Wie kann Gott das alles zulassen?

Die Schreckenstaten in Winnenden und an anderen Orten werden bei den Betroffenen noch lange und tiefe Spuren hinterlassen. Wie konnte Gott dieses Grauen zulassen? Haben Seelsorge und Theologie die richtigen Worte gefunden? Der Vortrag zeigt auf, welche grundlegenden Fragen geblieben sind, was wir vom christlichen Glauben nicht erwarten können und worin er Christen und Nichtchristen wirklich helfen kann.

Zu den Ereignissen in Winnenden, Eislingen und Bad Buchau

 I. In Hilflosigkeit erstarrt

„11. März 2009 In einer Realschule im baden-württembergischen Winnenden bei Stuttgart hat ein Amokläufer mindestens elf Menschen getötet.“ So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen. Die Nachricht von dieser Bluttat erschütterte nicht nur Baden-Württemberg, sondern ganz Deutschland. Am 12. März war dann zu lesen: „Warum wurde Tim K. zum Massenmörder? Die Polizei hat erste Erkenntnisse über die Beweggründe des 17-Jährigen.“ Dieser Jugendliche, der sich schließlich selbst erschoss, lebte unauffällig und eher zurückgezogen. Wer ihn kannte, hätte eine solche Tat für unmöglich gehalten. Was soll man dazu sagen?[1]

1.1 Fragen über Fragen

Erst allmählich wurden die Dramatik und das ganze Grauen des Geschehens offenkundig. Zu Recht richtete sich das Interesse bald auf die Opfer selbst: die getöteten Jugendlichen und die Lehrkräfte, in der Mehrzahl waren es Frauen. Man fühlte sich an den 26. April 2002 in Erfurt erinnert, als zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und ein Polizist erschossen wurden. Am 19. März erinnert DIE ZEIT an weitere 36 Fälle auf der ganzen Welt, in denen Vergleichbares geschah[2]. 1966 und 1979 wird jeweils ein Amoklauf verzeichnet. Seit 1991 häufen sich die Katastrophen. 2002 und 2007 waren es jeweils drei, 2006 vier Fälle. Auch mit Winnenden ist kein Schlusspunkt gesetzt. Am 11. April löscht in Eislingen ein 18-Jähriger zusammen mit seinem Freund seine ganze Familie von vier Personen aus. Am 22. April tötet ein 15-jähriger Jugendlicher eine Frau. Am 11. Mai wird in St. Augustin ein Amoklauf im letzten Augenblick verhindert. Was ist mit unserer Jugend los?

Alle diese Ereignisse haben nachhaltige Wirkungen des Grauens hinterlassen. Menschenleben werden geradezu anonym ausgelöscht. Töten wird, wie es scheint, zum Selbstzweck und zur Selbstbestätigung. Kameraden werden systematisch hingerichtet, Familien mutwillig zerstört. Das Schicksal der Betroffenen gerät bald aus dem Blick. Man übersieht das Elend, das sich erst mit der Zeit einstellt: Eltern und Geschwister, Freunde und Klassenkameraden werden ein Leben lang mit ihren Verlusten und ihren inneren Verletzungen nicht fertig; auf Jahrzehnte hin werden die Schulgebäude zu Monumenten schrecklicher Erinnerung. Wer will sie noch besuchen? Es ist verständlich und richtig, dass sich Verhaltens- und Medienwissenschaften dieser Ereignisse annehmen. Sie fragen weiter: Was passiert in den Köpfen und Herzen von solchen Menschen? Sind sie einfach irregeleitet? Was passierte zuvor in den Familien? Was spielt sich in den Schulen ab? Was bewirken Leistungsdruck, Vereinsamung und das Gefühl, ein loser zu sein? Womit beschäftigen sich die jungen Menschen in der Freizeit? Wie werden sie von den Computerspielen beeinflusst, mit denen sich viele intensiv beschäftigen? Wie kann eine Gesellschaft solche Ereignisse verhindern, wie kann sie Hinterbliebene trösten und heilend begleiten? Fragen türmen sich auf Fragen. Was ist los mit uns?

1.2 Die religiöse Dimension

Oft wird dabei übersehen: Für die Betroffenen – Einzelne wie die Öffentlichkeit – hat die Frage auch eine religiöse Dimension. Wie selbstverständlich gehörten in Erfurt und in Winnenden öffentliche Gottesdienste zum Ritual des Abschieds und der Leidbewältigung. Neben den Psychologen waren Seelsorger gefragt. In Winnenden war auf einem Spruchband zu lesen: „Warum lässt Gott das zu?“ Genau das war und ist die Frage nicht nur von vielen, die unmittelbar von einem solchen Unglück betroffen sind und die in Verzweiflung gerissen werden, sondern auch von vielen anderen, die an dem Geschehen Anteil nehmen. Wir alle sind dann in Hilflosigkeit erstarrt. Der Tod eines Menschen, die Ermordung zumal Unschuldiger, Gewaltausbrüche dieser Art sind immer auch ein öffentliches Ereignis, das uns nicht ungerührt lässt, nicht ungerührt lassen darf. Hilflosigkeit und Erstarrung sind tödlich, so lange wir sie nicht in einen umfassenderen Horizont stellen.

Fragen wir also nach Gott, denn die Frage nach ihm verspricht einen weiteren, vielleicht einen befreienden Horizont. Warum lässt Gott das zu? Warum kann so etwas geschehen, wenn Gott doch Vater/Mutter aller Menschen ist? Warum steht am Ende Zerstörung, wenn ihm die letzte Macht über Mensch, Welt und Geschichte zusteht? Warum hat Gott eine solche Welt geschaffen? Diese Frage wurde schon in vorchristlicher Zeit gestellt und erhielt verschiedene Antworten, die wir hier nicht besprechen können. Ausgerechnet im jüdischen und im christlichen Raum hat sich die Frage aber zugespitzt. Denn für Judentum und Christentum ist Gott immer Einer. Er ist die Quelle aller Güte und er lenkt die Menschen. Setzt er sich auch wirklich durch? Ist Gott – wenn es ihn denn gibt –vielleicht doch zu schwach, um die Kräfte zu bändigen, die er losgelassen hat? Oder sind uns einfach die notwendigen Kategorien abhanden gekommen, mit denen wir solche Abgründe wenigstens benennen und besprechen können, auch wenn sie sich allem Begreifen entziehen? Weichen unsere klugen und hochdifferenzierten Analysen vielleicht dem Kern des Problems aus, weil es uns immer ratlos lässt und ratlos lassen muss?

Am 21. März hat die Stuttgarter Zeitung diese Frage thematisiert. „Vom ‚Bösen’ spricht man nicht“, lautete die Überschrift eines Artikels von Thomas Jansen. Nach seinem Urteil tauchte der Begriff des Bösen in den vorhergehenden Tagen nur selten und nur beiläufig auf.[3] Ein Interview mit Joachim Wanke (Bischof von Erfurt) beschäftigte sich auf derselben Seite dann mit dem „Geheimnis des Bösen“, mit der Frage nach Erbsünde und Teufel.[4] Wanke antwortete klug. Er unterstützt weder einen simplen Teufelsglauben noch die gängige Vorstellung von der „Erbsünde“. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass wir in unheilvolle Verhältnisse mit einbezogen, ihnen verpflichtet sind und – oft ohne es zu wollen – an ihnen mitwirken. Ob in der Politik oder in der Wirtschaft, in Familien oder im Trend der Wissenschaften, im Namen der Zukunft oder der Selbsterhaltung: oft arbeiten wir an Entwicklungen, Tendenzen und Zielsetzungen mit, die letztlich ins Unglück führen.[5]

In der Tat, „Böses“, „Teufel“, „Erbsünde“ (vgl. das „radikal Böse“ bei I. Kant) sind die klassischen Begriffe, mit denen die christliche Tradition das unergründlich Schlechte bespricht und wogegen sie – in der Regel erfolglos – ankämpft. Dabei meint „böse“ mehr als „übel“, also mehr als Unglück, Schicksal oder Verderben. Denn mit dem Begriff des Bösen ist immer auch eine Komponente von Freiheit und Verantwortlichkeit mitgedacht. Böse kann nur ein Mensch sein, der sich bewusst und mit freiem Willen für oder gegen etwas entschieden hat. Böse können wir deshalb nur ein Ereignis nennen, dessen schädlicher Charakter beabsichtigt, bewusst herbeigeführt wurde.

1.3 Metaphern und Lösungsversuche

In diesen Denkhorizont gehört auch die Rede vom Teufel.[6] Ich verstehe ihn als die dramatische Inszenierung, als eine Personifizierung des bewussten und willentlich Bösen. Matthäus beschreibt ihn als den Versucher Jesu, Johannes als den Herrscher der Welt. Christen widersprechen ihm beim Taufgelöbnis in aller Form. Aber insgesamt nennen ihn die jüdische Bibel und das Neue Testament sehr sparsam. Verglichen mit der biblischen Umwelt werden er und die anderen bösen Geister stark zurückgedrängt. Zudem bietet er keine Erklärungen, die nicht auch ohne ihn zu haben wären. Bis heute werden ihm selbst in der dogmatischen Theologie alle Merkmale einer Person abgesprochen, die sich in Freiheit selbst besitzt. K. Rahner charakterisierte ihn als „Person in der Weise der Unperson“. Der katholische Erwachsenenkatechismus spricht über ihn in seltsam verschlüsselten Worten.[7] Belassen wir es also bei der poetischen Kraft einer Teufelsvorstellung, die vielleicht Angst und Schaudern verbreitet.

Das Gewicht der genannten Probleme ist jedoch enorm. Aus der Sicht des christlichen Glaubens spitzen sie sich zur entscheidenden Frage zu: Welche Rolle spielt bei einem solchen Ereignis Gott selbst? Wenn er denn allmächtig und zugleich gütig ist: Wie kann er solche Ereignisse, wie konnte er die Weltkriege und Vietnam, Guantánamo und den 11. September, Winnenden und Eislingen, Bad Buchau und Erfurt, wie konnte er dies alles zulassen? Grundsätzlicher gefragt: Wie kann Gott denn angesichts allen Übels zugleich gütig und allmächtig sein? So wurde die Frage schon in der Antike gestellt. Der Philosoph Epikur (341-270) formulierte die bekannten Alternativen:
(1) Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht,
(2) oder er kann es und will es nicht,
(3) oder er will es nicht und kann es nicht,
(4) oder er will es und kann es.

Demzufolge ist Gott also machtlos, böse, beides zusammen oder das Übel dürfte nicht existieren. Schon der christliche Schriftsteller Lactantius (250-325) hat darauf geantwortet. Doch in der Aufklärung ist die Frage neu aufgebrochen. 1710 hat sie G. W. Leibniz ausführlich in einem Essay behandelt, das er „Theodizee“ nannte. I. Kant hat – zu Recht, wie ich meine – erklärt, dass dieser Versuch der Rechtfertigung Gottes scheitern muss. Dennoch hat diese Problemstellung immer neu dazu gedient, diese schwierige Frage durchzuspielen und wenigstens zu entschärfen. Ein jeder Versuch bringt aber, wie wir sehen werden, falsche Voraussetzungen mit. Deshalb schlage ich hier einen anderen Weg vor.

2.2 Religion als Protest gegen das Elend, oder: Wo sind die wahren Frommen?

2.1. Das Ijobbuch

Ich beginne mit einigen Hinweisen aus dem Buch Ijob, dem vielleicht seltsamsten der biblischen Bücher, weil es aus dem Rahmen fällt[8]. Die Geschichte Israels spielt in ihm keine Rolle, auch die Namen der in ihm agierenden Personen scheinen aus der Fremde zu kommen. Sein Gesamtaufbau ist kompliziert und vermutlich hat es viele Bearbeitungen erfahren. In seiner gegenwärtigen Form stammt es wohl aus dem 2. oder 3. Jahrhundert vor Christus. Wichtiger ist aber sein Inhalt: Es geht um den reichen und gottgefälligen Ijob. Er wird – mit Gottes Erlaubnis – von Satan geplagt, ins Elend geführt. So soll sein Glaube geprüft werden. Wird er auch im Elend Gott die Ehre erweisen? Hier geschieht etwas Seltsames, das so gar nicht ins Bild der jüdischen Frömmigkeit passt. Der zu Unrecht Geplagte bittet Gott nicht um Hilfe oder um Vergebung. Er lässt sich nicht einreden, er habe Böses getan. Im Gegenteil, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen (und nachdem seine Freunde ihn mit theologischen Argumenten bedrängt haben) protestiert er gegen Gottes Ungerechtigkeit. Er schreit zu Gott, verweigert sich ihm: „Ich mag nicht mehr. Ich will nicht ewig leben. Lass ab von mir, denn nur ein Hauch sind meine Tage.“ (7,16) Er will mit Gott nichts mehr zu tun haben, von ihm nicht mehr belästigt werden: „Wie lange schon schaust du nicht weg, lässt mich nicht los, so dass ich den Speichel schlucke? Hab ich gefehlt? Was tat ich dir, du Menschenverächter? Warum stellst du mich vor dich als Zielscheibe hin? Bin ich dir denn zur Last geworden?“ (vv7, 19-20). Ijob erfährt Gott als einen Feind. Gottes Pfeile sind gegen ihn gerichtet; Gott bringt diesem Gedemütigten nur Elend und Vernichtung.

Hat das mit Frömmigkeit und vertrauendem Glauben zu tun? Klar und ungeschminkt bespricht das Ijobbuch die Gefühle von Menschen, die vom Schicksal, von Verarmung und Krankheit, von Vereinsamung und dem Ruch der Gottlosigkeit verfolgt sind. (Ich habe hier nur wenige Verse zitiert.) Haben sie ihren Glauben verloren? In der Tat, ihren Kinderglauben haben solche Menschen verloren. Ich meine damit einen Glauben, der meint, Gott beschütze seine Frommen wie eine Mutter ihr Kind, er bestrafe ihren Ungehorsam und belohne ihr Wohlverhalten. Dieser Glaube geht davon aus, Gott könne und werde bei jedem Notfall eingreifen und die Frommen würden Gottes Walten durchschauen.

2.2 Protest ist erlaubt und geboten

Die Gestalt Ijob ist deshalb so aktuell, weil dieser Kinderglaube in unserer Gegenwart weitgehend zerbrochen ist und weil er zum Erwachsendenglauben wachsen muss. Das aber ist alles andere als einfach. Verständlicherweise haben auch christliche Kirchen mit solchen reif gewordenen und zum Protest fähigen Menschen ihre Schwierigkeiten, denn sie scheinen dem gesamten Kirchenglauben der Vergangenheit zu widersprechen. Gläubige, die Gott protestierend beim Wort nehmen, sind ein Widerspruch in sich. Und dennoch zeichnet diesen Ijob eine unbestechliche Konsequenz aus. Mit genau derselben Direktheit, mit der Gott die Standhaftigkeit Ijobs testen will, testet Ijob jetzt die Ansprüche Gottes, so wie er sie kennt. Genau wie der oben genannte Epikur macht er Ernst mit dem Glaubenssatz vom machtvollen und alles lenkenden Schöpfergott, von Gottes Liebe zu den Menschen. Christen könnten aus ihrer Perspektive hinzufügen: Ijob macht Ernst mit der christlichen Behauptung, dass die Welt in Christus erlöst sei. Was soll denn da erlöst sein?

Nehmen wir an, wir wären heute den Schreien Ijobs ausgesetzt. Nehmen wir an, eine Mutter aus Winnenden würde Ijobs Worte mit all ihrer Wut gegen Gott übernehmen. Wie würden wir als Christen reagieren? Manche von uns würden sich damit schwer tun. Sie würden versuchen, sie zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass alles doch nicht so schlimm sei. Andere aber würden sie verstehen und angesichts ihres Leids den Weg ihres Protests gegen Gott mitgehen. Sie würden sich daran erinnern, dass schon K. Marx Religion als „Protestation gegen das wirkliche Elend“ verstanden und in dieser Funktion auch akzeptiert hat. „Wo warst Du, Gott?“, würden sie mit ihr rufen. „Wo warst du da eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott?“ hat Wolfgang Borchert 1947 nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert. „Wo warst du eigentlich, als man meine Tochter erschoss?“ heißt es heute. Und jetzt die wirklich ernste Frage, ob wir Christen so reden dürfen. Bisweilen hat man Ijob ja als eine typisch alttestamentliche Figur dargestellt, die vom Erlösungstod Christi noch nichts wußte. Das aber hilft nicht weiter, denn Markus lässt auch Jesus die schrecklichen Worte schreien: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15, 34).

Was geschieht bei Ijob, bei Jesus und bei den vielen, die mit einem solchen Abgrund der Verzweiflung konfrontiert werden? Können Christen es zulassen, dass über Gott so gesprochen wird? Ich meine: „Ja!“ Denn gerade in einer Epoche, da der Glaube ohnehin vor ganz neuen Herausforderungen steht, sollten wir uns die Frage stellen: Was meint eigentlich glauben in einem elementaren Sinn? Und was will eigentlich Religion? Wie beginnt dieses merkwürdige Phänomen und was ist sein Ursprung?

Wer genauer nachdenkt, kommt zu einer Entdeckung, die viel mit Ijob und dem Todesschrei Jesu zu tun hat. Ein jeder Glaube, der das Elend dieser Welt ernst nimmt, der also realistisch ist und der zu seinem eigenen Leid steht, beginnt mit einer verzweifelten Frage, einem Schrei. Anders gesagt: Eine jede Religion, die unsere Welterfahrungen ungeschönt aufgreift und sich schonungslos mit den Nackenschlägen unseres Lebens auseinandersetzt, kann nicht mit fertigen Antworten beginnen, nicht glorreiche und siegesgewisse Weltinterpretationen, gar hochkomplizierte Gottesdeutungen als der Weisheit letzten Schluss präsentieren. Eine jede wirklichkeitsresistente Religion, eine jede tragfähige Religiosität, ein jeder lebendiger Glaube beginnt mit Schrei und Protest.

Dieser dunkle Anfang des Glaubens bleibt immer gegenwärtig, auch wenn wir in unseren Glaubensüberzeugungen schon weit vorangeschritten sind. Trotz klügster Glaubensbekenntnisse und trotz mutigster Glaubensbereitschaft wissen wir nie wirklich, wer Gott ist und was seine Liebe konkret bedeutet. Gott ist und bleibt Geheimnis, und eine Begegnung mit „Gott“ beginnt immer mit Unsicherheit und Zweifeln, im Verlust von Hoffnung. Glauben heißt deshalb immer auch loslassen. Die Mystik spricht von der Nacht der Seele. „Wo ist denn jemand, der mir hilft?“, das ist der erste Name Gottes, der uns begegnet. „Wo gibt es eine Macht, die diesem Elend endlich Einhalt gebietet?“, das ist die erste Wesensaussage über seine Gegenwart. Jahwe hat sich Moses mit den Worten gezeigt: „Ich bin der, der immer da sein wird“. (Ex 3,14)

In unserer Epoche fragen wir meistens nicht mehr nach Gott, aber auch heute blieb uns diese Grundfrage erhalten. Wir fragen auf die Zwänge dieser Welt bezogen: Wer oder was kann denn die Bosheit von Menschen überwinden, die Zerstörungswut von diktatorischen Regimen zähmen, den anonymen Zynismus politischer, kapitalistischer und militärischer Systeme in den Bann legen, die destruktiven Teufelskreise von Suchtsystemen (vom Alkohol über Genussdrogen bis hin zu Computerspielen) bannen? Sichtbare Religionen leben auch heute aus der offenen Auseinandersetzung mit solchen Abgründen, die sich nie schließen werden. Auch heute gilt, was der Petrusbrief in poetischer Sprache so ausdrückt: „Der Teufel geht um wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“ (1 Pt 5,8). Deshalb gewinnen die Religionen nur dadurch an Kraft, dass sie auf diesen Angstschrei antworten. Andernfalls werden sie zu kraftlosen bürgerlichen Institutionen. Religionen reißen dem Bösen die Maske vom Gesicht und nehmen den Kampf mit dem lebendigen Bösen auf. Die Religion der Verzweifelten entlarvt die Abgründe der Welt und bildet eine vitale Solidargemeinschaft gegen die Destruktion der fürchterlichen Strukturen und Mechanismen, die sich in unserer Welt immer neu ausbilden.

2.3 Schöpfungsglaube: Hoffnung statt Information

Mit diesen Zerstörungskräften setzt sich Religion auseinander. Es ist wichtig, diesen elementaren Ursprung religiöser Impulse zu sehen. Deshalb verlieren Religionen immer dann ihre Kraft, wenn sie nicht mehr aus dieser Abgrunderfahrung leben. Religionen werden dann gut bürgerlich, harmlos, besserwisserisch. Sie verkümmern zu Rezepten für ein gutes und wohlgeregeltes Leben, zu Anweisungen für den Gehorsam gegenüber einer höheren Macht. Nein, die wahren Frommen sind in Situationen des Unheils rebellisch. Sie fragen und sie bohren nach, sie protestieren. Wir müssen den Menschen dankbar sein, die sich nicht alles gefallen lassen.

Ist diese These aber mit dem biblischen Glaubenszeugnis vereinbar? Zunächst fällt die unleugbare Diskrepanz auf, die sich zwischen Ijob und dem Schöpfungsglauben auftut. Ijob verabschiedet sich von dem althergebrachten optimistischen Gottesbild. Die Genesis dagegen begründet es. Sie beginnt mit den Worten: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“(Gen 1.1). Sie erklärt: Gott sah, dass das Licht, dass der Tag und die Nacht, das Land und das Meer, dass Sonne, Mond und Sterne, die Vögel, die Fische und die Landtiere gut waren. Alles hat er den Menschen übergeben und schließlich befand er: „Alles war sehr gut!“ Die sechs Schöpfungstage münden am siebten Schöpfungstag in die große Feier der Welt. Gott setzt sich zur Ruhe und die Menschen feiern das messianische Fest. Was also stimmt und wie können wir diese Aussagen zur gegenseitigen Übereinstimmung bringen?

Der erste Schöpfungsbericht steht am Anfang das Bibel und täuscht so eine Art Entstehungsbericht der Erde vor, so als stehe sie zur Evolutionstheorie in Konkurrenz. Das kann nicht ihr Sinn sein; sie will keine historischen Ereignisse wiedergeben. Aber auch unabhängig von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wissen wir: Die Sätze der Schöpfungsgeschichte stehen schon historisch gesehen am Ende einer langen Entwicklung. Voraus gehen die Berichte von Abraham, Isaak und Jakob und voraus geht die Geschichte vom Exodus, dem entbehrungsreichen Auszug des Volkes aus Ägypten. An einer zentralen Stelle können wir lesen: „Mein Vater war ein umherirrender Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrieen zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis.“ (Dt 26,5-7)

Es herrschte also kein Sonnenschein in der Glaubenserfahrung Israels. Mord und Totschlag gab es genug. Kain und Abel sind ebenso bekannt wie die zahllosen Kriege und Gewalttaten. Die Propheten weisen darauf hin, dass Bosheit und Zerstörung dieses Volk begleitet haben und weiterhin begleiten werden. Jesus und vermutlich die meisten der Apostel wurden getötet. Der erste Schöpfungsbericht präsentiert also keine Sachaussage, die sich mit dieser Schreckensgeschichte nur schwer vereinbaren lässt, es sei denn, alles Unglück wird menschlicher Bosheit angelastet.

Deshalb sehe ich auch im Glauben an Gottes Schöpfermacht (und Erlösung) keine Sachaussage mit der beruhigenden Mitteilung, alles komme schließlich von Gott und alles komme aus seinen Händen; er könne also alles lenken und uns beschützen. Der erste Schöpfungsbericht, vermutlich in Babylonien als Reaktion auf die babylonische Kosmologie entstanden, setzt ja einen Gegenpol, der diese geradezu polemisch überhöht und sagt: Der ganze Kosmos, von dem eure Religion berichtet, ist von unserem Gott geschaffen. Es geht also um ein Bekenntnis, das die traurige Alltagserfahrung der Juden in ihrem Exil überbieten will. Es geht um eine Hoffnung, die die Gegenwart erträglich macht. Mit diesem Szenario einer glücklichen Zukunft lässt sich leben; auf diese Interpretation lässt man sich gerne ein.

2.4 Die Gefahr der Glaubenslehre

Wir wissen ja, dass der erste Schöpfungsbericht gerade nicht von einem „Schaffen aus Nichts“ berichtet; diese Vorstellung kommt erst zwei Jahrhunderte vor der Zeitwende auf und ist schon griechisch beeinflusst. Gott „schafft“ diese Welt, indem er sie ordnet und so lebensfähig macht, also das ursprüngliche Chaos überwältigt. Diese Ordnung ist aber nicht abgeschlossen, denn das Chaos (das „Tohuwabohu“) droht immer neu einzubrechen. Deshalb ist diese Schöpfung nach biblischer Vorstellung auch nie abgeschlossen, denn dieses Chaos ist immer noch da und macht Gottes Handeln immer noch erforderlich. Eindrucksvoll kommt dieser Gedanke wieder in den Kapiteln 38-41 des Ijobbuchs zum Tragen. Dort fragt Gott Ijob, ob er denn bei der Schöpfung der Welt dabei war. Weiß der protestierende Ijob, wie schwierig es ist, gegen dieses Chaos immer neu anzukämpfen? Gott hat also keine definitive Schöpferallmacht erreicht, sondern setzt sich immer neu für Ordnung ein. Dieser Gedanke endlich bringt Ijob zur Ruhe.

Diese dynamische Weltsicht und dieses Bild von einem immer mitkämpfenden Gott kommt unserer modernen Welterfahrung sehr nahe. Diese Erfahrung der Abgründe, die wir heute täglich machen, braucht mir gar nicht durch göttliche Mitteilung offenbart zu werden, denn für wache Augen stellt sie sich von selbst ein. Es gehört aber zu den Verdiensten einer guten Religion, dass sie unsere Augen für diese Erfahrung öffnet, sie besprechbar macht und so die Voraussetzung für eine Lösung schafft. Eine Religion, die sich allmählich entwickelt, steht immer in Gefahr, dieses Wissen um die Abgründe zu verdrängen. Wir stehen heute in derselben Gefahr; Rom hat sein religiöses Katechismuswissen in 2865 Nummern gefasst. So verwechselt man religiöse Weisheit mit Information. Dem Ijobbuch kommt deshalb ein großes Verdienst zu. Es verweist erneut auf die immer gegenwärtigen Abgründe des Verderbens und des Unrechts in einem Augenblick, da die jüdische Religion zu einer gut bürgerlichen Tröstungsinstitution degenerierte: Dem Frommen, so wird gesagt, gehe es gut und alles Elend sei Strafe für ein selbst zu verantwortendes Übel. Das Buch öffnet den Blick für die tiefe Ungerechtigkeit einer Welt, die Glück und Unglück völlig willkürlich verteilt. Es könnte unsere Welt sein.

Religionen funktionieren nur dann gut und im Sinne der Wahrheit, wenn sie Solidargemeinschaften des Protests angesichts dieses Elends sind. Deshalb beginnt in einer solchen Katastrophe eine wirklich religiöse Reaktion dort, wo es zu einer solidarischen Übernahme des Leids kommt. An ihrem Beginn hat Religion keinen Trost, auch keine Antworten zur Deutung von Mensch und Welt zu bieten. In ihren Anfängen reagiert Religion immer auf die Erfahrung, dass Gott fern ist. Mit dieser Gottferne und mit diesem Protest gegen unser Elend geht sie um. Je mehr sie diesen paradoxen Stachel verliert, umso langweiliger und heuchlerischer wird sie.

III. Gibt es das Böse, oder: Über die Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden

Religionen informieren nicht, sondern bringen Situationen der Verzweiflung und des Hoffens zum Ausdruck. Deshalb übernehmen sie nicht einfach unsere Normalsprache, mit der wir den Alltag regeln und uns die Wirklichkeit verfügbar machen. Religionen entwickeln ihre eigenen Zeichen, Sprachen und Rituale. Sie sind poetisch, oft metaphorisch und in vielen Fällen emphatisch. Thomas Jansen spürt das, wie wir sahen. Er beklagt, dass so wenig über „das Böse“ geredet wurde. Was aber ist es, dieses „Böse“? Vermutlich vermisst Jansen diese letzte Dimension des Unsäglichen, um das sich jetzt alles dreht. Wie sind solche Gräueltaten überhaupt erklärbar? Hatten die Amokläufer aus Erfurt oder aus Winnenden nicht jede menschliche Würde abgelegt? Waren sie nicht aller Menschlichkeit beraubt, wie blind von einem Bösen getrieben? Sind sie nicht selbst in einen Abgrund tiefster Bosheit gefallen? Sind da noch ein freier Wille, nicht eher eine teuflische Besessenheit im Spiel?

3.1 Ereignisse benennen

Die Rede von bösen Menschen fällt uns heute wesentlich schwerer als vor einigen Jahrzehnten. Zu viel wissen wir von den zahllosen Faktoren, die Menschen ihre innere Ruhe rauben, ihre Identität mit sich selbst zerstören, und ein normales seelisches Wachstum verhindern können. Zu oft werden Menschen von Traumata getrieben, von Ängsten und Unsicherheiten gejagt. Vielleicht werden sie von einer Gesellschaft überfordert und von einem Zusammenleben geprägt, das ihnen unaufhörlich Höchstleistung und ständig neue Rollenspiele abverlangt. Eine unübersichtlich gewordene Gesellschaft entzieht jungen Menschen oft jeden Rückhalt, den sie auf diesem komplizierten Weg zu ihrer Reifung benötigen. Alle diese Einsichten können uns davor hüten, zu schnell und zu selbstgefällig den Stab über andere zu brechen, die mit sich und mit anderen nicht mehr fertig werden.

Und doch wissen wir nie genau, wo die Grenze zwischen entschuldigender Analyse und beschuldigender Beurteilung verläuft. Oft schwimmen wir in einem Gemenge von richtigen Erkenntnissen und naiver Entschuldigung, von nüchterner Einsicht in die Gefahren des Menschsein und dem Wissen um eine Verantwortung, der ein jeder zu entsprechen hat. Diese Unsicherheit zeigt sich, sobald wir für solche grausamen Ereignisse eine angemessene Sprache suchen. In jedem Fall sind drei Zugangs- und Sprachebenen zu unterscheiden.

Auf der ersten Ebene tun wir gut daran, die Ereignisse und Zusammenhänge so sachlich und so konkret wie möglich zu benennen. Böse oder übel nennen wir alles, was – sachlich gesprochen – schadet oder schaden will. Auf dieser Ebene gibt es kein Böses an sich, sondern nur konkrete Handlungen, Ereignisse und Erfahrungen, die böse sind. In diesem Sinn ist „böse“ immer nur eine Eigenschaft. Es gibt Hass oder Mord, Zerstörung oder Verachtung, Sadismus oder Leichtsinn, gesellschaftliche Überforderung oder eine krankmachende Arbeitswelt, die Vernachlässigung von Schutzbefohlenen oder deren Vereinsamung, den unglückseligen Weg von Jugendlichen, die sich zu Hause nicht mehr zurechtfinden. Es gibt neuerdings den Einfluss sadistischer Computerspiele, deren Wirkung bislang noch kaum erforscht sind. In diesem Sinn hat Augustinus für das Böse eine sehr einfache und konkrete Definition gegeben. Er nennt malum (übel oder böse) alles, was schadet.

Allerdings zeigt sich bei Augustinus auch eine wichtige Grenze dieses analytischen Zugangs, wenn er nicht ergänzt wird. Wie die damalige Philosophie (etwa der Neuplatonismus) geht Augustinus von einem zentralen Prinzip aus: Der ganze Kosmos, unsere kleinen Lebenswelten eingeschlossen, bildet eine umfassende und unzerstörbare Ordnung. In ihn werden auch Zerstörungen, Unglücksfälle und Katastrophen aufgenommen, denn auch sie haben darin eine wichtige Funktion. Wir kennen diesen Denkstil aus den Natur- und Sozialwissenschaften. Alle Katastrophen der Erde- und Evolutionsgeschichte erscheinen immer als die Vorstufen einer höheren Ordnung. Für Augustinus, der zugleich ästhetisch denkt, stellt sich ein Unglück wie der dunkle Punkt in einem Gemälde dar. Wer sich mit diesem Unglück nicht versöhnen will, hat eben nicht begriffen, dass ein Gemälde auch dunkle Farben benötigt, wenn es in seiner Farbigkeit hell erstrahlen will. Für Augustinus spielt selbst die Hölle mit den Verdammten eine solche Rolle, denn sie erhöht nur den Triumph von Christi Gnade.

3.2 Ereignisse beurteilen

Entscheidend ist deshalb das moralische Element. Es führt zu einer zweiten Zugangs- und Sprachebene. Hier geht es um das Böse im spezifischen Sinn. Mit der Eigenschaft des spezifisch Bösen meinen wir nicht einfach ein Unglück, das über uns hereinbricht, aber seinen guten Sinn haben kann. Wir kennen die Geschichten von heilsamen Rückschlägen und Verlusten oder von Krankheiten, die uns zur Besinnung brachten. Sie müssen nicht falsch sein, aber oft verharmlosen sie das eigentliche Problem. Denn mit „böse“ umschreiben wir ein Ereignis oder ein Ergebnis, das mit Bewusstsein und in freier Absicht sowie gegen alle Regeln der Menschlichkeit verschuldet wurde und deshalb unter keiner Bedingung relativiert werden darf. Entscheidend ist also das moralische Element, wodurch das erfahrene Übel oft noch untertäglicher wird, denn dann mischen sich in die Erfahrung von Übel, von Nachteilen oder Zerstörung persönliche Beziehungen. Jemand will mich treffen, jemand will mich auslachen oder verhöhnen, will meine Person auslöschen, mich in meiner Identität demütigen oder verletzen. Böse in diesem Sinn können Menschen und können deren Taten sein.

Wie steht es mit den bösen Menschen? Zwar scheue ich mich, andere Menschen und deren Taten einfach böse zu nennen, denn das ist ein vernichtendes Urteil, das im Grund alle Entschuldigung ausschließt. Auch können wir bei einer unmoralischen Tat oder Haltung die Anteile des Bösen differenzieren und genauer einordnen: Ich nenne jemanden missgünstig oder aufbrausend, verletzend oder cholerisch, ungezogen oder eben aggressiv, verroht oder völlig verwahrlost. Dennoch enthält die Bewertung „böse“ in sich immer schon ein endgültiges Urteil, ein Element von definitiver Ablehnung. Denn wer bewusst böse ist, trägt für seine Botschaft – wenigstens zu Teilen – auch die Verantwortung und niemand kann sie ihm abnehmen. In diesem Sinn kann es auch Menschen geben, die durch und durch böse sind; doch dann sind sie auch jedem Mitleid meinerseits entzogen. So gesehen war der Judenhasser Hitler durch und durch böse. Durch und durch böse waren der Diktator und Sadist Stalin, der Intellektuellenvernichter Pol Pot. Böse waren und sind die maßlosen Rache- und Vernichtungshandlungen, die immer wieder zur Vernichtung oder Vertreibung ganzer Volksgruppen, zu Völkermord und zur Ermordung von Einzelnen führen. Die Vertreibungen während und nach den Weltkriegen, die Zerstörung ganzer Kulturen in Sri Lanka oder Darfur sind dafür nur wenige Beispiele.

In der christlichen Tradition wurde über die Übeltäter aller Art (die im christlichen Jargon Sünder heißen) oft und intensiv, vielleicht zu intensiv nachgedacht. Die Opfer hat man gerne vergessen und nicht ohne Grund bahnte sich spätestens seit den 1960er Jahren ein Wandel an. Wer erinnert sich bei aller Konzentration auf die Täter noch der Opfer? Wie steht es mit den bösen Taten, den katastrophalen Fakten also, die die Täter hinterlassen? Wir dürfen nicht übersehen, dass eine Schädigung, eine herbeigeführte Katastrophe oder ein Mord immer auch eine objektive Seite hat. Zwar kann ich mein Urteil gegenüber einer anderen Person mäßigen; ich möchte sie nicht endgültig verdammen und das Wort von der Vergebung kommt Mitmenschen schnell über die Lippen. Wenn aber meine Freundin oder mein Vater, mein Lebenspartner oder mein Kind getötet wird, wenn sie einen sinnlosen und völlig unschuldigen Tod sterben müssen und uns, betrogen um ein Leben, zurücklassen, dann erleide ich unendlichen Schmerz. Denken wir nicht nur an vermeidbare Naturkatastrophen, die zum Tod von Tausenden von Menschen führten, nicht nur an die Kriege, die bis heute endloses Leid verursachten und noch immer bewirken, sondern auch an die unschuldigen, aufblühenden Leben, die in den vergangenen Wochen ausgelöscht wurden.

Auch in diesem Fall rede ich vom moralisch verantwortlichen und unentschuldbaren Bösen. Aber im Blick auf real Geschehenes weiß ich: Jetzt hat sich etwas ereignet, das ich in keiner Weise mehr gut heißen, relativieren oder rechtfertigen kann. Hier wurde ein unverwechselbares Menschenleben ausgelöscht, das nie mehr zurückkommt und sich durch nichts ersetzen lässt. Dieser Blick auf die Radikalität des Opfers, auf die unwiederbringliche Zerstörung eines Menschenlebens, auf den endgültigen Verlust eines Geliebten keinen Trost mehr. Jede Beziehung ist abgebrochen, jede Kommunikation ist zerstört, ein jedes Gespräch beendet; ein Abschied war nicht möglich. In dieser Perspektive nähern wir uns der ganzen Trostlosigkeit des Bösen. Die Warum-Frage, der Protest und die Wut, die in uns aufbrechen, lassen keine Antworten mehr zu. Jeder Trost wirkt hilflos und banal. Schweigen ist vielleicht das einzige, was uns bleibt. Soll aber unser Leben und sollen die vernichteten Opfer im Schweigen enden?

Fassen wir also zusammen, bevor wir die Frage noch einen Schritt weiterführen:
(1) Wir haben eine nüchtern analytische Antwort kennen gelernt. Sie lautet: Natürlich gibt es das Böse an sich nicht. Unser empirischer Blick konstatiert ja nur konkrete Ereignisse: das Erdbeben, den Verkehrsunfall, das verletzende Wort, den Mord oder den Krieg, wie wir ihn seit Menschengedenken kennen. Dieser analytische Blick hat seinen guten Sinn; denn Korrekturen für die Zukunft setzen konkrete Beschreibungen und Benennungen voraus. Wir müssen lernen, genauer hinzuschauen und differenzierter zu urteilen. Nur so verbessern sich die Prävention und ein wachsameres Bewusstsein. Schon dieser Fortschritt gäbe den Opfern einen ersten vorläufigen Sinn. Wir müssen lernen, besser mit den Wiedersprüchen unserer Gesellschaft und zielgerichteter mit den bestehenden Problemen umzugehen, vielleicht sie sogar besser lösen.
(2) Wir sind auf eine persönlich urteilende, auf eine moralisch betroffene Antwort gestoßen. Sie beschäftigt sich nicht nur mit den Tätern, sondern auch mit den Opfern. Erst die Opfer zeigen das Ausmaß der Katastrophen. In der Tat, es gibt Erfahrungen und Schicksale, denen ich oder Du, denen einzelne Menschen nicht mehr gewachsen sind, gegen die wir nicht mehr bestehen können. Sie fügen uns endloses und sinnloses Leid zu, weil wir den Vernichteten überhaupt nicht mehr helfen können. Da hilft es nicht mehr, von den Betroffenen Mut oder Tapferkeit einzufordern oder ihnen gut schwäbisch zu sagen: „Jetzt reiß’ Dich zusammen!“ Jetzt hilft eine nüchtern analytische Reaktion nicht mehr weiter. Sie übersieht nämlich die menschliche Dimension dessen, was da geschieht. In dieser Situation reicht auch die Antwort nicht mehr, das Böse an sich gebe es nicht. Natürlich „gibt es“ das Böse nicht und natürlich erscheint das Böse empirisch immer nur als Eigenschaft. Aber die noch lebenden, der Toten gedenkenden Mitopfer tragen neben ihrem eigenen Leid das Leid der Geopferten mit. Sie können sich von diesem Leid des Gedenkens nicht einfach befreien. Wer sonst soll für die Verstummten eintreten? So tragen sie eine doppelte Last. Es ist die Konfrontation mit einer Wirklichkeit voll von Abschied und Tod, die ihnen keinen positiven Ausweg mehr lässt. Was bleibt ihnen anderes übrig als ein hilfloser Schrei. Was bleibt uns anderes übrig als der Versuch, ihnen solidarisch zur Seite zu stehen? Wie aber soll das geschehen?

3.3 Die entscheidende Frage

Meiner Generation tönt noch ein Wort des – gewiss religionskritischen – in Zuffenhausen geborenen Max Horkheimer (1895-1973) aus dem Jahr 1970 in den Ohren: Theologie sei für ihn keine Wissenschaft von Gott, wohl aber „Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“. Es geht um die geschändete Ehre der Opfer, von Kain bis zu den Ermordeten der letzten Monate. Es geht um die große Menschheitsfrage, die der Geheimen Offenbarung (Apk 9, 6-10) als Leitfaden mitgegeben ist. Dort rufen die Seelen der Hingeschlachteten: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ Auch das Ijobbuch enthält einen merkwürdigen Satz, der ausgerechnet Ernst Bloch, dem jüdischen Philosophen, wichtig war: „Doch ich weiß, mein Rächer lebt. Als letzter erhebt er sich über dem Staub.“ (19,25) Horkheimer und Bloch, beides keine Freunde der real existierenden Religion, halten mit Ijob daran fest, dass es einen letzten Anhaltspunkt für eine letzte Gerechtigkeit geben muss. Der Mörder darf doch nicht über das Opfer triumphieren.

Dies ist der Punkt, an dem jeder analytische Blick und an dem alle moralische Empörung in jene hilflose Grundsatzfrage umschlägt, von der oben die Rede war. Von jener letzten, aufschreienden Empörung aus haben die Religionen (auch die biblisch-christliche) ihre eigenen Sprachmöglichkeiten ausgebildet. Jürgen Habermas (geb. 1929) ist der Meinung, auch eine säkulare Kultur komme ohne sie nicht aus. In der Tat, nur eine religiöse Sprache kann eine unzerstörbare Solidarität, Fragen der letzten Gerechtigkeit und eines letzten Verzeihens angemessen aussprechen. Habermas sagte im Oktober 2001, wenige Woche nach dem Anschlag in New York, mit dem Verlust der religiösen Sprache („als sich Sünde in Schuld verwandelte“) könne ganz Wichtiges nicht mehr besprochen werden, nämlich „der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen“, ferner „die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens, jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht“. Ausgerechnet diesen modernen, den Religionen fernstehenden Denkern ist es gelungen, den Kern des Religiösen für unsere Gegenwart zu beschreiben.

Vor diesem Hintergrund und nicht zur oberflächlichen Verteidigung religiöser Gebrauchssysteme lässt sich behaupten: Eine religiöse Sprache, die ihren eigenen Ursprung ernst nimmt, ist immer kreativ. Sie schafft Vorstellungen und inszeniert Ereignisse. Sie kennt Metaphern und Symbole. Sie gibt auch dem Bösen (paradox ausgedrückt) seine eigene, emphatische Sprachwelt: Obwohl es (ähnlich wie die Schönheit oder die Wahrheit) immer nur als eine Eigenschaft von Dingen auftaucht, lässt es sich auf nichts, auf keinen letzten Willen, auf kein in sich beschreibbares System reduzieren. Dennoch drängt es sich so auf, dass wir es verstehen, wenn wir es – ungreifbar und aufdringlich zugleich – „das Böse“ nennen. Eignet ihm nicht doch ein Wesen, obwohl es mit allen Wesen auf Kriegsfuß steht? Können wir vom „Geheimnis“ des Bösen sprechen, wohl wissend, dass es dem wahren Geheimnis des Göttlichen oder des Menschlichen diametral entgegensteht? Wir drücken damit aus, dass im Bösen etwas Unverständliches herrscht, dass letztlich niemand das Böse an sich begreifen kann. Die Philosophie sprach lange davon, das Böse sei einfach ein Nichts, ein Mangel, eine „Beraubung“ an Güte. Damit versuchte man klarzumachen, was für das Böse charakteristisch ist. Das Böse an sich ist absolut nichts Schöpferisches oder Kreatives. Es meint schlicht und einfach ein Nein und Verneinung. Es hat absolut nichts mit Sein, mit Schönheit oder Güte zu tun. Und dennoch zeitigt es machtvolle Wirkungen. Der Theologe Karl Barth nannte es das „Nichtige“; er sagte, es sei ein „Drittes“ zwischen dem Sein und dem Nichts. Was aber soll das sein? Noch einmal: Diese emphatische Redeweise bringt die Unlösbarkeit der Frage auf einen erfahrbaren Punkt.

Eine weitere Vorstellungsweise geht davon, alles Böse gehe letztlich von einem personalen Wesen aus. Die christliche Tradition spricht von Dämonen, vom Teufel (griechisch: diabolos) oder vom Satan. Man hat damit große Dramaturgien und Vorstellungswelten entfaltet, die unseren Gottesvorstellungen angenähert sind. In dem Maße, in dem wir uns Gott als Person vorstellen, dachte man sich auch den Teufel als Person. So wird der Teufel zur geradezu absurden Gegenfigur Gottes hochstilisiert, die in den 1970er Jahren in der ebenso absurden Behauptung eines Bischofs mündete: „Man kann an Gott nur glauben, wenn man auch an den Teufel glaubt.“ Er hätte besser gesagt: Wir können die Frage nach Gott nur richtig stellen, wenn wir uns des unauslöschlich Bösen der Welt bewusst bleiben. Wenn Gott die Güte schlechthin ist, das Böse aber zu dessen hassendem und personal agierendem Widersacher wird, dann sind wir einem Dualismus von Gott und Gegengott sehr nahe; die Welt lässt sich als Kampf zwischen Heil und Verderben erklären.

Dürfen wir diese Vorstellungswelt in die Realität transponieren? Gibt es den Machttrieb, die Aggression, den Kapitalismus oder den Militarismus an sich, also als real wirkende Wesen, weil diese Phänomene unsere Weltkatastrophen so schlüssig erklären? Ich persönlich bin skeptisch. Ich glaube nicht, dass es den Teufel als ein Wesen gibt. Aber ich sehe, dass die Metapher vom Teufel und vom Satanischen eine irreduktible Realität zum Ausdruck bringt, die viele Menschen beschäftigt.

Doch bleibt nach soviel Theorie ein Problem, das wir bislang höchstens indirekt beantwortet haben: Was ist in diesem Spiel der guten und der bösen Kräfte die Rolle Gottes selbst? Ist Gott gemäß biblischer und monotheistischer Tradition nicht allmächtig und gütig zugleich, so dass die Theodizeefrage bestehen bleibt? Wie kann er das Böse bewirken, ohne selbst böse zu werden? Oder ist eine Mittellösung möglich, die Augustinus mit dem Gedanken der Zulassung umschreibt? Zwar wird das Böse von Menschen vollzogen, aber Gott hindert sie nicht an dieser Tat. Wie aber kann Gott das Unrecht mit all seiner Unmenschlichkeit – wenn er es schon nicht will – zulassen? Kaum eine andere Frage wird angesichts des Bösen heute so häufig gestellt.

IV. Wie kann Gott das Böse zulassen?

Greifen wir noch einmal auf die Vorstellung von einem personalen Gott zurück. Nach allgemeiner biblischer Überzeugung will Gott das Gute. Wollte er das Böse verhindern, was könnte ihn davon abhalten?

4.1 Von Gott anders denken

Der Gedanke von Gottes Zulassung ist unter Theologen nicht unumstritten, er ist zumindest missverständlich und unklar. In jedem Fall müssen wir Gott vom Vorwurf eines nachlässigen oder unbedachten Handelns befreien.[9] Oder folgt er der Logik der Sintflut, die Gott zwecks eines Neuanfangs schickte und dafür Früheres preisgab? Könnte Gott eine Zulassungstheorie entlasten, wie wir sie aktuell vorstellen? Ich selbst habe mit dieser Vorstellung große Probleme. Immer denke ich an jemanden, der zusieht, wie ein Dritter ertrinkt oder verblutet, diesen Tod aber durch seine Untätigkeit zulässt. Ein deutsches Gericht würde ihn kaum freisprechen. In der Nachfolge Augustins wurde oft erklärt: Alles Böse, das uns von außen und durch andere Menschen trifft, ist Strafe für unsere Sünden. Das Neue Testament widerspricht dieser These deutlich: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt“, bemerkt Jesus gegenüber dem Blinden. (Joh 9,3) Aber auch Luther unterscheidet zwischen Gottes segnender und strafender Hand. Ähnlich wie beim Theodizeeproblem gelang es nie, ohne Widersprüche an Gottes vorbehaltlose und umfassende Güte und Allmacht zu glauben.

Aber wie sollen wir uns Gottes Macht und Güte dann vorstellen? Wie kommt es, dass der Glaube an Gott durch Jahrtausende hin nicht zerbrochen ist, obwohl das Böse Gottes Güte ganz offensichtlich widerspricht? Wie kommt es, dass wir Europäer in den vergangenen Jahrzehnten die vielfältigen, rational argumentierenden „Gottesbeweise“ zwar aufgegeben haben, aber von den Spuren Gottes in der Welt nicht loskommen? Wie kann uns die Gottesfrage so nahe bleiben, obwohl das Elend der Welt uns ständig erklärt, dass Gott, diese letzte Instanz und dieses letzte Geheimnis aller Wirklichkeit, nicht gleichermaßen gerecht, allmächtig und gut sein kann. Ich meine, dass wir Gottes Sache endlich anders denken müssen. Faktisch wird er auch von Christen schon lange anders gedacht.

4.2 Allmächtig oder um alles besorgt?

Es erstaunt nämlich: Die Katastrophen, die Unrechtserfahrungen und Triumphe des Bösen, von denen oben die Rede war, sind alles andere als neu. Trotzdem haben wir über Gottes Allmacht durch viele Jahrhunderte unkritisch nachgedacht. Wir bildeten uns ein, der Inhalt dieses Begriffs sei eindeutig und klar. Ein Grund liegt darin, dass sich die großen christlichen Kirchen Jahrhunderte lang bei den politisch und wirtschaftlich Mächtigen eingerichtet haben. Eine solche Machtliebe und solche Machtvorstellungen strahlt die katholische Kirche immer noch aus. Man betrachte neben einer höchst autoritären Kirchenstruktur nur die hoheitlichen Gewänder, den kaiserlichen Purpur und die herrschaftlichen Gesten, deren sich zumal der römische Hofstaat bedient. In den Theologien der Befreiung, in politisch kritischen und in feministischen Theologien sowie an vielen asiatischen und afrikanischen Orten wird anders darüber gedacht. Darüber ist Rom, wie man weiß, höchst unglücklich, denn ein anderes Machtverständnis ruiniert auch die bekannten Machtansprüche der Hierarchie. Gott, dessen Sohn am Kreuz gestorben ist, erscheint schließlich als ein ohnmächtiger und ein mitleidender Gott. Es/sie zeigt sich allenfalls als ein unerschöpfliches Geheimnis, das uns in Stille und so begleitet, als wäre es abwesend und ungreifbar.

Aber Vorsicht, könnte man sagen: Für Christinnen und Christen lässt sich Gott doch nur allmächtig denken! Jeden Sonntag heißt es im Gottesdienst: „Allmächtiger ewiger Gott!“ Und im Glaubensbekenntnis bekennen wir uns zu „Gott, dem allmächtigen Vater“ (Deum, Patrem omnipotentem). Bei der Suche nach dem Ursprung dieser Anrede stoßen wir jedoch auf ein merkwürdiges Phänomen. Vom „allmächtigen Gott“ ist in der Bibel jedenfalls nie die Rede. Im Glaubensbekenntnis liegt die Übersetzung nahe: „Ich glaube an Gott, der alles gemacht hat“, denn der Text fährt ja fort: „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Erst die griechische Philosophie setzt eine Logik in Kraft, die besagt: Gott hat (absolute) Macht über alles. Diese Aussage führt aber zu einer absurden Konsequenz: Wer absolute Macht über absolut alles hat, braucht gar keine Macht mehr. Der Begriff der Allmacht höhlt sich also selbst aus, da er keine Gegenmacht mehr zulässt. Selbst die Vorstellung vom Teufel legt nahe, dass sich Gott noch mit einer Gegenmacht auseinandersetzen muss, auch wenn sie ihm letztlich untergeordnet ist.

Ein Blick in die byzantinische Hofsprache hilft weiter: Im Griechischen lesen wir an Stelle des lateinischen „omnipotens“ einen dem Kaiser vertrauten Titel. Er lautet Pantokrator und ist eher mit „Allesbeschützer“ zu übersetzen. Gemeint ist derjenige, der (wie der Kaiser auf Erden) für alles sorgt, sich um alles kümmert. Das deutet schon auf einen differenzierteren Machtbegriff. Er hat weniger mit Durchsetzungsfähigkeit als mit Fürsorge zu tun. Was folgt daraus? Wir müssen den Titel „allmächtiger Gott“ nun wahrlich nicht abschaffen, ihn aber mit einer anderen, einer zentral christlichen Bedeutung füllen. Natürlich bedeutet Gott für Christen die höchste, die unbedingte, die nachhaltigste und die wirksamste Macht. Aber diese Umschreibung ist rein formal, genau besehen: nichtssagend. Haben wir Gott – jüdisch, christlich und muslimisch gesehen – nicht immer schon als den gesehen, der/die für alles sorgt, immer da ist, Barmherzigkeit verwirklicht, uns also nie im Stich lässt?

4.3 Die Schattierungen der Macht

Fragen wird deshalb genauer nach dem Machtbegriff. Was bedeuten in unserem religiösen Zusammenhang „Macht“ und „mächtig“? „Macht“ wurde in der Neuzeit (in der säkularisierten Moderne zumal) zu einem sehr funktionalistischen, platten und formalisierten Begriff abgeflacht. Max Weber etwa definiert Macht als das Vermögen, das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen. Dabei spielt die Art des Einflusses keine Rolle. Dementsprechend beschäftigen sich die modernen Politikwissenschaften intensiv mit der Möglichkeit etwa des Staates, das Verhalten seiner Bürger zu steuern. Das kann mit Ermahnungen oder Forderungen, mit Zwangsmaßnahmen durch Gesetz oder Militär, oder aber – sehr häufig angewandt –mit finanziellen Anreizen geschehen. Wahlergebnisse stärken oder schwächen politische Macht und die demokratische Staatsordnung gilt als ein Regelwerk zur Organisation und geordneten Ausübung öffentlicher Macht.

Dies also ist der Kontext, in dem meist auch göttliche Macht gedacht wird. Wer festlegen kann, was sein Mitmensch zu tun und zu lassen hat, verfügt über Macht. Analog gilt Gott als ein Überwesen, das die Geschicke von Kosmos, Natur, Geschichte, Gesellschaft und Individuen lenkt, auch wenn wir die Effekte dieses Handelns nicht feststellen können. Wie aber können wir Menschen, wie kann Gott erst recht unsere Geschicke beeinflussen? Es bedarf nur einer geringen Phantasie, um zahllose Möglichkeiten zu finden. Politische Macht über andere mag eine große Rolle spielen. Bestimmt politische Macht aber unser ganzes Leben? Es gibt eine Macht des Wissens und der Intelligenz, eine Macht der Kommunikation und intensiver Beziehungen, eine Macht des Durchschauens und der Sehnsüchte, eine Macht der Hilfsbedürftigkeit und seelischen Zuneigung. Es gibt schließlich die Macht derer, die ihren Mitmenschen konsequent ohne Überordnung und mit Respekt begegnen.

Diese Fülle an Möglichkeiten zwingt uns zur Zurückhaltung und zur Vorsicht, wenn wir Gottes Macht oder Allmacht in unsere Vorstellungen zwängen wollen. Prinzipiell gilt, dass auch seine Macht ein Geheimnis bleibt. In Verzweiflung rufen wir Gott an. Wir hoffen sehnlichst auf seine Macht, aber erfahren sie gerade nicht. Auch seine Fürsorge bleibt ein Geheimnis. Allerdings greifen die monotheistischen Religionen immer wieder auf eine Analogie zurück; Jesus hat sie geradezu gelebt. Wenn Gott allmächtig ist, dann – so die klassisch christliche Antwort – nicht durch physische, auch nicht durch geistige Gewalt, durch göttlichen Glanz oder durch die Faszination seiner Repräsentanten. Wenn Gott denn allmächtig ist, dann nur durch seine Güte, wie sie sich in der Liebe zwischen Menschen zeigt. So gesehen lautet die Frage also nicht, ob Gott denn allmächtig ist. Zu Recht könnten wir uns einen kraftlosen Gott schenken; schließlich schreien wir in unserer Verzweiflung zu ihm. Die einzig interessante Frage lautet, welcher Art denn Gottes Macht ist. Für Christen hat die Liebe das letzte Wort; sie ist von göttlicher, von alles entscheidender Qualität. Die Rede vom Allmächtigen Gott lautet für mich also: Gottes Liebe, die hier und jetzt in dieser Welt beginnt, ist unübertroffen und unübertrefflich. Es gibt eine Macht der Liebe, der Solidarität oder der gelebten Gemeinschaft, die gerade nicht von idyllischer Romantik zeugt. Sie benennt jedoch diejenige Kraft, die –nach christlicher Überzeugung – die Welt, die Menschheit (die Toten und Getöteten eingeschlossen!), buchstäblich zusammenhält. Dies ist, wie mir scheint, die einzig unerschütterliche Überzeugung, aus der sich ein christliches Leben gestalten und aus der sich die Welt verändern lässt.

4.4 Der Liebe das letzte Wort geben

Liebe ist allerdings eine Macht, die Schwäche zulassen muss, denn Zwang ist ihr fremd. Deshalb glaube ich nicht, dass Gott das Böse und den Schaden zulässt, obwohl er anders handeln könnte. Aber wie alle Liebenden verfügt er/sie nur über eine Macht, die sehr ohnmächtig sein kann, weil sie die Freiheit der Menschen respektiert. Ohnmächtig war Gott z.B. beim Tode Jesu, der mit einem lauten Schrei verschied. Absolut ohnmächtig war er in zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten, ohnmächtig in Auschwitz, ohnmächtig bei jeder gewaltsamen Zerstörung eines Menschenlebens. Gott war in Winnenden machtlos, auch wenn er – so die christliche Überzeugung – auf der Seite der Opfer stand und zugleich auf der Seite der heute Leidenden steht. Schon das Neue Testament spricht vom Vater „im Himmel“. So schön und aussagekräftig diese Metapher auch ist, mit diesem Himmel ist kein überweltlicher Wohnort, sondern ist Gottes verborgene, ungreifbare Gegenwart gemeint.

Im Mittelalter entwickelten jüdische Theologen die Vorstellung, angesichts seiner Schöpfung verberge sich Gott. Er ziehe sich von seiner Schöpfung zurück, damit der Mensch frei sei und zu sich selbst kommen kann. In den 1970er Jahren hat Hans Jonas diesen Gedanken aufgegriffen und ihn auf die Ermordung seiner Mutter in Auschwitz bezogen. In einer anderen Version spricht der jüdische Theologe Emmanuel Lévinas davon, dass Gott in dieser Welt nie sichtbar oder erfahrbar werden kann. Allerdings erkennen wir die Spur Gottes im Antlitz eines jeden Menschen, der uns begegnet. So wird für uns ein jedes menschliche Antlitz zur Frage, ob und wie wir der Liebe Gottes in dieser Welt Einlass gewähren.

V. Das Geheimnis des Bösen

Habe ich damit eine Antwort auf die gestellte Frage gegeben? Ich fürchte, dass ich sie nicht geben konnte. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass die Theologie auf die Frage nach dem Bösen eine befriedigende Antwort geben kann; sie kann es ebenso wenig wie die Philosophie und die Weisheit unseres alltäglichen Lebens. Aber wie alle menschliche Erfahrung legt die Theologie ein Problem offen, um es in eine bestimmte Weltdeutung einzubetten. Christen können Folgendes sagen: Die Welt kann so unergründlich und grausam, so ungerecht und unbarmherzig sein, wie wir sie erfahren. Dennoch sind und bleiben wir – oft unmerklich und gegen allen Anschein – von einem Geheimnis der Liebe umgeben, das schließlich alles zu einem guten Ende führt. Gottes Macht offenbart sich erst am Ende. Jesus und das Neue Testament sprechen von Gottes Reich und vom Messias, der für alle das Heil bringt. Er ist ein Reich, das die Toten mit einschließt. Der christliche Glaube (und andere Religionen) will uns einerseits dazu ermutigen, die Welt nüchtern zu sehen – so eben, wie sie ist. Er weist uns andererseits auf eine Tiefendimension hin, die uns sagen lässt: Letztlich wird alles so, wie es ist, sehr gut werden.

Ob uns diese Überzeugung gelingt, ob wir uns zu ihr durchringen und ob wir sie durchhalten können, ist alles andere als sicher. Denn sie zeigt sich uns auf zwei Ebenen. Die eine ist die Ebene der unbedingten Zukunft, die uns bis zum Tode verschlossen bleibt. Schon viele sind an dieser Schranke gescheitert; die christliche Hoffnung sagt allerdings, dass an dieser Schranke letztlich niemand scheitern wird. Die andere aber ist die Ebene der gelebten Gemeinschaft und Solidarität hier und jetzt. In unserem Leben bleibt für Gottes Güte nur eine Möglichkeit. Es ist die gelebte Liebe, die Solidarität und die Gemeinschaft derjenigen, die ihr Los miteinander teilen. Angesichts einer Katastrophe wie Erfurt, Winnenden oder Eislingen helfen nur bedingungslose Akzeptanz, gegenseitiges Verständnis und Hilfe, wie immer sie möglich, wo immer sie notwendig und wo immer sie das Gedenken an die Toten einschließt.

Hier nun beginnt ein Prozess, eine vielleicht gefährliche Dialektik, die aber zu einem heilsamen Zirkel heranreifen kann. Je mehr mich die Empathie und die Solidarität mit Mitmenschen, mit Lebenden wie Toten bestimmen, umso unerträglicher werden für uns ihr Leiden, ihre Niederlage und ihre Ferne. Wir protestieren gegen Gott gerade deshalb, weil wir vom letzten Wort der Liebe überzeugt und getrieben sind. Und eine jede Person, die Gott wie Ijob beschimpft, weil er selbst oder Mitmenschen von Katastrophen überwältigt werden, sie beweist damit, dass sie von Gottes unbedingter Güte etwas begriffen hat und von ihr ergriffen ist. Dazu muss sie weder religiös noch fromm sein. Der Schrei nach Gott, von dem zu Beginn die Rede war, ist allen Menschen, religiös oder nicht, gemeinsam. Der Gott Abrahams, Isaaks, Ismaels und Jesu Christi wird uns nicht immer vor Zweifeln und Verzweiflung schützen. Bis zur Neige hat Jesus das Böse als ein unerträgliches Geheimnis ausgestanden. Die Spur des Göttlichen ist und bleibt paradox; wir werden sie nie ganz entziffern. Aber lieben können wir vielleicht in dem Augenblick, da unseren Freunden die Kraft dazu fehlt. Darauf kommt es an.

Karen Armstrong erklärte vor einigen Tagen in Tübingen: Religion ist keine Theorie, auch kein Ritual, sondern gelebte Tat. Umso mehr Respekt verlangen mir die betroffenen Mütter und Väter von Winnenden ab, die wenige Tage nach dem schrecklichen Unglück eine Arbeitsgemeinschaft zur Beschränkung des Waffenbesitzes gegründet haben und so auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken wollen. Sie haben von christlicher Lebenspraxis sehr, sehr viel begriffen, auch wenn manche von ihnen mit ihrem Gottesglauben hadern.

Vergangene Woche besuchte ich die Stiftskirche von Kleve am Niederrhein. Teile dieser Stiftskirche brannten 1944 nieder. Im Schutt fand man später die Reste eines großen Holzkreuzes, darunter einen Korpus, der zum Rumpf geworden war. Die Arme waren samt Händen abgebrochen und verbrannt. Das Bild von diesem Korpus ohne Arme ging in den ersten Nachkriegsjahren durch Deutschland. Es war ein Photo mit der Unterschrift: „Christus hat keine Hände. Er braucht unsere Hände.“ In diesem Sinn liegt es an uns, im Namen Gottes so wenig Unheil zuzulassen, als uns irgendwie möglich ist. Zugleich liegt es an uns, der Liebe immer neu zum Durchbruch zu verhelfen. In jedem Fall hat sie das letzte Wort.

Der niederländische Theologe und Künstler Huub Oosterhuis hat das Vater unser in einer Weise übersetzt, die auf genau unsere Frage antwortet[10]:

Vater unser im Verborgenen,
dein Name werde erkannt und vollbracht,
dein Reich des Friedens wird errichtet werden,
dein Wille geschehe: Himmel auf Erden.
Gib unser Brot heute und morgen –
Erlasse unsre Schulden,
so wie wir erlassen den anderen die Schuld.
Und erprobe uns nicht über unsre Kraft
Und befreie uns aus der Macht des Unrechts.


Anmerkungen:

[1] Dieser Vortrag stützt sich im Kern auf mein Buch. Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Darmstadt 1999. Dort sind Belege für Einzelaussagen zu finden.

[2] S. Rückert und St. Willeke, Wir sind so verdammt göttlich, DIE ZEIT, Nr. 13 (19. März 2009), S. 13.

[3] Th. Jansen, Vom „Bösen“ spricht man nicht, Stuttgarter Zeitung, Nr. 68 (21. März 2009), S. 6.

[4] J. Wanke, „Das Geheimnis des Bösen ist unerklärbar“, ebd.

[5] Als Beispiel können die systemischen Ansätze in der Psychologie und Familientherapie dienen. Ihr Ansatz hat inzwischen Schule gemacht. Man bedenke nur Begriffe wie Systemische Sozialarbeit, Systemische Organisationsberatung oder Systemisches Coaching. Erinnert sei zudem an Ansätze in der sog. Prozessphilosophie und Prozesstheologie. Auch dort geht es um die Entdeckung, dass Böses und Gutes sich immer nur aus komplexen Zusammenhängen erschließt. Oft geht es dabei um Zusammenhänge, deren Komplexität unser analytisches Vermögen übersteigt.

[6] Erinnert sie an die intensiven Diskussionen, die im katholischen Raum in den 1970er Jahren geführt wurden: H. Haag, Vor dem Bösen ratlos?. In Zusammenarbeit mit Katharina und Winfried Elliger, München 1978.

[7] H. Häring, Schlange – Lügner – Widersacher der Menschheit. Zur vielfältigen Gestalt des Teufels in der christlichen Tradition (Referat auf der Tagung „Teuflische Beziehungen“ vom 21.-24, Febr. 2008, Akademie Stuttgart-Hohenheim).

[8] H. Häring, Ijob und die Theodizee. Systematisch-theologische Perspektiven, in: rhs /Religionsunterricht an höheren Schulen 50 (2007), Nr. 5, S. 276-282; E. van Wolde (Hg.), Ijobs Gott: Concilium 40/4 (2004).

[9] Ich lasse mich leiten vom Hinweis von Religionspädagogen, dass die Theodizeefrage bei jungen Menschen nicht mehr als Problem empfunden wird. Dies hängt damit zusammen, dass sich das traditionelle Bild vom allmächtigen und gütigen Gott auflöst.

[10] Huub Oosterhuis, Du Atem meiner Lieder. 100 Lieder und Gesänge (hg.v. Cornelis Kok), Freiburg 2009, Lied Nr. 57.

Letzte Änderung: 13. Juli 2017