Anima Christi – Einem Gebetstext auf der Spur

Erinnerung

Dieses Gebet spielte viele Jahre meines Lebens eine wichtige Rolle. Als Kinder beteten wir es im Gottesdienst nach der Kommunion, noch immer klingen die hellen und klaren Stimmen in meinen Ohren. Wegen seiner bilderreichen Sprache liebte ich das Gebet, es handelte von einem Leib zum Anfassen, von Blut, Wasser und Wunden, aber auch von der Todesstunde, die mich damals nicht schreckte, sondern neugierig machte. Wenigstens einmal hätte ich sie gerne zum Ausprobieren erlebt. Es lautet:

1. Seele Christi, heilige mich.
2. Leib Christi, erlöse mich.
3. Blut Christi, tränke mich.
4. Wasser der Seite Christi, wasche mich.

5. Leiden Christi, stärke mich.
6. O guter Jesus, erhöre mich.
7. Verbirg in deine Wunden mich.

8. Von dir lass nimmer scheiden mich.
9. Vor dem bösen Feind beschütze mich.
10. In meiner Todesstunde rufe mich.
11. Und lass zu dir dann kommen mich,
damit ich möge loben dich
mit deinen Heiligen ewiglich.
Amen

Später entfaltete dieses Gebet in mir eine meditative Atmosphäre und allmählich eine große spirituelle Tiefe. Irgendwann war es mir zutiefst vertraut, ohne dass mir die Gründe dafür klar waren, und ich wusste nicht, was da mit mir geschieht. Bei den Jesuiten erfuhr ich, dass das Anima Christi eines der Lieblingsgebete des Ignatius von Loyola war und er es an den Beginn seiner Geistlichen Übungen („Exerzitien“ genannt) stellte. Dort steht es bis heute, auch wenn in vielleicht modernisierten Übersetzungen. Wer sich auf die Exerzitien einlässt, wird dazu aufgefordert, jede Betrachtung mit dem Anima Christi zu beginnen oder sie vielleicht mit einem Vaterunser zusammen abzuschließen. Nach Ignatius stimmt es in die Atmosphäre des Betens ein und fördert die innere Ruhe, Frieden und Konzentration, oder es hilft, das innere Wissen festzuhalten, das man in einer geistlichen Übung erworben hat.

Dann aber verschwand dieses Gebet aus meinem Alltagsleben und in den 1960er Jahren, als ungefähr alle Angehörigen meiner Generation ihr geistliches Haus aufräumten, entfernte ich es offiziell aus meinem Gebetskanon. Dogmatisch und biblisch, aber auch psychologisch, ästhetisch sowie angesichts meiner spirituellen Hygiene, so dachte ich, könne es keinen Test mehr bestehen. Doch ohne mein Zutun und zu meiner großen Überraschung blieb es mir im Sinn. Die Gründe dafür sind mit nicht klar. Inzwischen interessiert mich auch nicht mehr, ob seine Präsenz das Zeichen für eine gute oder schlechte Theologie, eine gesunde oder mehr instabile Seelenlage, für die Versöhnung mit meiner Vergangenheit oder deren schlechte Verarbeitung war.

Auch möchte ich hier keine wissenschaftlich streng abgestützte, geschweige denn eine systematisch kohärente Deutung des Anima Christi präsentieren. Ich gehe einfach der Frage nach, welche Assoziationen dieses Gebet in mir hervorruft und warum es mich immer noch interessiert, obwohl es sich mir ‑ bei nüchterner Betrachtung ‑ wie das Gebet aus einer vergangenen Welt darstellt. Denn auch diese andere Welt finde ich nach wie vor interessant; sie war einmal Teil meiner Biographie. Schließlich war es eine Welt von archaischen, immer noch wirkungsstarken Bildern, deren Bedeutungen viel offener sind, als wir gemeinhin vermuten.

Eine lange Vergangenheit

Wichtigste Bezugsquelle dieses Gebets ist für mich die deutsche Übersetzung der ignatianischen Exerzitien aus dem Jahr 1961, die immer noch als wissenschaftlich zuverlässig gilt.[1] Ich lernte, dass das Gebet aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammt. Gemäß dem Lexikon für Theologie und Kirche gehört es zu den beliebtesten mittelalterlichen Christusgebeten.[2] Allerdings ist diese Wertung etwas pauschal, zumal unklar bleibt, was genau mit dem breit angesetzten Begriff „mittelalterlich“ gemeint ist; das Gebet ist zum ersten Mal erst 1314 bezeugt.

Doch auch diese Zeit ist bald sieben Jahrhunderte vergangen. Dass das Anima Christi aber so lange durchhielt, ist eine erstaunliche Leistung und die Gründe dafür sind bemerkenswert. Sicherlich hat besonders Ignatius mit seinen Exerzitien seit etwa 1530 dafür gesorgt, dass es nicht aus der christlichen Erinnerung verschwand. Bald wurde es in der westlichen Kirche vielerorts nach der Kommunion oder zur Begrüßung der Eucharistie gesprochen oder gesungen, bekannt ist es sogar in der (noch existierenden) Altlutherischen Kirche in Preußen und Paul VI. empfahl es im Jahr 1970 erneut als Dankgebet nach der Messe. Inzwischen wurde eine syrische Parallele von ungefähr 800 gefunden und man nimmt an, dass das Gebet über Irland nach Europa gelangte. Angesichts dieser interkulturellen Qualität und eines Alters von 1200 Jahren sind Ansehen und Würde dieses Gebetes enorm.

Sicher hat auch der Stil des Gebets zu seinem langen Erfolg beigetragen. Es zählt seine Inhalte einfach auf, wirkt also wie eine Litanei, die Assoziation an Assoziation fügt und den Betenden ein breites Netzwerk von Gedanken übergibt. Dadurch wird das Gebet wohl auch anpassungsfähig, bei wechselnden Anlässen werden Verse weggelassen oder hinzugefügt, stärker betont oder relativiert. Jede der zahlreichen Metaphern atmet, kann eine unerwartete Kraft entwickeln und unterschiedlichste Situationen mehrfach deuten. So kann ein ganzes Netzwerk von vielfach elastischen Interpretationen entstehen.

Dieser Prozess der sich ständig ändernden Interpretationen erinnert an G. Deleuze und F. Guattari. Sie sprechen von Rhizomen, also von unterirdisch weiter wachsenden „Sprossachsensystemen“, die kein Zentrum und keine Struktur der Überordnung, auch keine entscheidende letzte Wurzel kennen, von der alle Nahrungszufuhr abhängt. Vielmehr kooperiert jeweils ein Geflecht von größeren und kleineren Teilwurzeln; sie hängen miteinander zusammen, beeinflussen und unterstützen einander und übernehmen notfalls sie gegenseitig ihre Funktionen. So bieten die Rhizome ihren Pflanzen eine nahezu unzerstörbare Grundlage. Bisweilen ist nicht einmal das Alter des Systems relevant, da es sich in Teilen ständig erneuert.

So ist mit seinen 1200 Jahren auch das Lebensalter des Anima Christi zu erklären. Einzelne Anrufungen wurden hinzugefügt oder verschwanden, wuchsen in der Mitte oder am Rand hinzu, wurden aus dem einen oder anderen Blickwinkel verstanden. Dieses Gebet hat keine Bedeutung an sich, vielmehr lebt es von Bedeutungen, die sich ergänzen oder kreuzen. Seine assoziative Natur provoziert auch ständig neue Deutungen. Es wirkt eher als Katalysator oder kanalisiert neue Erfahrungen oder Ideen. Schließlich haben wir vor uns kein Aussagesystem, das mir vorgibt, was ich hier und jetzt denken und bedenken könnte. Genauer gesagt: Im intellektuell abstrakten Wortsinn muss ich überhaupt nicht strukturierend denken, vielmehr kann ich mich dem Fluss von Erfahrungen, Ideen, Erinnerungen oder biographischen Codes überlassen, die sich unsystematisch um die Figur Jesu Christi konzentrieren. Das Erfolgsgeheimnis dieses Gebetes liegt, dem Rosenkranz vergleichbar, in dieser offenen Konzentration.

Eine neue Spiritualität

Doch darf es nicht bei solchen allgemeinen Aussagen bleiben. Zunächst konzentriere ich mich auf die (spät)mittelalterliche Epoche, denn trotz starker Unterschiede lassen sich im 14. Jahrhundert einige Verwandtschaften zur Gegenwart entdecken. Es war eine Zeit wachsender politischer und kultureller Turbulenzen und des Zerfalls, auch die Zeit einer kirchlichen Krise, worauf die Hierarchie kaum reagierte. So wurde es zu einer Epoche wachsender Verinnerlichung, in der das Individuum mehr in den Mittelpunkt rückte. Genau diesen Übergang spiegelt das Anima Christi wider. In seiner uns bekannten Form gipfelt es in einem sehr individuellen und persönlichen Ton, genauer gesagt: es hält sich zwischen einer kirchlichen Christus- und einer individuellen Jesusfrömmigkeit in der Schwebe. Nach wie vor ist es ein eucharistisches Gebet, doch seine kirchlichen Assoziationen rücken an den Rand.

Selbst der Hymnengesang im Himmel ist keine Frage der Gemeinschaft mehr: „damit ich möge loben dich“. Ich werde Gott preisen, und sei es mit den Heiligen zusammen (Vers 11). Es geht also nicht mehr um uns Individuen, nicht mehr um die Erlösung, die die Kirche der Welt anbieten kann, sondern um meine persönliche Jesusbeziehung. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem kosmischen Christus, dem Wort oder dem inkarnierten Sohn, sondern auf Jesus, dem ich nach meinem Tod begegnen werde. Schon geringfügige Änderungen könnten diese Frömmigkeitsbasis von Grund auf ändern. Man bräuchte nur Vers 6 wegzulassen (den einzigen Vers, der Jesus mit Namen nennt) sowie den abschließenden Vers 11 zu ändern: „damit wir mögen loben dich“. Schon wäre die eucharistisch kirchliche Ausrichtung wiederhergestellt.

Unbestritten folgt diese neue Spiritualität den tiefgreifenden Veränderungen des Kirchenbilds im 12. Jahrhundert. Zuvor galt die Kirche als wahrer, wirklicher Leib Christi (Corpus Christi verum), d.h. als die Verwirklichung und Frucht der Eucharistie, die als symbolischer (= mystischer) Leib, als Corpus Christi mysticum umschrieben wurde. Doch dieses Interpretationssystem änderte sich, wie wir heute wissen, im Zuge der Gregorianischen Reformen. Jetzt wurde man konkret und machte das Heil verfügbar. Also wurde der wahre (weil sichtbare) Christusleib in das eucharistische Brot verlegt und für die Kirche, die ja nur noch Heilsmittel war, blieb nur noch ein symbolischer Leib übrig. Die Transsubstantiationslehre von 1215 unterbaute diese Wende und 1264 wurde die Feier des „Fronleichnam“ (Herrenleibes) offiziell eingeführt. Damit trat die gottmenschliche Person Jesu, insbesondere sein Leib, den man jetzt geradezu kontrafaktisch, nämlich als paradox empirische Wirklichkeit erfasste, geriet mit seiner verdinglicht massiven Deutung ins Zentrum der frommen Gefühle. Daraus ergeben sich zwei wichtige Folgerungen.

Die erste Folgerung führt zu einem neuen Interesse an der menschlichen Person Jesu von Nazareth. Man gibt sich nicht mehr mit der Vorstellung zufrieden, Christus sei (vorerst) nur in Form der Kirchengemeinschaft gegenwärtig. Offensichtlich werden diese Gedanken durch die zunehmende Institutionalisierung und Verrechtlichung der westlichen Kirche untergraben. Vielmehr will man jetzt Jesus in empirischer Direktheit sehen, als Speise empfangen und anbeten in den eucharistischen Gestalten, in denen er zugleich zur unübertrefflichen Gnadenquelle wurde. Wir können diese Entwicklung nicht einfach auf magische Bedürfnisse zurückführen (obwohl natürlich auch sie eine Rolle spielen), dafür ist das Bedürfnis nach der Gegenwart der Person Jesu viel zu zentral; bei Franz von Assisi (1181-1226) können wir eine vergleichbare Entwicklung entdecken.

Ikonographisch wird diese Entwicklung am Altar von Verdun eindrucksvoll illustriert. Dieser Altar befindet sich in Klosterneuburg, der alten kaiserlichen Residenz, die bei Wien nach dem Vorbild des Escorial errichtet wurde. Diese Veränderung wird in hochdramatischer Weise an der Altarwand deutlich: Für die einzelnen Wandbilder verwendet der Künstler von Verdun insgesamt 45 Kupferplatten. Auf ihnen kratzt er zunächst die Konturen seiner Bildmotive ein, danach werden die Gravuren in farbiger Emaille ausgearbeitet.

Auf einer Platte bereitet der Künstler die Darstellung der Auferstehung Christi vor. Ikonographisch geschieht dies in traditioneller Weise; im wahrsten Sinne des Wortes soll es ein kenotisches (die Leere darstellendes) Bild werden. Ganz im Sinne der evangelischen Berichte ist nichts vom auferstandenen Herrn zu sehen. Gezeigt werden nur das leere Grab und die schlafenden Wächter. Doch um 1320 scheint der Künstler zu sterben, sodass ein Nachfolger die Arbeit übernimmt. Doch was tut jetzt dieser moderne junge Mann? Die Auferstehungsplatte zeigt jetzt deutlich mehr, nämlich den auferstandenen Herrn, der mit seinem verklärt leuchtenden Leib triumphierend über dem Grab schwebt. Er hat den Tod besiegt und jeder kann ihn sehen. Diese neue Darstellung illustriert auch die besprochene Titelverschiebung vom mystischen zum wahren Leib deutlich. Jetzt, da Jesus, der auferstandene Herr, so massiv gegenwärtig ist, also realistisch über dem Grab und in der Eucharistie erfahren wird (so greifbar wie damals beim ungläubigen Thomas), bleibt für die Kirche nur noch der Platz des mystischen Leibes.

Bis heute hat sich diese komplementäre Vorstellung gehalten. Kirche und kirchliche Gemeinden präsentieren sich primär nicht mehr als eine Gemeinschaft, die Christus verwirklicht und das gemeinsame Heil darzustellen versucht. Vielmehr ist sie zum Mittel und Instrument dafür geworden, dass Jesus Christus und sein Heil möglichst direkt erreicht werden. Sogar die Kirchenkonstitution des 2. Vatikanums hat zum Schaden seiner Gesamtkonzeption diesen instrumentellen Charakter der Kirche übernommen: Die Kirche sei ja „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott“ (Kirchenkonstitution 1). Das bleibt weit hinter dem biblischen Kirchenbild zurück.

Die zweite Folgerung bedarf in den Niederlanden keiner langen Erklärung, denn die damaligen Niederen Lande wurden mit der devotio moderna zum Ausgangspunkt einer außerordentlich fruchtbaren Spiritualität, einer verinnerlichten Individualität. Auch diese Bewegung begann im 14. Jahrhundert, ließ sich von der Mystik inspirieren und wirkte sich intensiv auf die Frömmigkeit der kommenden Jahrhunderte aus. Die Losung lautete jetzt nicht mehr: Jesus verehren und sehen, sondern: Jesus in Demut und Gemeinschaft folgen, ihm im Gebet begegnen und sich zurückziehen von der Welt. Diese neue Bewegung gibt keiner Magie und keinem Sakramentalismus Raum, sondern setzt auf eine außerordentlich dynamische persönliche Beziehung zu Jesus. Jetzt zeigt sich endgültig, dass die prägende Kraft des spätantiken Kirchenbildes verschwunden ist. Diese neue Frömmigkeit ist nicht einfach zu verurteilen, zudem nimmt sie ein Menschenbild vorweg, das in hohem Maße die Neuzeit bestimmen wird. So sucht man hinter Christus jetzt den Menschen Jesus und es überrascht nicht, dass das Anima Christi zu einem der wichtigsten neuzeitlichen katholischen Gebete wird, denn exakt in seiner Mitte wird der Name Jesu genannt.

Diese Entwicklung kann jetzt auch erklären, warum – theologisch gesehen ‑ das Anima Christi in zwei Flügelteile geteilt ist (und vermutlich aus zwei Perioden stammt). Im engeren Sinn des Wortes sind die Verse 1 bis 4 christo-logisch strukturiert, sie aktivieren jeweils ein theologisch hoch bedeutsames Symbol. Verse 8 bis 11 hingegen sind jesu-logisch strukturiert und auf persönliche Situationen bezogen. Verse 5 bis 7 bilden den auf Leiden bezogenen Kernteil. Diese theologische Dreiteilung ist für das Verständnis der Entstehungsgeschichte von großer Bedeutung.

Ignatius von Loyola

Als nächsten Schwerpunkt wähle ich die 1520/30er Jahre, in ihnen stoßen wir auf Ignatius von Loyola (1491-1556). Er nimmt ebenfalls eine jesu-logische Entwicklung, die wohl auch seine Wertschätzung des Anima Christi begründet. Meines Wissens kannte er die Devotio Moderna, die damals mit der Mystik verbunden war, nicht direkt. Aber zu den starken mystischen, offiziell bekämpften Bewegungen seines eigenen Landes hatte er intensiven Kontakt. Dazu gehörte die spirituelle Bewegung der Alumbrados, die versuchten, Kirche und Welt durch Übungen der Demut und Liebe, durch Schriftlesung, die Suche nach mystischen Erfahrungen und inneres Gebet zu erneuern. Auch dort war das Anima Christi bekannt.

Ab 1521 änderte Inigo/Ignatius sein Leben radikal. 1523 begann die Epoche seiner tiefen mystischen Erfahrungen und 1528 siedelte er zum Theologiestudium nach Paris über, wo er seine ersten Gefährten fand. Man kann nicht sagen, dieses Studium habe bei ihm profilierte Spuren hinterlassen, schließlich fanden die theologischen Revolutionen damals im deutschsprachigen Raum statt. Doch jetzt konnte er seine spirituellen Umbrüche von Pamplona, Montserrat und Manresa in die größeren Reflexionsräume theologischen Denkens einordnen und er wurde mit dem amtlich definierten Selbstverständnis der Kirche vertraut; seine Frömmigkeit bekam einen umfassenden Rahmen. So wurde er sich des weiten Kontextes bewusst, den ‑ über die mystisch verinnerlichten Erfahrungen hinaus ‑ das Anima Christi bot. Ich möchte zwei Aspekte erwähnen.

Der erste Aspekt ergibt sich aus der Funktion, die das Anima Christi in den Exerzitien übernimmt. Zwar steht es als Eröffnungsgebet am Beginn der Exerzitien, doch ist es bei jeder einzelnen Übung vor dessen Beginn oder zu dessen Abschluss zu wiederholen. Zugleich werden die Exerzitienkandidaten bei jeder geistlichen Übung dazu aufgefordert, ihre Gedanken, Inspirationen und Entscheidungen weiter zu überdenken. Doch jetzt kommt es nicht mehr einschichtig auf die persönlichen Heilsfragen an, wie das in sich isolierte Anima Christi es nahelegt, sondern auf das Jesusbild, das da jeweils verhandelt wird. Die meisten Übungen spüren ja ‑ in Meditation, Kontemplation oder durch die Anwendung der fünf Sinne ‑ den „Geheimnissen“ des Lebens Jesu nach. Meditiert werden Geburt und Kindheit Jesu, die in den Evangelien berichteten Ereignisse seines Lebens, ferner Leiden, Tod und Auferstehung. So versuchen die Kandidaten immer neu, sich mitten in dieses Jesusgeschehen hineinzustellen, an ihm teilzunehmen und ein Gespräch mit Jesus, Maria oder den Aposteln zu führen. Immer kommt es auf die Perspektive, sagen wir: auf die in den Evangelien vorgegebenen Leitlinien an, die an das eigene Leben gestellt werden.

Das hat Folgen, denn jetzt lebt der jesu-logische Teil des Anima Christi von einer unübertrefflichen Direktheit, Beteiligung und narrativer Jesusnähe, damit ist die enge, letztendlich recht subjektive Fixierung gebrochen, die das Anima Christi aus sich heraus nahelegt. Jetzt wird es nicht mehr auf die je eigenen Fragen nach Tod, Teufel und Letztem Gericht orientiert, sondern auf den Sinn und die Aussagekraft der Jesus-Geschichten. Nicht als ob die persönlichen Fragen jetzt ausgeschaltet wären, aber sie treten in jesuanische Perspektiven ein. Die grundlegende Botschaft des Gebets lautet nicht mehr, ich sei bei all meinen Problemen auf die Hilfe Jesu angewiesen, sondern: die Jesus-Geschichten betreffen, verändern und heilen mein Leben, meinen Tod und meine Sündenangst, denn sie stellen mir in unterschiedlichsten Zusammenhängen dar, was ich von Gott und was Gott von mir erwarten kann. Meines Erachtens erwartete Ignatius vom Anima Christi diese Ausrichtung, eine innere Ent-subjektivierung, eine Öffnung und jesu-logische Konzentration, nicht also die ziemlich bedrückende und ängstliche Wiederholung dessen, was mir am Ende meines Lebens passieren könnte. Letzteres scheint mir eher das Missverständnis ignatianischer Spiritualität im 19. Jahrhundert zu spiegeln.

Der zweite Aspekt ergibt sich aus der gegenläufigen Tatsache, dass das Anima Christi trotz allem nicht mit jesu-logischen, sondern mit vier christo-logischen Versen beginnt. Während seines Theologiestudiums hat Ignatius wohl entdeckt, dass Glaube und christliche Praxis sich nicht auf eine Begegnungs- und Vereinigungsmystik mit Jesus reduzieren lassen. Schließlich kennen die ignatianischen Exerzitien auch andere Dimensionen. Man denke an die Meditationen über
(1) das „Prinzip und Fundament“ unseres Lebens,
(2) die „Zwei Banner“, die mich zwischen Christus und Satan entscheiden lassen; in der christlich-theologischen Sprache seiner Zeit gesagt: Es geht um die Entscheidung für oder gegen Christus,
(3) die „Wahl“ unseres Lebens, also die Notwendigkeit, in Welt und Leben klare Optionen zu treffen im Blick auf das Gute, das zu akzeptieren und das Böse, das abzulehnen ist. Schließlich vergesse man nicht die Betrachtung
(4) zur Erlangung der Liebe, die am Ende der Exerzitien alle gewonnene Inspiration in diese Welt einbringt; Gott solle und darf in allen Dingen gesucht werden.

Zur Klärung dieser Prinzipienfragen steht neben der Jesu-logik eine Christo-logik, die Ignatius in diesen Stücken ebenfalls vorantrieb. Ich habe den Eindruck, dass die ignatianische Spiritualität diese beiden Dimensionen in eine dynamische Wechselwirkung und in ein angemessenes Gleichgewicht gebracht hat.

So gesehen werden die ersten vier, nämlich die älteren christo-logischen Verse des Gebets wieder interessant. Mit Seele und Leib, sowie Blut und Wasser werden wichtige theologisch-kirchliche sowie eucharistische Elemente aktiviert, die einem umfassend funktionierenden Ziel dienen. Die ignatianische Gesamtspiritualität führt also zu keiner idyllischen (vielleicht unwirklichen und egozentrischen) Begegnung mit Jesus, sondern erfordert ein breites Konzept, in dem die Fragen dieser Welt mit zu verhandeln sind. Dass diese für Ignatius ein Garant für den kirchlichen Christus sind, sei nur nebenbei angemerkt. So spielt bei Ignatius das Anima Christi gerade wegen seiner Doppelfunktion eine wichtige Rolle.

Inhalte 1: Blut und Wasser

Wie ist mit diesem Gebet heute umzugehen? Natürlich habe ich dafür kein Rezept anzubieten und klar ist mir, dass man den Stellenwert dieses Gebets nicht übertreiben sollte. Aber warum begleitete es mich in meinen Assoziationen immer wieder? Meines Erachtens liegt der Grund dafür in seiner ausdrucksvollen Sprache, seinem komplexen Charakter und seiner schwebenden und offenen Struktur.

Beginnen wir mit den Versen 1 bis 4, den vermutlich ältesten Versen des Gebets. Sie zeugen, wie wir sahen, gerade nicht von einer spätmittelalterlichen Innerlichkeit, sondern von der kirchlich eucharistischen Spiritualität, die in der Kirche der Spätantike entwickelt wurde. Verse 1 und 2 (Leib und Seele) bilden eine erste Einheit: Die hier genannte Polarität von Seele und Leib spielen nicht nur in der klassischen Christologie, sondern auch in der mittelalterlichen Eucharistielehre eine wichtige Rolle. Zu einer Zeit der hohen Christologie war zu betonen, dass der Leib Christi nicht nur eine zusätzliche Angelegenheit ist. Jesus war als Mensch in unserer Mitte und trat als solcher für uns ein. In Gottes Erlösung ist also die ganze Welt einschließlich ihrer materiellen Seite einbezogen, die menschliche Natur eingeschlossen. In der späteren, auf eine massive Sakramentalität ausgerichteten Zeit war umgekehrt klarzustellen, dass Jesus nicht einfach magisch anwesend ist, also nicht nur materielle Signale mit Fleisch und Blut umfasst, sondern auch seinen Geist, sein Erkennen und Wollen. Angesichts der frühen christologischen Diskussionen signalisieren Seele und Leib also die Gesamtheit des Erlösungsereignisses. Es geht, modern gesagt, um ein ganzheitliches Signal.

Auch Verse 3 und 4 (Blut und Wasser) bilden eine integrale Einheit. Ihre Doppelsymbolik stammt aus Joh 19,34: „Einer der Soldaten durchbohrte seine Seite mit einer Lanze, und sofort kamen Blut und Wasser heraus.“ Schon das Johannesevangelium formuliert damit eine symbolische Kohärenz, die in der Alten Kirche vielfach reflektiert und diskutiert wurde. Das Blut erinnert an Jesu Tod, die Eucharistie und deren heilende Wirkung. Das Wasser bezieht sich auf Gottes Geist („Ströme lebendigen Wassers werden aus ihm fließen“, Joh 7,18), auf die Wahrheit, für die Christus jetzt steht, sowie auf die Taufe, durch die wir alle Teil dieses lebensspendenden Geistes werden. Nach einer alten Metapher wurde die Kirche aus der Seite Jesu geboren. Zugleich lässt sich zeigen, dass der Leib- und der Seelevers (1,2) den Leib- und den Blutvers (3,4) umfangen; nur so ergibt das Tränken und Waschen einen plausiblen Sinn.

Inhalte 2: Leiden

Die Verse 5 bis 7 (Leiden, Erhörung, Bergung in den Wunden) bilden als Kerneinheit das Zentrum des Gebets. Dabei führt ein zeitgemäßes theologisches Denken zu Problemen, denn nach unseren Maßstäben formulieren diese Verse eine einseitige Leidensspiritualität. Vers 5 macht das Leiden Christi bedingungslos zur Quelle der Stärke. Vers 6 erinnert an den guten Verbrecher (Lk 23,42), der Jesus bittet, ihn im Königreich nicht zu vergessen. Vers 7 macht zweifelsfrei klar, dass es sich um ein Sterbegebet handelt. So wird das ganze Leben als ein Leidensgeschehen und als eine Vorbereitung auf den Tod verstanden; von daher versteht sich auch die schwierige Metapher des Verbergens in Jesu Wunden.

Dieser mittlere Abschnitt wirft also die meisten Fragen auf. Warum wird neben Jesu Tod nicht auch Jesu Auferstehung erwähnt? Warum versandet hier der große Atem der ersten vier Verse? Jetzt befasst sich der betende Mensch nicht mehr mit dem Geheimnis der göttlichen Heilszusage, vielmehr bestimmen seine subjektiven Ängste die Dynamik des Gebets. Die Betenden geben sich nicht dem großen Drama der Erlösung hin, sondern möchten eine Antwort auf ihr höchst individuelles Problem, nämlich ihr persönliches Seelenheil.

Inhalte 3: Sterben und Tod

Dann folgen die Verse 8 bis 11, der letzte Gebetsteil, der das klassische Drama der Letzten Dinge thematisiert, dies wiederum mit zwei Einheiten: dem Drama des Falls und dem Drama des endgültigen Endes. Das Drama des Fallens fällt in zwei Aspekte: Gemäß Vers 8 fürchtet der Mensch, er werde nicht von Jesus geführt, so dass er seinen Weg alleine gehen muss und vom Satan überwunden wird (Vers 9). Das Drama des endgültigen Endes bildet wiederum ein Gegengewicht zur Hoffnung, indem es traditionelle Elemente der christlichen Eschatologie aufgreift: Christus ruft den Menschen in der letzten Stunde (Vers 10) und steht beim Letzten Gericht vor Christus (Vers 11). Auch hier setzt sich das Spätmittelalter durch. Diese Verse machen noch einmal deutlich, was das Problem dieser Frömmigkeit ist: eine Egozentrik, die nur an ihre eigene Zukunft denkt. Alle kosmischen Aspekte, die Frage nach der Zukunft der Geschichte und der Menschheit sind ausgelöscht. Hier schon wird klar, warum Luther später dem Rechtfertigungsproblem eine so individualistische Färbung geben wird.

Inhalte 4: „O guter Jesus“

Doch ist da noch ein Element, das zu denken gibt und die von mir vorgeschlagene Struktur ins Wanken bringen könnte, denn bei näherer Betrachtung stellt sich noch eine ganz andere, konkurrierende oder ergänzende Dynamik heraus. Bisher hatten wir drei Teile rekonstruiert: Den Gebetsbeginn mit den vier klassisch theologischen, den „objektiveren“ Versen (1-4), die drei zentralen Verse mit der Anrufung Jesu (5-7). schließlich die letzten vier Verse, die ein eher individualistisches Sterbegebet formulieren (8-11).

Doch wäre auch eine andere Struktur möglich: Das gesamte Gebet ließe sich als eine symmetrisch ausgearbeitete Einheit verstehen. Der erste und der letzte Teil bilden als Außenflügel Gegenpole, das Mittelstück formt den Kern des Gebets. Gemäß dieser Analyse entsprechen die Verse einander von außen nach innen: der erste dem letzten (1/11), der zweite dem zweitletzten 2/10) und so weiter:
– Wer also im Geist Gottes geheiligt ist, wird letztendlich zur endgültigen Erlösung berufen (1/11),
– wer in den Leib Christi eingebettet ist, muss die große Krise seines sterbenden Leibes nicht mehr fürchten (2/10),
– das Blut des sterbenden Christus erscheint als letzte Garantie gegen den Feind (3/9) und
– die Taufe in Jesus Christus stellt sicher, dass wir nicht länger von Christus getrennt sind (4/8).
Auch die extreme Individualität der Sätze 8-11 wird ausgeglichen, indem sie auf die entsprechenden Kontersätze bezogen werden. Aus dieser streng symmetrischen Interpretation ergibt sich eine Dialektik von objektiver Erlösung und persönlicher Anwendung, von Gabe und Wirkung.

Letztlich führt diese Interpretation zur Schlussfolgerung, dass das Anima Christi als Leidensgebet, bzw. ein Gebet im Leiden zu verstehen ist. In einer extremen Verdichtung der klassisch christlichen Symbole (1/4) zeigt sich die eigene Stärke im Heil Christi (8/11). In seinen Wunden geborgen zu sein, gereicht zum großen Glück (5/7). Schließlich bleibt der zentrale und entscheidende Vers übrig, der den Kern und das zentrale Motiv des gesamten Gebets darstellt. Es ist der einzige Vers, der den Namen Jesu erwähnt: O guter Jesus, erhöre mich!

Ich behaupte nicht, dies sei die einzig richtige Interpretation, doch angesichts der endgültigen Gestalt, die das Gebet schließlich gefunden hat, lässt sie sich gut verteidigen. Der letzte Redakteur deutete das Anima Christi als einen einzigen Anruf an den guten Jesus. Sollten die zuvor offengelegten Strukturen dennoch im Recht bleiben, dann zeugt dies nur von der Genialität des Endredaktors, der mit Struktur und Inhalten des Gebets im besten Sinn des Wortes bewahrend, also konservativ umging. Denn die älteren Formen christlicher Spiritualität blieben erhalten. Erhalten blieben die altkirchliche Spiritualität (1-4) und die spätmittelalterliche Frömmigkeit (8-11). Die ersten Verse lassen sich interpretieren als eine Art Initiation in die kirchliche Symbolwelt von Erlösung und Gnade, die letzten als Ausdruck des sich nach Heil sehnenden Menschen.

Eine andere Fortsetzung: Nachfolge Jesu

Wie sich zeigte, führt auch eine kritische Analyse des Gebets nicht zu eindeutigen Schlüssen. Auch gestehe ich gern, dass das Gebet für mich persönlich mit Vers 6, dem Ruf nach Jesus endet. Ich bedauere das, weil ich dem Gebet eine andere Fortsetzung wünschte. Klar ist, dass wir nicht mehr auf das 8., 14. oder 16. Jahrhundert zurückgehen können. Seit dem Zweiten Vatikanum ist, wie mir scheint, die Zeit für diese Formen von Spiritualität abgelaufen, mögen wir sie auch eucharistisch oder individuell, christo-logisch oder jesu-logisch nennen. Denn das Gebet lässt einen Aspekt vermissen, den es in der Spiritualität des 14. Jahrhunderts ebenso gab wie in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Das ist die Nachfolge Jesu.

Natürlich hat sich auch die Bedeutung dieses Begriffs dramatisch verändert. Damals stand der Gedanke der persönlichen Vollkommenheit im Zentrum; in Wirklichkeit zielte er auf eine elitäre Haltung. Heute verstehen wir den Begriff der Nachfolge radikaler, mehr im Sinne des Evangeliums. Christ sein meint einfach, Jesus nachzuahmen, im Licht und in der Kraft Jesu zu handeln. So gesehen ist der christliche Glaube weder ein für wahr halten noch ein individuelles Vertrauen, wie er im Anima Christi beschrieben wird. Dem Evangelium gemäß ist der christliche Glaube eine Lebenspraxis. Deshalb sollte ein Gebet, das die christliche Existenz von innen heraus charakterisiert, auch nicht die Dimensionen des eigenen Handelns, der Solidarität und der gemeinsamen Weltzukunft übersehen.

Es wäre daher interessant, das Anima Christi zu erneuern in einer zweiten Version, die einer zeitgenössischen, auf eine solidarische Lebenspraxis ausgerichteten Spiritualität entspricht und diese in einer ebenso dichten Bildsprache zusammenfasst.

Ursprünglich in niederländischer Sprache erschienen: Anima Christi, in: G. Ackermans e.a., Voor de mens die er nog in gelooft. Overwegingen bij psalmen, lederen en gebeden. Aangeboden aan Leo Meulenberg, Nijmegen 1998, 168-182.

Anmerkungen

[1] Ignatius von Loyola. Geistliche Übungen, neu herausgegeben von Emmerich Raitz v. Frents, Freiburg 131961.

[2] Art. Anima Christi, sanctifica me, in LThK 1, 3. Aufl., Freiburg 1993.