Glaube zwischen Schrecken und Faszination

Zur Rolle von Leidenschaft und Gewalt in den Religionen

I. Gewalt im Vormarsch

Auf unserer Welt, in den politischen Auseinandersetzungen und kulturellen Entwicklungen, selbst im religiösen Denken ist Gewalt im Vormarsch. Vorbei sind die Hoffnungen, die uns beim Zusammenbruch der kommunistischen Systeme begleitet haben. Wir dachten, jetzt sei die Ära der Konflikte endlich zu Ende gegangen. 1992 schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler F. Fukuyama ein Buch vom Ende der Geschichte, in dem er die Epoche des Weltfriedens ankündigte. Bald zeigte sich, dass die früheren Stellvertreterkriege mehr Gewicht erhielten statt auszutrocknen. Mehr noch, es wuchs eine neue Unkultur der Auseinandersetzungen heran, die von einer neuen Rhetorik von Umbruch, Revolution und Rassismus begleitet wurde. Wir sind immer noch glücklich darüber, dass es in Westeuropa seit 68 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat. Zugleich wächst die Besorgnis, mit dieser Insel des Friedens könne es bald aus sein. Ich greife als Beispiel nur einige Entwicklungen heraus, die unter dem Stichwort „islamistischer Fundamentalismus“ täglich von den Medien besprochen werden. Ich weise jetzt schon darauf hin, dass dieses Schlagwort ungerecht ist, denn (1) nicht jeder Fundamentalismus übt physische Gewalt aus und (2) die übergroße Mehrheit der Muslime sieht Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als höchste Tugend; sie lehnt Gewalt prinzipiell ab. Dennoch geschieht heute im Namen des Islam massive Gewalt, dies in Europa, Asien und Afrika. Was ist passiert?

1.1  Dschihadismus im Aufwind

  • Stichworte (vgl. PP-Präsentation):
    – Islam – eine Welt in Unruhe
    – … eine aufstrebende Weltmacht
    – Wahhabiten, Salafisten, Al-Qaida
    – Muslimbrüder, Taliban, iranische Schiiten
    – Der Zorn ganzer Länder
    – Ist der Westen naiv?

Auch der Begriff „Dschihadismus“ ist zum Schlagwort geworden und meint die Bewegung, die Kampfbereitschaft propagiert, also die Bereitschaft von Muslimen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Man kann nicht leugnen: Im Islam hat der Begriff „dschihad“ oft eine vergeistigte Behauptung. Dann ist ein innerer Kampf um Gottes Sache gemeint, so wie der Epheserbrief (6, 14-18) von der Waffenrüstung Gottes im Kampf gegen den Teufel spricht. Man muss aber auch zugeben: Es gibt eine wachsende Gewaltbereitschaft vieler muslimischer Gruppen. Johannes Rösler spricht von der „(un)heimlichen Weltmacht Radikal-Islam“ (CIG 9/2013, 91f). Warum kann sie für ihren militärischen und terroristischen Kampf den Namen Allahs in Anspruch nehmen, warum übersieht sie die friedlichen Grundlagen des Islam?

Wir müssen sehen, dass die ganze islamische Welt in Unruhe, teilweise in Aufruhr ist, wie der Arabische Frühling zeigt. Die Ereignisse in Tunesien, Libyen und Ägypten, im Jemen und schließlich in Syrien haben noch kaum zum Erfolg geführt. Die große Ohnmacht der bisherigen Revolutions- und Reformversuche müssen wegen der paradoxen Situation zur Weißglut führen, denn die Golfstaaten, ebenfalls muslimisch, haben in den vergangenen 50 Jahren unglaubliche Geldreserven angehäuft; sie sind zu fiskalischen Weltmächten geworden. Warum gelingt es nicht, daraus sozial-, wirtschafts- und weltpolitisch Kapitel zu schlagen? Projizieren die kampfbereiten Muslime ihre Probleme nicht nach außen? Vertreten sie wirklich muslimische Interessen zur Reinhaltung ihrer Religion? Wahren sie sich gegen den westlichen Einfluss in ihren angestammten Ländern oder streben sie eine maßgebliche Rolle in der Weltpolitik an, betreiben sie also simple Machtpolitik?

An verschiedenen gewaltbereiten Gruppierungen, lassen sich die verschiedenen Motivationen illustrieren.

  • Gruppe und Lehre der Wahhabiten (Anhänger der „Wahhabiya“) sind schon zwischen 1730 und 1740 im heutigen Saudi-Arabien entstanden. Ihre Hauptintention war und ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Islam. Theologien, Sufismus und alle anderen Weiterentwicklungen werden abgelehnt. Sie denken puristisch und absolut ungeschichtlich; sie beanspruchen, auf den reinen Buchstaben des Koran zurückzugehen, den sie bis heute mit Härte verteidigen (wir kennen vergleichbare Tendenz in der Geschichte des Christentums). Den größten Teil ihrer Auseinandersetzung haben sie nicht mit Angehörigen anderer Religionen, sondern mit Muslimen (insbesondere Sunniten) geführt, die lange als Häretiker galten, bisweilen nicht einmal Mekka besuchen durften. Der Wahhabismus ist ernst zu nehmen, weil er die offizielle Staatsdoktrin Saudi-Arabiens bildet und seine Ziele, wo er auch will, mit Kapital durchsetzen kann. Dass diese alte Doktrin neue Aggressivität entfaltet, sobald sie mit andersgläubigen Kulturen in Berührung kommt, bedarf keiner Begründung.
  • Näher an die Gegenwart führen die Salafisten, obwohl auch sie (oft verschwiegen) ihre Wurzeln im Wahhabismus haben und vergleichbare Ideologien vertreten. Sie verstehen sich als die Lehre der (Generation der) „Alt vorderen“, die ca. 850 endete, und streben ebenfalls den reinen ursprünglichen Islam an. Interessant ist diese Bewegung, weil sie sich im 19. Jahrhundert am Problem des Kolonialismus und der beginnenden Moderne entzündet. Nicht nur die Reinerhaltung des Islam, sondern dessen innere und äußere Bedrohung durch neue geistige Entwicklungen spielt eine große Rolle. Einen starken Auftrieb erhielt diese Bewegung (die inzwischen sehr vielfältig wurde) durch den arabisch-israelischen Krieg von 1967, der den arabischen Ländern einen schweren Schock versetzte und die alte Idee des Panislamismus belebt hat. Dass die Bewegung, inzwischen äußert gewalttätig geworden, seit kürzester Zeit in Deutschland starken Auftrieb erhält, ist bekannt.
  • Al Qaida ist seit dem 11. September 2001 bekannt. Sie ist das Beispiel für Gruppen, in denen sich Gewalt und Terror verselbständigt haben. Der Glaube des Islam ist zu einer Folie verdünnt, die je nach Bedürfnis archaische Gefühle der Identität und Rache mobilisiert. Das global verbreitete und global agierende Netzwerk deutet eher auf große Logistikleistungen als auf wirklich religiöse Leidenschaft hin (was man vom Wahhabismus und Salafismus nicht sagen kann). Es wäre ungerecht, die Qaida zum Musterbeispiel muslimischer Gewaltbereitschaft hochzustilisieren. Ernst zu nehmen ist die Absicht dieser Terrororganisation (als solche von der UNO eingestuft), weltweit systematische Aktionszentren zu errichten. Das letzte Beispiel ist der Versuch, den Norden Malis zu ihrer Einflusssphäre zu machen. Bekannt sind auch die Schulungscamps der Qaida, in denen Nachwuchs aus der ganzen Welt ausgebildet wird. Dass die Macht der Qaida durch den Tod von Bin Laden gebrochen sei, entspringt wohl eher westlichem Wunschdenken als einer realistischen Wahrnehmung. Damit sei nicht der Widerstand unterschätzt, dem die Qaida inzwischen aus den Reihen des Islam ausgesetzt ist.

Die genannten drei Gruppierungen spielen im Westen eine besondere Rolle. Sie zeigen, dass sich vor allem der arabische Islam mit dem Westen auseinandersetzt. Genannt seien nur die Gruppierungen der Moslimbrüder, der Taliban und der iranische Schiitismus.

  • Wie weit die Gewaltbereitschaft der Moslimbrüder (einer ägyptischen Organisation) geht, ist umstritten. Richtig verstehen kann sie wohl nur, wer die Geschichte Ägyptens mit seinen (quasi)-diktatorischen Regimen mit bedenkt.
  • Von den Taliban wissen wir noch weniger. Ihre Bewegung kann nur aus den spezifischen Bedingungen Afghanistans und aus deren unguten Erfahrungen mit Besatzungsmächten erklärt werden. Natürlich zeigen sie sich als eine kleine, herrschsüchtige, von allen Clanvorstellungen des Landes durchsetzte Bewegung (im Grunde nur eine Miliz), die in ganz Afghanistan eine archaisch-muslimische Schreckensherrschaft errichtete. Diese Hinweise reichen als Warnung davor, diese Bewegung ausschließlich dem muslimischen Geist in die Schuhe zu schieben.
  • Die Geschichte des iranischen Schiitismus ist wohl eher bekannt. Seit der Rückkehr des Ayatolla Chomeini in den Iran (Februar 1979) hat sich ein theokratisches Regime etabliert. Seitdem lebt es ganz aus der religiösen und zugleich politischen Abwehr des „Westens“, der als christlich, kapitalistisch und machtbesessen in einem gilt. Auch hier zeigt sich – selbst für die Bevölkerung des Iran – kein reiner Islam, wenn auch schiitischer Prägung. Selbst seine Feindschaft gegen Israel wird (trotz aller Kritik an der Staatspolitik Israels) nicht von allen geteilt.

Dieser Wirrwarr von unterschiedlichen Motiven und Zielen, die teils nach außen, teils nach innen gerichtete Ziele verfolgen, führen natürlich zu Fragen: Was also eint diese unterschiedlichen Bewegungen, warum sind sie alle im Aufwind, und wie kommt dieser Schwarmeffekt zustande, dem sich der Westen ausgesetzt fühlt? Ich kann hier nur eine globale Antwort geben, die man ihrerseits differenzieren müsste: In verschiedener Intensität lebt in all diesen Bewegungen der Zorn vieler muslimischer (insbesondere arabischer) Länder gegen den „Westen“, d.h. gegen Westeuropa und die USA, also gegen einen Machtraum, der Jahrzehnte lang durch die NATO zusammengehalten war.

Dieser Zorn hat zwei Wurzeln: Die kollektive Erinnerung an Jahrhunderte der Kolonialisierung, also der politischen und ökonomischen Abhängigkeit, ferner die gegenwärtige Abhängigkeit, die sich –trotz Entkolonialisierung und trotz freundlicher Worte – im Grunde nicht geändert hat. Dieses Gefühl der ständigen Demütigung und erzwungenen Rückständigkeit ist geradezu zu einem Teil muslimischer Identität geworden und bestimmt natürlich den Grundtenor, die Gewaltneigung (aus Gründen der Notwehr) in offizieller Politik und alltäglichem Verhalten. Man mag sich darüber streiten, ob der Islam zur Mobilisierung solcher Gefühle missbraucht wird oder nicht. Tatsache ist, dass solche Gefühle und Stimmungen vorhanden sind und auch die religiösen Argumentationen prägen. Dieser latente, allgegenwärtige Zorn ist täglich zu spüren und kann junge Menschen vor allem dann erfassen, wenn sie für ihr Leben keine Zukunft sehen. Anders wäre die Bewegung der Selbstmordattentate kaum verständlich.

Müssen wir, Angehörige der westlichen Kultur, die sich gerne (doch wohl aus Überzeugung) christlich nennt, daraus Folgerungen ziehen? Sind wir naiv, wenn wir die aktuellen Bedrohungen relativieren? Ich bin noch immer der Meinung, dass in solchen Gruppen die Gefühle des Bedrohtseins die Gelüste einer Weltmacht im Namen Allahs immer noch überwiegen. Aber wir müssen lernen, die Spannung einzuüben und auszuhalten zwischen einem nüchternen Realismus (Bedrohungen auch durch Prävention ernst nehmen) und einer bleibenden Hochachtung gegenüber dem Islam. Viele, die den Islam hochschätzen (und immer wieder verteidigen, was ich auch tue) sind nur dann naiv, wenn sie meinen, die aktuellen Gefahren würden einfach wieder verschwinden, so wie sie einfach gekommen sind. Nein, viele Bewegungen, aggressive Mechanismen und Rechtfertigungen haben sich verselbständigt und vom Islam als der idealen Religionsform losgekoppelt. Ihnen ist in aller Klarheit zu widerstehen. Zugleich müssen wir es lernen, die beschriebenen Grundgefühle ernst zu nehmen, die begangenen Fehler des Westens zuzugeben und die Verbesserung des politischen Klimas voranzutreiben (wie es Barak Obama in seiner großen Rede in Kairo am 4. Juni 2009 mit viel Elan, wenn auch erfolglos, versuchte). Wenn es langfristig nicht gelingt, diese Geschichte des Unrechts aufzuarbeiten, werden uns die Spannungen noch lange begleiten.

Genau deshalb müssen wir den Islam in seinen Kernintentionen als einen der großen Weltreligionen ernst nehmen, verstehen lernen und respektieren. Ohne Begegnung mit den anderen Religionen wird uns kein Weltfriede gelingen. Dazu gehört allerdings, dass wir uns genauso kritisch mit dem Christentum beschäftigen, das seine eigenen Gewaltneigungen in sich trägt. Die größte Gefahr der Gegenwart liegt m.E. nicht einfach im Islam, sondern in vergleichbaren Entwicklungen, die sich im Christentum – wenn auch ohne physische Gewalt – feststellen lassen. Sie alle lassen sich im Begriff „Fundamentalismus“ zusammenfassen, der in erster Linie eine religiöse Erscheinung ist und sich immer an der Auseinandersetzung mit der Moderne entzündet, also mit Phänomenen des Fortschritts, der Verwissenschaftlichung und Technisierung, der wachsenden Vielfalt auf gesellschaftlichem, kulturellem und religiösem Gebiet, schließlich mit dem wachsenden Stellenwert, den Menschenwürde und Menschenrechte einnehmen.

2.2  Fundamentalismus erstarkt

  • Stichworte:
    – Politischer Glaube in den USA
    – Pfingstbewegungen u.a. in Lateinamerika
    – Rechte Gruppierungen in katholischer Kirche
    – Gesprächsverweigerung, Neigung zu Gewalt

Das große Stichwort, das heute viele Veröffentlichungen, viele Politik-, Kultur- und Religionswissenschaftler beherrscht, lautet Fundamentalismus. Fundamentalismus ist ein weltweites Phänomen und es ist, als greife er seit dem Jahrhundertbeginn wie eine Seuche um sich, so als gebe es ein weltweites Reservoir an gewaltaffiner Energie, das sich stetig füllt und die verschiedensten Bewegungen und Strömungen mit seinem destruktiven Gift versorgt.

Begriff und Bewegung des Fundamentalismus haben christliche Wurzeln (1910 im bible belt, den Südstaaten der USA). Er entstand als Reaktion auf moderne Schriftinterpretationen und leitete damit eine grundsätzliche Kritik an der Moderne mit ihrem Subjektivismus und wachsendem Unglauben ein. In vielem ist dieser biblisch-protestantische Fundamentalismus mit dem Antimodernismus der römisch-katholischen Kirche vergleichbar. An sich hat dieser Fundamentalismus nichts mit Gewalt zu tun; sein Kern lautet vielmehr: Abbruch des Gesprächs mit der Moderne und den Modernen (gleich ob innerhalb oder außerhalb der Kirche); wir haben unsere unfehlbaren Fundamente, die nicht zur Diskussion stehen. Man muss in Psychologie oder Sozialwissenschaften nicht sehr bewandert sein, um sofort zu erkennen: aus einer solchen Haltung der Gesprächsverweigerung müssen – in welcher Form auch immer – Abwehr und Verurteilung, Intoleranz und Exkommunikation, in jedem Fall eine Haltung entstehen, die seelischer, institutioneller und politischer Gewalt immer näher kommt. Grenzüberschreitung zu ausdrücklicher Gewalt ist oft nur eine Frage der Zeit und der Emotionen. Dieser Fundamentalismus erstarkt auch im christlichen Raum.

  • Nennen wir den politisch aktiven Glauben der Evangelikalen in den USA, die nicht nur den Darwinismus als Lehrfach verbieten wollen, sondern gewaltsam gegen Ärzte vorgehen, die Abtreibungen vornehmen und im Rahmen der Republikaner nicht unbedingt die klügste Politik betreiben. In europäischer Wahrnehmung haben sie das politische Klima vergiftet und sich auf destruktive Positionen zurückgezogen. Diesen Anschauungsunterricht des politisch gewordenen Bibelfundamentalismus können wir kontinuierlich in den Medien verfolgen.
  • Nehmen wir die Pfingstbewegung, die sich sehr vielfältig mit institutionskritischem Grundtenor in vielen Variationen auf der ganzen Welt ausbreitet. Ich greife Lateinamerika heraus, weil sich hier eine interessante Entwicklung abzeichnet: Dieser bis ins Mark katholische Subkontinent gibt immer mehr an diese charismatischen Bewegungen ab. Zu Recht, sagen viele, denn dort finden sie viel mehr persönliche Frömmigkeit als im katholischen Mutterhaus. Aber, so die Gegenstimme, in der Regel entwickeln sich politisch-konservative Gruppen, die in ihren Gottesdiensten kein politisches Engagement mehr einüben, sondern die konservativen Gesellschaftsmodelle akzeptieren, die ihnen wohl etablierte, reiche Kirchenführer vorexerzieren. Diese Gruppen werden oft mit viel Kapital aus den USA gesteuert. Auch dies ist eine bedenkliche Entwicklung ohne Widerstand gegen autoritäre Regime, die sich in Lateinamerika mit schöner Regelmäßigkeit etablieren.
  • Über fundamentalistische Gruppierungen in der katholischen Kirche (Opus Dei, Legionäre Christi, Communione e Liberazione, Pius- und Petrusbrüder) muss ich hier nicht viel berichten, denn die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie weit ihre Umtriebe gediehen sind. Zwar erwarten wir von Papst Franziskus die Entschärfung unserer polarisierten Situation. Doch wir sollten den innerkirchlichen und finanziellen Unterbau dieser Gruppen nicht unterschätzen. Auch hier hat die Tendenz zur Intoleranz, zur Diskriminierung und Marginalisierung Andersdenkender massiv zugenommen. Es sind dieselben Gruppierungen, die Judentum und Islam noch immer mit großen Vorbehalten begegnen und östliche Religionen ohnehin als pures Heidentum betrachten. Wir sollten in der gegenwärtigen Lage auch Benedikt XVI. nicht als reaktionären Buhmann in die Ecke stellen, denn sehr, sehr viele fühlten sich von ihm und seiner Linie repräsentiert.

Kurzum, vor Jahren dachte ich zusammen mit vielen Anderen, diese ängstliche Rückwendung in die Vergangenheit, dieses Hängen am Gesetz, diese Gesprächsverweigerung und gegenseitige Diskriminierung, auch wenn sie die Schwelle zu offener Gewalt nicht überschritt, würde abnehmen, weil wir uns alle an die Moderne gewöhnen; schließlich leben wir alle in ihr. Gerade der strengste Fundamentalismus amerikanischer Provenienz bedient sich modernster Technik, der raffiniertesten Medien. Man denke nur an die Crystal Cathedral in Garden Grove (Kalifornien), deren Hauptprediger wöchentlich viele Millionen von Gläubigen ansprach. Stattdessen haben – in allen Konfessionen und Kirchen – die Verhärtungen, Polarisierungen und Gesprächsverweigerungen in beängstigender Weise zugenommen. Offensichtlich sind die Gefühle wachsender Verunsicherung und Orientierungslosigkeit größer als die Erfahrungen eines gegenseitigen Vertrauens. Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber und ist es noch heute, und der Fundamentalismus in all seinen Schattierungen entpuppt sich immer mehr als Panikreaktion in den religiösen, moralischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die uns entgleiten. Warum aber wirken sich diese gesellschaftlichen Entwicklungen so massiv im Handeln und Selbstverständnis der Religionen (Christentum, Judentum, Islam, aber auch Hinduismus und Buddhismus) aus? Die Antwort ist einfach: Religionen sind, auch wenn sie es ständig verdrängen, zutiefst in gesellschaftliche und politische Modelle und Erwartungen verstrickt. Sie lassen sich nicht voneinander trennen.

1.3  Kampf der Kulturen

  • Stichworte:
    – Szenario des 21. Jahrhunderts
    – Politische Rolle der Religionen
    – Nicht mehr beherrschbar

Gehen wir einen Schritt weiter. Wir müssen endlich von einem typisch modernen Missverständnis über die Religionen abrücken. „Religion ist Privatsache“, so lautete die generelle Losung, die das Christentum in der Tat aus dem öffentlichen Diskurs vertrieben hat. Aber diese Losung irrt. Seit Menschengedenken waren (und sind) die Religionen nicht nur die großen entscheidenden Moralagenturen der Welt, sondern auch die politisch wirksamsten Gestalterinnen von Gesellschaft, Kultur und der individuellen Haltung von Menschen. Politische Änderungen haben also ihre Rückwirkungen auf Religionen, und Religionen können ihrerseits tiefgehende politische Umformungen in die Wege leiten.

Der amerikanische Politologe S. M. Huntington hat daraus seine Konsequenzen gezogen, als er 1996 dem 21. Jahrhundert einen machtvollen und gewalttätigen Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations) vorhersagte. Die großen ideologischen Konflikte des 20. Jahrhunderts, so seine These, sind überwunden. Jetzt werden noch schwerere Konflikt an den Bruchlinien der Kulturen entstehen. Die Grenzen zwischen den Kulturen werden die Fronten der Zukunft sein. Dabei unterscheidet er sieben Kulturkreise, die sich in dieses Spiel einbringen werden: die chinesische, japanische, hinduistische, islamische, westliche, lateinamerikanische und afrikanische. Ob diese Einteilung rundum stimmig ist, ist hier nicht zu besprechen. Das Modell insgesamt ist aber ernst zu nehmen, weil alle Globalisierungsprozesse ihre eigenen Rückschläge provozieren; Fachleute nennen dies geistreich „Glokalisierung“. Und schrecklich wäre das Szenario, demzufolge ausgerechnet die Weltreligionen zu den Ursachen katastrophaler Weltkriege werden, statt in Kriegen die großen Friedensstifterinnen zu sein.

Wir müssen uns also aus gesellschaftlicher Verantwortung für das kommende Jahrhundert fragen, welches die politische Rolle unserer Religionen ist und warum sie so gefährlich sein kann. Dies ergibt sich aus einer einfachen Tatsache: Religionen gehören gerade nicht zum theoretischen Überbau unserer Gesellschaften; vielmehr sind sie in den ursprünglichsten Emotionen, Ängsten und Erwartungen der Menschen verankert. Was wir als Religion erkennen, macht – einem Eisberg vergleichbar – nur 10% des Gesamtsystems aus. Politische, moralische und gesellschaftliche Entscheidungen, die wir – immer auch aus religiösen Motivationen – im Unbewussten treffen, gehen dem kleinen sichtbaren und bewussten Religionssektor immer schon voraus. Religion konstituiert sich – lange vor Doktrinen, fein austarierten Liturgien oder ethischen Systemen – in dem Schmelztiegel aller Einflüsse, die meine Persönlichkeit und meine Gesellschaft bilden. Deshalb sind Religionen immer viel komplexer und weit schwerer zu steuern, als wir uns einbilden. Es gilt, sie ständig kritisch zu begleiten, auf ihre Motive und Wirkungen abzuklopfen. Vor allem ist auf die Frage zu achten, ob sie ihren ursprünglichen Zielen noch treu ist. Andernfalls besteht Gefahr, dass ihre Eigendynamik aus dem Ruder läuft. Dann wäre sie nicht mehr steuerbar. Das war z. B. der Fall,
– als sich das mittelalterliche Christentum zu den Gräueln der Kreuzzüge, später der Hexenverbrennungen verleiten ließ;
– als es unkritisch den Handels- und Machtinteressen der Kolonialherren diente oder
– als 1914 einer der anerkanntesten Theologen Deutschlands für Wilhelm II. den offiziellen Kriegsaufruf verfasste, in dem es hieß: „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit unseren Vätern war.“

Solche Erinnerungen an die Vergangenheit desavouieren das Christentum, weil es im Namen der christlichen Botschaft Gewalt akzeptiert oder gar provoziert hat. Möglicherweise war es seit seinem Status als Staatsreligion für die Gewaltproblematik blind, weil es meinte, es müsse die staatliche Gewalt im Namen der öffentlichen Ordnung legitimieren. Es kommt jetzt darauf an, dass es sich endlich seiner öffentlichen Verantwortung nicht im Namen einer Staatsordnung, sondern im Namen der Menschen bewusst wird und seinen strengen Friedensauftrag wahrnimmt. Immerhin ist die Goldene Regel die ethische Kernaussage aller Weltreligionen. In ihr geht es, modern ausgedrückt, um vorbehaltlose Humanität. Haben die Religionen dieses Kernthema ihrer Sendung überhaupt schon begriffen?

1.4  EGO – Das Spiel des Lebens

  • Stichworte:
    Mentalität des Kalten Krieges
    – Religion der brutalen Konkurrenz
    – Übertragen in Politik und Gesellschaft – politische Katastrophe?

Wiederum soll ein Beispiel zeigen, wie sich Religionen vor diesem Hintergrund orientieren und wie sie sich in den Schmelztiegeln ihrer Entstehung ausrichten müssen. Mit welchen Problemen müssen sie sich beschäftigen, wenn sie dem Wohl der Menschen dienen will? Ich beziehe mich auf Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ. In dem kürzlich erschienenen, aufsehenerregenden Buch (EGO. Das Spiel des Lebens [2013]) analysiert er die mentalen Triebkräfte der gegenwärtigen Gesellschaft in Deutschland. Von welcher Dynamik wird sie angetrieben? Schirrmachers Botschaft lautet: Politisch halten wir die Epoche des Kalten Krieges seit 1989 für überwunden. Das mag richtig sein. Aber die Mentalität des Kalten Krieges, also die damals gnadenlose Konkurrenz mit Wettrüsten und Szenarien des Schreckens, NATO hier und Warschauer Pakt dort, diese gegenseitige Beobachtung und Bekämpfung auf Leben und Tod, die Westen und Osten vierzig Jahre in Atem hielt, ist nicht verschwunden, sondern hat die Mentalität der Finanzwirtschaft und Ökonomie mehr infiziert, als uns lieb sein kann. Solche teuflischen Prägungen, die in eine Gesellschaft eingegangen sind, lassen sich nicht einfach abschütteln, sondern zeugen sich fort, agieren sich weiter aus.

Es war die (Mathematikern bekannte) Spieltheorie, die dafür sorgte, dass die Prinzipien des Rüstungswettlaufs auf die Programme der Börsenrechner übertragen wurden. Dabei geht es um ein Spiel, das von moralischen Werten absieht und die unendliche Komplexität des menschlichen Verhaltens auf die Alternative von Gewinnen und Verlieren reduziert. Die Schwäche des Andern wird ausspioniert, gegebenenfalls bis zu dessen Vernichtung ausgenützt. Siegen wird nur, wer weder Schwäche noch das geringste Fehlverhalten zeigt. Umgekehrt gesagt: Nur die Angst macht rational. Das ist der Spitzensatz, der eine jede Humanität zerstört und gegen den eine jede Religion der Liebe und des Vertrauens aufschreien muss.

Aber jetzt bestimmt dieser Satz – so Schirrmacher – zunehmend die Mentalität der Politik. Sie ist dabei, zur Religion der brutalen Konkurrenz auszuarten und Tendenzen werden deutlich. Gesagt wird nicht mehr unbedingt, was wahr ist, sondern was Erfolg verspricht; man ist der- oder diejenige, als die oder der man erscheint. Unter dem Druck des konkurrierenden „Informationskapitalismus“ mit seinen skandalisierenden Auswirkungen (nur die sensationellste Meldung übertrumpft die anderen) wird das öffentliche Bewusstsein überrollt. Zwar empfinden wir diesen Umschwung, und wer beklagt nicht den Verlust von Normen und Werten. Aber diese Sicht des Normverlustes ist zu oberflächlich, zu naiv. Denn inzwischen stehen wir keinem Wertemangel mehr gegenüber, sondern befinden uns in einem massiven Wertestreit. Faktisch werden wir von tödlichen Gegenwerten, also von Un-werten bestimmt, vorangetrieben von einer mächtigen Maschinerie der Medienwelt mit ihrer aggressiven Informationspolitik. Schirrmacher schreibt: „Es wächst ein neues soziales Monster heran, das aus Egoismus, Misstrauen und Angst zusammengesetzt ist und gar nicht anders kann, als im anderen immer das Schlechteste zu vermuten. Und nichts, was man sagt, bedeutet noch, was es heißt.“

Nehmen wir an, dass Huntington mit seiner Angst vor einem Kampf globaler Kulturen recht hat und Schirrmachers Hinweise zur gesellschaftlichen Grunddynamik stimmen, sind wir einer humanen und politischen Katastrophe ausgeliefert. Wer kann gegensteuern, wenn Widerstand überhaupt noch möglich ist? Wer kann es mit der Mentalität ganzer Kulturen und globaler Prozesse überhaupt noch aufnehmen? Es sind genau jene großen Moralagenturen unserer Kulturen – nicht mit ihrem aktuellen Handeln, sondern mit ihren Jahrtausende alten Wertvorstellungen. Im Verbund mit allen verfügbaren Kräften können nur sie eine Gegendynamik entwickeln, – falls ihnen die Problemlage zum Bewusstsein kommt. Nicht eine verstaubte und ichbezogene Religiosität kleinbürgerlichen Stils, sondern der große humane Impetus der religiösen Urbotschaften (seien sie jüdisch, christlich oder muslimisch, hinduistisch oder buddhistisch, chinesisch oder japanisch) muss aktiviert werden. Gleichzeitig könnten die Religionen, in ihrem Alter oft egozentrisch und erstarrt, durch diese Herausforderung zu sich selbst kommen. Dadurch würden sie auch wieder Wege finden, mit der Frage der Gewalt, auch mit ihrer eigenen Gewalt sachgemäß umzugehen.

1.5  Gewalt – auch oder gerade in Religionen?

  • Stichworte:
    – Religionen lösen nur selten Gewalt aus
    – Aber lassen sich missbrauchen
    – Heizen Konflikte maßlos auf
    – Ohne Religionen weniger Gewalt?

Sie mögen den Eindruck haben, dass wir uns vorläufig nur im Vorfeld des Themas bewegt haben: Wie verhalten sich Religion und Gewalt? In jedem Fall wurde klar, dass sich Religionen (das Christentum eingeschlossen) nicht selbstgerecht über die Gewaltfrage erheben können. Auch wenn die Zeit der innerchristlichen Religionskriege vorbei ist und wir daraus gelernt haben, wird die Welt nach wie vor von religiösen, d. h. von religiös motivierten oder religiös aufgeheizten Konflikten überzogen. Im Augenblick werden allein schon Christen in etwa achtzig Ländern massiv schikaniert, wenn nicht gar verfolgt; wir kennen die interreligiösen Konflikte in Indien, die tödlichen innerislamischen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten in Afghanistan und im Irak.

Was die Gründe für diese Konflikte sind, lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Alle Konflikt- und Friedenswissenschaftler stellen fest, dass die Religionen nur selten Gewalt auslösen. Aus meiner begrenzten Perspektive sehe ich eine Motivation dazu nur im Wahhabismus und Salafismus, vielleicht in indischen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Sikhs. Angesichts der hochexplosiven Weltsituation können wir darüber froh sein. Bedenklich ist aber, dass sich Religionen (Christentum etwa und Islam, aber auch Hinduismus und Buddhismus) regelmäßig zu Konflikten missbrauchen lassen oder wenigstens dulden, dass die Medien Konflikte zu religiösen Auseinandersetzungen deklarieren. Es ist einfacher, etwa in Burma von einem Kampf zwischen Buddhisten und staatenlosen Muslimen zu berichten, als über die komplizierten ethnischen und sozialen Hintergründe der Rohingya aufzuklären. In der Regel werden die geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründe der Konflikte verdeckt.

Warum aber schiebt man dann gerade die religiösen Motive vor? Warum kämpfen die Betroffenen selbst dann nicht im Namen ihrer Gleichstellung, Befreiung oder der Gerechtigkeit, sondern im Namen Allahs, wenn die säkulare Position der Führer offenkundig ist? Der Grund dafür liegt in der einzigartigen Kraft der Religionen, die Identität von Menschen, Völkern und Kulturen zu bestimmen. Jeder Beschwerdeführer oder Initiator einer Auseinandersetzung weiß die Menschen auf seiner Seite, wenn es ihm gelingt, seinem Kampf einen religiösen Charakter zu verleihen. Für die Religionen ist das ein süßes Gift, denn sie fühlen sich bestätigt, hoffen auf Einfluss und bilden sich ein, sie könnten die Konflikte jetzt von innen her steuern. Das kommt einer Korruption gleich und führt zu skandalösen Konsequenzen. So hat in den Balkankriegen zwischen katholischen, serbisch-orthodoxen und muslimischen Volksgruppen kaum ein religiöser Führer je darauf hingewiesen, dass tödliche Gewalt weder für Christen noch für Muslime akzeptabel ist. Selbst zu den großen Massakern und Vertreibungen hat man geschwiegen. Schließlich sorgten die religiösen Begründungen dafür, dass die Konflikte maßlos aufgeheizt wurden; für den eigenen Gott scheint dann alles erlaubt zu sein. Oder wie Wilhelm II. schrieb: „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit unseren Vätern war.“ Der Name Gottes – nach christlicher Überzeugung Hüter aller Menschlichkeit, aller Nächsten- und selbst der Feindesliebe – wird zu brutalsten Missachtungen aller moralischen Regeln missbraucht. Religionen werden zu Zerstörern der Moral. Darin liegt der Skandal.

Diese Korruption der Religionen, zu denen sich Religionsführer immer wieder hergeben, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Menschen eingebrannt. Religionen gelten als die Hauptquellen der Gewalt. Gäbe es ohne Religionen weniger Gewalt? Müsste man Religionen nicht abschaffen, um weltweit die Eruption von Gewalt zu reduzieren? Beide Vorschläge sind naiv. Zum einen lassen sich Religionen nicht abschaffen. Würde eine verschwinden, würde sie morgen durch eine andere ersetzt, denn die Menschen würden den Überschuss ihrer Enttäuschungen und Beglückungen immer wieder zum Ausdruck bringen. Zum andern ist Gewalt auch unabhängig von Religionen in der Welt. Schließlich findet innerhalb der Weltreligionen immer schon ein Wechselspiel zwischen Gewaltausbrüchen und ständiger Gewaltbändigung, zwischen Maßlosigkeit und ethischen Grenzsetzungen statt. Es sind dieselben Religionen, die das Menschengeschlecht immer schon zu Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Versöhnung und Frieden erziehen.

Die Zusammenhänge sind also komplizierter. Deshalb möchte ich mit Ihnen im folgenden Teil ausdrücklich über den komplizierten Zusammenhang von Religion und Gewalt nachdenken.

II. Religion und Gewalt

Geschichtsbücher und Gegenwartszeugnisse sind voll von Berichten über Konflikte, gewalttätige Auseinandersetzungen und Kriege, die im Namen von Religionen geführt werden. Dabei ist die Zeit der Opferreligionen, in denen zu Bewältigung des Bösen erst Menschen-, später Tierblut fließen musste, doch schon lange vorbei. Wie kommt es, dass Religion und Gewaltausübung so nahe beieinander liegen? Dabei treten Religionen doch mit dem Anspruch an, Gewalt zu überwinden.

2.1  Religion ist Grenzerfahrung

  • Stichworte:
    – Religionen in Lebenserfahrung verankert
    – Begrenzungen (Unglück, Niederlage, Tod)
    – Entgrenzungen (Glück, Erfolg, Leben/Geburt)
    – Grenzen überwinden – mit Grenzen umgehen
    – Einübung ins Leben: „Tod, wo ist dein Stachel“
    Religion ist „Kontingenzbewältigungspraxis“

Weiter oben war vom Schmelztiegel des Lebens, von jenen 90% des Religiösen die Rede, das sich im Unsichtbaren als unmittelbare Äußerung des Lebens und seiner Erfahrungen herausbildet. Die Frage nach Religion und Religiosität wird meistens unter dem Aspekt verhandelt, dass eine Religion eine Institution mit ihren eigenen institutionellen Regeln, Eigenarten, Gesetzmäßigkeiten und Interessen ist und zu der sich ein Individuum dann nachträglich verhält. Damit wird die Eigenart von Religion und Religiosität verkannt, denn Religiosität (also die Erfahrung mit dem Unverfügbaren und der Umgang mit ihm) ist ebenso wie Religion mit ihren Grundäußerungen in unserer ganzheitlichen konkreten Lebenserfahrung verankert. Deshalb ist eine fundamentale Religiosität in jedem Menschen anwesend, mindestens abrufbar, auch wenn die Formen institutionalisierter Religion (Gottesbilder, Glaubensformeln, Rituale, theologische Argumentationen) völlig verschwinden können. In diesem Sinn nennen sich viele Menschen unreligiös; sie sagen, dass sie keinen Gott brauchen und fühlen sich in ihrem säkularisierten Bezugsrahmen sehr wohl.

Als Grunderfahrungen, die zu Religion und Religiosität führen, werden in der Regel Grenzerfahrungen genannt. Dabei spielen Tod und Unglück, aber auch die zufällige Begrenztheit oder Krankheit, erlittenes Unrecht und Grenzen der Welt insgesamt eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig sind die positiven Gegen-erfahrungen, die Entgrenzungen, die wir im Laufe eines Lebens erfahren. Sie bilden den positiven Grundimpuls, der Religiosität als Gestaltungsmöglichkeit überhaupt in Gang bringt. Es gibt Geburt und wachsendes Leben, das Wunder der Liebe und des Erfolgs, der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit. In den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam, Bahai) wird diese Erfahrung auf den Begriff der Transzendenz, also der „Überschreitung“ konzentriert. Gemeint ist nicht nur die Jenseitigkeit Gottes, sondern die Grunderfahrung des Überschreitens oder der Überwindung von Grenzen. Im Grunde sind alle Religionen lebensbejahend. Auch wo sie auf dessen Grenzen hinweisen (etwa im Buddhismus, der alle empirische Wirklichkeit zum Schein erklärt) bleibt es bei der Intention, Menschen zu sich zu führen, glücklich zu machen, sie in Einklang mit den großen Gesetzen des Kosmos zu bringen. Deshalb ist die Auferweckung eines der zentralen Hoffnungssymbole der monotheistischen Religionen. Es geht um das Leben pur, das von keinem Tod mehr bedroht wird (Tod wo ist dein Stachel, 1 Kor 15,55).

Von daher erklärt sich die immense Vielfalt von Religionen und Religionsvollzügen, von Hoffnungs- und Verzweiflungsbildern. Prinzipiell hat in einer Religion alles Platz, in dem Grenzsetzungen oder Grenzverlegungen, Verzweiflung oder Begeisterung aktiviert werden. Doch sitzt in dieser umfassenden und so lebensbejahend wirkenden Definition ein Stachel. Er kommt daher, dass auch Religionen Welt und Leben nur bedingt verändern können. Wir alle sterben, wir alle erfahren Grenzen und Schmerz. Wie gehen Religionen mit dem Rest um, den sie nicht überwinden können, indem sie die Fakten ändern? Unglück lässt sich nur durch Gegenaktionen, drohendes Unrecht nur durch Widerstand bewältigen. Hat dieser Widerstand dann nichts mit Gewalt zu tun?

2.2  Will Menschsein und Welt verbessern

  • Stichworte:
    – Sinn der Prophetischen Religionen
    – „Kehret um“ als Provokation
    – Gesellschaftskritik in Ungeduld
    – Provoziert Auseinandersetzungen

Die gestellte Frage vertiefe ich, indem ich mich auf die „prophetischen“ Religionen konzentriere. Gemeint sind die monotheistischen, die alle aus einem Impuls der Weltveränderung und der Weltverbesserung stammen. Allerdings wird dieser Impuls nicht nur kritisch, sondern auch selbstkritisch verstanden. Der Aufruf heißt nicht nur: Verändere die Welt, sondern: Verändere dich selbst. Jesu Botschaft wird in dem Ruf zusammengefasst: „Kehret um“ (z. B. Mt 3,2). Ernstgenommen ist das eine Provokation. Propheten treten mit dem Anspruch auf, dass sie mehr wissen und dass sich die Menschen bitte verändern sollen. Man ärgert sich darüber und viele wehren sich. Im Grunde ist dieser provokative Anstoß auch in den östlichen Religionen zu finden, darauf sei hier nicht eingegangen. Dieser Ansatz zeigt unmittelbar, dass wirksame Religionen nichts unter den Teppich kehren, sondern Konflikte aufdecken und damit zur Bearbeitung offen legen.

Neben der Selbstkritik (technisch ausgedrückt: dem selbstreferentiellen Charakter religiöser Rede) zeichnet die Religionen immer auch Ungeduld aus. Religionen reden nicht einfach, sondern wollen mit dem Neuen beginnen (biblisch gesagt: „Das Gottesreich ist da!“) Die Welt muss verändert werden. Das bedeutet z. B.: unnachgiebige Gesellschafts- und Machtkritik, drängendes Handeln, Mut und Wille zur Provokation. Nicht Tröstung und Relativierung, sondern Herausforderung und Entlarvung gehören zum ersten Geschäft der Religionen (um nachher glaubwürdiger trösten zu können). Friedhofsruhe in Religionen heißt immer auch Verrat am ursprünglichen Aufrag. Auseinandersetzung ist ihr Ziel, damit daraus ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ entstehen. So gesehen spielen lebendige Religionen immer auch mit dem Feuer. Die Möglichkeit des Misslingens ist damit immer schon gegeben. Religionen sind immer auch Risikounternehmen, weil sie Neues anstreben und initiieren – falls es lebendige Religionen sind.

2.3  Zieht Konflikte an

  • Stichworte:
    Nächstenliebe àKonflikte aufgreifen
    Bedrohten zu Hilfe eilen
    Wo beginnt Gewalt? (Bergpredigt: Mt 5,22)

Der entscheidende Punkt ist, dass religiöser Erneuerungswille nicht nur aus subjektiven Gründen Ärger und Widerstand verursachen kann. Er muss Tatbestände aufgreifen, die objektiv schon Gewalt und Unrecht beinhalten und denen nur durch (produktiven) Widerstand zu begegnen ist. Religionen (zumal eine Religion der Nächstenliebe) können ihnen nicht ausweichen, denn Nächstenliebe heißt auch die Bereitschaft, Konflikte und Unrechtssituationen aufzugreifen, sie offenzulegen, zur Diskussion zu stellen und nach Möglichkeit für Abhilfe zu sorgen. Speziell nach christlicher (aber auch nach jüdischer und nach muslimischer) Überzeugung ist die Hilfe für die Bedrohten, die Opfer von sozialen Missständen, Unrecht und Gewalt der Testfall religiös motivierten Handelns („Was ihr den Geringsten meiner Geschwister getan habt, das hat ihr mir getan.“ [Mt 25,40]; vgl. Islam: „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“ [Hadithe 13])

An dieser Schnittstelle von Unrechtssituation und helfendem Handeln kann sich die Gewaltfrage auf verschiedensten Ebenen entzünden. Wie weit dürfen Empörung und Tadel gehen, wie weit das Eingreifen? Was heißt es, Bedrohten wirksam zu Hilfe zu eilen und zugleich das Gebot der Gewaltlosigkeit zu respektieren? Von welchem Augenblick an ist Gewalt [als Notwehr oder als Hilfe im letzten Augenblick] angemessen oder erlaubt?

Wo also beginnt eine Gewalt, die ihrerseits neue Gewaltzirkel eröffnet und die Sache am Ende nur noch schlimmer macht? In der Bergpredigt wird das Problem scharf gesehen, geradezu paradox formuliert: „Widersteht dem Bösen nicht.“ (Mt 5, 39) Wer mich auf die rechte Wange schlägt, dem soll ich auch die andere hinhalten. Das ist sozusagen eine Extremformulierung die sagt: Achte in höchster Aufmerksamkeit darauf, dass du die Gewaltkreise nicht neu eröffnest, die du unterbrechen willst. In der individuellen Interaktion mag das Beispiel noch akzeptabel sein, falls es mir gelingt, um des Friedens willen neue Beleidigung zu ertragen. Schwierig wird es aber, wenn es um kollektive bzw. politische Gewaltzirkel geht (soziales Unrecht, Kriege, gewaltsame Befreiungskämpfe). In solchen Fällen können nur konkrete Lösungen von Fall zu Fall getroffen werden. Der französische Kulturphilosoph René Girard schlägt Modelle vor, die den Kreislauf von Gewalt und (notwendiger) Gegengewalt so beeinflussen können, dass sie nicht eskalieren, sondern deeskalieren (was sich schon bei einfachen Demonstrationen zwischen Demonstranten und Polizei zeigten lässt).

2.4  Wie Konflikte durchleben, überwinden?

  • Stichworte:
    In den Erfolg verliebt – wer darf triumphieren?
    In der Ausdauer komplexer Prozesse
    Im Verzicht auf Schwarz-Weiß-Modelle
    Ohne Verzweiflung an der Vision

Die Analyse des Einzelfalls (wie beende ich hier und dort die Gewalt?) ist durch den Blick auf umfassende Prozesse zu erweitern. Denn im konkreten Handeln – in denen Religionen jetzt als Institution oder in Form von Gruppen auftreten – spielt die Eigendynamik dieser Entwicklungen ein Rolle. Auch eine solche Dynamik kann (muss vielleicht) immer ambivalent sein. Einerseits wollen religiöse Gemeinschaften das Böse überwinden, andererseits entfaltet ein solcher Wille immer auch einen starken Erfolgswillen. Das Christentum war wie der Islam immer schon in den Erfolg verliebt und das friedliebende Sachinteresse schlug unweigerlich in Selbstinteresse um (Motto: Was der Kirche nützt, nützt auch der Moral). Zu recht sind Christen in den Erfolg verliebt; dürfen sie aber triumphieren wollen?

Es kommt also darauf an, die heilsame Ungeduld mit größter Geduld auszugleichen und sich darauf einzulassen, dass komplexe Prozesse ihre Zeit brauchen. Langfristig muss man Unrecht auch ertragen können. Aber wie lange und zu welchem Zweck? Alle politischen, sozialen oder ökonomischen Prozesse sind komplex, heute komplexer denn je. Deshalb wird auch jeder Idealismus (falls er seine Ziele nicht verraten will) dazu gezwungen, auf Schwarz-Weiß-Modelle zu verzichten, ohne einer Haltung des Durchwurstelns zu verfallen. Mehr noch: Wie gelingt es, an den schwierigen und komplizierten Wegen politischer Weltgestaltung mühsam zu arbeiten, ohne irgendwann einzuknicken und an der großen Vision (des Friedens, der Gerechtigkeit, der Gewaltlosigkeit) zu verzweifeln? Schwierig ist das allemal. Deshalb verdienen – menschlich gesehen – auch all diejenigen Verständnis, die solche Spannungen irgendwann nicht mehr durchhalten, sondern selbst zu Duldern, gar zu Tätern von Gewalt werden.

2.5  Prinzip Homöopathie

  • Stichworte:
    Wer solidarisch handelt, beschmutzt sich
    Zorn und Wut sind unausbleiblich
    Immunität nur durch Selbstinfektion
    Erfolge sind nicht garantiert
    Beispiel Elija

Ich versuche, das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt mit der Metapher der Homöopathie zu erklären. Beginnen wir mit einer nüchternen Feststellung: Wer sich mit dem Bösen (mit Hass, mit Gewalt oder Unrecht) intensiv beschäftigt (und sei es mit dem Ziel, es abzuschaffen), wird davon infiziert. Er wird Wut über das Unrecht empfinden und sich emotional dabei engagieren, und sei es nur aus Empathie für die Opfer. Je mehr Leidenschaft er für das Gute empfindet, umso mehr greifen ihn die dunklen Erfahrungen auch innerlich an. Kurz: Wer mit Leidenschaft solidarisch handelt, wird sich beschmutzen. In der Regel sind Zorn und Wut unausweichlich. Und das ist gut so, denn nur Zorn und Wut aktivieren auch unseren Intellekt bis an seine Grenzen. Ich weiß, dass dieser Aspekt weiterer Ausführungen bedarf und bin froh darüber, dass Peter Sloterdijk diese vergessene Dimension der menschlichen Seele in Erinnerung gerufen hat; der Zorn wurde von stoischen Einflüssen her diskriminiert. Das Ideal der Historiker sine ira et studio (ohne Zorn und Übereifer) mag bedingt für die Wissenschaft gelten, nicht jedoch für religiöses Handeln (Zorn und Zeit [2006]; Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen [2007]). Genau in diesem Zorn steckt wieder die Doppeldeutigkeit religiösen Handelns, die ich wiederholt angesprochen habe.

Genau an diesem Punkt möchte ich ansetzen: Wer sich selbst infiziert (und selbst gesund ist!), so die Homöopathie, wird dadurch immun. Diese Immunität durch Selbstinfektion ist der entscheidende Umschlag, den ich im religiösen (ich könnte auch sagen: im menschlich unbeschädigten) Beziehungsfeld erhoffe. Der Mensch muss erst durch Infektion immun werden, vorher ist er es nicht. In gleichem Sinn gilt für die Religionen: Auch sie müssen es erst lernen, sich im Kampf gegen das Böse nicht vom Bösen „anfressen“ zu lassen. Die dazu notwendigen Strategien liegen nur bedingt bereit. Deshalb gehört es zur größten Gefahr von religiösen Institutionen zu meinen, sie hätten die Lösung der erwartbaren Probleme. Wenn sie das glauben, sind sie von vornherein verloren. Sie sind dazu aufgerufen, dem Bösen zu widerstehen; aber Erfolge sind gerade nicht garantiert. Nur wer sich auf dieses Risiko einlässt, kann auf ein Gelingen hoffen. Trage ich hier eine theologische Rabulistik vor? Nein. Ich vermute, dass mir jede/r sensible Theologe/Theologin meine Vermutung bestätigen kann.

Dieses Konzept lässt sich an der Figur des Elija veranschaulichen, der in 1 Kön 17-19 höchst dramatisch dargestellt wird. Man könnte seine Geschichte unter den Titel stellen: „Läuterung eines Übereifrigen“. Dieser Eiferer aus dem 9. Jh. v. Chr. tritt auf als ein brutaler Fanatiker, der auch ein Flugzeug in die Twin-Towers hätte steuern können. Übersetzt lautet sein Name „Mein Gott ist Jahwe“ (vgl. „Gott mit uns“). Er nimmt die Auseinandersetzung mit gleich 450 Baalspriestern auf, die er nach gelungener Feuerprobe (Baal schickt kein Feuer auf ihre Opfer herab) abschlachten ließ. Das erschreckende, von Christen errichtet triumphale Denkmal auf dem Berg Karmel zeigt, dass manche Christen diese Brutalität noch nicht überwunden haben. Aber die Bibel belässt es nicht bei dieser Triumphgeschichte, sondern zeigt: Dieser Eiferer wird gefürchtet und einsam, flüchtet unter einen Ginsterstrauch, wünscht sich den Tod und verkriecht sich in einer Höhle. „Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere eingetreten … Ich allein bin übriggeblieben und nun trachten sie mir nach dem Leben.“ (19,10 und 14). Wir würden sagen: Er versinkt in Depressionen, muss sich neu finden. Er sucht Gott, und in einer wunderbaren Geschichte wird dann gezeigt, wie er Gott –aus der Höhle heraustretend – findet. Er findet ihn nicht im Sturm, weder im Erdbeben noch im Feuer, sondern im „sanften, leichten Säuseln“ des Windes (19,13). Genau diese neue Sanftheit befähigt den Geläuterten dazu, wieder auf die Menschen zuzugehen. Ich würde mir wünschen, dass unsere Kirchenführer wieder einmal die ganze Geschichte lesen und nicht nur deren ersten Teil. Zu bedauern ist überdies, dass auch der Koran nur den brutalen Sieg Elijas kennt und sich vorbehaltlos mit ihm identifiziert: „Wir ließen seinen Ruf unter den späteren Generationen fortbestehen. Friede über Elias! So vergelten wir den Rechtschaffenen. Er gehört zu unseren gläubigen Dienern.“ (Sure 37, 1231f.) So haben, wie ich meine, auch die Weltreligionen noch nicht ausgelernt.

2.6  „Widersteht dem Bösen nicht“ (Mt 5,39)

  • Stichworte:
    Schwäche bedeutet Niederlage
    Kampfloses Erdulden führt zur Flucht
    Hoffnung auf eine Macht der Güte?
    Das Paradox bleibt
    Konfliktfähig werden, um Konflikte in Dienst zu nehmen

Wir stehen also vor einem Paradox, denn dieser Ansatz der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Bösen, der zugleich um die Gefahr dieser Auseinandersetzung weiß, macht stark und äußerst schwach zugleich. Ich bleibe schwach, weil ich meiner Reaktionen nie ganz sicher sein kann; ich gehe immer Wagnisse ein. Ich bleibe stark, sofern ich aus einer leidenschaftlichen religiösen Vision lebe, die sich von der einzelnen Enttäuschung nicht erdrücken lässt. Religiöse Optimisten sagen: ‚Wir können alle Niederlagen aushalten!‘. Da wäre ich nicht so sicher. Religiöse Agnostiker sagen: ‚Ich bin Realist, daraus wird nichts!‘ Ihnen würde ich sagen: ‚Engagiere dich mal leidenschaftlich für das Gute, dann wirst du merken, dass du nicht mehr aufhören kannst.‘ In der Regel wird diese Zitterpartie nie aufhören, weil die Widerstände nicht einfach aufhören, sondern ebenfalls ihre Kreise ziehen. Am Schluss wird sich vielleicht zeigen, dass Licht und Schatten weiter zusammengehören. Dabei reicht es, wenn es gelingt, die „Destruktivität“ (E. Fromm) in jedem Fall einzudämmen und deren katastrophalsten Auswirkungen zu verhindern. Die Ziele aller Weltreligionen (Erlösung, Befreiung, Nirwana, Eingehen in den Lauf des Kosmos …) sind so radikal, dass sie mit dem faktischen Gang der Welt nie zufrieden sind. Sie hoffen, biblisch gesprochen, auf das Reich der Freiheit bzw. auf „Gottes Reich“.

Zusammengefasst: Die Weltreligionen müssen endlich so konfliktfähig werden, dass es ihnen gelingt, die großen und tödlichen Weltkonflikte in Dienst zu nehmen und zu zügeln. Das können sie aber nur, wenn ihnen endlich klar wird, was ihre Weltaufgabe ist. Wenn sie nur wollen, stehen ihnen die notwendigen Vorgaben zur Verfügung (vgl. das Projekt Weltethos).

III. Religion und Leidenschaft

Im Weltmaßstab sind West- und Nordeuropa die Weltreligion mit den höchsten Säkularisierungsraten; in den „neuen“ Bundesländern etwa nennen sich 52% der Bevölkerung atheistisch. Zugleich haben – im Vergleich der entsprechenden Konfessionsfamilien – Liturgie und Gottesdienste nirgendwo einen so verkopften, ausgenüchterten und durchgeplanten Charakter wie in diesen Ländern. Man muss einmal eine katholische Zusammenkunft in Lateinamerika, eine baptistische in Haarlem oder eine anglikanische in Nigeria erlebt haben, um das Problem zu erkennen: Die Kraft und die Attraktivität eines Gottesdienstes entspricht der Leidenschaft, die in ihm lebt. Investieren die Christen Westeuropas noch genügend Leidenschaft in ihren Glauben?

3.1  Christentum – eine „kalte Religion“?

  • Stichworte:
    Rüdiger Safranski: Kalte und heiße Religion
    Das Dilemma: Toleranz oder Vitalität
    Religion – überschäumendes Leben
    Problem des Christentums – falsche Aufklärung

Ich greife das Problem der Gewalt noch von einer anderen, einer sehr menschlichen Seite auf. Das verwundert nicht, denn entgegen ihrer häufigen Selbstdarstellung sind Religionen Phänomene des Menschlichen durch und durch.

In unserer säkularisierten westeuropäischen Kultur kämpft das Christentum mit besonderen Problemen. Christen werfen ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern gerne vor, sie hätten sich vom Glauben abgewendet, die Säkularisierung sei also wie ein Unglück des Bösen über uns gekommen. Dessen bin ich nicht so sicher; jedenfalls haben wir Christen, in Sonderheit die Kirchen des 19.und 20. Jahrhunderts diese Entwicklung mit gefördert. Wir sind keine leidenschaftliche Institution mehr, allenfalls eine wohl etablierte und gutbürgerliche Institution, die mehr verwaltet als anstößt und auf die Wege bringt. Rüder Safranski schrieb im SPIEGEL (3/2010) einen aufsehenerregenden Artikel über Heiße und kalte Religion mit der Schlussfolgerung: Das Christentum sei zur kalten Religion geworden, weil es – im Unterscheid zum heißen Islam – nicht mehr auf die Veränderung in dieser Welt, sondern auf einen Trost im Himmel setzt. Ich habe damals widersprochen, denn im Christentum wird dieser heiße Veränderungswille an allen Orten wieder entdeckt. Safranski hat aber darin recht, dass dieser Veränderungswille (über den ich hier ausführlich gesprochen habe) in den oberen Etagen unserer etablierten Kirchen noch nicht angekommen ist. Wer aber den aktiven Widerspruch gegen die Weltzustände nicht wagt (s.o. Analysen von Schirrmacher), kann die edlen Meinungen des säkularen Diskurses wiederholen. Ich sage nichts gegen diesen Diskurs. Ich frage mich aber, was ihm das Christentum zuzufügen hat. Säkularisierung heute hat deshalb wenig mit einem bewussten Unglauben zu tun, sondern eher mit dem sanften Weggleiten christlicher Inhalte, weil sie – langweilig geworden sind.

Darf ich mir als Theologe solche Bemerkungen erlauben? Ich meine ja, weil ich von meiner eigenen Religionsgemeinschaft entschieden mehr erwarte: endlich ein aktuelles, politisch waches Bewusstsein, im Namen der Menschlichkeit dazu einsatzbereit, dass die Zukunft endlich beginnt. Ich kenne das Problem: Seit der Aufklärung bewegen wir uns zwischen einem lähmenden Dilemma von Toleranz und Vitalität. Wir gehen noch immer davon aus, dass die religiöse Toleranz mit Duldung identisch sei. Deshalb verlangt sie von uns, dass wir unsere Vitalität zügeln, weniger spontan reagieren und unsere Beziehungen in den einen intellektuellen, abstrakt theologischen Diskurs verlegen. Ich verstehe diese Selbstlähmung immer weniger, weil ein vitales Engagement für die Überwindung von Feindschaft, Bosheit und Gewalt uns gerade nicht trennt, sondern zusammenführt. Alle, die wirklich interreligiöse Gespräche führen, machen diese Erfahrung. Zusammen mit heißem Herzen (um den Begriff von Safranski aufzunehmen) für Menschlichkeit zu kämpfen, bringt die Religionen zu einem überschäumendem Leben. Aber hat uns die Aufklärung nicht auf einen anderen Weg, den Weg der besonnenen Überlegung und sorgsamen Abwägung geführt? Richtig, sie hat uns dazu gebracht, dass wir unsere intellektuellen Lehrdifferenzen miteinander abgleichen, statt sie mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Sie hat aber vergessen, dass jede Religion mit vitaler Lebenspraxis und nicht mit erhabenen Überlegungen beginnt. Die Aufklärung hat – aus ihrer Situation heraus verständlich – die Leidenschaft der Religionen übersehen.

3.2  Keine Religion ohne Leidenschaft

  • Stichworte:
    – Zorn und Leidenschaft gehören zum Leben
    – Hassgeschichten und Fluchgebete
    – Erinnerungen der Leidenschaft: Exodus, Tod Jesu
    – Zeichen der Leidenschaft: Mystik und Ekstase, Kampf für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Hoffnung auf Gottesreich, Hölle und Fegefeuer

Deshalb gilt für mich der Grundsatz: Ohne Leidenschaft keine lebensfähige Religion. Die Leidenschaft ist geradezu das Maß ihrer Lebenskraft, schon deshalb, weil Zorn und Leidenschaft zum Leben gehören. Sie gehören erst recht zu dem Teil des Lebens, der die Räume erweitern, die Situationen verändern, neue Identitäten schaffen will. Dies ist der Grund, weshalb – zumal in der hebräischen Bibel – so viel von Unzufriedenheit, Ärger und Zerstörung die Rede ist. Die Geschichtsbücher sind voll von Hass-, Kriegs- und Zerstörungsgeschichten. Wir finden Verwünschungen und Fluchgebete. Im Koran sieht es nicht viel besser aus. Müssten wir uns nicht zu einer purgierten, von all diesem Schrott gesäuberten Bibel durchringen? Nein, seine gegenwärtige Form ist ehrlich und zeigt, dass Religion uns kein ideales Elysium vorspielt, sondern uns das Leben so präsentiert, wie es ist. Nicht die Religionen bewältigen unser Leben – das müssen wir schon selber tun -, aber die Schriften spiegeln uns seine Wirklichkeit.

Wichtig ist deshalb, dass gerade die großen Schlüsselerinnerungen von dramatischer Leidenschaft geprägt sind. Schon der erste Vers erwähnt das Tohuwabohu, also das Chaos und die bedrohliche Leere der Welt. Wir leben nur aus dem ständigen Kampf gegen die Abgründe. Auf das Paradies folgen unmittelbar die Vertreibung und (in den ersten sechs Kapiteln der Genesis) eine Katastrophe nach der anderen, bis Jahwe die Menschen leid ist und er sie – bis auf wenige Ausnahmen – in der Flut ertrinken lässt (Gen 7 und 8). Der Exodus, also der Auszug Israels aus Ägypten, die jüdische Schlüsselgeschichte überhaupt, vollzieht sich in höchster Dramatik. Mit Blut werden die Israelis vom Tod durch den Dämon gerettet; fluchtartig brechen sie auf, durchziehen durch tödliche Wellen das Rote Meer und haben 40 Jahre Entbehrungen auf sich zu nehme.

Mit welcher Dramatik wird der Tod Jesu geschildert, – so dramatisch, dass man sich noch heute darüber aufregen kann. Nichts mehr scheint zu gelten. Das Gottesbild erschüttert, die Thora relativiert und von Paulus außer Kraft gesetzt, die jüdische Tradition ins römische Imperium verschleppt, der neue Glaube bringt Todesgefahr mit sich. Die Zeichen und Äußerungen der Leidenschaft begleiten den christlichen Glauben bis in die Gegenwart. Die Mystik gab sich nie mit nüchterner Rationalität zufrieden und die Ekstase bricht immer wieder auf. Die Kämpfer für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit haben das Christentum immer wieder auf Vordermann gebracht, man denke nur an die vergangenen Jahrzehnte in Lateinamerika oder an Mutter Teresa. Die Visionen von Gottesreich, von Himmel und Hölle haben die Phantasie immer wieder entzündet. Gerade weil wir wissen, dass diese Vorstellungen in unserer Phantasie geboren sind, faszinierten sie immer wieder aufs Neue.

3.3  Leidenschaft als existentielle Reaktion

  • Stichworte:
    – Umfassendes, grenzenloses Engagement
    – Aktiviert die Ek-sistenz (Ekstase, Transzendenz)
    – Prinzipiell unerfüllbar?

Wieso kommt es zu dieser Leidenschaft? Was spielt sich, wenn man so fragen darf, in Sachen Religion im Menschen ab? Die Grundeigenschaft von Religion besteht m. E. darin, dass sie sich nicht auf Teilreflexionen oder einem zufälligen Handeln beschränkt. Religion entwickelt sich an dem Punkt, an dem eine Person sich umfassend, ganzheitlich, also ohne Vorbehalt engagiert. Ich glaube, dass jeder Mensch einen solchen Punkt als Sehnsucht in sich trägt, in dem er ganz bei sich ist und ganz bei sich sein kann, sich grenzenlos, also bedingungs- und vorbehaltlos engagiert. Dieses Engagement geht unserer Reflexion und unserem Bewusstsein voraus, kennt deshalb keine Grenze. Deshalb aktiviert der Glaube die Fähigkeit des Menschen, die M. Heidegger mit „Ek-sistenz“ umschrieben hat. Ein jeder Mensch (und eine primäre Gruppe) kann und will mehr, als er ist, ragt also über sich selbst hinaus. Diese Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit schlägt uns in den Bann, weil wir in dieser Spannung nicht ganz wissen können, was aus uns wird und wer wir sein werden. Wer die Freiheitsanalysen von S. Kierkegaard kennt weiß, was damit genauer gemeint ist. Es ist der dramatische Spannungsbogen in dem eine Ahnung von einer allerletzten Quelle und einer Instanz aufkommt, aus der wir überhaupt leben.

Dies wird deshalb möglich, weil wir diesen letzten Punkt, in dem wir zu uns kommen, wohl nie erreichen können. Eine Leidenschaft kann uns deshalb ständig antreiben, aber wir können sie nie stillen; sie ist unerfüllbar. Dann nämlich wären wir uns vollkommen gegenwärtig. Das ist kaum möglich, denn unsere faktisch empirische Identität hat mehrere Komponenten (mein Leib, meine Geschichte, mein soziales Netz, meine Tätigkeit und Rollen, meine Ideale und Werte), die nie ganz zur Deckung kommen können. Zudem wäre eine solche Identität, einmal erfüllt, nicht dauerhaft, weil jedem „erfüllten Augenblick“ (Ernst Bloch) ein Ende folgt und weil das ganze Leben – empirisch gesprochen – irgendwann aus seiner Identität herausfällt: wir werden sterben.

3.4  Suche nach kollektiver Identität

  • Stichworte:
    – Außenperspektive: unerreichbare Ziele
    – Innenperspektive: unerreichbare Selbstidentität
    – Religion: Biotop dieses Kampfes

Was für die Individuen gilt, gilt auch für Gruppen und Gemeinschaften, die eine eigene Identität ausbilden. Hier bildet sich – in kulturellen Formen und Ereignissen, auch in kollektiven Erwartungen – dieselbe Spannung aus. Aus der Außenperspektive betrachtet bauen wir uns unerreichbare Ziele auf. Zwar können sie sehr irdisch, egoistisch oder banal, macht- oder genussbezogen sein, aber immer docken sie an diesem inneren und grenzenlosen Sehnsuchtspotential an, das letztlich religiösen Charakter hat. Es hängt dann nur von der Art der Erwartungen ab, ob wir sie religiös oder pseudoreligiös nennen. Auch diese leidenschaftliche Suche einer Gemeinschaft hat eine Innenperspektive, die noch weniger erfüllbar ist. Wie soll die Identität einer Gemeinschaft zusammenkommen? Hier zeigt sich ein ganz erstaunlicher Mechanismus. In faktisch allen großen Kulturräumen der Welt ist es die entsprechende Religion, die diese Identität liefert, denn Religionen ziehen Identitätsfragen geradezu magisch an, weil sie eine unverbrüchliche Sicherheit versprechen. Das mag tröstlich sein, ist aber auch gefährlich, denn so werden Religionen –wenn sie der Eigengesetzlichkeit des Religiösen nachgeben – zum Ankerpunkt aller Identitätssuche, zum Biotop dieses Kampfes, der nie zum Ende kommen kann. Für die großen weltreligiösen Ziele der Weltreligionen ist das eine gefährliche Klippe. Sie müssen selbst entscheiden, ob sie sich ihre Freiheit des offenen Weltblicks bewahren oder in die Nabelschau innerer Selbstgewissheit verfallen. Die leidenschaftliche Größe der Religionen kann zu ihrem Gefängnis werden, wenn diese Leidenschaft ihre weltgestaltende Richtung verfehlt.

3.5  Wann wird Leidenschaft destruktiv?

  • Stichworte:
    „Alles oder nichts“ birgt Risiko
    Lässt sich nur indirekt absichern und steuern
    Individuelle und kollektive Integrität (keine Religion ist besser als ihre Anhänger)
    Entscheidend sind Imitation und Vision (Nachfolge Jesu und Reich der Versöhnung)

Es geht um den Zusammenhang von Leidenschaft und Gewalt. Deshalb bleibt uns noch die Frage, wie sich Leidenschaft und Gewalt zueinander verhalten. Leidenschaft muss nicht gewalttätig werden, das ließe sich mit zahllosen Beispielen innerhalb und außerhalb der Religionen belegen. Aber Leidenschaft, diese Tendenz zum Grenzenlosen und zur Grenzüberschreitung, kann zu maßloser Gewalt führen, wenn sie ihre Ziele auf Kosten von Mitmenschen und Gesellschaft erreichen will. Das „alles-oder-nichts“, das zur Leidenschaft gehört, führt zu gewaltigen Risiken. Auch in den Religionen kann Leidenschaft destruktiv, gewalttätig werden und sich zum boshaftesten Fanatismus steigern. Hinzu kommt, dass sich Leidenschaften (genauso wie Religionen insgesamt) nur indirekt absichern und steuern lassen. Deshalb habe ich weiter oben betont, dass wir unserer Religion und ihrer Leidenschaft ihre wahren Themen vorgeben müssen, sonst versinken sie in Selbstbestätigung und Egoismus.

Streng genommen kann sich eine Religion ihre Themen nicht selbst geben. Religionen sind, wie ebenfalls gesagt, zutiefst menschliche Erscheinungen; sie werden von Menschen, Gemeinschaften und Kulturen getragen. Sie selbst kennen das aus eigener Anschauung, dass wir alle unsere individuelle Religiosität ausbilden, obwohl wir alle – mehr oder weniger – denselben kirchlichen und pastoralen Einflüssen ausgesetzt sind. Sagen wir etwas vereinfacht: Keine Religion ist besser als ihre Anhänger. Durch ihre Anhänger wird eine Religion eben nicht nur froher oder ernster, ästhetischer oder rationaler, sondern auch menschlicher oder autoritärer, lebensfördernd oder destruktiv.

Dennoch sollten wir einen Aspekt nicht vergessen, auf den Sie vielleicht schon lange warten. Um den Ernst der Gewaltfrage herauszuarbeiten, habe ich streng und konsequent auf die Abgründe und die Gefahren der Religionen geachtet Ich habe gezeigt, dass es keine wirklichen Sicherheiten, keine guten oder schlechten Religionen gibt. Um das selbstkritische Bewusstsein zu stärken, versuchte ich zu zeigen, dass auch das Christentum über diese Gefahren nicht erhaben ist. Nachdem nun dies alles gesagt ist, will ich auch erklären, weshalb ich dennoch den Religionen (der christlichen Religion insbesondere) traue. Zwar müssen alle Religionen mit diesen Gefahren leben, denen sie immer wieder verfallen. Dennoch gibt es auch eine Gegenseite: Diese Religionen gehen immer wieder durch Reformen hindurch, um sich selbst zu kontrollieren und zu erneuern. Dabei hat sich z.B. in der christlichen Tradition gezeigt, dass sie trotz aller Abweichungen und eigenen Abgründe ihren eigenen Kompass immer wieder gefunden und ihn sich auch erhalten hat. Sie hat ihren christlichen Beginn, wie er in ihren Schriften niedergelegt ist, nie verraten.

So wenig wir also unsere Leidenschaften in direktem Zugriff steuern können, so unbestritten ist ein anderer Aspekt: Wir können unseren Leidenschaften Anschauungen bieten und ihnen Ziele geben. Wir können ihnen (d.h. uns selbst) sagen, welchen Vorbildern wir folgen und welche Ziele wir anstreben können. Entscheidend sind eine Imitation und eine Vision. Ich meine die Nachfolge Jesu, wie sie sich aus den Jesuserinnerungen der Evangelien ergibt und dem Reich der Freiheit (also der versöhnten Menschheit), mit dessen Verwirklichung Jesus begonnen hat. Mit gutem Grund leitet das Christentum diese beiden Eckpunkte aus Gottes Wirken selbst ab, nämlich die Jesusgeschichte und die Hoffnung auf Gottes Reich. Nach meiner Überzeugung zwingt die aktuelle Weltsituation die Christen dazu, diese Eckpunkte neu ins Bewusstsein zu heben, und das ist gut so. Denn auf diesem Weg kann sich die christliche Lebenspraxis aus ihrer Nabelschau befreien. Dies bedeutet auch Befreiung aus dem ständigen Zwang zu Gewalt.

IV. Zur Zukunft des Glaubens

Ich gehe davon aus, dass die Religionen – zusammen mit der Weltgeschichte – an einem epochalen Wendepunkt stehen. Zum ersten Mal begegnen sie einander intensiv und sind mit zur Lösung von Problemen aufgerufen, die sich nur gemeinsam lösen lassen. Die Weltalternative lautet: Gemeinsame Zukunft oder Katastrophe. Damit sind auch den Religionen neue Aufgaben gestellt; sie müssen sich aus ihrer Nabelschau lösen. Die Testfrage lautet: Sind die Religionen (das Christentum eingeschlossen) leidenschaftlich der Welt und der Menschheit verpflichtet?

4.1  Leidenschaftlich der Welt verpflichtet

  • Stichworte:
    Ohne Leidenschaft keine Veränderung der Welt
    „Edler Wettstreit der Religionen“ (Lessing)
    Ethos der Überforderung
    Sinn der Enderwartung nicht chronologisch, sondern sachlich motiviert
    Ohne Leidenschaft keine Zukunft

 Das große Elend aller Weltreligionen war bis in die Gegenwart hinein, dass sie sich vor allem mit sich selbst, ihren Innentheorien und eigenen Vorstellungswelten beschäftigt haben. Als Christ galt, wer der christlichen Glaubenslehre folgte; als Moslem galt, wer sich an die fünf Grundsäulen hielt; als Hindu galt, wer die Götter Indiens als Erscheinungen des Göttlichen akzeptierte. Diese Gesichtspunkte sind nicht gleichgültig, wenn eine Religion ihre Identität behalten und handlungsfähig bleiben will. Das Zusammenleben der Weltmenschheit kann aber nur dann vorankommen, wenn sich gemeinsame Regeln des Handelns finden lassen. Das Projekt Weltethos stellt vier Grundregeln und die Goldene Regel als gemeinsame Klammer in den Mittelpunkt: Ehrfurcht vor dem Leben (Ächtung von Gewalt), Gerechtigkeit und Fairness (Ächtung von Diebstahl und Übervorteilung), Wahrhaftigkeit (Ächtung von Lüge, Manipulation, Korruption), gegenseitige Achtung, Liebe und Partnerschaft (Ächtung von Entwürdigung und gegenseitigem Betrug und sexueller Untreue). Jesus fasste die Zukunft der versöhnten Menschheit in der Vision vom Reich Gottes zusammen. Sie meint den Zustand, der sich – unter Gottes Segen – aus solidarischer, liebender und einvernehmlicher Kooperation ergibt.

Als abstrakte Standards werden sie von jedem akzeptiert und viele halten sich in passiver Weise, d.h. im Rahmen eines allgemeinen Konsenses daran. Um sie wirklich durchzusetzen und mit ihnen (im Zusammenleben, in der Politik, der Wirtschaft und in der Medienwelt) die Zustände zu ändern, bedarf es wirklicher Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist keine Veränderung der Welt möglich. Aus diesem Grund sind die Weltreligionen (trotz all ihrer inneren Abgründe) zur Weltveränderung unverzichtbar. Sie fungieren als Agenturen weltweiter Leidenschaft, denn Religionen aktivieren und kanalisieren die tiefsten Leidenschaften, deren Menschen fähig sind.

Für die Kooperation der Weltreligionen bedeutet dies: Wenn eine Religion ihren Visionen folgt, lässt sie sich am Handeln ihrer Anhänger, also an ihren Früchten messen (vgl. Mt 7,16). Deshalb ist der Ringparabel zuzustimmen, die G. E. Lessing zu Grundlage von Nathan der Weise gemacht hat. Das gegenseitige Verhältnis der Religionen muss in einen „Wettstreit der Religionen“ münden, der sich an ihrer Fähigkeit zur Güte und Versöhnung misst. Dass diese Motivation der „natürlichen“ Tendenz aller Institutionen (auch von institutionalisierten Religionen) zur Selbstbestätigung und Machtsteigerung widerspricht ist anzuerkennen. Allerdings ist die gegenteilige, also die altruistische Tendenz den Menschen ebenfalls angeboren. Dieser Wettstreit um die größte Liebe wird also immer gefährdet sein, aber kraft freier moralischer Entscheidung können sich Menschen dafür einsetzen und die Faszination dieses Projekts der Selbstlosigkeit herausarbeiten und „verkünden“.

Ehrlichkeitshalber ist folgende Bemerkung hinzuzufügen, die oft vergessen wird: Es gibt ein Ethos (d.h. ein alltägliches ethisch orientiertes Verhalten), das unmittelbar einsichtig, dessen Sinn erfahrbar ist und zu dessen Einhaltung es keiner besonderen Mühe bedarf. Im weltethischen Maßstab können sich solche Anforderungen steigern: nicht jede Selbstbeschränkung wird belohnt und nicht jedes Recht lässt sich einklagen. In vielen Fällen wird es notwendig, auf mögliche Genüsse zu verzichten oder sich die Erfüllung bestimmter Sehnsüchte zu versagen und Güter zum eigenen Schmerz mit anderen zu teilen. Die Welt kann nur verändern, wer bereit ist, sich bisweilen überfordern zu lassen. In der Bergpredigt blitzt diese Überforderung mit ihren radikalen Komponenten auf. Eine solche Ethik der Überforderung muss in Kauf nehmen, wer die Welt zum Guten ändern will. Alle Weltreligionen haben auf ihre Weise solche Ethiken der Überforderung – z. B. im Mönchtum oder in vielen Formen der Askese eingeübt.

Die prophetischen Religionen haben ihre leidenschaftliche Hoffnung auf die versöhnte Menschheit in der Erwartung des Reiches Gottes symbolisiert, die Fachleute sprechen von Eschatologie. In der Regel wird behauptet, Jesus habe dieses Reich Gottes in unmittelbarer Nähe erwartet. Das ist richtig, aber oft wird daraus gefolgert, später habe sich eben gezeigt, dass das Ende der Welt noch nicht stattfinde. Deshalb habe sich diese Enderwartung erübrigt. Diese Folgerung übersieht, dass diese End-erwartung in der Verkündigung Jesu nicht einfach chronologisch, sondern sachlich motiviert ist. Das Reich Gottes beginnt nicht in einem Jenseits über den Wolken. Es beginnt hier und jetzt, in dieser Welt und als ein Stück dieser Welt. Es beginnt hier und führt in eine Zukunft, die ohne Leidenschaft nie erreichbar und nie zu halten ist.

4.2  Macht der Selbstüberschreitung

  • Stichworte:
    – „Selbstwerdung durch Selbsttranszendenz“
    – Überschreitung nach innen und immanent
    – Transzendenz Gottes = leidenschaftliche Metapher

Allerdings bleibt noch die Frage: Was macht denn den spezifischen Charakter der Religionen aus, denen ich hier (geradezu ausschließlich) unverzichtbare weltpolitische Funktionen zuschreibe? Wodurch wird Religion als Religion beschreibbar und was passiert an Religion schon in der Phase ihrer Entstehung, also im Schmelztiegel, von dem ich zu Beginn gesprochen habe? Ich folge einer Definition, die der Religionsphilosoph Hans Joas entwickelt hat (Die Entstehung der Werte [1997]). Er definiert Religion nicht mehr oder weniger statisch als fertige Institution, sondern interessiert sich für den Prozess, der Religion ausmacht. Seine Definition lautet: Selbstwerdung durch Selbsttranszendenz. Wer zu dieser Definition – vielleicht als Philosoph oder als Anthropologe – einen direkten Zugang findet, kann sich meine Ausführungen schenken, weil sie das Entscheidende zusammenfasst und erklären kann, warum Leidenschaft zu Religionen gehört. Joas will sagen: Wir kommen erst zu uns selbst, können also nur unser Selbst, unsere Personalität entwickeln, wenn wir über uns selbst hinauswachsen, uns selbst überschreiten. Zugleich gilt: Diese Überschreitung geht nach innen, denn diese Entdeckung spielt sich in mir ab und sie vollzieht sich immanent. Aber jetzt funktioniert diese Innenwelt nur noch dadurch, dass sie die Anderen und das Andere hereinholt. Natürlich bleibt eine Spannung, von der weiter oben die Rede war. Die Sehnsucht danach, diese Spannung aufzulösen, lässt Leidenschaft wachsen und ich kann mich jetzt entscheiden, wie ich die Anderen und das Andere in diese Leidenschaft einbeziehe. Wird also diese religiöse Erfahrung vom Strudel meines Egoismus aufgesogen? Dann lande ich in einer kalten, egoistischen und selbstgerechten Religiosität. Oder lasse ich mich von dieser Selbsttranszendenz von den Andern und vom Anderen leidenschaftlich begeistern? Dann werde ich mich leidenschaftlich für eine versöhnte Menschheit einsetzen.

Erst jetzt, nachdem diese innerweltlichen Transzendenzverhältnisse geklärt sind, sollte man von der Transzendenz Gottes sprechen, den wir in unserer Tradition als den Überzeitlichen und Jenseitigen verstehen, weil er am Anfang und am Ende von allem steht.

Alles kommt also darauf an, dass uns dieses Überschreiten klar wird. Wohin überschreiten wir uns? Natürlich auf Mitmenschen und auf die Welt hin. Wer sich transzendiert, kommt von sich los und kann plötzlich Fragen stellen, die ihn von sich wegführen. Man kann entdecken, dass Menschen andere sind und dass die Welt anders ist als ich selbst. Und man kann die Frage stellen, wer oder was ich denn ohne die Anderen und ohne das Andere ist. Ich verstehe mich zwar als einen Theologen von Herz und Verstand, aber heute habe ich mich bemüht, von den oberen Stockwerken der Theologie ins Parterre herabzusteigen, wo ich mich übrigens ganz wohl fühle. Deshalb habe ich, wie ich glaube, Vieles über die Sache und den Willen Gottes gesprochen, ohne ständig das Wort „Gott“ zu nennen. Auch jetzt möchte ich nur darauf hinweisen, wie sehr der Begriff der Transzendenz oder des transzendenten Gottes eine von Leidenschaft gesättigte Metapher ist. Er meint – vom Menschen aus gesehen – Prozesse ständiger Überschreitung, ständiger Ausweitung und wachsender Sebst-vergessenheit. Wenn wir sie nicht bewusst unterbrechen, können sie nur im Endlosen und schließlich im Unendlichen enden. Sie können selbst der Vergebung – der schwierigsten aller menschlichen Taten – Tür und Sinn öffnen, weil sich in der Transzendenz der Erfüllung selbst Schuld überwinden lässt. Auch Vergebung hat nur Sinn, wenn sie zu einer von Leidenschaft getragenen Handlung wird. Individuell, kollektiv und kulturell gesehen kann dieser Prozess eine ungeheure, sozusagen unbesiegbare Macht entfalten. Es geht darum, diese Macht für das Wohl und die Zukunft der Menschheit fruchtbar zu machen.

4.3 „Brot und Hunger“ (Sobrino)

  • Stichworte:
    – Wir werden mit der Welt nie fertig
    – Wenn die Welt gerettet und die Gewalt überwunden werden soll, ist ihr Potential unverzichtbar
    – Befreiungstheologen „radikalisierten das Absolute Gottes und das Ko-Absolute des Hungers“ (Jon Sobrino)

Wir haben öfters von Prozessen gesprochen und ich habe versucht, auch Religion und Religiosität nicht als fertige Produkte oder Institutionen, sondern als Prozesse zu beschreiben. Von dieser Voraussetzung her wird es – mit einiger Bescheidenheit – auch verständlich, dass und warum wir mit der Welt und den Herausforderungen der Menschheit nie fertig werden. Zwar stehen Religionen und Welt heute an einer tiefgreifenden Wende, aber die fertigen und definitiv wahren Modelle haben wir auch für die neue Zeit nicht entwickelt. Die Welt retten (um ein religiöses Bild aufzugreifen) meint zunächst: Gewalt und Egoismus überwinden. Das kann erfolgreich sein. Wir müssen aber wissen, dass beide morgen zur Hintertür wieder hereinkommen können. Konkurrenz und gegenseitige Zerstörung sind ihrerseits die Folge einer jeden Personwerdung. So brauchen wir immer wieder Sündenböcke (R. Girard). Genau deshalb müssen wir offensive Wege gehen, die neue Leidenschaft nicht ignorieren, sondern in den Dienst der großen Vision vom Weltheil stellen, denn das Potential der Leidenschaften bleibt unverzichtbar.

Als Theologe müsste ich spätestens jetzt etwas zur Absolutheit Gottes und darüber sagen, dass wir alle in Seiner Hand sind; nur Er kann uns retten und die große Versöhnung bringen. Doch die meisten, die so erhaben über Gott sprechen, vergessen hinzuzufügen, dass auch er das Heil in dieser Welt, durch unsere Hände im konkreten Blick auf unsere Probleme will. Von Gott soll deshalb nur reden, wer auch weiß, wie katastrophal die Situation dieser Welt ist. Aus diesem Grund spricht der peruanische Befreiungstheologe Jon Sobrino davon, dass dem Absoluten Gottes die ko-absolute Macht des Hungers gegenübersteht. Trotz aller Leidenschaft für das Gute kommen wir aus diesem Weltdilemma so schnell nicht heraus.

Lassen Sie mich enden mit einem Satz, den der Kabarettist Georg Schramm von Albert dem Großen übernommen hat. Er zeigt, wie wichtig ein leidenschaftlicher Zorn an richtiger Stelle sein kann: „Die Vernunft kann sich mit größerer Macht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ Ich wünsche uns allen zu gegebener Zeit nicht nur Gelassenheit, sondern auch einen heiligen Zorn.

(Vortrag vom 12.03.1013)

Letzte Änderung: 21. September 2017