch. Möge es ein schönes Fest werden.
Mit brüderlichen Grüßen
Jacques Gaillot Bischof von Partenia

(Vortrag am 26.09.2010)