Zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen. Ein Blick in die nachkonziliare Zeit

Aus guten Gründen hat das 2. Vatikanische Konzil die Römisch-Katholische Kirche in eine schwere Krise geführt. Wer seine Absichten ernst nimmt,  repetiert nicht getreu seine oft unausgeglichenen Texte, sondern geht auf die Nöte und Erwartungen der Menschen ein.

Eine Auseinandersetzung in drei Teilen

Teil A:
Über die zwiespältigen Folgen des 2. Vatikanischen Konzils

Das 2. Vatikanische Konzil ist nun über 25 Jahre alt. Für jüngere Menschen gehört es schon zur Vergangenheit. Für uns und unsere Frage ist es noch immer interessant. Noch immer bildet es den Bezugspunkt der jüngsten Kir­chengeschichte sowie aktueller Entwicklungen. Aber es hat eine zwiespältige Wirkung. Fortschrittliche Theologen berufen sich auf die von ihm gesetzten Zeichen. Sie teilen die Kirchengeschichte in eine vor- und in eine nachkon­ziliare Zeit ein. J. Ratzinger und „Vatikanische Kreise“ finden das Unsinn. Die Kirche habe einen langen Atem. Das Konzil kann nicht mehr bedeuten als ein Schritt in der großen Kontinuität der katholischen Kirche. Was soll denn ein Konzil nach 20 vorhergehenden? Welche Bedeutung hat denn ein Konzil, das sich zu keiner Definition eines Dogmas durchringen konnte.

Aber die Texte dieses Konzils finden noch immer höchste Autorität. So müs­sen auch sie mit ihnen argumentieren. Und da wir Theologen schon immer Virtuosen waren in der Interpretation von Texten, im Heraus- und Hineinle­sen von Bedeutungen, haben sich im vergangenen Vierteljahrhundert Scha­ren von Theologen, Predigern, Bischöfen und Seelsorgern über die Texte hergemacht, um sie angemessen zu lesen oder auszubeuten.

Allerdings, auch nach 25 Jahren hat sich noch keine einhellige Interpreta­tion ergeben. Der Grund dafür ist einfach: sie sind nicht eindeutig, weil sie das Ergebnis ungezählter Einflußnahmen, Machtproben, administrativer und publizistischer Aktionen und autoritärer Einflußnahmen sind, also hochkom­plizierte Kompromissen sind. Streckenweise sind sie den Papieren einer großen Koalition zu vergleichen, in der sich rechte und linke, elitäre Grup­pen und Volksparteien, Intellektuelle und Machtpragmatiker, junge Bewegun­gen und etablierte Machtapparate finden müssen. Das Ergebnis sind oft un­ausgereifte Kompromisse. So kommt es darauf an, welchen Textpassagen man – je nach Standpunkt – eine Schlüsselrolle zugesteht. Traditionelle Texte können dann als Rettungsanker des Wahren Glauben oder als Reste einer konservativen Position gesehen werden. Fortrschrittliche Text dagegen als der entscheidende Durchbruch oder als Extreme eines modernistischen Glau­bensverständnisses. Exemplarisch läßt sich das an einer Dauerdiskussion belegen, die seit 25 Jahren nicht mehr verstumm ist. Sie lautet: Ortskirche oder Zentralismus? Für beide Positionen lassen sich elege finden. Welche be­kam vom Konzil also recht? Welche sind nur Zugeständnis und in welchen schlägt des Konzils? Dies läßt sich kaum beantworten. Der Grund dafür liegt aber nicht einfach darin, daß die Texte schlecht gearbeitet sind. Genau be­sehen spielen dabei mindestens drei Faktoren eine Rolle, die einander über­lagern.
1. Der Faktor der Kirchenpolitik: Für das Verständnis eines Textes ist es wichtig, die kirchenpolitische Gruppierung zu entdecken, die hinter einem bestimmten Text steht und ihn „authentisch“ interpretiert. Frage: Welche der „Konzilsparteien“ steht hinter einem bestimmten Text?
2. Der Faktor der kirchlichen Eliten (Intellektuelle und Kirchenführer): Für das Verständnis eines Textes ist es wichtig zu sehen, wie er von „Eliten“ ( = Theologen, Bischöfen und „Laien“) interpretiert wird. Frage: Wie versteht ihn der „einfache Gläubige“, wie die Bischöfe, die Kirchenrechtler, die Theologen?
3. Der Faktor des kulturellen Situation (Aktuelle Probleme, Zeitgeist): Für das Verständnis eines Textes ist es wichtig zu sehen, in welcher Zeit ein Text geschrieben ist. Kann er noch verstanden werden, wenn der Zeitgeist umschlägt, der kulturelle Kontext sich verändert?

Um diese Fragen geht es heute nachmittag. Wir werden begreifen müssen, daß wir uns nicht einfach und ungeniert auf „das Konzil“ berufen können. Es geht um Vor- und Nachgeschichten, u,m ursprüngliche Intentionen und Begründungszusammenhänge, um Machtfaktoren und kulturpolitische Kon­texte. In ihnen hat das Konzil seine Botschaften formuliert.

Ich leite die Lektüre und Interpretation einiger Konzilstexte mit einigen Hinweisen zu Kontext und Ergebnis ein.

I. Konzil in einer Zeit des Aufbruchs

Beginn der sechziger Jahre war eine Zeit des charismatischen Aufbruchs und der charismatischen Figuren. Die Nachkriegsjahre mit ihren Problemen und Nachwehen schienen – jedenfalls im Westen – endgültig überwunden zu sein. Zwar gab es noch den Kalten Krieg, den Eisernen Vorhang, ein geteil­tes Deutschland und ein geteiltes Korea. Aber die Mauer war noch nicht ge­baut, und manch einer wartete noch auf den Zusammenbruch des real exi­stierenden Sozialismus. In den USA war die Kommunistenjagd abgeflaut, das moralisch-missionarische Selbstbewußtsein aber nicht erloschen. Die Kolonien waren bis Ende 1960 großenteils in die Unabhängigkeit entlassen und harr­ten ihrer großen Freiheit. Pius XII, der große, inzwischen aber versteinerte Repräsentant des Weltkriegskatholizismus war verstorben. Ein Papst folgte ihm nach, der die Fenster weit öffnete. Die ganze Welt, so dachte man in den USA, stand vor dem take-off. Die 60er Jahre wurden von der UNO zum Entwicklungsjahrzehnt erklärt.

1961 trat das von J.F. Kennedy gegründete Friedenskorps der Entwick­lungshelfer in Aktion. In einem Jahrzehnt, so die Hoffnung, werde die „Unterentwicklung“ der Dritten Welt unter Abkehr vom bisherigen „Dollarimperialismus“ (aber eben doch mit Hilfe von Dollars) überwunden sein. Die versprochene Landung auf dem Mond, Reaktion auf den Schock des russischen Sputnik, sollte den Aufbruch zu den neuen Grenzen, die Überle­genheit des Westens, den Sieg der Freiheit und ihres technisch potenzierten Fortschritts unwiderlegbar dokumentieren. Ein Vergleich mit der innerkirch­lichen Aufbruchsstimmung ist frappant. Eben noch von Selbstzweifeln ge­plagt erstand eine katholische Kirche vor den Augen der Welt, die mit ihren uralten Riten und Zeremonien Macht, Einheit und eine Orientierung bieten konnte, auf die Europa und die Welt warteten. Gerade noch zensiert und in den Untergrund gedrängt konnten reformgesonnene Theologen nun offen über ihre Zuwendung zur Welt, über ihr Vertrauen auf Menschlichkeit und Freiheit, über das Ineinander von Natur und Übernatur sprechen. Die Bewe­gung war ungeheuer. Das Fernsehen erlebte einen Höhepunkt, neben dem sich königliche Staatsbesuche eher bescheiden ausnahmen. Was jetzt auf­brach, sollte nicht mehr zu stoppen sein. Die Dynamik und die Erfahrungen des Aufbruchs waren jetzt wichtiger als in Gesetz und genaue Lehre gegos­sene Visionen. Strukturen wurden durch Ereignisse, die Normen der Ver­gangenheit durch die Erwartungen der Zukunft, der jahrhundertelange Dammbau durch Öffnung der Schleusen ersetzt. Was sollte da eigentlich noch mißglücken?

Im Dezember 1965 wurde das im Oktober 1962 eröffnete Konzil nach dreijäh­riger Dauer geschlossen. Gemessen an früheren Konzilien waren Textproduk­tion, aber auch die theologische Begleitung und Reflexion, die Öffentlich­keitsarbeit, die Anteilnahme kritischer Intellektueller und Wissenschaftler, das Interesse anderer Kirchen, aber auch der Arbeitsaufwand der teilneh­menden Bischöfe gewaltig. Auch hier waren neue Grenzen erreicht. Die nicht erledigten Probleme – meist innerkirchlicher, aber grundlegender Art – konnte man zur alsbaldigen Erledigung der neuen Zeit überlassen. Die einer Mondlandung gleichenden Fernziele (Aufhebung der Zölibats oder eine revi­dierte Sexualmoral; die Wiedervereinigung der Kirchen sowie die Versöhnung von Glaube und Wissen, die Rehabilitierung ungezählter „Häretiker“ sowie eine durch und durch schriftgemäße Theologie) schienen erreichbar.

Was ist daraus geworden? 1969, am Ende des Jahrzehnts also, war die Mondlandung zwar gelungen, aber der Glanz der Hoffnungen war gründlich verblaßt. Der ganze Zwiespalt des Aufbruchs war inzwischen deutlich gewor­den. Trug er bloß die Hohlheit einer Nierentischkultur? Nein, aber seine Ab­gründe und die durch ihn geweckten Ängste hatten wir unterschätzt. J.F. Kennedy 1963, M. L. King 1969 ermordet; die USA im Vietnamkrieg verhäng­nisvoll engagiert und die Rassenprobleme des Landes brennender denn je. Bürger- und Stellvertreterkriege sind in den Ländern der Dritten Welt in­zwischen an der Tagesordnung. Statt neu erstarkter Länder der Zusammen­bruch demokratischer Strukturen unter der Ideologie der nationalen Sicher­heit. 1968 überflutet die Protestwelle der Studenten Nordamerika und Eu­ropa. Das Ausmaß der Zäsur wird lange nicht begriffen. Was war aus dem Aufbruch dieser Jahre geworden?

Es war trotz allem Moralismus kein unschuldiger Aufbruch gewesen. Er war es bei allem religiösen Enthusiasmus auch in der katholischen Kirche nicht. Opportunismus und Machtkalküle, Selbstdarstellung, sozial- und kulturpoliti­sche Naivitäten waren von Anfang an dabei. Seien wir nicht voreilig. Wir können die Geschichte der katholischen Kirche in den sechziger Jahren nicht einfach mit den Machtstrategien der Weltmächte vergleichen. Das wäre ungerecht und falsch. Aber mit wachsendem Abstand wird uns deutlich, wie sehr das 2. Vatikanische Konzil von jener Aufbruchsstimmung, auch noch jenem geistigen Imperialismus zehrte, die damals den Westen überzog.

Auch die katholische Kirche schien jetzt ungeahnte Möglichkeiten zu entdec­ken. Sie war (und ist) die bestfunktionierende internationale Großorganisa­tion, die Herrin des volkreichen Lateinamerika. Ohne Rom konnte der Weltrat der Kirchen nichts mehr tun. Den Gläubigen bot diese Kirche jetzt mit ihrer offenen Liberalität eine ideale Mischung von Zukunftshoffnung und der Ge­borgenheit in einer jahrtausendealten Tradition, deren objektive Werte zwar neu zu verpacken sind, aber nicht zusammenbrechen. Kirchenkritik und Kir­chenreform nährten sich bei vielen nicht aus einem Gefühl echten Bedrohts­eins, auch die Selbstkritik hielt sich in Grenzen. Nur wenige – dazu gehörte der Kreis um die 1965 gegründete Zeitschrift CONCILIUM – machten sich klar, daß Reformen und Veränderungen harte, jahrzehntelange Überzeu­gungs‑, Organisations- und Beziehungsarbeit erforderte. Wenn man nach ei­nem Problemstau von über 300 Jahren Schleußen öffnet, können sich nur Naive nicht gegen Überschwemmungen schützen. Und wer die Gestalt der Liturgie für die Wahrnehmung der Gläubigen so grundlegend ändert, muß natürlich Schutz- und Milderungsmaßnahmen gegen schärfste Reaktionen er­greifen. Nur wenige Theologen behielten sich in den Tagen des Konzils ein kritisches Urteil, hielten also die Einsamkeit aus, die eigene Haltungen not­wendig erfordern. Dazu gehört z.B. Hans Küng, der – als großer Streiter für das Konzil und als enthusiastischer Befürworter von Johannes XXIII. – von einem bestimmten Augenblick an in offiziellen Kommissionen eben nicht mehr mitarbeitete, sondern sein Buch über „Die Kirche“ (1967) entwarf. Und wer dort einmal nachschaut, wieviele Konzilstexte zitiert werden, kann auch er­messen, wie kritisch man den in Texten niedergelegten Ergebnissen damals schon gegenüberstehen konnte.

II. Ein Konzil der Kirche über die Kirche

Aber das ist natürlich nur eine oberflächliche Kritik. Sie wäre überdies genau zu belegen. Bei einer eingehenderen Analyse der Texte aus reformwil­liger Perspektive zeigt sich eine viel tiefergehende Frage: Wie sollen auf konziliarem Weg Neuerungen auf den Weg gebracht werden, für die sich kein textueller Konsens findet? Ich verdeutliche die Frage an einem Vortrag, den K. Rahner nach Abschluß des Konzils an vielen Orten hielt. Er trägt den Titel: „Das neue Bild der Kirche“ (Schriften zur Theologie VIII, 329-354). Rahners Grundthese lautete: „Das Konzil war ein Konzil der Kirche über die Kirche.“ (329) Er entdeckt darin ein gefährliches Problem. Die Kirche, ange­treten im Namen der Nächstenliebe und Solidarität, des Eifers für Gott und Christus, verfällt in eine Nabelschau und spricht über sich selbst. Hätte es keine wichtigeren Themen gegeben?

Rahner spricht die Frage aus, verweist aber auf die Vorsehung. Seine Antwort: Wir können uns die Fragen nicht selber stellen. Diese Antwort zeugt von katholischem Glauben, zugleich aber auch von einem Mangel an Selbstkritik. Nach meinem Urteil nimmt Rahner zu schnell bei höheren Ebe­nen Zuflucht. Es wäre in der Tat einmal zu untersuchen, wieviel Selbstge­fälligkeit und Narzismus in diesem Sog der Selbstbesprechung lag. Wie aber – so die Gegenfrage – soll eine Institution über das sprechen, was Sache ist, solange sie mit sich selber nicht im reinen ist?

Nach Rahner geht das Konzil dann von drei Grundzügen aus. Erstens, die Kirche wird in der Ortsgemeinde entdeckt. Von der Gesamtkirche läßt sich im Grund nicht mehr und nicht Höheres sagen als von der Kirche an jedem Ort. Es gibt neben der Gesamtkirche die Kirchen, die jeweils vollgültig Kir­che sind. Der Aspekt ist in der Tat seit früher Zeit in Vergessenheit gera­ten und seine Rückkehr in den katholischen Raum mag sensationell genannt werden. Aber während K. Rahner darin eine ganz neue und prägende Per­spektive entdeckt, findet sich diese Gesamtperspektive im Konzil eben nicht. Der Gedanke wurde erst später aufgrund einiger Interventionen und inspi­riert von bibeltheologischen Erwägungen an ungeeigneter Stelle eingefügt. „Man wollte die konkrete Kirche des alltäglichen Lebens da sehen, wo sie den Tod des Herrn feiert, das Brot des Wortes Gottes bricht, betet, liebt und das Kreuz des Daseins trägt.“ So bleibt auch unklar, ob mit dieser Ortskirche die Einzelgemeinde oder – auf den Bischof hin definiert – die Diözese gemeint ist. Unklar bleibt ferner, welche strukturellen Folgerungen (rechtlicher, organisatorischer, theologischer Art) daraus zu ziehen sind. Der spätere Konflikt war also vorhersehbar und programmiert.

Nach Rahner wird die Kirche zweitens entdeckt als Heilssakrament (als wirksames Heilszeichen) der Welt, von deren Einheit mit Gott und in sich selbst. Auch hier sieht Rahner, daß diese Aussage auf problematischen, näm­lich – so meine Interpretation – zwei unvereinbaren Füßen steht. Zwei un­vereinbare Aussagereihen sollen nach Rahner nämlich zusammengebracht werden. Einmal wird behauptet, die wahre Kirche Christi, also das wahre Heil, sei allein in der katholischen Kirche verwirklicht („subsistit“). Zugleich wird die Behauptung verneint, allein Katholiken (oder Christen) könnten das Heil erlangen. Nun ist diese Spannung der Aussagen einerseits nicht neu (1949 wurde L. Feeney tragischerweise exkommuniziert, weil er behauptete, außerhalb der sichtbaren katholischen Kirche gebe es keine Gnade, DS 3872). Wie sind diese widersprüchlichen Aussagen zu vereinen? Ich finde, daß sie in den Konzilstexten nicht ausgeglichen sind.

Rahner greift zur Erklärung indessen mehr auf eigene als auf konziliare Theorien zurück. „Die Kirche ist die konkrete, geschichtliche Erscheinung in der Dimension der eschatologisch gewordenen Geschichte und der Gemein­schaft für das Heil, das durch die Gnade Gottes in der ganzen Länge und Breite der Menschheit geschieht.“ (339) Der Katholik muß die Kirche also erfahren „als den ‚Vortrupp‘, das sakramentale Zeichen, die geschichtliche Greifbarkeit einer Heilsgnade, die weiter als die soziologisch faßbare, die ’sichtbare‘ Kirche greift.“ (341)

Rahner entfaltet jetzt anläßlich, nicht in Interpretation der Konzilstexte seine Theorie vom „anonymen Christen“, derzufolge alle Menschen guten Willens eben Christen bzw. in der katholischen Kirche sind, ohne es zu wis­sen.
Lassen Sie uns keine Mißverständnisse aufkommen. Ich greife hier keines­wegs die spekulative Kraft oder spirituelle Tiefe dieser Theorie an. Ich be­streite auch nicht, daß Rahner im genannten Artikel diese Konzeption selbstkritisch, als nicht triumphalistisch auslegt. Die Kirche muß als Vor­trupp erscheinen, anders erfüllt sie ihre Funktion eben nicht. Aber faktisch bedeckt er mit dem Mantel seiner Interpretation die Blöße des Zwiespalts, den das Konzil im Streit der Lager eben nicht überwinden konnte. So aber hat er ein Problem verschleiert, anstatt dessen offene Diskussion beizeiten zu erzwingen.

Nach Rahner wird diese Spannung durch die „Einheit der Liebe im Geist“ überwunden. Nun mag K. Rahner recht haben, wenn er auf die Bedeutung des Hl. Geistes in den Konzilstexten verweist. Ihm wird in der Tat eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Meistens ist der Verweis auf den Geist allerdings so in Satzstrukturen eingebaut, daß deren Aussagen ohne den Geistverweis sich weder ändern noch gar sinnlos werden. K. Rahner – auch dies ohne alle Überheblichkeit gesagt – beruft sich an diesem Punkt nicht auf Texte des Konzils, sondern flüchtet sich in Zukunftshoffnungen: Die „Einheit der Liebe im Geist“ werde „in ganz neuer Weise das Bild der Kirche und die Kirchenfrömmigkeit der Zukunft bestimmen“ (349) „Die Kirche als Ortsge­meinde wird die Gemeinde der frei Glaubenden sein, der persönlich Ent­schlossenen…., in der der Glaube der Heranwachsenden wirklich als persön­lich übernommener reifen kann. In solcher Gemeinde wird die Brüderlichkeit gedeihen können, die in Christus gegründet ist… Die Gemeinde der neuen Kirche muß eine Gemeinde der Liebe sein, und Liebe ist sehr konkret“ (350f).

Rahner wäre nicht er selbst, wenn er die Schwäche seines Gedankens nicht unmittelbar reflektieren würde. „Aber es ist besser, wir gestehen uns ehrlich, daß wir noch kaum wissen, wie eine solche Gemeinde der konkreten Liebe aussehen kann. Nur wenn wir nicht meinen schon zu besitzen, sind wir fähig zu erwerben. Das gilt auch hier.“ (351) Rahner aber hat hier das Problem noch einmal geschont. Er hätte sagen müssen: „Aber es ist besser, wir gestehen uns ehrlich, daß das Konzil keinen Konsens darüber entwic­kelte, wie eine solche Gemeinde der konkreten Liebe aussehen kann. Nur wenn wir nicht so tun, als hätte es Lösungen gegeben, sind wir fähig, sel­ber zu denken.“
Wenn sich die besondere Bischofssynode 1985 wieder vom Begriff des Volkes Gottes abwandte, dann vielleicht deshalb, weil er kaum konkretisiert war.

III. Das Problem der Gegenwart

Kommen wir zu den Texten zurück. Das Konzil hatte bei katholischen Chri­sten Emotionen geweckt, ungeheure Hoffnungen und Zukunftsvisionen ge­bündelt, von denen die meisten „Konzilsväter“ nicht das geringste ahnten. Die nüchterne historische Aufarbeitung hat kaum begonnen. 1980 fand in Bologna ein erster Kongreß statt. Gestellt war die Frage: Worin lag das Neue dieses Konzils? Das Ergebnis war nicht sehr eindeutig. Zwar konnten Ein­zelaspekte erarbeitet werden. Sie liegen eher auf dem Gebiet der Lehren von Christus und vom Geist. Eindeutig waren allerdings die kritischen Hin­weise auf ein gründsätzliches Problem: die Konzilsversammlung konnte in der kurzen Zeit seine Intuitionen und Inspirationen nicht hinreichend ver­arbeiten, geschweige denn in geschlossene Texte und fruchtbare Kompro­misse gießen. Man mußte zu schlechte Kompromisse machen, um überhaupt zu einer Sprache zu kommen.
* So redete dieses Konzil vom Volk Gottes (LG 2), wurde aber seinen hierar­chischen Klerikalismus nicht los (LG 3).
* Es entdeckte die Ortskirche, gab jedoch seine imperialistisch-römische Einheitsperspektive nicht auf.
* Die Stellung der Ortsbischöfe wurde gestärkt, aber nach wie vor wurden sie senkrecht von oben legitimiert.
* Man betonte den Dialog mit Konfessionen und Weltreligionen, gab aber die eigene Sonderstellung nicht auf;
* der Dienst der Kirche an der Welt, insbesondere an den Armen und Un­terdrückten wurde entdeckt, die eurozentrische Position aber war dadurch nicht aufgegeben.
* Alles Wahre und Gute galt es als Gottes Gabe ernstzunehmen, der ideale Mensch blieb aber der Christ.
* Alle Glieder des Gottesvolkes gelten als vom Geist berufen und beseelt; das zentrale Lehramt wird aber konstant und ohne kritische Rückbindungen an die Gesamtkirche betont.

Wenn Sie genau schauen, geht der Streit in der gegenwrätigen Themen im­mer wieder neu um diese Fragen. Deshalb auch die drückende Erfahrung, daß nichts vorangeht. Die neuen Gesichtspunkte einer lateinamerikanischen, einer afrikanischen und einer asiatsichen Kirche, einer Frauenkirche sowie iner Kirche der Unterdrückten hatten nmoch kein gleichberechtigtes Mit­spracherecht gefunden. Heute berufen sich Befreiungstheologie uind Lefébvre auf das Konzil.

Meine These lautet:
Nur wenn es gelingt, dieses Konzil als Ausgangspunkt neuer Aufbrüche zu deuten, also nach vorne zu überholen, werden seine Grundanliegen kommende Generationen noch überzeugen können. Ich fordere deshalb ein 3. Vatikanisches, vielleicht ein 2. Jerusalemer Konzil (ein Konzil auf Patmos oder vielleicht in Jericho, in Medellín).

Wir müssen erst dieses Problem des Konzils entdecken. Es war fünf Jahre nach seiner Beendigung überholt. Vielleicht müssen wir darüber erschrecken und hilflos werden. In jedem Fall müssen uns zur Frage entscheiden. Erst dann ist es sinnvoll, nach einer eigenständigen Antwort zu suchen.


Teil B:
Die Aussagen des Vatikanum II im Licht ihrer Herkunfts- und Wirkungsgeschichte
Interpretation einiger Konzilstexte

Einleitung:

1970 erschien ein kleines Buch, das die Gemüter erregen und die römische Glaubensverwaltung über 10 Jahre lang in Bewegung halten sollte. Es lau­tete: Unfehlbar? Eine Anfrage, geschrieben und in die Öffentlichkeit ge­bracht von Hans Küng. Bei diesem Vorgang sind zwei Gesichtspunkte er­staunlich:

1. Erstaunlich ist, daß Hans Küng dieses Buch 5 Jahre nach Abschluß des Konzils geschrieben hat. Waren das Konzil und diese Theologie in ihrer Pro­blemstellung inzwischen nicht weiter? Das Konzil mit seinem Programm des Aggiornamento stellte doch schon die Frage nach der „Kirche in der Welt von heute“. Es war pastoral ausgerichtet und stellte in diesem Bezugsrah­men das Bild vom Gottesvolk in die Mitte seiner Intentionen. War das Konzil also nicht schon weiter? Ja und nein. Diese neuen Gesichtspunkte waren zwar durchgebrochen. Aber die alten zentralen Aussagen waren – unverän­dert! – übernommen worden. Zu finden sind, wie die Lektüre der Konzils­texte zeigt, der Primat des Papstes, der Unfehlbarkeitsanspruch und die alte hierarchische Sicht der Kirche. Es hing also davon ab, mit welcher Brille jetzt dieses zweigesichtige Konzil gelesen wurde, wer es wie überneh­men und verwirklichen wollte. Küng selber hatte der ökumenischen Theologie starke Impulse gegeben. Er hatte ein umfassendes Buch zur Kirche ge­schrieben sowie eine Einführung in Hegels christologisch orientiertes Den­ken. Und dennoch: er kam auf dieses „alte“ Thema zurück, weil er eine her­aufkommende Gefahr spürte: daß wir nämlich wieder in die so sicheren, aber starren und zentralistischen alten Positionen zurückfallen könnten. Für ihn bestätigte sich allmählich ein schon früh entstandener Verdacht. Nach seiner Wahrnehmung war die katholische Kirche auch auf dem Konzil nicht hinrei­chend fähig zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Erneuerung der Kirche war den „Konzilsvätern“ nicht genügend unter die Haut gegangen. So war es ihm wichtig, diese zentrale dogmatische Aussage eines zentralistischen Kirchenverständnisses aufzubrechen, jedenfalls noch einmal in die Diskus­sion zu bringen.

2. Erstaunlich ist, daß dieses kleine Buch zu einem so überholten Thema so­viel Furore machen konnte. War das Buch gelesen hat, kann bestätigen: das Buch ist zwar deutlich, schmissig und durchaus polemisch geschrieben (die Kunst der Polemik ist uns abhanden gekommen, leider!). Es ist aber weder bissig noch verbissen. Es zeigt Probleme auf, rechnet aber nicht ab. Er fordert Argumente, baut aber auch goldene Brücken. Es stellt sich kritisch zum Unfehlbarkeitsanspruch von Kirche und Papst, betont aber eine „Untrüglichkeit“ und ein „Bleiben in der Wahrheit“. Es stellt sich gegen die Idee eines rechtlich einklagbaren: „Das und nichts anderes ist die Wahr­heit“, stärkt aber das Vertrauen auf die Wahrheit, die in der Offenbarung uns immer neu – wenn auch oft „auf krummen Zeilen“ – begegnet

Dennoch wurde in den Reaktionen von Kirchenführern, von Theologen und vielen Katholiken (ja sogar von manchen evangelischen Christen) klar, daß die katholische Kirche ihre Identität noch immer in der päpstlichen Unfehl­barkeit sucht. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage, ob der Papst aus­drücklich unfehlbar definiert. Es geht weit mehr um die Aura, die Kraft die­ser Unfehlbarkeit um das Amt und seine Inhaber gelegt wird. Da wird in einer demokratischen, weltlichen, nüchtern gewordenen Welt eine – im We­sten die letzte! – sakrale Figur gezeigt, an die wir unsere religiösen Be­dürfnisse knüpfen können, die alle Ängste und Orientierungsprobleme auf­fängt. Eine letzte „sturmfreie Zone“ der Gewißheit, der Unerschütterlichkeit und Geborgenheit bleibt.

So hat die Unfehlbarkeitslehre eine sozialpsychologische Bedeutung, die überhaupt nicht überschätzt werden kann. Sozialpsychologisch funktioniert der Unfehlbarkeitsanspruch ja gerade dadurch, daß er selber kaum einge­löst, aber ständig als die letzte und große Möglichkeit betont wird. Notfalls, kann das Wirken des Geistes unmittelbar in Anspruch genommen, (herbeizitiert?) werden. Sie hat die Unfehlbarkeitsaura zur Folge, daß im Grunde alle päpstlichen Überzeugungen, Meinungen und Entscheidungen un­kritisierbar sind, daß sich faktisch alle seine Glaubenspositionenüberzeugun­gen als normativ für die Kirche auswirken. Der römische Zentralismus ist nicht in erster Linie juridischer, sondern zunächst geistlich-ideeller Art. Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse, seien sie noch so autoritär, juri­dische Ansprüche, seien sie noch so unerträglich, werden von dieser Basis einer spezifisch katholischen Frömmigkeit getragen.

Sind die innovativen Botschaften des Konzils also einfach überrollt worden? Geht die katholische Sozialpsychologie also einfach einen anderen Weg als dies von den Konzilstexten vorgegeben wird? Ja und Nein, auch hier. Wir haben ja gesehen, wie zwiespältig das Konzil selber gewesen ist und wie sehr deshalb seine Interpretation vom eigenen Standpunkt abhängen muß, will man überhaupt eine klare Sicht gewinnen. Allerdings gibt es zwei wich­tige Gesichtspunkte, die zu mehr Klarheit führen können. Wir müssen die Texte des Konzils ja „geschichtlich“ interpretieren, also die Frage stellen:
a) Wo kommen sie her? Was ist an diesen Texten traditionell, was an ihnen neu? Wo haben die Konzilsteilnehmer auf aktuelle Probleme reagiert, wo un­befragt frühere und eingeschliffene Überzeugungen und Redeweisen mitge­schleppt, die überhaupt nicht kritisch befragt wurden?
b) Wo führten sie hin? Wo also endeten (vorerst) die Ideen und Pläne des Konzils? Haben sie sich als tragfähig erwiesen oder nicht? Halten sie umfas­senderen Theorien und einer christlichen Praxis stand?

I. Zur Erinnerung

Konzilien sind, wie bekannt, im katholischen Verständnis das höchste kollegiale, deshalb auch das einzig letztverbindliche Kollegialorgan der Kirche. Deshalb lag es nahe, bei der Vorbereitung des Konzils nach seiner Vorgängerin zu schauen: das I. Vatikanische Konzil (8.12.1869-20.10.1870), das nie offiziell beendet wurde. So meinten auch manche Kurialen, man müsse das Vat. I nur fortset­zen. So war es schon ein Programm, daß Johannes XXIII. eben ein neues Konzil einberief. Doch die dramatische Geschichte des I. Vatikanums ist nicht zu er­zählen, wohl aber ist etwas zu sagen über zwei Dokumente, die dieses Konzil 1870 verabschiedete.

1.1 „Dei Filius“ über den katholischen Glauben (DS 3000-3045):

Dieses Dokument versucht, die katholische Lehre klar zusammenzufassen und gegen die Strömungen der Zeit (genannt sind Pantheismus, Materialismus, Rationalismus) den Kampf anzusagen. Die Wahrheit des Glaubens sei überna­türlich, also in und mit der göttlichen Offenbarung gegeben, nicht aus der Vernunft abzuleiten. Dies wird gegen allen Rationalismus und gegen allen Pantheismus festgestellt. Die Wahrheit des Glaubens hat aber auch eine sehr vernünftige und einsehbare Basis. Gott kann mit dem „natürlichen Licht der Vernunft“ erkannt werden, sofern man guten Willens ist (vgl. Römerbrief). Wer also nicht an Gott glaubt, ist – salopp gesagt – böswillig oder dumm.

Das Problem dieses Konzils besteht darin, daß es selber rationalistisch vor­geht und den Glauben rationalistisch deutet. Die Dokumente sind klar, scharf begrifflich durchgefeilt. Aber sie sind von zwei gefährlichen Voraus­setzungen getragen:

Voraussetzung 1: Gott hat den Glauben geoffenbart, indem er Glaubensinhal­te geoffenbart hat. Er hat also sozusagen inhaltliche Instruktionen gegeben über sich und den Menschen, soweit uns das für unser Heil notwen­dig ist. Z.B. erfahren wir, daß Gott dreifaltig, daß Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch sei, daß die Welt aus nichts geschaffen ist, daß es sieben Sakramente gibt und das Heil allein über die Kirche zu erreichen ist. Glaube als Haltung, als Lebenspraxis und als „Selbstmitteilung“ kommt viel zu spät. Im Gegensatz dazu spricht das II. Vat. Konzil später ja ganz an­ders von Of­fenbarung. Da geht es nicht mehr um Instruktionen, sondern um Kommuni­kation. Gott teilt sich mit im Doppelsinn des Wortes. Es ist Ihnen unmittelbar klar, wozu diese beiden Voraussetzungen führen, nämlich dazu, daß der Glaube als eine Summe von Sätzen aufgefaßt wird, die zu lernen sind, die man mehr oder weniger geschickt zusammenfassen und memorieren kann. Wer den Katechismus kennt, kennt dann den Glauben….

Sie sehen aber auch, warum dieser Ansatz so verführerisch ist. Es wird der Eindruck erweckt, daß der Glaube, einmal gelernt, für immer klar und deut­lich ist, daß man diesen Glauben abfragen, ein für allemal festhalten, sozu­sagen schwarz und weiß nicht Hause tragen kann.

Dieses Denken hatte sich im 19. Jh. instinktiv eingestellt als Reaktion auf Säkularisierung und Beginn der Moderne: eine Zeit, die dringend Orientie­rung, Geborgenheit und Sinnvorgaben braucht. Und weil Säkularisierung und Modernisierung auch heute noch nicht abgeschlossen sind, sondern im­mer noch voranschreiten, hat diese regressive Reaktion immer noch Hoch­konjunktur.

Sie verstehen auch, daß von einem solchen Denkstil her das II. Vat. Konzil als etwas verstanden wird, was gerade noch möglich ist, aber natürlich in das Gebäude dieser unveränderlichen, objektiv festgelegten Wahrheiten ein­gepaßt und mit ihm versöhnt werden muß. Das II. Vatikanum ist aus der Perspektive des vorhergehenden Konzils nur insoweit wahr, als es nichts prinzipiell Neues sagt. Die traditionellen Kräfte waren deshalb ganz dafür, daß dieses Konzils nichts Neues definieren sollte.

1.2 „Pastor aeternus“, die Konstitution über die Kirche

„Pastor aeternus“, die Konstitution über die Kirche, ist auf halbem Wege liegengeblieben, weil das Konzil im Sommer 1870 wegen der Eroberung Roms (und des baldigen Endes des Kirchenstaates) abgebrochen werden mußte. So kommt diese Konstitution nach einer langen Einleitung nicht weiter als zu einigen Kapiteln über die Stellung des Papstes. Warum gerade diese Kapitel? Weil man – gut hierarchisch – eben mit dem Papst, und nicht wie im II. Vat. Konzil mit der Gesamtkirche, dem „Volk Gottes“ also, begann. Das gehört in etwa zur Tragik dies Konzils, daß nämlich der Rest der Kirche aus politi­schen Gründen ins Schweigen versank. War aber mit den Ausführungen über den Papst nicht alles Nötige gesagt? Ja, und das ist die andere Seite des Dokuments, im Grunde hatte damit das Konzil seine wichtigste Botschaft auch schon abgehandelt.

Da wird gesagt, daß der päpstliche Primat Fundament der kirchlichen Ein­heit sei, daß dieser Primat (= Vorrang) ein unbedingter Rechtsprimat sei. Zwar wird auch klargestellt, daß die Bischöfe mehr als päpstliche Beamte sind. Zugleich aber wird erklärt, daß die „Römische Kirche“ über alle ande­ren Kirchen den „Prinzipat der ordentlichen Gewalt“ habe, und diese bischöfliche Gewalt sei unmittelbar gegen alle Hirten und Gläubigen, gleich welchen Ritus‘ oder Ranges. Alle einzeln und insgesamt schulden sie dem Papst unmittelbar wahre Unterordnung und wahren Gehorsam, nicht nur in Angelegenheit des Glaubens und der Sitte, sondern auch in Sachen kirchli­cher Disziplin und Leitung, so daß die Kirche Christi „eine Herde unter dem einen höchsten Hirten sei“. Diese Aussage hat nach der Überzeugung des Konzils unfehlbar dogmatisierten Rang und ist u.a. im Dekret über die Hir­tenaufgabe der Bischöfe (Nr. 2) vom II. Vat. Konzil übernommen.

Man muß sich diese Behauptungen auf der Zunge zergehen lassen. Ein ab­solutistisches Staats- und Herrschaftsverständnis bricht sich ungehindert Bahn. Es gibt keine Gewaltenteilung, der Papst kann überall unmittelbar eingreifen, ist also weder an kirchliches Gesetz noch an kirchliche Struktu­ren gebunden. Vom Gehorsam an ihn hängt die Einheit der Kirche ab, „von der niemand ohne Schaden für Glaube und Heil abirren kann“. Die juridi­sche und ideelle Konzentration kirchlicher Macht und Einheitsideologie kann kaum größer sein: „Und weil der Römische Pontifex kraft göttlichen Rechts mit seinem Apostolischen Primat der Gesamtkirche vorsteht, lehren und er­klären wir, daß er der höchste Richter der Gläubigen ist, und daß man in allen Angelegenheiten kirchlicher Kontrolle an sein Urteil appellieren kann; der Urteilsspruch des Apostolischen Stuhles, über dem keine Autorität mehr steht, kann von niemandem mehr aufgehoben oder überprüft werden. Des­halb weicht vom Weg der Wahrheit ab, wer behauptet, man könne gegen ein päpstliches Urteil an ein ökumenisches Konzil appellieren, als stehe dieses über dem Papst“ (DS 3063).

Alle staatsrechtlichen Traditionen der papalistischen Vergangenheit werden aufgenommen: „Papa a nemine iudicatur“. Er, die höchste Instanz der Welt schlechthin. Alte gegenläufige innerkirchliche Traditionen, vor allem die hohe und souveräne Stellung eines gesamtkirchlichen Konzils, werden defi­nitiv abgewiesen. Im Konfliktfall steht der Papst über dem Konzil.

Die Grundfigur lautet also: Der Papst ist der höchste Richter. Und diese Vollmacht kann er nicht abgeben, auch wenn er es möchte (daher auch die immer wiederkehrenden Berichte von Päpsten, die unter ihrer Last beinahe zerbrechen, sie aber „demütig“ tragen). Diese Grundfigur nun ist von einem rationalistischen Glaubensverständnis her verständlich. Nicht nur wiederholt sich hier das Phänomen der Aufklärung, in dem Vernunftglaube und absolu­tistische Staatsmonarchie zusammengingen, sondern aus einem inhaltlich be­stimmten Glaubensverständnis ergibt sich natürlich das Bedürfnis, daß es wenigstens eine Instanz, eine letzte Staatsmacht gibt, die – aus Gründen gemeinsamer Raison – für Ordnung sorgt, sagt, was Sache ist, ein unwider­rufliches Urteil fällen kann. Deshalb haben auch Juristen für diese Kon­struktion päpstlicher Unfehlbarkeit oft Verständnis, weil auch nach ihrer Konzeption jedes Staatsgebilde ein letztes Gericht haben muß.

Nun ist es interessant, daß die päpstliche Unfehlbarkeit nicht etwa in einer eigenen Konstitution, sondern als letztes Kapitel der Ausführungen zum päpstlichen Primat besprochen wird. Der Papst ist eben in allen Dingen letzter Richter, also auch in Sachen Glaubenswahrheit. Er ist nicht weniger unfehlbar als die ganze Kirche, aber er ist deren letzte und schlagkräftig­ste Instanz. Deshalb sind seine Definitionen, wenn sie mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit gesagt sind, „irreformabel“. Diese Terminologie stammt aus der Jurisprodenz ebenso wie der Begriff der „Definitionen“, die wir besser als „Sentenzen“ (= Urteilssprüche) übersetzen müßten.

Die päpstliche Unfehlbarkeit war und ist in diesem System also keine Ma­rotte einer machtbesessenen Instanz, sondern völlig konsequent. Die Lösung ist geradezu genial einfach. Ein Ludwig XIV. und ein Friedrich der Große hätten ihre Freude daran gehabt. Sie leitet sich von einem bestimmten Glau­bens- und Ordnungsverständnis her, das mehr Sicherheit zu bieten schien als alle neuen so elastischen, aber auch ungewissen Konzeptionen.

Ich sage dies, weil die meisten Theologen mit diesem Problem einigermaßen naiv umgehen. Sie unterschätzen die Konsequenz, die Geschlossenheit und Universalität des Gedankens. Es reicht also nicht zu sagen: Gut, Rom mag unfehlbar sein, es soll sich eben etwas menschlicher und weniger zentrali­stisch geben. Nein, eine Überwindung dieser Konzeption fordert nicht nur ketzerische Kritik, sondern eine grundsätzliche Änderung unseres Glaubens- und kirchlichen Ordnungsverständnisses.

1.3 Zwischenspiel:

Die Folgen des I. Vat. Konzils waren umfassend. Rom wurde (und wird) mit seiner Rolle nicht fertig. Kein Mensch und keine In­stitution hält diese Überforderung aus. In regelmäßigen Abständen traten und treten deshalb Säuberungswellen ein. Pius X. baute in den Modernis­muswirren einen professionellen Geheimdienst auf, um Theologen zu bespit­zeln und zu maßregeln. Sie werden zu Dutzenden abgesetzt, erfahren dies bisweilen aus der Zeitung. Deutschland ist besonders betroffen. Die Spät­jahre Pius XII. zeigen vergleichbare Erscheinungen: Y. Congar, de Lubac u.a. französische Theologen abgesetzt, Teilhard de Cardin verbannt, K. Rah­ner in ersten Schwierigkeiten. Der „Integralismus“, die Idee also, der Glaube müsse ganz und umfassend gelehrt werden, zeigt verheerende Folgen. Ge­schichtlich gesehen erleben wir in diesen Jahren eine neue – hoffentlich die letzte – Welle dieser Überforderung.

Aber ich erwähne noch ein letztes Dokument, das die Szene wesentlich be­stimmt hat. Es ist von Pius XII. im Juni 1943 veröffentlicht. Sein Titel lau­tet: „Mystici Corporis“. Die Kirche wird als der mystische Leib gesehen und erklärt.

1.4 Mystici Corporis (1943):

Diese Enzyklika hat die offizielle Kirchenlehre 20 Jahre lang bestimmt. Die Frage, was nun die Kirche sei, wird konsequent aus einem Begriff (genauer: einer Metapher) abgeleitet: Die Kirche ist, wie Paulus sagt, ein mystischer Leib (Röm 12,4). Allerdings ergibt sich ein folgenschwerer Unterschied. Wäh­rend Paulus die Kirche mit einem mystischen Leib vergleicht, wird sie von Pius XII. mit ihm identifiziert. Die Kirche ist ein organisches Ganzes, lebend aus der Gnade der Erlösung, mit Werkzeugen (= den Sakramenten) versehen, die sie zur Erhaltung ihres Lebens braucht. Entscheidend ist nun zu sehen, wie Pius XII. diese Metapher zur Erklärung eines monopolistischen Kirchen­begriffs einsetzt: Es gibt nach ihm nur einen Leib. Auch die Sünder gehö­ren dazu. Diese Kirche ist von Christus gestiftet, aus der Seite des zweiten Adam geboren. Durch seinen Tod wird er zum Haupt dieser Kirche. Christus lenkt diese Kirche nun sichtbar durch den Papst. Deshalb kann Petrus (d.h. der Papst) nicht anders verstanden werden als der „Stellvertreter Christi“. Hier ist auch der einzige Bruch in der Metapher. Christus und sein Stell­vertreter bilden ein (nämlich ein sichtbares und ein unsichtbares) Haupt. Die Rolle der Bischöfe wird ebenso bekräftigt wie die Tatsache, daß das Haupt seine Glieder nötig hat. Aber entgegen der Erwartung eines organi­schen Bildes, wird der Vergleich der Glieder des Leibes hierarchisch ausge­legt. Entscheidend ist eben das Haupt, ohne das der ganze Leib nichts wäre. Die Rolle des Papstes wird also eindeutig gesichert.

Der Geist nun bildet die Seele dieses Leibes. Aber auch dieser Vergleich wird zugunsten der katholischen Kirche exklusiv ausgelegt. Wie es nämlich keine Seele (d.h. kein Leben) ohne sichtbaren Leib gibt, so gibt es auch keinen Geist ohne sichtbare Kirche, die die katholische ist. Dieser Leib nun wird „mystisch“ genannt. Damit wird die Idee des sichtba­ren Körpers spirituell überhöht. Die Kirche selber ist wahr, fleckenlos, rein.

Was nun sind die Folgen für die Verbindung der Christen mit Christus selbst? Diese Verbindung gelingt nur in Verbindung mit diesem sichtbaren Leib und damit in Unterordnung unter den Papst. In der Kirche müssen wir also unmittelbar Christus sehen (in Ecclesia ipsum Christum videre“); Chri­stus in seiner Liebe zur Kirche nachfolgen, das wird die Losung, die aus dieser Konzeption folgt.

Die Enzyklika ist für Theologen, aber auch literarisch interessant, weil die ganze Lehre der Kirche, wie schon gesagt, von dieser einen Metapher her entwickelt ist. Sie gibt der Kirche aber eine faszinierende geschlossene In­terpretation, weil sie das Problem von Einheit und Verschiedenheit ins Bild bringen kann. Pius XII. hat damit drei Ziele erreicht.
1. Im Leib ist leibliches, d.h. sichtbares Leben. Kein Heil also ohne sichtbare Zugehörigkeit zur katholischen Kirche.
2. Man ist sichtbarer Teil einer Kirche oder man hat keinen Anteil am von Christus erworbenen Heil. Wir müssen also die Sakramente dieser einen Kir­che „benützen“. In der Enzyklika wird ein sakramentalistischen Kirchenver­ständnis entfaltet.
3. Die Glieder haben je ihre eigene Funktion. Ihre Charismen werden prinzi­piell anerkannt. Alles aber entscheidet sich am Haupt, in dem sich – wie ge­sagt – nun doch gewaltsam Papst und Christus durchdringen.

Allen spiritualisierenden Interpretationen der Kirche ist damit ein Riegel vorgeschoben, auch allen ökumenischen Öffnungen. Während das I. Vat. Kon­zil noch einigermaßen juridisch-nüchtern von den päpstlichen Funktionen gesprochen hat, wird das Papsttum jetzt endgültig sakralisiert und zum Ge­genstand kirchlicher, wenn nicht gar christlicher Frömmigkeit.

Damit waren aber alle Öffnungen traditioneller Positionen in der Kirchen­lehre endgültig abgeschottet, das Monopol des Heils nicht nur von der ka­tholischen Kirche abhängig gemacht, sondern auch auf deren Haupt ausge­richtet. Und vor allem: Jede andere der vielen in Schrift und Tradition her­ausgearbeiteten Metaphern ist verschwiegen: Kein Bild von der Gemeinschaft, kein Bild vom Boot in der wütenden See, kein Gedanke mehr an die kleine Herde, nichts mehr von den persönlichen Beziehungen zwischen den Gliedern der Kirche oder von ihrem geschichtlichen Wandel auf ihrem Weg zum Reich Gottes. Die Exklusivität und Statik des I. Vat. Konzils wird nun mit einem mystischen Schleier überzogen und damit unangreifbar gemacht.

1.5 …Herkunftsgeschichte des Konzils?

Der Durchbruch des Konzils war vor diesen Hintergründen ungeheuer. Jede leise und kleine Öffnung wurde als Sensation erfahren; jeder Blick auf die Eigenständigkeit der Ortskirchen bedeutete einen epochalen Durchbruch. Das Ökumenismusdekret, das Dekret über die Religionsfreiheit und die Art und Weise, über die von anderen Religionen sowie vom Wahren und Guten im Menschen gesprochen wurde, standen für viele am Rand der Häresie. Lefèbvre sprach nur offen aus, was damals insgeheim, sozusagen im ersten Schock und in der ersten Erleichterung viele dachten. Gegenüber der Öff­nung der Sprache standen viele verständnislos gegenüber. Und wenn man sich auf den pastoralen Charakter des Konzils einige, dann fand manch ei­ner, daß jetzt nur etwas einfacher und simpler gesagt werde, was die hohe Theologie unverändert weiter verfolgen könne. So waren es im Grunde nur die Kompromisse, wodurch sich Grenzverlegungen erreichen ließen. Wir ha­ben – das ist eines der nachkonziliaren Probleme – nur zu schnell verges­sen, wo die Theologie und offizielle Lehre zuvor gestanden hatte.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist speziell für den deutschsprachigen Raum wichtig. Deutsch- und französischsprachige Theologen gehörten zu den Vor­kämpfern des Konzils. Für uns hat das Konzil vielleicht in vielem nur ein­gelöst, was wir schon lange dachten (Schmaus, Söhngen, Guardini, K. Adam, J.R. Geiselmann, Congar, de Lubac, Chenu, E. Schillebeeckx, K. Rahner, H. Küng). Aber bedenken wir, daß die „neuen“ Erkenntnisse für andere Länder wie Blitze aus heiterem Himmel kamen.

Schließlich: Im Blick auf die Herkunftsgeschichte gab es unter den Konzils­teilnehmern auch viel Naivität. Viele bemerkten überhaupt nicht, wie grund­sätzlich die Umbrüche waren. Die Progressiven konnten sich nur noch ge­teilt auf die Vergangenheit berufen. So tragen zwei Effekte ein: Sie zer­stritten sich erst an einem späteren Zeitpunkt, als die Entwicklungen wei­tergingen, oder sie bekamen Angst vor der eigenen Courage und vielen auf frühere Positionen zurück. In jedem Fall wuchs auch für manchen Theologen vor diesem Hintergrund der Zwang, sich vor den Anklägern zu verteidigen und seine Kirchlichkeit unter Beweis zu stellen. Vor dem Hintergrund dieses überlieferten Verständnisses, das rationalisierte und monopolisierte, das zugleich sakralisierte und heiligen „Dom- und Dammbau“ betrieb, konnten die Vergeschichtlichung des Redens vom Glauben, die Dezentralisierung und die Entmythologisierung kaum bruchlos von statten gehen. Der Durchbruch war ja vom autoritären, sakramental-magisierenden und rational verflachten System der Vergangenheit her unerhört.

Es kommt noch ein letzter, vielleicht der wichtigste Gesichtspunkt hinzu. Die Dezentralisierung von Denken und Handeln zu verkünden ist das eine. Sie zu verwirklichen ist das andere. Das Konzil öffnete Wege für eine Kirchen­praxis, für die es noch keine Erfahrungen gab. Der Durchbruch war – so gesehen – revolutionär, in jedem Fall waghalsig. Wer wußte denn, was es heißt, sich auf eine multikulturelle Welt einzulassen mit einigen thomistischen Lehrbüchern im Rucksack? Welcher Bischof hatte den Erfahrung im Umgang mit selbstbewußten Laien, von Frauen ganz zu schweigen? Wer hat schon einmal erlebt, daß ein Theologe Kritik übte, und dies noch mit einigem Selbstbewußtsein? Wer hatte denn neben den Sakramenten das Wort Gottes eigentlich ernstgenommen? So gehört auch diese autoritäre und monopoli­sierte, diese sakramentalistische und rationalistische Kirchenerfahrung zur Herkunftsgeschichte des Konzils. In gewissem Sinn hatten die erzkonservati­ven Wortführer des Konzils, etwa die berüchtigten Kardinäle Cicognani, Ruf­fini oder Ottaviani besser begriffen worum es ging als manche, die sich eben offen und menschenfreundlich geben wollten. Sehr viel verstanden hatte übrigens auch Paul VI., dessen Zögern und Hinhalten einfach Zeit ge­winnen, der Diskussion Raum öffnen und nie Brükken abbrechen wollte.

1.6 Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der Vorgeschichte des I. Vatikanums und von Mystici Corporis waren die punktionellen Durchbrüche, die erreicht wurden, nahezu revolutionär. Die Frage blieb allerdings, wieviele der Teilnehmer die Trag­weite dessen abschätzen konnten, was geschah. Ich füge hinzu: Solange man es nicht wagte, diese korrigierte Vergangenheit auch offen zu kritisieren, war eben nicht mehr zu erreichen als erreicht worden ist, war also die of­fen kritische Nacharbeit, wie wir sie seit gut 20 Jahren erleben, unaus­weichlich.

II: Zur Wirkungsgeschichte des Konzils

Daß dieses Konzil unabsehbare Wirkungen hatte und daß die Gesamtwirkung noch nicht abzusehen ist, gilt allgemein als unbestritten. Weder die Situation der katholischen Kirche noch die Situation des ökumenischen Gesamtspek­trums, geschweige denn die Interpretation des Christentums aus „weltlicher“ Sicht kann heute hinreichend übersehen werden.Ich beschränke mich hier auf eine innerkirchliche Fragestellung, so wie es das Gesamtthema der Tagung nahelegt und nenne drei Punkte:

2.1 Volk Gottes

Die Metapher vom Volk Gottes sowie die neue Bedeutung und theologische Legitimation der Ortsgemeinde haben sich durchgesetzt. Das ist auf allen Ebenen kirchlichen Lebens, auch auf allen Kontinenten mit Händen zu grei­fen. Das Bischofsamt wurde aufgewertet, damit allerdings auch ein neues Problem aufgebaut. Der Gedanke der Communio (Gemeinschaft) hat sich so sehr festgesetzt, daß man ihn schon wieder gegen die ureigenen Impulse des Konzils zu wenden sucht. Ebenso ist die neue Betonung des Mysteriums (Geheimnis) als Reaktion auf ein erstarktes Ortsbewußtsein zu verstehen. Dies hat jedenfalls die Außerordentliche Bischofssynode 1985 zum 20-jähri­gen Abschluß des Konzils gezeigt. Allerdings sind Gedanke und Realisierung der Idee der Ortsgemeinde zwei verschiedene Dinge. Was seine Realisierung betrifft, so hat das Konzil eine „Zwei-Stufen-Rakete“ gezündet.

Stufe 1: Die Kirche, immer noch verstanden als eurozentrische Organisation, beschäftigt sich noch eifrig mit sich selbst, will allerlei Binnenreformen in Gang setzen, ihre Liturgie neu gestalten, den Glauben angemessener formu­lieren, ihre traditionelle Theologie abstauben und die ökumenischen Be­mühungen im Sinne gegenseitiger Bestätigung (und Stabilisierung) voran­treiben. Die Ortskirche ist nach wie vor repräseniert im zwar reformorien­tierten, aber doch violett- bzw. rotgewandten Bischof. Diese Art von Reform könnte denunziert werden als ein westlich-bürgerliches Sandkastenspiel. Es gibt jedenfalls derartige Äußerungen von seiten der Befreiungstheologie. Diese Art von Reform wird bei uns noch eifrig betrieben. Sie ist nicht zu verwerfen, aber sie beschränkt sich auf die Ebene einer noch möglichst gut funktionierenden Volkskirche. Sie muß deshalb immer neu ihre Enttäuschen erleben angesichts einer wachsenden Säkularisierung und Modernität. Auf der Basis ihrer Probleme sind ein Gutteil nachkonziliarer Polarisierungen entstanden.

Stufe 2: Ab 1970 etwa beginnt ein unerwarteter Umbruch. Gezeigt hat sich dies in überraschender Weise etwa auf einem Kongreß, der 1970 von CONCI­LIUM in Brüssel veranstaltet wurde. Dort entstand nämlich sehr plötzlich und zum Schock der Organisatoren Protest von jungen, namentlich nicht eu­ropäischen Theologen, die nun gesellschaftsorientierte, politisch dimensio­nierte Fragen stellte. Die Zeitschrift CONCILIUM reagierte prompt, indem sie ihre „Grundformel“ änderte und seitdem jungen emanzipatorischen Theolo­gien einen breiten Raum zugesteht. Während sich von dieser Zeit die Theo­logie einerseits wieder Grundsatzfragen zuwendet (vgl. Kasper, Küng, Schil­lebeeckx mit ihren Veröffentlichungen zu Fragen um Christus, Gott und Of­fenbarung), bricht in der Weltkirche eine neue Epoche an. Andere Kulturen und Kontinente melden sich selbstbewußt zu Wort und bringen die Theologie und die Kirche wieder in ein gesellschaftskritisches und politisch bewußtes Bezugsfeld. Es entsteht die Theologie der Befreiung. Die Linie setzt sich fort in den Schwarzen Theologien, in neuen theologischen Ansätzen asiati­scher Länder, im Erwachen einer selbstbewußten afrikanischen Theologie so­wie in der Feministischen Theologie. Jetzt endlich wird die kirchliche Nabel­schau durchbrochen. Die Themen lauten jetzt Hunger, Armut, Entfremdung und Marginalisierung, der Mut zum Leben angesichts unmittelbarer Todes­angst.

Dieser Gesichtspunkt ist – als Wirkungsgeschichte des Konzils – ungeheuer wichtig. Jetzt endlich wird deutlich, was damals aufgebrochen ist. Wenn sich in der Kirchenkonstitution unter Nr. 8 ein bescheidener Satz über die Armen steht, mit denen Christus sich identifiziert, so ist jetzt ein neues theologisches Denken entstanden. Die Eier, die also das Konzil gelegt hat (ich übernehme eine Metapher von Erasmus zum Wirken von Luther), werden jetzt nach 5-10 Jahren endlich ausgebrütet. Die Dezentralisierung der Kirche wurde auf dem Konzil programmatisch verkündet. Jetzt endlich beginnt sie auf eine unerwartet konkrete Weise. Rom, das sich bislang immer noch als Zentrum einer vielfältig scheinenden Kirche fühlen durfte, wird jetzt mit wirklicher, unerwarteter und oft konfliktträchtiger Vielfalt konfrontiert. Auch bei uns hat i.ü. das Selbstbewußtsein der Gläubigen in einer Weise zu­genommen, daß – sobald die hierarchische Bevormundung nur durchbrochen wird – endlich auch ein deutsches, französisches, europäisches Gesicht von Kirche zu erwarten ist. So gesehen war der Gedanke der Ortsgemeinde ein Erfolg.

2.2 Die kritische Situation

Nach dem Konzil begann, was durchaus vorauszusehen war. Entdeckt wurden Diskussion und Kritik, entstanden sind Polarisierungen. Die Verdrängungen der Vergangenheit schafften sich Luft, die Wunden und Demütigungen man­cher, die zuvor gemaßregelt wurden, wurden jetzt noch einmal besprochen. Verhärtungen und nachgekartete Rechnungen wurden jetzt ebenso offen­kundig wie die Lust am Dialog und die Fähigkeit, sich schöpferisch auf neue Dialoge einzulassen.

Wir erlebten und erleben, was ich im zweiten Semester meines Soziologiestu­diums hörte, und was wir dieser Tage in der Sowjetunion und im Ostblock Tag für Tag sehen und hören: Für eine Gruppe oder eine Gesellschaft ist am risikoreichsten die Zeit, die auf eine Epoche der Eindämmung unmittelbar folgt. Wenn Schleusen geöffnet werden, bricht sich das Wasser gewaltsam Bahnen. Es folgte notwendigerweise eben nicht nur ein Übermaß an schöpfe­rischen Ideen (man denke nur an die liturgischen Erneuerungen der Nie­derlande), sondern auch ein Übermaß an Kritik und Ungeduld, eine hohe Polarisierung nach Extremen hin, zumal in einer Epoche, die u.a. durch die 68-er Generation geprägt wurde. Es folgte auch – wie sollte es anders sein – die negative und repressive Reaktion derjenigen Machthaber in der Kir­che, die sich in ihrer Liberalität gerade nicht bestätigt sehen (sozusagen das gegenwärtige „Gorbatschow-Problem“). Man betrachte etwa die Ge­schichte Frankreichs nach der großen Revolution mit ihrem Rückfall in Mon­archie und Diktatur. Keiner hatte es für möglich gehalten. Aber es ist, als müsse eine neue Epoche die alte Zeit noch einmal durcharbeiten, um dann erst im Vergleich zu merken, daß es so wirklich nicht mehr geht.

Allerdings haben viele Theologen und Bischöfe (nicht die Pfarrer und Seel­sorger) versagt. Nicht nur, weil sie mehr hätten wissen können, sondern weil sie sehr schnell doch wieder auf ihre Arsenale und Erfahrungen von Wissen und Macht zurückfielen. Theologen haben sich angewöhnt zu schwei­gen und wie auf dem Konzil Kompromisse zu schließen, statt von unten her in kritischem Selbstbewußtsein Fragen zu formulieren und für Entscheidun­gen Argumente einzufordern. Die Bischöfe sind zusammen mit der römischen Zentrale einem Angstsyndrom erlegen, sind auf die Konzeptionen und Modelle ihrer eigenen Jugend- und Studienzeit zurückgefallen (beim Papst ist dieses Phänomen ganz deutlich nachzuweisen). So beginnt man wieder, das Konzil gerade nicht von der Vergangenheit her auf die Zukunft hin, sondern von der Zukunft her auf die Vergangenheit hin zu interpretieren. Wojtyla, 1972 noch Kardinal in Krakau, sagt das in seinem damals erschienen Buch „Quellen der Erneuerung“ geradezu programmatisch. So dreht man das Kon­zil sozusagen um seine eigene Achse und interpretiert es entgegen seiner historischen Dynamik.

In diesem Beben der Nachkonzilszeit ist ein destruktiver Kommunikationszir­kel entstanden, der in der letzten Nummer von Publik forum genau be­schrieben ist. Die Verantwortlichen, in ihrer vorkonziliaren Befangenheit im­mer noch hoffnungslos überlastet und überfordert, reagieren sich ab, indem sie die Kirche kontrollieren, überall Verrat am wahren Glauben wittern und so tatsächlich zu den Verfolgern derjenigen werden, die den Mut zu eigenen Äußerungen besitzen. Die Opfer nehmen, ihrerseits auf die zentrale und mo­nopolistische Kirchenführung fixiert, ihrerseits diese Märtyrerrolle gerne an, weil sie in ihr noch ihre einzige Bestätigung erhalten. Nur wenige Theologen und kaum ein Bischof (von den niederländischen abgesehen) haben ver­sucht, dieses zerstörerische Rollenspiel zu durchbrechen. Spannend aber und zu einem Teufelskreis wird diese gegenseitige Fixierung von Verfolger und Opfer, weil immer wieder der Retter auftritt, der Gnade vermittelt, Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt und den Eindruck erweckt, als werde dies nicht mehr passieren. Der Retter kann in der Gestalt des Pap­stes selbst (vgl. Diskussionsgänge zur Befreiungstheologie), in der Gestalt von Bischöfen (die manchem Theologen, Pfarrer oder Religionslehrer noch einmal ihre Funktion gerettet haben) oder in der Gestalt von anderen ein­flußreichen Persönlichkeiten oder Theologen auf. Das Problem ist, daß die Retter selber für ihr Handeln Dankbarkeit erwarten und nicht verstehen können, daß sie zugleich als Repräsentanten des destruktiven Systems wir­ken und dies sogar stabilisieren. Aus diesem Teufelskreis ist nicht mit Be­rufungen auf Konzilstexte zu entkommen. Es zeigt sich in ihm ein allgemei­nes sozialpsychologisches, also auch ein allgemein kirchliches Problem.

2.3 Fixierung auf die Kirche

Warum ist diesem Teufelskreis nicht durch Berufung auf konziliare Texte zu entkommen? Ich meine, daß das Problem des Konzils letztlich nicht im Kom­promißcharakter seiner Texte, sondern noch tiefer liegt. Mir wurde das deutlich, als ich das genannte Buch „Quellen der Erneuerung“ las. Wojtyla weist darauf hin, daß die großen Konzilien der Kirche alle großen Themen sozusagen der Reihe nach behandelt hätten: Christus, Gott, Sakramente, Heil und vieles andere. Das II. Vatikanum brachte aber, so Wojtyla, die Bewegung zum Abschluß: jetzt wende die Kirche den Blick auf sich selbst zurück. Ein Satz lautet: „Kirche, was sagst du von dir selbst?“ (S 37) Diese Interpreta­tion (wenn auch nicht deren undifferenzierte Hochschätzung) findet sich auch bei K. Rahner (s.o.), und diese Überzeugung ist wieder zu finden im Schlußdokument der Bischofssynode 1985. Im II. Vat. Konzil hat die Kirche über sich selbst gesprochen. Ich habe damit zwei Probleme.

a) Die Behauptung ist nur zur Hälfte richtig. Es gab ja auch andere The­men, so etwa die Frage nach der Welt und deren sozialer Gerechtigkeit, nach Fortschritt und deren Gefahr. Es gab die Frage nach der Bedeutung anderer Religionen und nichtwestlicher Kulturen. Und es gab da vor allem die oft verschwiegene und leider wieder vergessene Apostolische Konstitu­tion „Über die göttliche Offenbarung“, in der vor allem die Bedeutung der Schrift und deren Vorrang gegenüber allen anderen kirchlichen Traditionen und Interpretationen herausgestellt worden ist. Es ist gefährlich, im Laufe der Wirkungsgeschichte des Konzils diese Gesichtspunkte zu unterschlagen.

b) Gefährlich sind überdies die Selbstbespiegelung und der drohende Nar­zißmus, die in diesem lebensbedrohenden Verfahren liegen. Kein Mensch kann überleben, wenn er nur immer sich selber beschaut (genau dies ist ja in der Legende von Narziß zu lernen). Keine Familie und keine Gemeinschaft hält den Druck der Dauerreflexion aus, wenn sie nicht weiß, wozu sie ei­gentlich da ist. Keine Großgemeinschaft oder Kirche schließlich kann im Rah­men dieser Selbstbespiegelung gesund und funktional bleiben. Wir, die westliche katholische Kirche, haben unsere Spannungen – sie seien nicht geleugnet – durch diese Verengung künstlich hochgetrieben, und in höchstem Maße ist dabei die Hierarchie beteiligt. Ich finde diese Selbstbe­spiegelung nicht nur ein Zeichen der Unsicherheit, sondern in höchstem Maße unchristlich. Lernen wir deshalb von der Befreiungstheologie, die ihr Thema gefunden hat, und der deshalb die Fragen nach Kirche und Kirch­lichkeit viel geringere Probleme sind. Lernen wir, statt ständig von „Ortsgemeinde“ zu reden, die Aufgaben zu bewältigen, die uns „vor Ort“ gestellt sind.

Schluß

Ist das Konzil also fortzuschreiben und was ist das, das II. Vat. Konzil? Ein Gesichtspunkt ist bislang in der Literatur noch nie besprochen: Das Konzil unterscheidet sich von allen Vorgängern in einem wichtigen Punkt. Die frü­heren Konzile wirkten durch ihre Ergebnisse, Beschlüsse oder dogmatischen Definitionen. Es mußte erst zu Papier werden, um dann seine Wirkung als ein Korpus von Texten zu beginnen. Wir behandeln das II. Vatikanum ebenso, haben damit aber einen entscheidenden Punkt verfehlt. Als erstes Konzil der Weltgeschichte wurde es nämlich durch eine ungeheuer intensive Pressearbeit, durch Funk und Fernsehen zum Teil hautnah bis hin zu jeder Intervention und jeder Abstimmung, zu jedem Gefühlsausbruch und jedem Überraschungscoup von Progressiven oder Konservativen erlebt. Das Erleb­nis des Konzils lag nicht in den Textergebnissen (und ich gebe zu, daß ich sehr selten Konzilstexte zitiere), sondern im Mut einer offenen Intervention, im Machtwort eines der Präsidenten, im Lachen eines Kardinals oder im Auf­ruf eines Bischofs auf einer Pressekonferenz oder beim Verlassen der Kon­zilsaula. Was uns damals Hoffnung gab, das waren nur in zweiter Linie die durchformulierten Texte. Hoffnung gab die Erfahrung, daß selbst ein so festgefahrener Karren wie diese Kirche durch Gespräche und offene Argu­mente, durch heiligen Zorn oder durch Freundlichkeit wieder flott zu ma­chen war, daß man sich in dieser Kirche weltweit zusammenraufen und ver­stehen konnte.

So gesehen ist die Frage nach der Selbständigkeit einer Ortskirche eine Selbstverständlichkeit. Ich selber weiß, daß ich ab morgen die Konzilstexte wieder ins Bücherregal zurückstellen und nur zu Insidergesprächen wieder hervorholen werde. I.ü. bedenke man die Schrift und aller Orten den Eifer für eine gerechtere und angstfreiere Zukunft, so wie sie in Jesus verheißen ist. Der Papst und Rom sind uns dabei so teuer, als sie in diesem Kampf uns, die Schwestern und Brüder, stärken (Lk 22,32).

Literatur:

  • Alberigo, G., Y. Congar, H.J. Pottmeyer (Hg), Kirche im Wandel. Eine kritische Zwischenbilanz nach dem Zweiten Vatikanum, Düsseldorf 1982
    (Beiträge von: G. Alberigo, Y. Congar, J. Kerkhof, G. Gutiérrez, V. Cosmao, G. Defois, F.-X. Kaufmann, G. Pattaro, H.J. Pottmeyer, Y. Congar, J. Zi­zoioulas, H.M. Legrand, P. Fransen, K. Walf, A. Acerbi, G. Alberigo, J. Grootaers, J. Lécuyer, J. Meyendorff, J. M. Tillard);
  • Baraúna, G. (Hg), De Ecclesia. Beiträge zur Konstitution „Über die Kirche“ des Zweiten Vatikanischen Konzils., 2 Bde, Freiburg 1966;
  • Concilium 1984, Nr 6 (Volk Gottes);
  • Congar, Y., Le concile de Vatican II, Paris 1984;
  • Copray, Norbert, Von Opfern, Rettern und Verfolgern. Das Drama-Dreieck der Transkationsanalyse und der gestörte Dialog in der katholischen Kir­che, in: Publik-Forum 18 (1989), Nr 17, S 29-31 (Artikel zu: N. Copray, Jung und trotzdem erwachsen II, Düsseldorf)
  • Kasper, W., Die Kirche als Sakrament der Einheit, in: IKZ (Communio) 16(1987), 2-8;
  • Wojtyla, Quellen der Erneuerung. Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils., Freiburg 1981;
  • Zukunft aus der Kraft des Konzils. Die außerordentliche Bischofssynode ’85. Die Dokumente mit einem Kommentar von W. Kasper, Freiburg 1986;


Teil C:
Unser Beitrag zu einer erneuerten Kirche

Das 2. Vatikanische Konzil hat eine zwiespältige Wirkungsgeschichte ausge­löst, weil es in Verlauf und Ergebnissen selber zwiespältig war. Auf den charismatischen Papst Johannes XXIII. folgte der ängstliche Paul VI. Die progressive Mehrheit des Konzils fand sich mit der konservativen Minderheit auf dem Weg oft unausgegorener Kompromisse. Das Ergebnis war eine inner­kirchliche Polarisierung. Sie erreichte ein katastrophales Ausmaß, als sich Rom nicht mehr um Ausgleich bemühte, sondern in autoritärer Weise die Partei der konservativen Minderheit ergriff.

Allerdings, was für uns in einer solchen Analyse zählt, ist das langfristige Resultat. War das Konzil zwiespältig, weil sein Ergebnis zwiespältig ist? Zählt bei der Beurteilung eines solchen Ereignisses nur sein in Texte festgelegtes Endprodukt? Wahrscheinlich überfordern wir das Konzil, als müsse es die Fragen für weitere 300 Jahre regeln. Ein Konzil ist aber nicht da, um wei­tere Konzilien überflüssig zu machen, wie auch keine Legislaturperiode wei­tere Legislaturperioden überflüssig machen kann. Es waren ja gerade nicht die Verhandlungen um Textpassagen, um Zusätze, Vorbehaltsklauseln und höhere Interpretationen, von denen damals eine inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit fasziniert war. Nicht der Buchstabe faszinierte, sondern der Geist des Gesprächs und der freimütigen Rede, der Öffnung zur Welt und zu andern Kirchen hin. Es faszinierte das Aggiornamento als der Mut, im Heute zu leben.

Wer also den Geist des Konzils ernstnimmt, der muß es schöpferisch weiter­gestalten. Demokratie heißt Demokratisierung; Mitsprache heißt stets neues Mitsprechen in Kritik und Gegenkritik. Es kann nicht um die Repetition da­maliger Beschlüsse gehen, sondern um einen erneuerten „konziliaren Pro­zeß“. Er wurde 1962-1965 exemplarisch angestoßen. Die nachkonziliare Zeit muß von ihm belebt sein. Die Frage ist deshalb, was wir beitragen in diesem konziliaren Prozeß zu einer erneuerten Kirche.

I. Was ist aus dem Konzil zu lernen?

Wen damals das Konzil in seinen Bann schlug, der sollte sich auch heute noch die Frage nach seiner Faszination stellen. Für den Bund Neudeutsch­land bedeutete die Konzilszeit in vielen Punkten Erfüllung der eigenen Ver­gangenheit. Erinnert sei an den Gedanken der Kollegialität sowie an die Aufwertung des Laien (vom Dekret über das Laienapostolat müßte eigens ge­sprochen werden). Erinnert sei aber auch an die Konstitution über die Hei­lige Liturgie („Sacrosanctum Concilium“), in der die Ernte der Liturgischen Bewegung eingefahren wurde: Aktive Teilnahme der Gläubigen am Gottes­dienst, Aufwertung des Wortgottesdienstes, Einführung der Volkssprache, Reform des von Jahrhunderten überlasteten Ritus. Die Konstitution wurde zum Ausgangspunkt einer großen Zahl weiterer Reformen, die in verschie­denen Ländern und Kontinenten zu fruchtbarer Kreativität führte.

Nun ist es so, daß über geglückte Erfolge in der Regel nicht mehr oft ge­sprochen wird. Außer einer extrem rechten Gruppe, die sich allmählich um Erzbischof Lefébvre gesammelt hat, ist diese Entwicklung allgemein akzep­tiert worden. Sie wird heute höchstens von bischöflicher und kurialer Seite kritisch beobachtet. Diese Überlegung führt mich zu einem ersten Gesichts­punkt:

1.1 Das Konzil hat entscheidende Durchbrüche gebracht

So unausgeglichen und halbherzig die einzelnen Texte auch sein mögen, ent­scheidende Durchbrüche wurden doch erzielt. Vergessen wir nicht, daß die vor-konziliare Zeit noch vom Geist der Neuscholastik, des 1.Vatikanischen Konzils und des Antimodernismus geprägt war. Pius XII. (1939-1958) reprä­sentierte ein autoritäres Regime.
– Der Glaube wurde in dieser Epoche ausschließlich von seinen Glaubensin­halten her begriffen. Es wurden ausschließlich Inhalte gelernt. Der Glaube war also auf Katechismuswissen reduziert. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil ist unbestritten, daß Gott in seiner Offenbarung in erster Linie sich selber mitteilt, uns also nicht über die Wahrheit der Welt und des Menschen in wohldurchdachten Aussagen instruiert.
– Die Kirche wurde ausschließlich vom Papst und seinen Privilegien her ge­dacht. Christus gründete die Kirche, indem er den Petrus einsetzte. Er be­rief die übrigen (männlichen) Jünger; diese gaben die Berufung (in der „Apostolischen Nachfolge“) weiter. Deshalb ruhte die ganze Heils- und Wahr­heitsgewißheit der Kirche auf dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes. Der Papst ist zudem der höchste Richter, der keinem weiteren Urteil mehr unterworfen werden kann. Von ihm wurden alle Eigenschaften nach unten hergeleitet. Dagegen hat sich eindeutig ein anderes Modell durchgesetzt, das vom „Volk Gottes“ ausgeht, dem auch die Hierarchie zu dienen hat. Die Ortsgemeinde ist der wahre Ort der Kirche. Die Gesamtkirche hat sich auf diese Ortsgemeinde zu beziehen.
– Der Gedanke vom Mystischen Leib war vor der Zeit des Konzils völlig aus­gehöhlt und seiner symbolischen Aussagekraft beraubt. Die Enzyklika „My­stici Corporis“, 1943 veröffentlicht, hatte aus dem organischen Bild des in seiner Vielfalt geeinten Leibes ein juristisches Modell gemacht, in dem alles Leben vom Haupte ausgeht und zu den einzelnen Gliedern durchströmt, so daß mit Hilfe des Bildes scharfe Kirchengrenzen gezogen werden können. Nur wer dem Papst als dem sichtbaren Haupt untersteht, kann als Mitglied der (alleinseligmachenden) Kirche gelten. Jetzt wird die Gemeinschaft der Glaubenden wieder ernstgenommen. Die Ortsgemeinde tritt ins Zentrum des Interesses. Auch nichtkatholischen Kirchen wird zugestanden, daß auch in ihnen Elemente der Kirche Christi verwirklicht sind.

Sie mögen mir entgegenhalten, daß diese alten Bilder und Vorstellungen ge­rade nicht überwunden seien, sondern verstärkt zurückkehren. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: diese alten Bilder werden aufge­zwungen, aber sie überzeugen viele von uns nicht mehr. Wer heute wieder „von oben“ argumentiert, muß mit theologisch begründetem Widerspruch rechnen und hat die Beweislast.

Das läßt sich deutlich machen am Bild vom „Volk Gottes“, das seine Wirkung zeigt und seinen Start in der Art einer Zwei-Stufen-Rakete vorzüglich ab­solviert. Die erste Stufe führt zu einer Vielzahl innerkirchlicher Diskussio­nen und Reformen. In den sechziger Jahren – bis weit in die siebziger Jahre hinein – denken wir zunächst nach über uns selbst, unsere Gemein­den, über innerkirchliche Fragen. Oft hat man in jener Zeit des unmittelba­ren Aufbruchs auch von einer Nabelschau gesprochen. Wir waren mit uns selber beschäftigt.

Das war offensichtlich notwendig, denn auf Grund dieser ersten Sichtung konnten sich seit Beginn der siebziger Jahre ganz neue Gedanken, Tenden­zen und Utopien entwickeln. Bei uns waren schon zuvor die Politische Theologie, die Theologie der Hoffnung und eine gesellschaftskritische Denk­weise entstanden. Sie wurden erst konkret in der Befreiungstheologie und in den Schwarzen Theologien, die in Lateinamerika ihren Ausgang nahmen. Die neuen Aspekte zeigten also Wirkung. Niemand von uns kann noch so tun, als gäbe es diese neuen Überlegungen, Bilder und Hoffnungen nicht. Dies wird gerade durch den enormen Widerstand bewiesen, der sich in ku­rialen Kreisen gegen diese Theologie entfaltet hat und noch immer entfaltet.

Anders gesagt: vermutlich nehmen gerade diejenigen das Konzil ernst, die nicht immer wieder zur Nabelschau der eigenen Verhältnisse zurückkehren, sondern nach draußen schauen. Die Frage des Aggiornamento lautet letztlich ja nicht, wie wir uns anpassen können, sondern was die Fragen und Nöte der Welt sind.

1.2 Das Konzil hat in eine Krise geführt

Allerdings gilt auch ein zweiter Gesichtspunkt. Diese Durchbrüche und Fort­schritte haben uns nach dem Konzil in eine tiefe Krise geführt. Die Polari­sierungen innerhalb der katholischen Kirche sind unübersehbar. Sie gehen quer durch die Kirche vieler Länder und Kontinente, auch quer durch die Hierarchien. Selbst in den Vatikanischen Gemächern scheinen die Herren nicht immer einer Meinung zu sein.

Sie mögen sagen, das sei eine Frage der Generationen. Sie haben damit teil­weise recht. Ein Großteil von Ihnen hat das Konzil mit Begeisterung miter­lebt. Aber wir alle waren von einem vorkonziliaren Geist geprägt, und nicht in allem haben wir uns bekehrt. Änderung und Erneuerung forderten ja auch Trauerarbeit von allen Frauen und Männern, die vor dem Konzil aktiv am kirchlichen Leben teilnahmen. Wir hatten aber in der Reformbegeisterung kaum mehr den Mut, auf die Abschiede und auch auf den Schmerz hinzuwei­sen, die uns eine erneuerte Kirchenwirklichkeit abverlangte. Im Streit um den Weg der Kirche sind also viele Generationsfragen im Spiel. Dabei hängen Lernfähigkeit und Verbohrtheit keineswegs vom Alter eines Menschen ab. Aber wir Älteren hatten eine Bringschuld zu verarbeiten, die Jüngeren er­spart geblieben war.

Allerdings kommt die gegenwärtige Krise der Kirche nicht nur vom Konzil. Wir sind heute mit Fragen konfrontiert, auf die das Konzil noch keine Ant­worten geben konnte, weil es noch nicht gefragt war. Der Glaubensverlust bei der Jugend sowie die Prozesse der Säkularisierung sind in ungeahnter Weise vorangeschritten. So kämpfen viele kirchlich engagierte Christen zugleich an zwei Fronten. Innerhalb der Kirche werden sie des mangelnden Glaubens, außerhalb ihrer intellektueller Unredlichkeit verdächtigt.

Vor diesem Hintergrund sollten wir froh sein, daß es innerhalb der Kirche überhaupt noch Auseinandersetzungen gibt. Es reagieren nur noch diejeni­gen, welche die Bischöfe ernstnehmen, von ihnen also noch etwas erwarten. Die kritisch Intellektuellen, die loyale Opposition ist dabei, auszuwandern. Was die Kirchenleitungen euphemistisch „gesundschrumpfen“ nennen, ist in Wirklichkeit ein Aderlaß, der nicht mehr wieder gutzumachen ist.

Der gefährlichste Punkt der gegenwärtigen Krise ist deshalb eine negative Spirale innerkirchlicher Kommunikation. Wir sind als Täter und Opfer, als zu gegenseitiger Hilfe und Dankbarkeit Verpflichtete so aneinander gekettet, daß jede Gruppierung gegenüber allen anderen Gruppierungen Mißtrauen entwickelt haben, daß viele Probleme überhaupt nicht mehr offen und in befreiender Weise besprochen werden können. Die Helfer erwarten Dankbar­keit und entsprechendes Wohlverhalten. Die Enttäuschten haben keine Mög­lichkeit, ihre Erfahrungen zu artikulieren. Die Unterstützten verdrängen ihre Probleme aus falsch verstandenem Wohlverhalten so lange, bis sie ihre Kritik nur noch in destruktiver Weise herausschreien können. Die einen warten auf die andern. Wir sind drauf und dran – jedenfalls in Deutschland – in einer Krise der Selbstzerstörung zu enden.

1.3 Was war, was ist der Geist des Konzils?

Stellen wir vor diesem Hintergrund noch einmal die Frage nach dem Geist des Konzils. Halten die neuen Themen, hält die neue Öffentlichkeit, hält der Geist des Aggiornamento unseren Fragen noch stand?

a) Die neuen Themen:
Wir nehmen die Liste der Konzilsthemen hier nicht mehr auf. Entscheidend ist vielmehr die Richtung, in der sie gestellt wurden. Das Konzil zeigt ein­deutig eine Tendenz weg von einem amtlich verfaßten Glauben, hin zu den Fragen und Erfahrungen von Menschen, weg von der Hierarchie, hin zur Ortsgemeinde, weg vom Dekretieren und Kontrollieren, hin zum geschwister­lichen Austausch, weg von der Versorgungsgemeinde, hin zur aktiven Teil­nahme am kirchlichen Leben.

Wenn wir diese Tendenz ernstnehmen, dann kann die Folgerung nur lauten: diejenigen handeln dem Konzil getreu, die auf die Menschen, auf die gesell­schaftlichen Verhältnisse, auf die inneren Nöte zugehen und die es lernen, von ihnen her den Glauben neu zu buchstabieren.

Lassen Sie es mich allerdings in aller Deutlichkeit sagen: Nicht jedes der heute heiß umstrittenen Themen weist in die Zukunft. Einige haben einfach mit der eigenen, immer noch nicht verarbeiteten Vergangenheit zu tun. Teil­weise gehen sie auf ein unerledigtes Konzilserbe zurück (so Fragen der Ökumene, der Laien in der Kirche und der Menschenrechte), teilweise haben sie sich erst in den vergangenen Jahren herausgestellt (so Fragen zur Frau in der Kirche, der Säkularisierung und unseres politischen Handelns).

Keine Diskussionsthemen brauchen deshalb heute zu sein: die von Rom vor­geschriebene Sexualmoral (vor allem die Geburtenregelung), die Behandlung von wiederverheirateten Geschiedenen, die Aufhebung des Zölibats, die Ordi­nation der Frau sowie Mitbestimmung in kirchlichen Entscheidungen. Daß wir diese Fragen heute immer noch diskutieren, ist ein Zeichen für römische Unbeweglichkeit. Das Schlimme der gegenwärtigen Situation ist in der Tatsa­che zu suchen, daß sich seit 20 Jahren die Diskussionslage nicht verändert hat. Die alten Argumente werden – entgegen allen Programmen des Aggior­namento – immer noch aufrechterhalten, Gegenargumente nicht zur Kenntnis genommen. Durch diese Verzerrung der Kommunikation kommen wir über­haupt nicht zu den eigentlichen Problemen, die hinter den genannten Fra­gen durchaus verborgen liegen. Ich denke an viel grundsätzlichere Fragen wie Sexualität und Menschlichkeit, geschlechtliche Zuneigung und Zärtlich­keit, die Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft sowie die selbstverständli­che Solidarität mit jungen Müttern, denen niemand mehr zur Seite steht. Ich nenne als hinreichend besprochenes Thema schließlich die Ordination der Frau. Es ist beim besten Willen kein stichhaltiges theologisches Argument mehr zu entdecken, das ein „Schweigen“ der Frau in der Kirche rechtferti­gen könnte.

Vom Konzil ist etwas ganz anderes zu lernen, nämlich der Blick auf unsere Gegenwart, die Suche nach den Menschen von Heute. Die für Christen inter­essanten Themen liegen auf der Straße, auf der Weltbühne. Sie liegen dort, wo sie das Kapital, die Politik und die private Freizeit liegen lassen oder nicht suchen. Interessant für Christen sind diejenigen, die draußen stehen; denn von ihnen ist zu lernen. Wichtig für Christen sind nicht in erster Li­nie die Fragen einer christlichen Moral; über sie herrscht unter Menschen guten Willens weitgehend Übereinstimmung. Wichtig ist die Frage, warum wir trotz guter Moralvorsätze ständig scheitern und fanatisch statt solidarisch werden. Wichtig für Christen ist es, die Vielfalt der Welt, der Menschen, der sozialen Schichten ernstzunehmen. Theologen sprechen heute von einer po­lyzentrischen Kirche.

b) Die neue Öffentlichkeit
Das Konzil hatte vor 25 Jahren die katholische Kirche neu ins öffentliche Gespräch gebracht. Der Weltrat der Kirchen blieb von der neuen Bewegung nicht unberührt. Jetzt konnte sich auch bei ihm wieder etwas bewegen. Das Fernsehen brachte diese Kirche auch für Nichtkatholiken von einer beein­druckenden, wenn nicht gar sympathischen Seite ins Bild. Rom strahlte – verbunden mit einer Jahrtausendtradition – Freundlichkeit und Leben aus. Dieser Umstand machte es auch vielen Katholiken möglich, sich offen und wie selbstverständlich zu dieser Kirche zu bekennen. Diese Öffentlichkeit erreichte zugleich eine neue und universale Qualität; denn in kaum einem anderen Gremium (die UNO und ihre Unterorganisationen einmal ausgenom­men) arbeiteten Menschen verschiedenster Nation, Kultur und Hautfarbe mit­einander zusammen. Menschen nehmen einander ernst, unabhängig von ihren eigenen Voraussetzungen. Der Geist des Konzils war und ist deshalb ein Geist der Öffentlichkeit, des öffentlichen Gesprächs und der offenherzigen Diskussion.

Leider haben sich in unserer Kirche wieder die Untugenden aller Großorga­nisationen breitgemacht. Die kirchlichen Hierarchien und Kurien, Büros und Verwaltungsapparate sind wieder zu Hochburgen des Herrschaftswissens und der Geheimniskrämerei geworden. Daß die Herren inzwischen den Umgang mit Presse und Öffentlichkeit gelernt haben, besagt nur, daß sie die eigentli­chen Vorgänge umso professioneller zu verbergen oder zu verschleiern wis­sen. Das Denunziantentum blüht noch immer. Zwar müssen Briefschreiber in­zwischen ihre Namen preisgeben, wenn sie von Bischöfen gehört werden wollen. Aber noch immer können sie sich der Geheimhaltung ihres Namens gegenüber den Beschuldigten sicher sein. Diese Haltung ist tödlich für alle Glaubwürdigkeit. Was hat eine Kirchenleitung eigentlich zu verbergen?

c) Was ist Aggiornamento?
Kein Begriff war zu jener Zeit mehr in aller Munde als der Begriff des Ag­giornamento. Er wurde oft mißverstanden und bisweilen mit Anpassung übersetzt. Um eine solche Anpassung kann es nicht gehen. Er wurde bis­weilen von einer optimistischen Stimmung her erklärt: die Sache des Glau­bens braucht sozusagen nur aufpoliert zu werden, dann erstrahlt er in al­tem Glanz. Auch diese Interpretation ist zu kurz gegriffen. Bleibt schließlich ein Verständnis übrig, wie wir es bei Johannes XXIII. selber lernen können. Es lautet: Die Neuzeit endlich entdecken. Die Gegenwart mit ihren eigenen Fragen und Problemen ernstnehmen. Hier und Jetzt als Christen im Heute leben. Aggiornamento heißt: nicht nur ein anderes Gewand anziehen, sondern auch ein anderer, eine andere werden (vgl. L. Kaufmann).

Ich will also nicht behaupten, es komme in keiner Weise auf die Texte und die vielschichtigen Beschlüsse des Konzils an. Theologen werden die Texte lesen und interpretieren müssen. Aber es kommt darauf an, daß wir es im Geist des Konzils tun. Wir haben die Durchbrüche zu entdecken und die neuen Themen aufzuspüren, die sich so in jedem Jahrzehnt neu auftun. Wir sollten die Öffentlichkeit wahrnehmen und uns nicht in Geheimzirkel zur Vergangenheitspflege zurückziehen. Der christliche Glaube hat es nicht mit Rätseln und höheren Weisheiten, sondern mit „Geheimnissen“ zu tun, die wir verstehen und anderen erklären, ihnen sicher vorleben können. Und wir müssen schließlich wissen, daß wir auch nie bei den Gedanken und Ergeb­nissen des 2. Vatikanischen Konzils stehen bleiben können. Gemäß dem Ag­giornamento gehen Denken und Arbeit weiter. Es geht darum, den Glauben schöpferisch und selbstkritisch weiterzudenken und ihm immer neue Gestal­ten zu geben. Deshalb meine ich: Nur wenn es gelingt, dieses Konzil als Ausgangspunkt ganz neuer Aufbrüche zu deuten, also zu überholen, werden seine Grundanliegen kommende Generationen noch überzeugen können. Gefordert ist deshalb ein 3. Vatikanisches Konzil.

II. Unser Beitrag zu einer erneuerten Kirche

Es kann sich bei einer Besinnung um Kirche und Konzil nicht allein um hi­storische Informationen handeln. Zwar gibt es in den letzten 25 Jahren viele Neuaufbrüche. In Gemeinden und einzelnen Gruppen hat sich ungeheuer viel bewegt. Wichtige Themen wurden (wieder)entdeckt. Jugendliche, Frauen und andere Gruppierungen haben zu einem neuen Selbstbewußtsein gefunden. Themen wie Gewaltfreiheit, Abrüstung und Ökologie, politische Verantwortung und ein neues soziales Gewissen rückten in den Vordergrund. Ökumenische Zusammenarbeit ist an vielen Orten selbstverständlich geworden und der Blick auf andere Kontinente hat viele vor einem allzu beengten Provinzialis­mus bewahrt.

Andererseits geht die Teilnahme am kirchlichen Leben dramatisch zurück. U.a. sind Religionsunterricht und Katechese in die Krise geraten. Jugendli­che lassen sich nicht mehr an ein regelmäßiges kirchliches Leben binden, obwohl sie in Massenveranstaltungen zu Tausenden vertreten sind. Die Sä­kularisierung hat ihren Tribut gefordert, ohne daß wir es im Streit um in­nerkirchliche Fragen bemerkten. Wird es überhaupt noch gelingen, den Glauben an die kommenden Generationen zu übermitteln? Werden wir inner­halb unserer kirchlichen Strukturen zu einem neuen Konsens über die Werte und Normen eines christlichen Lebens in der heutigen Zeit kommen können? Das materielle Wohlergehen der Kirchen in der Bundesrepublik darf über die Dringlichkeit dieser Probleme, die andernorts (etwa in Frankreich und in den Niederlanden) schon lange diskutiert werden, nicht hinwegtäuschen.

Diese Probleme werden durchkreuzt von Fragen an den gegenwärtigen Re­gierungsstil von Papst und Hierarchie. Erinnert sei nur an die Kölner Er­klärung vom Frühjahr 1989. Viele von uns sind der Meinung, das schlin­gernde Schiff Kirche müsse mit feste Hand auf klaren Kurs gezwungen wer­den. Andere sehen im gegenwärtigen „autoritären“ Verhalten Roms sowie in der mangelnden Selbständigkeit unserer Bischöfe einen wesentlichen Grund für viele gegenwärtige Schwierigkeiten.

Allerdings kann es nicht bei der Kritik stehen bleiben. Wenn unsere Kirche in der jetzigen Krise vernünftig überleben will, müssen sich neue Gruppie­rungen bilden, die jetzt schon eine erneuerte Kirche leben. Zugleich wird diese vielfältige Erneuerung auf allen Kontinenten unterschiedlich zu leben sein. Wir sollten dabei einander keine Vorschriften machen. Dabei müssen auch wir Europäer unsere eigenen Wege suchen und finden. Die Befrei­ungstheologien verschiedenster Art sind inzwischen dabei, als Feigenblatt für unsere eigene Phantasielosigkeit herzuhalten. Beginnen wir doch endlich, wieder selber zu denken.

Dabei gehe ich von einigen wichtigen Voraussetzungen aus. Ich gehe davon aus, daß dem christlichen Glauben noch immer die Zukunft gehören kann und gehören muß. Auf Weltebene bleibt der christliche Glaube ein unver­zichtbarer Gesprächspartner. Das kann immer noch Abschied von der Staats- und Abschied von der Volkskirche bedeuten. Die Säkularisierungsprozesse in Politik und Kultur (Erziehungswesen eingeschlossen) und Gesellschaft (Werte, Normen und ein neuer Verhaltenskodex) haben auch ihre reinigenden und herausfordernden Vorteile. Das „C“ in zwei großen Parteien kann nur noch bedingt überzeugen. Wer meint, eine erneuerte Kirche werde bei uns wieder die Kirchen füllen, die Zahl der Engagierten wesentlich erhöhen oder – wie Johannes Paul II. – zu einem rechristianisierten Europa zurückführen, erliegt einem Trugschluß. Die Forderung nach Erneuerung ist unabhängig von Erfolgsmeldungen zu stellen; es geht nicht um kirchlichen Einfluß, son­dern um die christliche Sache, für die wir einstehen.

Ich bin also überzeugt, daß diesem christlichen Glauben noch Zukunft be­schieden ist. Der christliche Glaube wird vielleicht Sache einer „kleinen Herde“ werden, dennoch kann er Salz der Erde, kann Christus erneut Licht der Welt sein. Wir müssen nur zu den Ursprüngen zurückfinden und die Kirche als eine Gemeinschaft von solchen darstellen können, die die Ge­schichte Jesu weitergeben und für ihre Zeit verwirklichen. Weil das Konzil aber auf dem halben Weg stehengeblieben ist, und weil die Zeit inzwischen um ein Vierteljahrhundert weitergegangen ist, fordern viele Theologen ein 3. Vatikanisches Konzil, besser noch: ein Konzil in Jerusalem oder in Medellín, in Bombay oder in Kinshasa.

Es ist auch Zeit für die Erklärung, daß wir keine Geduld mehr haben, wenn die gegenwärtige Kirchenleitung nicht endlich lange anstehende und über­fällige Fragen regelt. Wir haben sie genannt: Es sind die Fragen der Öku­mene und des gemeinsamen Abendmahls, der Sexualmoral, der Wiederverhei­ratung Geschiedener sowie des Priestertums der Frau. Die Diskussion über diese Fragen wurde lange genug verboten. Das hat zerstörend, für viele Christinnen und Christen demütigend und unmenschlich gewirkt. Wir sollten nicht mehr bereit sein, unsere Energie zu weiteren verbohrten Rückzugs­gefechten aufzuwenden. Wer Berührungsangst vor anderen Kirchen hat, soll eben wegbleiben. Auch zwingen wir keine Frau, sich ordinieren zu lassen. Auch ist niemand zur Wiederverheiratung gezwungen.
Wie aber könnte unser positiver Beitrag aussehen?

2.1 Einübung in ein neues politisches Bewußtsein und Handeln

Noch immer gehen viele von uns davon aus, daß christliche Politik konser­vativen Ordnungsmodellen verpflichtet ist. Sie richten sich dann aus auf Fragen von Ehe und Familie, sind auf Fragen der Sexualität fixiert, halten eine bürgerliche (und kapitalistisch gesteuerte) Gesellschaftsordnung für gottgewollt und klagen bei allen Gelegenheiten die Rechte der Kirche in der modernen Gesellschaft ein. Der Glaube, sagen sie, sei un- oder überpolitisch.

Demgegenüber siedeln sich viele innerkirchlich erneuernde Gruppierungen bewußt „links“ an. Sie gehen davon aus, daß Christen nicht nur zu politi­schem Engagement verpflichtet sind, sondern daß diese Politik immer unmit­telbar am Wohl der Menschen, zumal der Schwachen, der Schweigenden, der Ausgegliederten orientiert sein muß.

Kirche muß notwendig kritisch, pionierhaft in Denken und Handeln, Vorhut einer neu zu gestaltenden Zeit sein. Das Gespräch zwischen den Generatio­nen, aber auch zwischen Katholiken derselben Generation scheitert oftmals an dieser Frage. Ich meine, daß jüngere Menschen oft mehr und besser se­hen. Die christliche Botschaft ist ja – wie die Botschaft Jesu selber – durch und durch politisch, auch wenn sie sich nicht in politischem Handeln er­schöpft. Jesus hat die Ankunft von Gottes Reich verkündet. Als Christen le­ben wir aus der Erwartung von Gottes Reich. Wir erwarten also eine erneu­erte Erde, eine gerechte Gesellschaft und eine beschützte Natur. Christen sind von Haus aus eben nicht die Herrschenden, sondern kritische Minder­heit, nicht Regierungsmehrheit, sondern Opposition, die weiter und gründli­cher zu denken hat als diejenigen, die allein ihre eigenen Interessen – und seien sie noch so edel – verteidigen. „Auferstehung“ hat in der griechi­schen Sprache nicht ohne Grund mit Auf-stand (stasis) zu tun.

Es ist erstaunlich, wie sehr sich der Bund ND in Denken und Handeln auf a-politische Positionen, auf Fragen der Frömmigkeit und eine allgemeine Spi­ritualität zurückgezogen hat. Hat er doch jugendbewegt und liturgisch be­wegt begonnen. Zwar geschieht links und rechts Interessantes und viel. Aber alle Aktivitäten werden auch wieder neutralisiert, zur Ausgewogenheit erweitert und damit wieder entschärft. Wir tun so, als hätte der Bund in seinem Ursprung keine politischen Positionen verkörpert und als sei er nicht spätestens in den 30er Jahren dazu gezwungen worden. Davon kann keine Rede sein. Warum zeigen wir keine eindeutigen Sympathien etwa für die Grünen, für sozialkritische Gruppierungen und für diejenigen, die sich auch in der Kirche den aufrechten Gang nicht abgewöhnen lassen wollen? Über nostalgische Reflexionen zum Profil des Bundes ist viel zu lesen und zu hören. Es wäre an der Zeit, umweltpolitisches und sozialkritisches Enga­gement in diese Nostalgie mit einzubeziehen.

Ein spezifisch christliches Kriterium politischen Handelns ist für Christen das Wohl derer, die nicht mehr für sich selber eintreten können. Wie kon­kret können wir an ihre Seite treten? Ich weiß, daß Frauen und Männer des Bundes auf allerlei Gebieten, offen und verdeckt, innerhalb und außerhalb kirchlicher Gemeinden viel Gutes tun. Es wäre allerdings zu wünschen, daß dieses Engagement auch als eine Grundlinie des Bundes erkennbar wird und sich nicht nur auf gelegentliches Handeln beschränkt. Ein gesellschaftskriti­sches Bewußtsein scheint mir von der christlichen Botschaft her unabding­bar zu sein. Deutlich müßte zugleich werden, was wir als Bund nicht leisten können. Zwar üben viele Caritas und tun Gutes, als Bund sind war aber kaum fähig, mit den Armen die Situation, ihr Los zu teilen, sie etwa in die Gruppe oder in unsere Familien aufzunehmen. Ich sage dies, weil immer wie­der gefragt wird, ob wir uns nicht als Basisgemeinde verstehen sollten. Ich sage dies, weil immer wieder gefragt wird, ob wir uns nicht als Basisge­meinde verstehen sollten. Wir können aber konsequent für Schwächere und ungerecht Behandelte, für sozial oder ökonomisch Benachteiligte eintreten – so, daß diese Gruppierungen wissen, daß sie bei uns auf Fürsprache und Einsatz rechnen können. Es muß wenigstens eine Gruppe geben, für die wir gemeinsam und programmatisch stehen. Nur so können wir m.E. zu der neuen Identität kommen, die so oft beschworen wird.

Die These lautet:
Eine Kirche, die sich auf Fragen „höherer Ordnung“ zu­rückzieht, schneidet sich selbst von der Gegenwart ab. Was zwischen den beiden Weltkriegen die Jugendbewegung und die Liturgische Be­wegung war, sind heute sozialkritische und ökologische Bewegungen.

2.2 Einübung in eine neue Gesprächskultur:

Die Kirche wurde schon immer als „Gemeinschaft der Gläubigen“ verstanden. Noch nie aber war seit Jahrhunderten die Chance so groß, dieses Selbstver­ständnis der Kirche in die konkrete Tat umzusetzen. Wie in den letzten Mo­naten deutlich wurde, bieten vermutlich nur demokratische Formen des Zu­sammenlebens eine Chance, die Probleme der Zukunft zu meistern. Unser Beitrag zu einer erneuerten Kirche kann darin bestehen, daß wir bewußt versuchen, eine neue Kultur des Gesprächs, des geschwisterlichen Sich-ernst-nehmens sowie eine Kultur der aufrechten Kritik einzuüben. Dabei muß auch über die Frage gesprochen werden können, was uns Gottes Wort heute sagt, da wir gute Antworten nur gemeinsam finden. Aus verschiedenen Gründen ist es für den Bund immer schwieriger geworden, einen unver­wechselbaren Platz zu finden.

Denken Sie noch einmal an den Bund. Dieser Bund hat einige Nachteile. Er ist aus vielerlei Mitgliedern zusammengewürfelt. Oft hält sie nur noch eine romantische Erinnerung zusammen. Und sie arbeiten über ganz Deutschland verstreut. Viele engagieren sich in ihren Gemeinden oder bei sozialen Pro­jekten, von den Politikern und Wissenschaftlern ganz zu schweigen, die sich ohnehin in der Öffentlichkeit einsetzen. Was uns verbindet, ist die Fähigkeit zu reden, zu argumentieren, unsere Gedanken und Anliegen, auch unsere Kritik zu artikulieren. Es hat keinen Zweck, uns zu noch mehr Arbeit anzu­treiben oder zum 73. Mal in der Geschichte des Bundes die Rolle der Laien in der Kirche zu diskutieren. Wer sich auf diese Themenstellung einläßt, hat die alte Konzeption schon akzeptiert, bevor er zu denken beginnt. Wir soll­ten endlich die alten Fragestellungen durchbrechen und gemeinsam mit dem Pfund wuchern, das bei uns in hohem Maße gegeben ist, die Gabe der Spra­che. Der Bund könnte ein Ort werden, der die vielen verdrängten Fragen öffentlich ausspricht und konsequent Öffentlichkeit herstellt. Es muß möglich werden, im Bund und vom Bund aus, in den einzelnen Gruppen und von den Gruppen aus offen zu sprechen. „Freimut“ (2 Kor 3,12) muß unsere erste Tugend werden. Hier liegt m.E. eine spezifische Aufgabe und eine besondere Möglichkeit des Bundes.

Die These lautet:
Der Bund hat noch eine Chance, wenn er sich als kri­tische Gesprächsinstanz für Fragen des Glaubens und christli­chen Lebens in Kirche und Gesellschaft das Wort nimmt. Dabei gibt es genügend große Themen, mit denen sich diese Aktivität bündeln ließe.

2.3 Einübung in ein neues religiöses Bewußtsein:

Wie „New Age“ und andere neue religiöse Bewegungen zeigen, antwortet die Kirche nicht mehr auf die religiösen Fragen und Bedürfnisse der Gegenwart. Unsere Kirche muß die Frage nach Gott sowie die Kraft religiösen Handelns neu entdecken. Unsere eigenen religiösen Bedürfnisse umfassen Sprache und Verhalten; sie reichen vom Denken bis hinein in die Leiblichkeit. Gott wird nur erfahren wo geweint, getanzt und gesungen wird. Wir haben unbedingt Gruppen nötig, die neue Formen der Religiosität, des Gebetes und der Medi­tation, neue Formen des Gottesdienstes und des eucharistischen Handelns erproben. Christliche Spiritualität kann nur aus christlichem Handeln er­wachsen. Umgekehrt muß christliches Handeln immer von einer spirituellen Grundlage her genährt werden.

Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal daran, wie der Bund angefangen hat. Die liturgische Feier, die aktive Mitgestaltung der Euchari­stie, die Gemeinschaftserfahrung rund um den Altar – in der Kirche oder im Zeltlager – gehören zu den Schlüsselerlebnissen der Älteren unter uns. Wir haben diese Erinnerung leider zu nostalgischen Träumen verkommen lassen. Es ist höchste Zeit – falls es nicht schon zu spät ist – sie in eine moderne Spiritualität umzumünzen.

Die These lautet:
Nur wenn es gelingt, die Langeweile kirchlicher Spra­che sowie die Monotonie offizieller kirchlicher Feiern zu durch­brechen, können wir den Glauben an Gott wieder überzeugend zur Sprache bringen.

2.4 Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft

Natürlich ist die Entchristlichung unserer Gesellschaft nicht in erster Linie dem Fehlverhalten der Kirchen anzulasten. Säkularisierung ist in einer in­dustrialisierten und sich immer mehr differenzierenden Gesellschaft nicht aufzuhalten. Wer ist schuld an Kirchenaustritten und am Glaubwürdigkeits­verlust? Wir haben keinen Grund, die Kirchenleitung aus ihrer Verantwor­tung zu entlassen. Aber wir wissen auch, daß die Kirche in einer säkulari­sierten Welt, am Ende von langen und vielfältigen Modernisierungsprozessen zu Welt und Gesellschaft ein neues Verhältnis finden muß. Daß kann ihr nicht ohne unsere Hilfe gelingen.

Der klassische Weg der Kirche ging sozusagen über Gott und im Namen Gottes zu den Menschen. „Die Kirche“ hat uns gesagt, was Wille und Wahr­heit Gottes ist und uns das Heil im Sakrament angeboten. Ich nenne dies den sakralen Weg. Es gibt aber auch einen zweiten Weg, der in der bibli­schen Tradition sowie in der frühen Kirche eine wichtige Rolle gespielt hat und später zur Seite gedrängt wurde. Es ist der prophetische Weg. Er geht über die Menschen, über ihre Fragen und Probleme zu Gott. Wie also ist auf eine säkularisierte Gesellschaft zu reagieren? Falsch wäre es, in ständiger Selbstverteidigung auf die Wahrung kirchlichen Besitzstandes zu pochen. Es gilt heute nicht, den Weg zu den Menschen über Gott, sondern den Weg zu Gott über die Menschen zu finden. Prophetisch handelt, wer Gottes Wort von den Fragen der Menschen her versteht und neu zu formulieren weiß. Daß dies eine eminent kritische und gefährliche Aufgabe sein kann, versteht sich von selbst.

Die These lautet:
Die Kirche kann in einer säkularisierten Gesellschaft nur dann eine neue Rolle finden, wenn sie ihre prophetische Auf­gabe wahrnimmt. Die Kirche muß erst die Sprache der Menschen aufnehmen und Gottes Kritik am Unrecht der Welt formulieren. Erst dann kann sie auf eine Erneuerung von Gottesdienst und Glaube hoffen.

Der Prophet kündet die Heilszeit mit diesen Worten an: „Danach aber wird es geschehen, daß ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen.“ Petrus übernimmt dieses Wort in seine Pfingstpredigt (Apg 2, 17-21). Die Heilszeit zeigt sich also daran, daß jetzt alle Christen mitreden können, weil der Geist in allen spricht, die gerufen sind. Die Heilszeit zeigt sich nach Petrus in der Gemeinschaft, die wir Kirche nennen. Sie zeigt sich also nicht am besseren Wissen oder an den größeren Leistungen einzelner, seien es Priester, Kirchenleiter oder Theologen. Sie zeigt sich nicht daran, daß möglichst viele einer geoffenbar­ten Glaubenslehre gehorsam sind. Die Heilszeit zeigt sich daran, daß jetzt eine Gemeinschaft entsteht, in der alle einander ernstnehmen und voneinan­der ernstgenommen werden.

Doch ist für unser Zeitalter ein Gesichtspunkt hinzuzufügen. Er gehört zum Aggiornamento Johannes‘ XXIII. wesentlich hinzu. Er lautet: Gottes Gerech­tigkeit und Heil gilt nicht nur für Christen, sondern für die Menschen aller Kulturen, aller Rassen und Religionen. Gottes Heil gilt nicht nur unserer Ge­genwart, sondern auch der Zukunft. L. Kaufmann, Verehrer, Kenner und Biograph Johannes‘ XXIII., zitiert einen Text, der als das geistliche Ver­mächtnis dieses großen Papstes gelten kann. Es lautet: „In Gegenwart mei­ner Mitarbeiter kommt es mir spontan in den Sinn, den Akt des Glaubens zu erneuern. So ziemt es sich für uns Priester, denn zum Wohl der ganzen Welt haben wir es mit den höchsten Dingen zu tun, und deshalb müssen wir uns vom Willen Gottes leiten lassen. Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen. Die heutige Situation, die Herausfor­derung der letzten 50 Jahre und ein tieferes Glaubensverständnis haben uns mit neuen Realitäten konfrontiert, wie ich es in meiner Rede zur Kon­zilseröffnung sagte. Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, die den ganzen Men­schen beansprucht, wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen mitein­ander vergleichen konnte, der weiß, daß der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu er­greifen und in die Zukunft zu blicken.“

Sorgen wir dafür, daß heute – unter erschwerten Umständen und in einer neuen Welt – erneut Kirche ist, daß wir in einer neuen Welt die Zeichen der Zeit erkennen können. Wir sind eine Gemeinschaft mit glücklichen Erinne­rungen. Sorgen wir gerade deshalb dafür, daß wir nicht nur und nicht im­mer wieder in die Vergangenheit unserer Jugendjahre, sondern endlich und entschlossen in die Zukunft unserer Kinder, Enkel und Urenkel blicken.

(Vorträge vom 02.06.2009)