Brief an die Iren: Not erkannt, Ausweg verfehlt

Bestandssicherung neuer Visionen

1. Ein eindringlicher Brief

Der Papst hat der irischen Kirche einen eindringlichen Hirtenbrief geschrieben. Anders als in einer Enzyklika wendet er sich an die Kirche nur eines Landes und anders als in den großen Lehrschreiben geht es hier um kein umfassendes Lehrthema, sondern um einen Skandal. Zwar schwelt er schon seit Jahren, aber jetzt ist er in unerwarteter Härte explodiert. So ist die päpstliche Sorge in jedem Abschnitt zu spüren: Das Übermaß der Verbrechen, Missbrauch und sadistische Exzesse haben auch ihn erschüttert. Er sieht die irische Kirche in einer tiefen Krise und die Kirchen anderer Länder schließt er wohl ein.

Deshalb geht er ungewöhnlich hart mit seinen Kollegen im Bischofsamt ins Gericht. Sie haben Widergutmachung zu leisten und nur die gründliche Änderung ihrer Mentalität und ihres Verhaltens können zu einer Erneuerung führen. Neu im Stil seines Briefes ist, dass er verschiedene Gruppierungen dieser Kirche eigens anspricht: erst die Opfer, dann die Täter, schließlich Eltern, Kinder und Jugendliche; es folgen die Priester, die Ordensleute und Bischöfe, schließlich alle Gläubigen des Landes. Für einen Augenblick tritt die hierarchische Struktur des päpstlichen Weltkosmos zurück. Auch die päpstliche Freundlichkeit kommt an ihre Grenzen. In der Sache besteht er auf konsequenter Bestrafung und Anwendung des kirchlichen Rechts, auf Transparenz und Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen. Man spürt seine Empathie mit der Situation der Betroffenen, er spricht von der Schande und der Reue, die ihn bedrücken. Im Namen der Kirche bittet er sie, wenn auch verschlüsselt, um Vergebung. Er versteht sogar, dass ihre Beziehungen zur Kirche zerrüttet sind. Dementsprechend redet er den Tätern ins Gewissen und ermutigt Eltern wie junge Menschen, ihr Leben weiterhin im Sinne der katholischen Kirche zu gestalten. Priester und Ordensleute spricht er auf das Misstrauen an, das ihnen allen jetzt entgegenschlägt.

Schließlich erinnert er die Gläubigen insgesamt an eine zunehmend säkularisierte Gesellschaft, die in Sachen des Glaubens neue Wege finden müsse, so als gehörten Säkularisierung und die sexuellen Verbrechen irgendwie zusammen. Doch im selben Atemzug geht er von dieser erstaunlichen Kombination zur Frage nach der Zukunft über: „Wir brauchen eine neue Vision, um zukünftige Generationen zu inspirieren.“ Das könnte der wichtigste Satz des Dokuments sein. Wie aber sieht diese Vision aus? Oder überwiegen nicht Bestürzung und bittere Enttäuschung, die insgesamt aus diesem Dokument sprechen? Jedenfalls bewirken die vorgeschlagenen konkreten Initiativen wohl keinen Durchbruch, sondern erinnern an das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Wir sollen wieder beten und büßen, beichten und regelmäßig die Hostie anbeten. Römische Kontrolleure sollen die schlimmsten Diözesen durchforsten und Volkmissionen (Vitaminstöße von Predigten und Gottesdienst, Beichten und Kommunion, Ablässen und guten Vorsätzen), sollen das geistliche Leben der Kirche wieder aufrüsten. Rom ruft den heiligen Pfarrer von Ars (Jean-Marie Vianney; gest. 1859) ins Gedächtnis, dessen stramme Seelsorgsmethoden (von der Geißelung bis zum Tanzverbot) sich heute kaum mehr implantieren lassen. Wie diese Übungen den Absturz aufhalten sollen, wird ebenso wenig erklärt wie der Inhalt der „neueren päpstlichen Lehren“. Mit ihnen kann der ehemalige Glaubenspräfekt nur die zahllosen Dokumente meinen, die er seit 1981 zu Händen seines Vorgängerpapstes produziert hat. Ich sehe nicht, wie ausgerechnet sie zum Weg der Erneuerung führen.

2. Heilung durch die Kirche?

Der Papst gibt sein Bestes, aber allgegenwärtig fesselt ihn ein Dilemma; es ist die Kirche selbst. Der Kirche bescheinigt er einen verrotteten Zustand, doch zugleich bittet er die Opfer um Rückkehr zu ihr. Die Teilnahme an ihrem Leben soll zur unermesslichen Liebe Christi führen. Wie aber soll das gehen, solange sie das gegenwärtige Schauspiel bietet? Implizit durchzieht dieser selbstverliebte Widerspruch das ganze Dokument. Wiederholt ist von Heilung, Erneuerung und Wiedergutmachung die Rede. Was aber beinhalten diese hohen Begriffe in der konkreten Situation und von wem soll die Sache ausgehen? Dieses Kirchenbild ist von einem narzisstischen Zwang zur Selbstbestätigung und einer schweren Angst um sich selbst geprägt. Der Papst, der sich vorbehaltlos mit seiner Institution identifiziert, versucht immer noch, aus ihr alle Kraft zu ziehen und alle Ansprüche abzuleiten. Er übersieht: Diese Institution kann nie sie selbst sein; sondern muss sich selbst immer neu finden. Leben kann sie nur als lebendiger Austausch von Kommunikation und gegenseitiger Kritik. Sonst fällt sie in ihre eigene Vergangenheit zurück.

Genau dies führt der Brief vor Augen. Mit großen Worten wird an die Geschichte der irischen Kirche erinnert, die ganz Europa missioniert und ihm zum Christentum verholfen habe. Zu allem Überfluss beschwört der ökumenisch ängstliche Papst den heroischen Konfessionsstreit zu Zeiten Oliver Cromwells. Es war eine Epoche, in der die sexuell repressive Internatserziehung erfunden wurde. In schöner Nostalgie erwähnt er die zahllosen Priester, die (in einer sozial trostlosen Zeit) in die Klöster strömten und die Missionen aller Kontinente überschwemmten. Aufgerufen werden – wenig spezifisch – das 2. Vatikanische Konzil und die Möglichkeiten kanonischer, von der Kirche auszusprechender Strafen. Im Wort an die Eltern fällt der Brief schließlich in eine belehrend nichtssagende Attitüde zurück; offensichtlich hat ihnen der Papst nichts Besonderes zu sagen. Er bittet sie dringend, den Kindern die bestmögliche Fürsorge angedeihen zu lassen. Aber müsste es hier nicht um ganz andere Themen gehen? Ich denke an den Vorschlag, die Eltern mögen das Verhalten der Priester und anderer Erzieher (ohne Misstrauen zu säen) durchaus beobachten oder die Kinder zu einem starken Selbstbewusstsein erziehen, so dass sie auch Nein sagen können und sich zu wehren wissen.

Für den Papst bleibt die Institution Kirche selbst das ungelöste Dilemma, an dem sich der Brief festhakt. Denn die anderen autoritären, hierarchisch geordneten und kommunikationsfeindlichen Verhältnisse genau dieser Kirche spiegeln sich in nahezu jeder Zeile. Der Papst will sie durch alte Verhaltensmaßnahmen stabilisieren. Deshalb belehrt er nur und lässt sich in nichts belehren; von der Bitte um Hilfe durch die Gläubigen oder durch die Gesellschaft keine Spur! Die Bischöfe werden an Strukturen des Rechts, an ihren sakramentalen Vorrang und an mögliche Strafen erinnert, die wir seit jeher kennen. Ist Strafandrohung aber eine angemessene Reaktion? Die Verbrecher aus den priesterlichen Reihen hatten Bestrafung von jeher zu befürchten, aber wie ein Ladendieb gehen sie davon aus, dass man sie nicht erwischt. In diesem verfestigten Kirchensystem behalten sie aber Ehrentitel der „Mitbrüder“. Ein vergleichbares Wort der Nähe erfahren die Missbrauchten nicht. Nach wie vor wird in obrigkeitlicher Manier den Bischöfen die „pastorale Sorge für alle Mitglieder [ihrer] Herde“ zugesprochen. Welche Abweichungen aber im Rahmen solch autoritärer Herdensorge möglich waren, rückt unversehens aus dem Blick. Sie sollen auf die „geistlichen und moralischen Bedürfnisse“ aller Priester achten. Dass die gegenwärtige Misere aber mit dem Mangel gegenseitiger Achtsamkeit und eines blinden Priestervertrauens zusammenhängt, wird nirgendwo bedacht.

Gewiss, endlich wird das den Kindern angetane Verbrechen als ein eigenständiges Argument eingeführt. In Teilen organisiert es den Diskurs des Briefes. Auch ist dem Papst hoch anzurechnen, dass er sich wiederholt mit Missbrauchsopfern getroffen hat. Aber wiederholt führt er auch jetzt noch einen zweiten Gesichtspunkt ein, der ganz und gar kirchlich und traditionell orientiert ist. Nach wie vor nimmt er den gleichen Rang ein wie die Perspektive der Opfer. Es sind das Ansehen und die Würde der Kirche. Die priesterlichen Täter, so der Papst, „haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen gegenwärtig macht“. Unerwartet taucht da ein altes, im übrigen antireformatorisches Argument auf, und meist wird übersehen, dass dieses Argument immer noch die gesamte Rechtssystematik des Kindesmissbrauchs bestimmt.

Man lese nur frühere Dokumente: Am 18. Mai 2001 schrieb Kardinal Ratzinger an alle Bischöfe der Welt einen Brief, dessen Inhalt – durch eine offizielle Anordnung [Motu proprio] des Papstes -. schon seit dem 30. April rechtskräftig bestätigt war. In diesem Brief wurden folgende strafwürdigen Delikte in eine Kategorie zusammengefügt: Vier Delikte gegen die heilige Eucharistie, drei Delikte gegen die heilige Beichte sowie das „Delikt der Unzucht mit minderjährigen Personen“. Wieso aber gehört der Missbrauch von Kindern zur Schändung von Sakramenten? Nicht etwa, weil die so verletzliche Würde der Kinder auf die Ebene sakramentaler Würde erhoben wird (welch bedenkenswerte Idee!), sondern weil die übergriffigen Priester nach römischer Denkart den „Schutz der Heiligkeit der Sakramente“ brechen, wie die Überschrift der genannten päpstlichen Anordnung sagt. Um die Priesterwürde geht es, nicht um die Würde der Kinder. Genau besehen ist also ein nichtpriesterlicher Missbrauch weniger verabscheuungswürdig als der Missbrauch durch einen Priester, denn im laienhaften Täter wird ja nicht Christus selbst vergegenwärtigt. Wieder ist es die innerkirchlich selbstverliebte Perspektive, die der Opferperspektive zuvorkommt und noch kein Kirchenjurist hat die absurden Konsequenzen dieser Denkart zu Ende gedacht.

Autoritär bestimmt, aber nicht durchdacht ist das päpstliche Kirchenbild. Durchgängig und mit großer Selbstverständlichkeit identifiziert der Papst die Kirche mit der Hierarchie; ständig denkt er „Bischöfe“ und unbeirrt schreibt er „Kirche“. Nach Benedikt hat die Kirche das Volk zu belehren, das doch genauso Kirche ist wie ihre bischöflichen Repräsentanten. Noch immer denkt er nicht an die Lernprozesse, die jetzt endlich von unten anzustoßen sind. Eine immer mehr verschärfte Kommunikationsblockade ist ja einer der Gründe für das unsägliche und destruktive Schweigen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten ausbreiten konnte. Wer von den Frauen und Männern an der Basis hat in diesem höchst kritischen Augenblick noch etwas zu sagen? Wer wird denn offiziell gehört: Die geschädigten Opfer oder die versagenden Bischöfe? Die wütenden Eltern der Betroffenen oder die uns belehrenden Priester (wirklich nicht alle verhalten sich so)? Die wieder zum Gehorsam ermahnten Gläubigen oder der römische Papst? Ein lebendig teilnehmendes Gottesvolk oder ein absolutistisches Verordnungssystem? Den Gläubigen wurde oft genug untersagt, die hohen Amtsträger und deren Verhalten zu kritisieren; gar öffentlich anzuklagen. Davon hat der Bischof von Rom noch nichts zurückgenommen. Zu viele Opfer haben inzwischen berichtet, dass man ihnen und ihren Anwälten den Mund verbot und sie mit hierarchieüblichen Drohungen zum Schweigen brachte. Heute ist dies wohl der Grund dafür, dass der Papst den amtlichen Tätern klar ins Gewissen redet und sie zur Gewissenserforschung und Selbstkritik, zu Reue und Buße ermahnt. Dort aber, wo man nach einer langen Kette der Ermahnungen den Satz erwartet: „Gebt Euer Priesteramt auf“, oder: „Stellt euch den Opfern, sofern sie es wünschen, bittet sie nach Möglichkeit persönlich um Verzeihung und sorgt dafür, dass ihnen nachhaltig geholfen wird“, dort heißt es plötzlich: „Verzweifelt nicht an der Gnade Gottes“. Nicht als ob dieser Aufruf falsch wäre, aber er steht am falschen Platz. Denn endlich hat die Hoffnung auf Vergebung durch die Opfer vor der Hoffnung auf Gottes Gnade zu stehen. Immerhin sieht der Papst etwas Wichtiges ein: Es muss für sie schwer sein, der Kirche zu vergeben. Aber erst müsste von den Tätern und den sie vertretenden Instanzen eine wirklich zerknirschte Bitte um Vergebung für das Grauen ausgesprochen werden, das sie den Opfern bereitet haben.

Heilung durch die Kirche? Der Papst durchbricht, wie gesagt, nicht das Dilemma einer Kirchenhierarchie, die nur sich selbst als Heilsquelle anzubieten weiß. Es ist das Dilemma einer Institution, die sich immer noch – obwohl durch die Geschichte schon längst widerlegt – als die enge Pforte versteht, durch die alles Heil der Welt zu gehen hat. Dabei dürfte – wohlgemerkt, aus moralischen Gründen – der Papst keinem Opfer zumuten, sich ausgerechnet erneut diesem Joch seiner Demütigung zu beugen. Deutlicher denn je steht sich diese päpstlich so hoch gepriesene Hierarchiekirche selbst im Weg. Der Brief vermutet, die Missetäter hätten die Konzilstexte falsch gelesen. Es wäre besser gewesen, sie hätten vom Konzil etwas von einer offenen und gesprächsfähigen Geschwisterlichkeit, vielleicht auch etwas von einer menschenfreundlichen Sexualität gelernt, statt sich in die Abgründe ihrer autoritär verdorbenen Sexualphantasien zu flüchten. Von der Neuentdeckung des Volkes Gottes, der aktiven Teilnahme aller Gläubigen und einer neuen Zuwendung des christlichen Glaubens zu den Nöten der Welt ist in diesem Brief leider wenig zu finden. Dabei könnte nur diese Fundamentaloption für eine hilfesuchende Menschheit eine glaubwürdiges Gegentendenz entfalten.

Wo bleibt die Vision?

Für die Zukunft seiner Kirche fordert der Papst eine Vision. Wie recht er hat! Und wie sehr er sich damit entlarvt! Denn die Leser des Briefes erwarten, durch solche Rhetorik neugierig geworden, zumindest einige erste Andeutungen. Vergebens, denn alles, was inspirierend wirken soll, richtet sich auf die Vergangenheit und mit den vielen Verweisen auf überholte Mentalitäten treibt er unsere Hilflosigkeit nur auf die Spitze. Denn offensichtlich ist die große irische Geschichte von damals heute nicht mehr fähig, die gegenwärtigen Herausforderungen zu bewältigen. Europa lässt sich von irischen Missionaren nicht mehr zum Christentum zurückführen, der Katholizismus nicht mehr antireformatorisch stabilisieren und die Welt durch missionarischen Höchstaufwand nicht mehr zur Wahrheit rufen. Wie jedes andere Land, müssen auch Irland und seine Kirche eine neue Epoche mit neuen Antworten bewältigen. So spricht vieles dafür, dass die Kirchen Europas nicht am vermeintlichen Unglauben, sondern an überholten Glaubensformen zerbrechen.

Verwirrung, keine Entdeckerfreude schafft deshalb die Diagnose, die der Papst für die gegenwärtige Situation mit ihren Missbrauchsfällen gibt. Sie selbst ist ein Symptom unserer geistigen Ermüdung. Beim Lesen kann man nur über so viel nostalgische Projektionen staunen. Ratzingers Stichworte lauten: Transformation und Säkularisierung, Verlust frommer Traditionen und falsche Interpretation des 2. Vatikanischen Konzils, Verlust an Respekt vor der Kirche und kirchlicher Lehre. Gleich, ob er die Kirche wiederum auf die Hierarchie verengt oder das ganze Volk meint, in jedem Fall wirkt diese Diagnose kurzsichtig und erschreckend, in ärgerlicher Weise gefährlich und geradezu falsch. Viele der bekannt gewordenen Missbräuche geschahen ja nicht auf Grund des Säkularisierung, sondern Jahrzehnte zuvor. Die dumpftriebigen Täter hatten in jungen Jahren wohl wenig Ahnung von Ideologiekritik und Sexualtheorie, von den abwegigen Formen und der vitalen Dynamik der Sexualität. Von Religionskritik, einer säkularen Weltfreude und den vom Papst so ungeliebten Entwicklungen waren sie noch unbeleckt. Im Gegenteil, die jüngsten Wellen der Säkularisierung und einer zum Gemeingut gewordenen Aufklärung, die wachsende Unabhängigkeit der Gesellschaft von den Kirchen haben die breite Aufdeckung der Abgründe erst ermöglicht. Nein, mit diesen Sätzen redet der Papst nur einer neuen reaktionären Kirchenpolitik das Wort. Bischof Mixa und andere haben für Deutschland in ähnlicher Weise argumentiert. Vor diesem Hintergrund möchte man auch gerne wissen, wer denn das 2. Vatikanische Konzil falsch interpretiert; die päpstlich reaktionären Interpretationsvorschläge sind ja hinreichend bekannt. Wenn man auf die verborgene Polemik dieser Papstworte antworten will, kann man nur sagen: Statt wieder einmal eine Frömmigkeitspraxis von gestern anzubieten, hätte man die Verbrecher lieber zu einem Therapeuten geschickt, für eine angemessene Aufklärung über fehlgeleitetes Sexualverhalten sowie über den Krankheitscharakter solcher Tendenzen gesorgt.

Auf wirklich konkrete und weiterführende Maßnahmen hat Benedikt keine einzige Zeile verschwendet. Wie soll denn die künftige Priesterauswahl und –ausbildung konkret aussehen? Welche Präventionen baut man in das Leben christlicher Gemeinden ein, die für die Zukunft ähnliche Katastrophen verhindern? In welcher Weise greift man auf die Expertise von christlichen (weiblichen und männlichen) Jugendgruppen zurück, um im Gespräch mit ihnen wirksame und von den Eltern kontrollierbare Codes zu entwickeln? Wie will man dafür sorgen, dass Missbräuche schneller aufgedeckt und konsequent bearbeitet werden? Wie stellt man sich den aktuellen und nachhaltigen Umgang mit den Opfern vor, denen die Kirche jetzt ihre Hilfe anbieten muss?

Fragen über Fragen bleiben also offen. Sie zeigen, dass dieser Brief über die entscheidenden Zukunftsfragen gerade nicht spricht. Vor allem wurden die Fragen einer grundlegenden Strukturreform verdrängt, die nicht nur die irische, sondern die ganze Weltkirche betreffen.

Wir wissen: Die katholische Kirche, wie sich in den Hierarchen präsentiert, praktiziert immer noch – unreflektiert und wie selbstverständlich – autoritäre Machtverhältnisse. Prinzipiell lehnt sie Anstöße von unten als ungeprüft und gefährlich oder als unkirchlich ab. Jetzt wäre die Stunde, auf sie zu hören und eine kommunikationsoffene Erneuerung zu initiieren.

Wir wissen: Eine allen Priestern auferlegte Ehelosigkeit führt viel zu oft zu einer verkrampften Sexualität, zu deren Verdrängung und in Konfliktfällen zu einer desaströsen Sprachlosigkeit. Die Behauptung, Missbrauchsfälle hätten mit der Zölibatsfrage nichts zu tun, simplifiziert das komplizierte Thema in unerlaubter Weise. Nicht grundlos haben sich neben den Missbrauchsskandalen selbst die noch schlimmeren Schweigeskandale entwickelt; sie konnten sich nur in einer Atmosphäre angstvoller Abspaltung und in der Atmosphäre von Männerbünden halten.

Wir wissen: Die katholische Kirchendoktrin spricht den Priestern ein Maß an Heiligkeit und sakraler Würde zu, die in der Bibel nicht zu finden und durch sie nicht gerechtfertigt ist, die überdies alle ökumenischen Bemühungen blockiert. Nach der fragwürdigen Standardauskunft dieses Briefes
– gibt sich der Priester (nicht der Christ) dem Apostolat hin,
– erfreut sich der Priester (nicht der Christ) seiner Berufung,
– wird sich Irlands Kirche erneuern, wenn Priester und Ordensleute (nicht wenn Christinnen und Christen) zu Männern und Frauen des Gebetes werden,
– handelt der Priester (nicht der Christ) in der Person Christi.

Genau dieses einseitig klerikale Heiligkeitssyndrom wirft Fragen über Fragen auf. Seit Jahrzehnten werden sie diskutiert. Sie sind engagierten Katholikinnen und Katholiken bekannt, werden bis in die jüngste Gegenwart hinein aber von den Bischöfen perfekt verdrängt. Man muss blind sein, wenn man diese inneren Zusammenhänge leugnen und die Missbrauchsfälle, einschließlich deren jahrzehntelanger Verdrängung, immer noch davon trennen will. Aus dieser Perspektive hilft uns der päpstliche Brief nicht weiter.

Die Rolle des Papstes selbst

Man kann verstehen, dass sich der Papst zur deutschen Situation nicht äußerte. Es ist aber zu bedauern, dass er sich auf die kurzfristige Bereinigung aktueller Fälle, bloßer Symptome beschränkt. Über die Zukunft der Kirche ist nichts zu hören. Noch gravierender aber ist sein Schweigen über die eigene Rolle, die Benedikt in Sachen Missbrauch bislang gespielt hat und immer noch spielt. Es geht mir nicht um seine Rolle im Bistum München; worüber das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Es geht mir um seine Kenntnis aller Fälle, die ihm seit 2001 als dem Chef der Glaubenskongregation gemeldet werden mussten. Denn schließlich hat er selbst eine strenge und weltweite Meldepflicht eingeführt sowie die Überstellung der Akten an seine Behörde angeordnet. Was hat er mit ihnen getan? Warum hat er bei diesem Ausmaß der Entgleisungen keinen Alarm geschlagen? Warum mussten jetzt erst einzelne Priester und Instanzen die Sache an die Öffentlichkeit bringen, so dass die Bischöfe jetzt mit dem Rücken zur Wand stehen? Solange sich der Papst zu diesen Versäumnissen nicht äußert, wird er nur wenige überzeugen.

Noch gravierender ist das strikte, „dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene“ Schweigegebot, das er 2001 den Bischöfen aller Welt unter schwerster Strafandrohung auferlegte und das bis heute noch gilt. Wenig überzeugend ist auch die von Rom verfügte Verjährungsfrist, die zehn Jahre nach Erlangung der Volljährigkeit des Opfers eintritt. Es würde dem Papst gut anstehen, all diese Fehlentscheidungen zuzugeben und die Weltöffentlichkeit dafür um Verständnis oder Vergebung zu bitten. Mehr noch, das Schweigegebot und der Entzug der Akten müssen mit sofortiger Wirkung aufgehoben werden. Andernfalls fehlt der wiederholten päpstlichen Forderung nach Transparenz jede Glaubwürdigkeit. Man stelle sich vor: Da fordert der oberste Dienstherr die Bischöfe aller Welt unter dem Trommelfeuer schwerer Vorwürfe zur öffentlichen Transparenz auf. Zugleich sind sie in ihrem Gewissen und notfalls unter Strafe der Exkommunikation zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Was denn nun? Gilt die Transparenz nur für einige Länder, die sie einfordern, und bedeckt den Rest Ratzingers Mantel des Schweigens?

Es kommt zu Lösungen, wie wir sie in den Leitlinien der deutschen Bischöfe vom September 2002 lesen können. Ganz offensichtlich fühlt man sich dort dem Schweigegebot verpflichtet, gibt das aber öffentlich nicht zu. Deshalb wird gemäß den Leitlinien bei den innerkirchlichen Voruntersuchungen die Staatsanwaltschaft nicht eingeschaltet. Erst bei kirchlich erwiesenen Missbrauchsfällen, also nicht vorher, „wird dem Verdächtigten zur Selbstanzeige geraten[?] und ggf.[?] das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht[?]“. Anscheinend hat das kirchliche Sonderrecht zu so unverbindlichen und wachsweichen Kompromissen geführt. Zugleich rettet der Papst seine eigene Haut, indem er alle Schuld, alles Zögern und allen Transparenzmangel den Bischöfen zuschiebt, denen er doch alle Öffentlichkeit untersagt hat. „Mehr Wahrhaftigkeit, bitte“, hat Hans Küng vor einigen Tagen aus diesem Anlass geschrieben. Man kann diese Forderung nur unterstützen. Denn auch Benedikt XVI. müsste dies wissen: Eine verordnete Strenge, die sich selbst von den gesetzten Maßstäben ausnimmt, führt nur in noch tiefere Widersprüche hinein. Weder die Bischöfe noch der Papst, sondern nur die Stimme des Volkes insgesamt kann aus dieser Krise herausführen.

  1. März 2010
    (Erschienen in: Hirschberg 63 [2010], Nr. 5, 318-324)

Letzte Änderung: 13. Juli 2017