Die säkulare Fundgrube

Von welcher Sprache lässt sich Benedidkt XVI. inspirieren?

Ratzingers Theologie speist sich aus verschiedenen Quellen und deren Kombination hätte zu höchst fruchtbaren und dynamischen Ergebnissen führen können. Da ist der Einfluss eines ästhetisch sensiblen Romano Guardini mit seinem kulturoffenen und subjektbetonten Katholizismus. Hinzu kommen die Einflüsse der französischen Theologie („nouvelle théologie“), die auf die belebende Spiritualität der spätantiken Kirche setzt. Seine Studien zu Augustinus und Bonaventura machen ihn resistent gegen den tödlichen neuscholastischen Rationalismus. Die Liebe zur lateinischen Liturgie lernt er im Elternhaus und mit der Schrift setzt er sich spätestens seit seiner Studentenzeit auseinander.

Den Hintergrund bildet schon immer eine konservative, bürgerlich domestizierte Grundstimmung. Das christliche Abendland gilt als sein großes Ideal, auch in der faschistischen Ära bleibt ihm die katholische Kirche unbestrittene moralische Instanz, die alle Gegensätze einer langen Geschichte versöhnt. Anders als im Protestantismus (allein Schrift, Christus und Gnade) gilt das große katholische Und: Schrift und Tradition, Gewissen und Wahrheit, Erfahrung und Lehre, Subjektivität und objektive Wirklichkeit, eigenes Denken und Glaubensgehorsam. Die Gegensätze können miteinander leben, denn die große Klammer lautet Liebe zu einer Kirche, die als reine Braut in Gottes Plan schon vor aller Zeit gegenwärtig ist. In diesem offenen Sinn versteht der aufstrebende Theologenstar auch das Konzil; es bedeutet ihm Erneuerung und Entfaltung. Jetzt kann die immer reformfähige, in der Alten Kirche verwurzelte Glaubensgemeinschaft als das große Geschenk Europas an die Welt neu aufblühen. Reform ist auch für ihn angesagt.

Erst nach dem Konzil wird ihm allerdings klar, dass der metaphysische Überbau dieser unsichtbar universalen Kirche zerbrochen ist. Seit 1968 versteht er auch die Welt nicht mehr, die dabei ist, sich vom Gottesglauben abzunabeln. Nach ihm kann nur die Rückkehr zur spätantiken Kirchenidee den wahren Glauben bewahren. Zunächst ist Ratzinger kein Reaktionär, aber er fällt auf ein vorkonziliares Erneuerungskonzept zurück und es gehört zu seiner Tragik, dass die augustinisch-altkirchlichen Reformgedanken von einem modernen Reformkonzept überrollt wurden. Ratzinger erklärt wiederholt, dass er sich nie geändert habe. Genau das ist sein Problem. Denn als er sich nach Jahren der Unsicherheit für einen Restaurationskurs entscheidet, bricht er den Dialog mit einer Theologie und Kirchenpraxis ab, die eine autoritätskritische, biblisch-ökumenische und politische Richtung eingeschlagen hat. 30 Jahre lang zwingt er deren fundamentalistische Verweigerung der Gesamtkirche auf und provoziert damit eine Polarisierung, wie man sie seit 500 Jahren nicht mehr kannte. Plötzlich stecken auch seine eigenen Inspirationen in einer antimodernistischen Zwangsjacke. Er, der der Welt eine Diktatur des Relativismus vorwirft, stellt dieser eine Diktatur vermeintlicher Glaubenstreue entgegen. In seinen Jesusbüchern lässt sich diese Engführung gut verfolgen.

Doch ist Ratzinger nicht einfach der Protagonist eines längst überwundenen reaktionären Denkschemas, vielmehr repräsentiert er die kirchenimmanenten mentalen Grenzen, die vielen katholischen Theologinnen und Theologen noch in den Knochen stecken. Wer ihn kritisieren will, muss ihm deshalb Alternativen entgegensetzen, die über den Gestus liberaler Offenheit hinausgehen. Unsere Theologie kommt in der Moderne nur unter drei Bedingungen an:

Erstens: Eine christliche Theologie, die die Gegenwart ernstnimmt, muss sich historisch verantworten und orientieren. Das gilt für die Exegese genauso wie für die systematische Reflexion. Wir brauchen eine reflexiv erzählende Distanz zur Sache selbst. Nur so können wir uns Botschaften aneignen, ohne in Repetitionen zu verfallen. Die Evangelien machen uns diesen Grundduktus vor und unsere Kirchen wären schon längst fundamentalistisch verelendet, wenn die historisch-kritische Exegese sie nicht seit gut hundert Jahren mit ihren Gegenmodellen (zu Schöpfung und Erlösung, Reich Gottes oder Gemeindesstruktur) konfrontieren würde.

Zweitens: Eine inhaltsbezogene Theologie, die die Moderne ernstnimmt, muss sich nicht an kirchlichen oder religionsinternen Gesichtspunkten, sondern an den großen Themen und Perspektiven unserer Kultur orientieren. Es gilt, sie alle abzuklopfen auf die Differenzen von Versöhnung und schreiendem Unrecht, von Grenzerfahrung und Überschreitung, Versagen und neuer Freiheit, Erkennbarkeit und Geheimnis. Sprachliche Normierungen sind überflüssig, denn das Göttliche ist auf das Wort „Gott“ nicht angewiesen. Das Schreckbild der Säkularität wird so zur Fundgrube neuer Inspiration und eine konzentrierte Themensuche führt, wie bekannt, zu spannenden interdisziplinären Projekten. Ich nenne Literatur und Spiritualität, weltethische Fragen und empirische Wissenschaften, Psychologie und Fragen nach Lebenssinn und Verzweiflung, Sexualität und geschlechtliche Differenzen. Diese Themen sind nicht von jenseitssüchtigen Illusionen vorgegeben, sondern von einer real existierenden Lebenspraxis, die ihre Fragen schon selber kennt. Wir kennen die heimatlosen Theologinnen und Theologen, von ihren Kirchen sanktioniert und ihren Fakultäten marginalisiert, die scheinbar systemirrelevante Überlegungen anbieten, für unsere Zukunft aber Entscheidendes zu sagen wissen. Die Weltreligionen sind in unseren Fakultäten noch immer nicht angekommen.

Drittens: Eine kommunikationsfähige Theologie, die auf die Postmoderne zugeht, muss sich am Denken, der Erfahrungswelt und der Sprache ihrer Adressaten ausrichten. Schon vor Jahren hat der amerikanische Theologe David Tracy erklärt, die Theologie müsse vor (mindestens) drei Foren sprechen können: er nannte die Gemeinschaft der Glaubenden, die säkularisierte Gesellschaft und das universitäre, wissenschaftlich spezialisierte Publikum. Die Anzahl solcher Foren lässt sich beliebig erweitern. Klar ist aber Tracys Anliegen, dem eine jede gegenwartsfähige Theologie entsprechen muss. Paulus erklärte einmal, er sei den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche geworden. Heute müssen TheologInnen viele Sprachen verstehen und einige Denkwelten beherrschen, z. B. die Sprache derer, die als aktive ChristInnen einen kirchlich sozialisierten Glauben leben und feiern wollen, die Sprache junger muslimischer Deutscher oder die Sprache der agnostisch agierenden Wissenschaftler. Ziel darf keinesfalls sein, sie zu einem papstgefälligen Lebensstil, sondern zu sich selbst zu führen, zu global denkenden Menschen, die sich ihrer ethischen Weltverantwortung bewusst sind.

Wir stehen keinesfalls am Ende der Kirchen, aber gekommen ist das Ende einer selbstbezogenen Religionsorganisation ebenso wie ein ideologischer Apparat, der ihr dazu die Theorien liefert und zur Not dazu bereit ist, autoritäre, leib- und frauenfeindliche Verhältnisse zu rechtfertigen. Zusammenfassend sollte man sich fragen, wo und wie denn im Sinne Jesu Gottes Reich hier und jetzt beginnt und seine sozial revolutionäre Wirkung entfaltet. „Er stürzt die Hochmütigen vom Thron“! Das Magnifikat Mariens hat J. Ratzinger nirgendwo in seinen Jesusbüchern interpretiert.

(Publik Forum-Dossier, Februar 2013, S. X-XI)