Wer setzt sich durch? – Der Papst im Clinch mit den Hardlinern

Zum Nachsynodalen Apostolischen Schreiben AMORIS LAETITIA

Wer die Enzyklika LAUDATO SI‘ gelesen hat, ist über Ansatz und Stil nicht überrascht. Papst Franziskus bemüht sich um eine anschauliche und eindeutige Sprache. Er erdet seine Themen pastoral und konkretisiert sie in vielfältigen Situationen. Es will unbefangen, „kirchentreu, ehrlich, realistisch und kreativ“ ans Werk gehen (Nr. 2). Zugleich macht er schon zu Beginn des Schreibens klar, „dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (Nr. 3). So präsentiert er sich als ein Mann nicht der päpstlichen Doktrin, sondern der pastoralen Praxis. In vielen der 325 Nummern (9 Kapitel und 188 Seiten) erweckt er den Eindruck, als wolle er auch keinen einzigen Aspekt der Thematik auslassen; das wirkt bisweilen ermüdend. Doch ähnlich wie bei LAUDATO SI‘ fordert er die Leser dazu auf, das Schreiben „nicht hastig ganz durchzulesen“. „Sowohl für die Familien als auch für die in der Familienpastoral Tätigen kann es nutzbringender sein, wenn sie es Abschnitt für Abschnitt geduldig vertiefen oder wenn sie darin nach dem suchen, was sie in der jeweiligen konkreten Situation brauchen“ (Nr. 7). So wird das Dokument zum hilfreichen Handbuch für eheliche Fragen.

Auf der Spur der Bischofssynoden

Methodisch geht der Papst klug vor. Weitgehend übernimmt er auf weite Strecken die offiziellen Ergebnisse der vorhergehenden Pastoralsynoden zu Ehe und Familie. Er nimmt also die Synodenergebnisse und lässt an entscheidenden Stellen erkennen, dass er auch eigene Meinungen hat. Dadurch entstehen zunächst transparente Verhältnisse. Er bearbeitet die Themen kontinuierlich in einem Dreieck von (1) konkreter Beschreibung, (2) Einordnung in bedrohende Kontexte und (3) dem Postulat eines barmherzigen Umgangs mit Gescheiterten. Allerdings verbleibt er (wie auch die Synoden) in den harten Grenzen der bekannten dogmatischen Aussagen. Die Ausführungen über die Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Ehe bleiben völlig im gewohnten Rahmen (Nr. 71-78 u.ö.). Franziskus gibt diesem Lehrsatz erhöhte Bedeutung, statt ihn kritisch und differenziert einzuschränken. Davon bringen ihn auch widersprechende Aussagen der Schrift und der Tradition nicht ab. Wie auf den beiden Bischofssynoden werden die entsprechenden Lehrdokumente seiner Vorgänger rühmend wiedergegeben, darunter auch Humanae vitae. Allerdings wird dabei das Verbot der Geburtenregelung verschwiegen; die Aufgabe „verantwortlicher Elternschaft“ müsse richtig verstanden werden (Nr. 68).

Die Abhandlung beginnt zur Einstimmung mit einem biblisch inspirierten Kapitel (Nr. 8-30), das kaum einen theologischen Aussagewert hat. Auch spätere exegetische Erwägungen verbleiben im traditionellen katholischen Rahmen (z. B. Nr. 58-66): „Jesus stellte den göttlichen Plan wieder her und führt ihn zu seiner Vollendung“; er bestätigt die unauflösliche Verbindung zwischen Mann und Frau; die Hochzeit von Kana wird als historisches Ereignis präsentiert (Nr. 64, 216), die Ehescheidungsklausel bei Matthäus (5,32 und 19,9) ebenso ignoriert wie die Scheidungserlaubnis des Paulus in Korinth (1 Kor 7,15).

Empathie und wohlwollende Anteilnahme

Die vielfachen weiteren Erwägungen zu Ehe und Familie beleuchten verschiedenste Aspekte von Ehe und Familie (Liebe in der Ehe [Nr. 89-164, 40 Seiten], Ja zu neuem Leben [Nr. 165-198, 19 Seiten], Pastorale Überlegungen zur Familie [Nr. 199-257, 33 Seiten], Erziehung der Kinder [Nr. 259-290, 17 Seiten]). Dies alles geschieht in einer großen Ausführlichkeit, gewiss auch mit einer großen Empathie und Anteilnahme, und Viele werden über diese von Empathie und Wohlwollen getragenen Ausführungen sehr glücklich sein. Gelegentlich fragt man sich zwar, ob Psychologen, Anthropologen und Pädagogen nicht prägnanter hätten reden können, warum sich also der Papst dazu äußern muss. Dennoch zählen diese Kapitel zu den stärksten und wohltuendsten. Sie werden in der Gesamtkirche ihre Wirkung nicht verfehlen. Wie schon der Schlussbericht der letzten Synode entfaltet der Papst ein umfassendes Programm der Hilfe und Begleitung von Verlobten, jung Verheirateten und länger Verheirateten. Das ist sicher gut gemeint. Was aber als intensive Begleitung der Betroffenen gedacht wird, könnte sich auch als ein umfassendes, bürokratisch aufgeblähtes Kontrollsystem auswirken. Dabei werden die Gemeinden zwar als Subjekte der Seelsorge genannt, aber nach wie vor als Objekte eines treu sorgenden Klerus dargestellt.

Interessant wird Kapitel 8 mit dem interesseweckenden Titel Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern (Nr. 291-312, 16 Seiten). Zunächst behandelt es das Prinzip der Gradualität, derzufolge enge Beziehungen zwischen Menschen stufenweise bis zur sakramentalen Ehe hin wachsen können. Den betroffenen Menschen steht eine „barmherzige und ermutigende seelsorgliche Zuwendung“ zu (Nr. 293). Dieses Prinzip der Gradualität, das in der Tat eine große Wende bedeutet, wurde auf der letzten Bischofssynode allgemein akzeptiert. Jetzt kann es als fest verankert gelten. Die Epoche der Sündenschnüffelei ist überwunden.

Ein Papst der 100 Schafe

Ziemlich kompliziert wird dann die Auseinandersetzung mit „‘irregulären‘ Situationen“ (ab Nr. 296). Ich erkenne Stil und Denkweise von Papst Franziskus nicht wieder. Die Ausführungen werden kompliziert, zum Teil mit philosophischen Überlegungen unterlegt. Komplizierte Texte der Bischofssynode (und vermutlich deutschen Ursprungs) tauchen auf: „Einer pastoralen Zugehensweise entsprechend ist es Aufgabe der Kirche, jenen, die nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind oder einfach so zusammenleben, die göttliche Pädagogik der Gnade in ihrem Leben offen zu legen und ihnen zu helfen, für sich die Fülle des göttlichen Planes zu erreichen“ (Nr. 297). Nachdrücklich wird aber betont, dass sich diese verschiedenen konkreten Situationen nicht „katalogisieren“ lassen. Eine jede müsse also konkret beurteilt werden. Unterschiedliche Fälle mit unterschiedlichen Graden der Verfehlung werden aufgezählt. Man muss die Betroffenen also nach Möglichkeit in die Gemeinde integrieren und dennoch „vermeiden …, jedwelchen Anstoß zu erregen“ (Nr. 299).

So wird eine komplizierte „Logik der Integration“ beschworen. Wiederum spricht der Papst wohlwollend vom „Leben und Reifen“ der lebendigen Glieder der Kirche, die sich um diese wie eine Mutter kümmert; man könne von der Kirche in solchen Angelegenheiten „keine neue … gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten“ (Nr. 300). Momente des Nachdenkens und der Reue seien erforderlich, um sich seiner Situation vor Gott bewusst zu werden. Dann ein Satz, der bei allem Unausgesprochenen vielleicht entscheidend, aber ziemlich unklar ist: „Das Gespräch mit dem Priester im Forum internum trägt zur Bildung einer rechten Beurteilung dessen bei, was die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche behindert, und kann helfen, Wege zu finden, diese zu begünstigen und wachsen zu lassen“ (Nr. 300). Was also, wie also? Wer soll was mit welchem Ziel recht beurteilen? Geht es um die Zulassung von Wiederverheirateten zur Eucharistie? Und von wem haben diese Priester Maßstäbe?

Die kommende Nummer dreht den Gedankengang wieder um. In defensiver Weise erklärt sie, niemals dürfe der Gedanke aufkommen, „man beabsichtige, die Anforderungen des Evangeliums zu schmälern“ (Nr. 301). Doch auch diese Aussage wird in der folgenden Nummer konterkariert, weil die Anrechenbarkeit einer Tat oft und aus vielen Gründen vermindert oder aufgehoben sein kann (Nr. 302). Der Text bekommt einen zutiefst zwiespältigen Charakter.

Die Gedankenbewegungen dieses Ja und Nein brechen auch jetzt noch nicht ab. Denn fünf Nummern weiter tritt die Barmherzigkeit in den Mittelpunkt. Jetzt spricht Papst Franziskus endlich in eigenem Namen: „Ich glaube ehrlich, dass Jesus Christus eine Kirche möchte, die achtsam ist gegenüber dem Guten …, eine Mutter, die klar ihre objektive Lehre zum Ausdruck bringt und zugleich nicht auf das mögliche Gute verzichtet, auch wenn sie Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen“ (Nr. 308). Jesus stellt sich selbst als Hirten von hundert Schafen dar und nicht von neunundneunzig (Nr. 309). Das Kapitel endet mit einem deutlichen Plädoyer. Aber zur Zulassung Wiederverheirateter verliert der Papst kein Wort.

Hoffnung zwischen den Zeilen

Wer den geschriebenen Text wirklich ernst nimmt, muss dieses Schweigen als ein großes Scheitern des Papstes vor der Front der ‚Unfehlbaren‘ interpretieren. Franziskus setzte sich nicht gegen ihren Widerstand durch. Er kann sich nur noch auf den Vorbehalt von Nr. 3 berufen, nichts werde definitiv geregelt. Zu diesem Scheitern zähle ich auch die Aussagen zum Umgang mit Homosexuellen (Nr. 250f). Unter Berufung auf den Katholischen Katechismus belässt er es – neben der Aufforderung zu einem respektvollen und liebevollen Umgang mit den Betroffenen – bei der prinzipiellen Verurteilung von Homosexualität.

Mag sein, dass andere Interpretationen entwickelt werden, denn in sich geschlossen ist das Dokument nicht. Wahrscheinlich wird man sich in den kommenden Wochen darüber streiten. Denn die Zulassung Wiederverheirateter zu den Sakramenten wurde nicht verboten und auf Grund zahlreicher inhaltlicher Argumente können sich Bischöfe in unkonventionellen Entscheidungen unbehelligt fühlen. Immer mehr von ihnen werden beginnen, zwischen den Zeilen zu lesen, und dazu gibt es guten Grund. Im Zusammenhang der geschilderten Diskussion gibt es eine Stelle, die entfernt an Martin Luther erinnert. Es sei durchaus möglich, heißt es dort, „dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde … in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt“ (Nr. 305). In der angefügten Fußnote steht dann unter Berufung auf ein anderes Wort des Papstes: „Gleichermaßen betone ich, dass die Eucharistie nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen ist.“ Der Papst formuliert also die Argumente für eine mögliche Zulassung, überlässt deren Folgerung aber denen, die seinen Gedanken und Unterscheidungen zustimmen. So gesehen hätte er für einen Pyrrhussieg der Hardliner gesorgt, und man weiß, dass bestimmte Kardinäle seinem Weg folgen. Eine Diskussion ist also eröffnet, die auch ein Kardinal Müller nicht mehr ersticken kann.

Was zu tun bleibt

So ist Kapitel 8 als Zeugnis interner kurialer Auseinandersetzungen ein hochinteressantes Dokument. Dennoch bleibt zu sagen: Wäre der Papst ein beschlagener Exeget, hätte er den Mythos einer objektiv unauflöslichen Ehe entlarven und klarstellen können, dass die Schrift keine sakramentale Ehe kennt und die Verurteilung der Homosexualität mit einem guten Schriftverständnis nichts zu tun hat. Wäre er ein historisch firmer Dogmatiker, hätte er die sozial bedingten Wandlungen der katholischen Ehelehre schon lange durchschaut und die Homophobie in die Schranken verwiesen. Ließe er sich von wirklich kompetenten Fachleuten informieren, hätte er die Fußangeln der Unfehlbarkeitsidee durchschaut, die eine jede Erneuerung von Grund auf behindert. Mühelos hätte er eine souveräne Entscheidung von strengerer Konsequenz treffen können.

Jetzt wird uns die Auseinandersetzung noch einige Jahre beschäftigen. In ihr wird sich auch entscheiden: Entfaltet der Gedanke der Barmherzigkeit eine eigene Dynamik, die noch einige unbarmherzige dogmatische Festlegungen überrollt, oder wird dieser Gedanke zum Alibi einer Kirche, die ihre unbarmherzigen Fixierungen als Barmherzigkeit verkaufen will? Wird der Zug – ähnlich wie nach der Pillenenzyklika Humanae vitae – nun erst recht in Richtung eigenverantwortlicher Entscheidungen der Katholikinnen und Katholiken abfahren? In einer säkularisierten Gesellschaft wird die Kirche mit doktrinären Verboten keinen Erfolg mehr haben. Immerhin ist im Dokument auch zu lesen: „Niemand darf auf ewig verurteilt werden, denn das ist nicht die Logik des Evangeliums!“ (Nr. 297)

Tübingen / Luzern, 9. April 2016

Letzte Änderung: 13. Juli 2017