Von Benedikt XVI. zum ersten Franziskus

„Nun ist es wieder interessant, katholisch zu sein.“

Dieses Wort von Erzbischof Zollitsch lässt vielsagende Rückschlüsse zu. Auf den ersten Blick ist die Stagnation der Ära Benedikt überwunden. Dem bekennenden Europäer folgt ein Lateinamerikaner nach. Ein Jesuit, der das Papstamt gar nicht annehmen dürfte, lässt sich wählen und nimmt (seit 1131 Jahren zum ersten Mal) einen Namen an, den zuvor noch kein Papst getragen hat. Den hochoffiziellen Augenblick seiner Akklamation entzaubert er mit dem Alltagsgruß „Guten Abend“, und den hoheitlichen Segensgestus kehrt er um, indem er die Volksmenge um ihren Segen bittet. Zu den Umhängen von Hermelin, Samt und Brokat soll er bemerkt haben: „Der Karneval ist vorbei.“ Natürlich bleiben andere Fürstenzöpfe intakt. Warum etwa empfängt er vom ersten Tag an Staatsgäste und warum braucht ein Papst der Bescheidenheit einen neuen Namen? „Bruder Jorge“ entspräche einer viel ehrwürdigeren Tradition. Doch natürlich konnte er die Konturen dieses hochsensiblen Amtes nicht korrigieren, bevor er es überhaupt antrat. Zudem hat der Name „Franziskus“ seinen eigenen, sogar einen amtskritischen Charme, der auch Frauen und Männer aus anderen Kirchen überzeugt. So gibt es Grund zur Hoffnung auf tiefgreifende Reformen, aber noch keinen Anlass zur Euphorie. Wenn schon, dann stehen wir erst am Anfang einer endlosen Reformkette, deren Prinzipien noch nicht klar sind. 

Heilsamer Schock

Papst Benedikt trat aus eigenem Antrieb zurück. Die Schockwellen dieses Ereignisses wirken noch nach und seine Tiefenwirkungen sind nicht abzusehen. Erschüttert hat nicht der Rücktritt an sich; Päpste konnten schon immer zurücktreten und schließlich gelten Altersregeln auch für die katholischen Bischöfe. Aber gerade Insider nahmen den Rücktritt als Eingeständnis des Scheiterns wahr; so schnell kann kein Papst mehr absolut, ohne Verteidigungs- und Rechtfertigungsdruck agieren, denn der Rücktritt machte es aktenkundig: Der zunächst hochgestimmte Benedikt verfehlte alle großen Einzelziele. Die ökumenischen Beziehungen mit den Kirchen der Reformation sind auf Null reduziert, die zölibatären Reinheitsideologien definitiv beschmutzt, die Phantasien der Versöhnung mit den Reaktionären zerstoben, die Beziehungen zum Islam empfindlich gestört. Immer lauter wurden die Proteste engagierter Frauen gegen ihr Ordinationsverbot, die Kritik an päpstlicher Ehe- und Sexualmoral, die Klagen über den Zusammenbruch der Pastoral, das Missvergnügen über die päpstlichen Auftritte in verschiedensten Ländern. Aus der Kurie, diesem Bollwerk päpstlicher Macht, erwuchs ihm die bedrohlichste Gefahr. Schließlich musste ausgerechnet der Familienmensch Ratzinger erleben, wie Verrat und Misstrauen die „päpstliche Familie“ infizierten. Es verdient hohen Respekt, dass Papst Benedikt angesichts seines vorgerückten Alters die Konsequenzen zog und damit für die Nachfolger ein Vermeidungsprofil vorgab. Wann endlich kommt die katholische Kirche in der Gegenwart an?

Der Schock dieses Scheiterns bewirkte, dass die Kardinäle endlich offen über die Missstände redeten und nicht mehr so taten, als führe ihre Wahlgriffel per Eingebung der Heilige Geist. Zum ersten Mal verfingen sie nicht mehr, die Angstprojektion des Relativismus und die Ursünde des Triumphalismus, ebenso wenig die ängstliche Berufung auf eine alte Kontinuität. Offensichtlich freundete man sich jetzt mit Bergoglios Gegenmotto an, auch wenn es vorläufig noch allgemein klingt: die Kirche habe sich an die Peripherien ihrer Existenz zu begeben und ihren theologischen Narzissmus zu beenden, Bescheidenheit zu lernen und Solidarität nach außen zu demonstrieren. Bei der Wahl setzte sich Bergoglios Reformprogramm durch und nicht die Seilschaft des Opus Dei, wiewohl sie ihr Bestes versuchte und noch nicht resigniert hat. Denn mit seiner Wahl sind noch keine Reformen in Gang gesetzt, aber er kann auf den Konsens der Kardinäle rechnen, dass etwas geschehen muss. Ferner hat er erste Symbole der Bescheidenheit und der Solidarität gesetzt, an denen sich künftige Schritte messen lassen. Wer hätte je daran gedacht, dass der römische Bischof statt ehrenwerten Priestern einer muslimischen Frau die Füße wäscht? Man kann nur hoffen, dass damit auch Roms triumphaler Selbstgefälligkeit und autoritärem Herrschaftsstil der Boden entzogen wird. Über Nacht hat sich dieser Mann das Wohlwollen einer weltweiten Öffentlichkeit erworben; das lädt ihm eine hohe Verpflichtung auf.

Herkunft und Ausgangspunkt

Franziskus, mit seinen 76 Jahren noch erstaunlich vital, ist ausgebildeter Chemietechniker und trat mit 22 Jahren in den Jesuitenorden ein. Er stammt aus einer einfachen Familie mit insgesamt fünf Kindern. Im Studium haben ihn befreiungstheologische Einflüsse geprägt; bis heute hat er sich seine Volksnähe und den Stil argentinischer Volksfrömmigkeit bewahrt. So kennt er die einfachen Gesten der Zuwendung und hatte keine Hemmungen, einen exkommunizierten verheirateten Bischof in den letzten Wochen seines Lebens intensiv zu begleiten. Erst jetzt hat ihm die Frau dieses Bischofs öffentlich dafür gedankt. Allerdings fällt auf, dass die argentinischen Autoren auf dieses Auftreten viel nüchterner reagieren als mitteleuropäische Intellektuelle. Offensichtlich profilierte sich Bergoglio in Buenos Aires nicht als der große Reformer, sondern eher als der kantige und integere Kirchenführer, an dem sich die Vorkämpfer für die Rechte von Frauen und Homosexuellen schon mächtig stoßen konnten. Vielleicht nehmen wir seine bodenständige Solidarität zu schnell als programmatisches Zeichen innerkatholischen Fortschritts wahr. Unbestritten aber ist seine religiöse Authentizität, die vielleicht biographisch verankert ist. Noch vor seinem Eintritt in den Jesuitenorden war er schwer an einer langwierigen Lungenentzündung erkrankt, die schließlich zu einer lebensgefährlichen Operation zwang. Die Losung seines Wappens „miserando atque eligendo“ (frei übersetzt: „aus Barmherzigkeit hat er mich erwählt“) scheint ihn an jene entscheidende Situation zu erinnern, in der er sich – bei der Lektüre von Mt 9,9 – zum Eintritt in den Jesuitenorden entschloss. Ich weiß von keiner anderen hierarchischen Wappenlosung, die so persönlich orientiert ist. Dort ist wohl auch der Gedanke grundgelegt, die Kirche müsse – existentiell, religiös und ökonomisch – an die Grenzen ihrer Existenz gehen, traditionelle Privilegien aufgeben und Konventionen überschreiten. In diese Gedanken bezieht er auch seine Kurienkritik ein.

Deshalb versagen für seine Beurteilung vorerst auch die Kategorien „konservativ“ oder „progressiv“. Papst Franz gilt als fromm im besten Wortsinn, als menschenfreundlich, zugleich aber auch als machtbewusst. „Er gibt nicht auf, bevor er Papst wird“, soll man ihm schon in Studienzeiten nachgesagt haben; auch gebe er einen Bauer oder Läufer nur dann her, wenn er wisse, dass der Beschenkte schließlich schachmatt ist. Diese Nüchternheit tut gut, weil sie diesen Mann weder überhöht noch dämonisiert. Kein anderer der wählbaren Kardinäle, so eine andere argentinische Stimme, hätte es mit der Machtkalkulation, der strategischen Weitsicht und Konfliktfähigkeit des Gewählten aufnehmen können. Angesichts kurialer Zustände kann man darüber nur glücklich sein, denn ein so prognostizierter Handlungsstil lässt einen realistischen Regierungsstil erwarten, der nicht mehr von Unsicherheit und Misstrauen geprägt ist, es wohl aber mit Strukturen aufnimmt, denen man mafiöse Charakterzüge nachsagt. Wir erinnern uns: Papst Benedikt wollte seine Probleme mit moralischen Appellen, belehrenden Dokumenten und kirchenamtlichen Sanktionen lösen. Papst Franziskus, so die Erwartung, wird eine Kultur sachbezogener Problemerörterung und hoffentlich transparenter Diskussionen entwickeln.

Kollaboration und Machtpolitik

Doch Schatten bringt auch er mit. Dieser volksnahe, mit den Nöten des Volkes verbundene, zugleich machtbewusste Papst ist zugleich Kind einer etablierten Großkirche, wuchs schon als Jesuit in hierarchische Netzwerke hinein. In Argentinien leben in über 50 Bistümern und 2500 Pfarreien mehr als 34 Millionen Katholiken, das sind 76% der Gesamtbevölkerung. Ferner blickt diese selbstbewusste Kirche auf eine Geschichte von über 400 Jahren zurück und war – mit großem Machtbewusstsein – vor allem in die bewegte Geschichte des Landes seit 1946 (Peronimus) verwickelt. Bis heute noch nicht wirklich aufgearbeitet ist die Rolle der katholischen Kirche in der Periode der diktatorischen und menschenverachtenden Junta von J. R. Videla und L. Gualteri (1976-1983); die wöchentlichen Demonstrationen der Madres de Plaza de Mayo halten die Erinnerung an die Ermordung politisch Missliebiger und an das Verschwinden von Kindern wach; selbst unter Ihresgleichen gilt diese Diktatur als besonders grausam.

In den ersten Jahren dieser Epoche war Jorge Bergoglio Jesuitenprovinzial und in hohem Maße an die Weisungen einer Hierarchie gebunden, die – mit den bekannten Argumenten – alles auf eine kontrollierte Zusammenarbeit setzte. Hier kann und soll nicht beurteilt werden, wie viel der führende Jesuit billigte oder duldete, ob man überhaupt von Kollaboration sprechen darf oder nicht, ob er seine Rolle gegebenenfalls aus freiem Willen oder aus erzwungener Loyalität zur Hierarchie spielte. Für viele war die Situation zu Beginn der Epoche wohl undurchschaubar. Auch die Urteile von Eingeweihten gehen weit auseinander, und die meisten finden es überhaupt anmaßend, wenn Außenseiter die Lage beurteilen. Für die deutsche Öffentlichkeit erhält das Drama, dass sich damals abspielte, ein Gesicht durch den ungarischen Jesuiten Franz Jalics, der seit 1978 in Deutschland wohnt und als spiritueller Lehrer hoch geachtet ist. Er hat Bergoglio lange des Verrats verdächtigt, nachdem er – zusammen mit seinem Mitbruder Yorio – fünf Monat qualvoll verhört, gefoltert und mit verbundenen Augen gefangen gehalten wurde. Bergoglio erklärt nachdrücklich, dass er Jalics nicht verraten habe. Jalics hat sich mit seinem damaligen Jesuitenprovinzial versöhnt. Auch spätere Prozesse konnten die Zusammenhänge nicht objektiv klären.

Klar muss sein: Kein Dritter hat das Recht, gegen den Papst Vorwürfe zu erheben. Aber Erinnerungen an unbewältigte Fragen sind immer gefährlich. Bei Benedikt XVI. sind es Fragen zum Umgang mit Missbrauchsfällen in seiner Münchener Zeit und in seiner Amtszeit als Glaubenspräfekt. Um seiner Glaubwürdigkeit willen (auf die Franziskus als Reformer unbedingt angewiesen ist) wäre eine öffentliche Erklärung angebracht. Man wird ihm kaum mit Misstrauen begegnen. Z. B. könnte er erklären, wie schwierig und wie schwer damals die Verhältnisse zu durchschauen waren: er könnte erklären, was Rom und die Bischöfe in kirchlichem Gehorsam von ihm verlangten, dass vielleicht auch er Schuld auf sich geladen hat. Vor allem sollte der die Opfer um Verzeihung bitten und die Hierarchie zu einer demütigen Haltung ermahnen. Dieser ungeklärte Fleck seiner bisherigen Karriere mag im Augenblick friedlich schlummern. Der Papst muss aber mit bitteren und gefährlichen Diskussionen rechnen, sobald sein Stern in der öffentlichen Meinung sinkt. Er müsste in diesem Zusammenhang auch seine erstaunlich distanzierte Haltung gegenüber der gegenwärtigen Staatspräsidentin Cristina F. Kirchner (seit 2007) erklären. Wichtiger also diese Klärung seiner eigenen Rolle entsprechende Reformschritte. Neben seinem Verhältnis zu den Finanzen muss der Vatikan dringend seine Machtspiele in den unterschiedlichsten Staaten, ganz grundsätzlich sein Verhältnis zur politischen Macht klären.

Ein Jesuit als Papst

Dass ein Jesuit Papst wird, ist ein absolutes Novum und höchst erstaunlich, denn in der Regel, weil gemäß den Regeln, ist den Jesuiten die Übernahme kirchenleitender Positionen untersagt. Was passiert nun, wenn ein Jesuit zum Papst gewählt wird? In jedem Fall muss Franziskus selbst den Grund seiner Amtsübernahme als außerordentlich empfinden; er übernimmt das Steuer auf tosender See. Zu seinem Orden unterhält er, der den Generaloberen schon in der ersten Woche zu einem Gespräch empfing, intensive Kontakte. In jedem Fall kann er auf die hohe, international orientierte Fachkompetenz der Jesuiten zurückgreifen; zu deren Ehre gehört es, auf jeden „Wink“ des Papstes zu reagieren. Zudem müssen sie, seit 30 Jahren aus den Schlüsselstellungen des Vatikan verdrängt, dort keine Besitzstände wahren. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich der Jesuit den Namen Franziskus gegeben hat, denn hinter diesem Namen steckt eine Programmatik, für die Jesuitenvorteile nicht wichtig sind.

Überforderungen

Kann der Papst die von ihm erwarteten Reformziele erreichen? Seit dem Rücktritt des Vorgängerpapstes hat sich eine paradoxe, wenn auch vorhersehbare Situation eingestellt. Seit Jahr und Tag fordern die Reformkräfte der Papstkirche eine Einschränkung des päpstlichen Amtes. Wir reden von Dezentralisierung und Abbau der Monokratie; die Beschlüsse 1870 müssen auf den Prüfstand. Stattdessen wurde der neue Papst schon vor Amtsantritt zum Alleskönner und Allesentscheider hochstilisiert und mit allen Erwartungen überschüttet. Wie gut dieser Papst auch sein mag, er muss von diesem Amt überfordert sein, denn dessen Machtfülle trägt den Widerspruch zur Erneuerung schon in sich. Ein reformwilliger Papst müsste sich zwar nicht abschaffen, aber seine communio-feindlichen Privilegien (allen voran den universalen und absoluten Rechts- und Lehrprimat) suspendieren, wenn nicht gar ersatzlos streichen, bis ein biblisch überzeugendes, menschenrechtstaugliches und kirchenfreundliches Leitungsmodell in Kraft treten kann. Aus reaktionärer Perspektive entstünde so ein dogmatisches und kirchenrechtliches Niemandsland.

Wer auf Gottes Geist vertraut und die Nöte der Gegenwart sieht, müsste diesem entwicklungsfähigen Vorschlag zujubeln, weil er auf eine breit angelegte, ökumenisch orientierte Reform kirchlicher Grundstrukturen hinausläuft. Dazu gehören ein demokratisch geregeltes Gleichwicht zwischen Zentrum und Peripherie, die konsequente Entflechtung zentraler Leitungs-, Verkündigungs- und Handlungsaufgaben, die Überwindung patriarchaler Strukturen und Mentalitäten, das Ende mit schriftwidrigen Vorstellungen von Priestertum, Sakramenten und Sakralität, ein angemessenes Neuverständnis von menschlicher Beziehungsfähigkeit, Leiblichkeit und Sexualität, schließlich das glaubwürdige Eingeständnis, dass die wahre Erneuerung weder von oben kommen, noch von oben kontrolliert werden kann. So wenig sich in einem Bischof die Fülle des Heils versammelt, so wenig in einem Papst die Fülle der alle rettenden Vollmacht. Jeder Petrus, der dies unterstellt, müsste sich von Jesus sagen lassen: „Weg von mir, Satan.“ (Mt 16,23)

Wenn das römische Petrusamt im Namen Jesu auf eine sinnvolle Zukunft hofft, muss es sich mit diesem Abgrund seiner Machtphantasien konfrontieren lassen und sich in die Kunst des Selbstverzichts einüben. Konkret heißt das: In ihrer Summe müssen die genannten Aufgaben eine Einzelperson (samt seinem demokratie- und charismenfeindlichen Apparat) überfordern; sie überfordern wohl auch Papst Franziskus. Deshalb hängt viel von einer weitsichtigen, klugen, auch spirituell abgeklärten Strategie ab, die Prioritäten setzt, Zeitabläufe regelt, Reformprozesse koordiniert und auf deren Misslingen gelassen reagiert. Prinzipiell setzt das aber voraus: Wenn sich ein Papst diesen Aufgaben stellen will, reichen seine erfrischenden und menschenfreundlichen Impulse nicht. Er muss sich auch den weitergehenden und viel grundlegenderen Fragen einer weltumspannenden Kirche stellen. Wird in dieser Weltkirche endlich eine innere, auch geistige Pluralität möglich? Welchen Stellenwert erhält der Menschenrechtsdiskurs? Werden Institutionen und Botschaft endlich in ein fruchtbares Verhältnis gebracht? Wird sich das Verhältnis dieser Weltkirche zu den nichtchristlichen Religionen normalisieren? Und nicht zu vergessen: Wird die römisch-katholische Kirche in Sachen innerchristlicher Ökumene endlich die Hausaufgaben machen, die sie seit 50 Jahren liegen ließ?

Allein schon durch seine Bescheidenheit und Zuwendung zu den Menschen hat sich Bruder Franz in den ersten Wochen seiner Amtszeit eine begeisterte Zustimmung und einen ungeheuren Vertrauensvorschuss erworben, aber Bescheidenheit reicht für ein gutes Kirchenregiment nicht aus. Franziskus muss wissen, welch hoher Erwartungsdruck hinter diesem Enthusiasmus innerhalb und außerhalb seiner eigenen Kirche steht. Dazu gehört auch die Frage, wie er mit dem weniger freundlichen Erbe seines Vorgängers umgeht. Nimmt er untragbare Entscheidungen zurück? Bittet er die Opfer des Benediktus-Regimes um Vergebung oder gibt er seinem Vorgänger dazu Gelegenheit? Werden die zwischen 1978 und 2013 gedemütigten Frauen und Männer, aus welchen Rängen auch immer, rehabilitiert? Wann endlich verlieren die Topagenten des Vatikan ihr Amt, die geradezu zum Symbol eines intransparenten, autoritären und reaktionären Kirchenregimes geworden sind? Warum konnte der Glaubenspräfekt noch im April 2013 die empörenden Entscheidungen gegen die Dachorganisation der 46.000 Nonnen in den USA (Leadership Conference of Women Religious/LCWR) aufrechterhalten? Warum wurde der Argentinier Nicolás Alessio erst kürzlich suspendiert, weil er sich für sexuelle Selbstbestimmung einsetzt? Und warum ist der brasilianische Priester Roberto F. Daniel vor wenigen Tagen exkommuniziert worden, weil er den Umgang der Kirche mit Homosexuellen kritisiert? Wann wird und will Papst Franziskus die Maschinerie stoppen, die bei seinen beiden Vorgängern so schwungvoll in Gang gesetzt wurde?

Am 13. März hat Papst Franziskus sein Amt angetreten. Spätestens nach 100 Tagen wird der freundliche und bescheidene Brückenbauer an seiner Hörbereitschaft und an der Frage gemessen werden, ob er diejenigen schützt und unterstützt, die diese Kirche in jesuanischem und geschwisterlichem Geist endlich umgestalten wollen.