Einleitung: Zwischen Ratlosigkeit und Ungehorsam
Zum zweiten Mal blickt die katholische Kirche Deutschlands auf ein hochdramatisches Jahr zurück. 2010 raubten uns die Fälle von Missbrauch und deren Vertuschung den Atem; die Affäre Mixa würgte ihn vollends ab. Kirchenaustritte waren die Folge. Über 180.000 Mitchristen haben die Kirche verlassen, 60.000 mehr als in den beiden Jahren zuvor (2008/09). 2011 zeigte sich, dass sich diese Glaubwürdigkeitskrise nicht über Nacht begleichen lässt. In vielen Kleinigkeiten reagierten die Bischöfe nervös. Man denke an den erzwungenen Rücktritt von Michael Broch (August 2010) oder an das Verbot einer Studientagung über Sexualität (Juni 2011). Inzwischen hatten sich die Bischöfe zu einem kreativen Entlastungsschritt entschlossen. Die rettende Aktion hieß „Dialogprozess“, später „Gesprächsprozess“, – eine Idee, die Bischof Fürst als einer der ersten Bischöfe entschlossen aufnahm. Am 8. Juli wurden 300 Delegierte der deutschen Diözesen sowie von Verbänden zu einem Treffen nach Mannheim gebeten. Im August wurden die Ergebnisse in Castel Gandolfo verhandelt und im September stattete Papst Benedikt der deutschen Kirche einen offiziellen Besuch ab. Eine Rede im Bundestag, ein Besuch in Erfurt, zwei Massen-Gottesdienste (Berlin und Freiburg) sowie die Rede über die Entweltlichung der Kirche (Konzerthaus Freiburg) werden uns in Erinnerung bleiben.
Allerdings blieb der Gesamteindruck weit hinter den Erwartungen zurück. Die Ökumene stagniert nachdrücklicher denn je. Über den begonnenen Dialog verlor der Papst kein Wort und zur Gesamtsituation blieb nur die Ermahnung, die katholische Kirche möge sich entweltlichen. Auch auf Diözesanebene kommen die Dialogansätze nur sehr zögerlich vom Fleck. Das ZdK, für den KMF-ND ein bevorzugter Ansprechpartner, hat am 18. November erneut das Diakonat der Frau eingefordert. Es dauerte nur 22 Minuten, bis Hans Langendörfer (Mitbruder im ND) die Reaktion der Bischofskonferenz hören ließ: Zwar wolle man über alles reden, aber mit dieser Forderung setze man einen „schädlichen Druck“ auf. Prompt konnte man in der RP lesen: „Dialogprozess … an einem ersten Tiefpunkt?“ Dabei hatte der Prozess noch gar nicht richtig begonnen.
Noch gefährlicher scheint mit in der augenblicklichen Situation die innere Zerrissenheit der Bischofskonferenz zu sein. Reaktionäre Herren führen das große Wort (Joachim Meisner [Köln], Gerhard L. Müller [Regensburg], Felix Genn [Münster], Franz-Josef Overbek [Essen], Franz-Peter Tebartz-van Elst [Limburg], in etwa Reinhard Marx [München]). Sie nehmen die Stimmung des Papstes auf und reagieren in verstärktem Maße intolerant. Liberale Bischöfe versuchen zu vermitteln, setzten sich aber nicht durch (Gebhard Fürst [Rottenburg-Stuttgart], Stephan Ackermann [Trier], Franz-Josef Bode [Osnabrück], Heinrich Mussinghoff [Aachen], Joachim Wanke [Erfurt], Gregor M. Hanke [Eichstätt], Karl Lehmann [Mainz]). Erzbischof Robert Zollitsch [Freiburg] tut als Vorsitzender der Bischofskonferenz mit seinen Öffnungsversuchen, was er kann und bleibt meistens erfolglos. Die anderen, etwa die Hälfte der residierenden Bischöfe, hält sich in der Mitte. Manche nennen sie vor Angst erstarrt. Man fragt sich, vor wem oder wovor sie sich ängstigen. Das kann Rom, das kann auch die Entwicklung der Kirche sein. Der päpstliche Krisenblick verfehlt seine Wirkung nicht. Kurz, es fehlen die entschiedenen Figuren, die die Sache in die Hand nehmen. Kein Döpfner, kein Kamphaus …
Wer sind diese Bischöfe eigentlich? Was wollen sie? Sie sind, wenn man so will, wie „die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.“ Vielleicht erinnern Sie sich an den Film von Alexander Kluge aus dem Jahre 1968. Ein Reformzirkus soll verwirklicht werden, eine nie dagewesene Elefantennummer. Aber je näher das Projekt rückt, umso mehr bekommen die Organisatoren kalte Füße. Schließlich scheitert das Projekt insgesamt. Die Organisatoren gehen zum Fernsehen. Alexander Kluge schrieb eine Satire seiner Zeit (1968), die in unserer Kirche bekanntlich stehen blieb. Der Zuschauer, so eine Besprechung aus dem Jahr 1982, müsse stets das Geschehen kontrollieren. Es setzte sich mit den Problemen einer Utopie auseinander, die schließlich an den Umständen scheitert.
Genau das war 2010/11 die Grundstimmung der katholischen Kirche. Niemand weiß mehr so richtig, wie wir aus dem gegenwärtigen Tief herauskommen. Die Ungeduld wächst. Viele Gemeindemitglieder, die bislang zwar murrend, aber doch loyal und treu zu Kirchenleitung hielten, werden ungeduldig. Sie fühlen sich nicht ernstgenommen und denken an berechnenden Ungehorsam. Die Österreichische Pfarrer-Initiative mit ihrem „Aufruf zum Ungehorsam“ vom 12. Juni 2011 ruft zum Ungehorsam auf.
Man wird „gutwilligen Gläubigen“ ([1] In jedem Gottesdienst eine Fürbitte um Kirchenreform sprechen, [2] Wiederverheirateten, Nichtkatholiken, gegebenenfalls Ausgetretenen) die Kommunion nicht verweigern, [3] Sonntag nicht mehrfach zelebrieren oder ortsfremde Priester einsetzen, [4] priesterlose Gottesdienste mit Kommunionempfang als Eucharistie ansehen, [5] das Predigtverbot für gut ausgebildete Theologen/innen missachten, [6] sich dafür einsetzen, dass jede Gemeinde eine/n Vorsteher/in hat (Mann oder Frau, verheiratet oder unverheiratet, hauptamtlich oder nebenamtlich,[7] Plädoyer für die Zulassung von Frauen zum priesterlichen Amt). Diese Erklärung ist ein Fanal und sie wirkt wie ein Fanal, weil zum ersten Mal die Autorität der Bischöfe faktisch relativiert wird. Hinzukommt eine Solidaritätsbekundung mit verheirateten Priestern. [entsprechender Aufruf in Belgien inzwischen schon 6.000 Unterschriften]
I. Volk Gottes: das Risiko der Pilgerschaft
Ich beginne mit diesen ausführlichen Bemerkungen nicht, um heute Abend das Feuer neu anzufachen. So ein Abend sollte eher eine Stunde der Besinnung als eine Stunde der Aktion sein. Deshalb lädt das Thema eher zu einer abwägenden Auseinandersetzung ein. Das Thema soll vorsichtig fragens lauten: Volk Gottes – Vom Zeitgeist verderbt oder vom Heiligen Geist begabt?
Dass wir uns als Volk Gottes verstehen können, das haben wir durch das 2. Vatikanum (1962-1965) gelernt und seitdem oft gehört. Weniger bekannt ist, dass Rom 1985 erfolglos versuchte, diesen Sprachgebrauch zu ändern. Fortan sollte von einer Gemeinschaft (communio) die Rede sein. Was also der Begriff „Volk Gottes“ beinhaltet, das blieb umstritten und der Wortführer dieses Streits war von Anhang an Joseph Ratzinger selbst. Hauptproblem dieses Begriffs war von Anfang an seine Kombination von Partizipation (wir sind das Volk) und Zeitdynamik (wir gehen einen Weg in die Zukunft). Das aber hieß: wir müssen uns mit unserer Zeit und mit dem auseinandersetzen, was sie an neuen Herausforderungen und an neuen Fragen bringt.
Im 7. Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen Gentium (Nr. 48-51) ist zunächst die Rede von der „pilgernden Kirche“, später vom „pilgernden Gottesvolk“. Nun klingt dieses Kapitel einigermaßen weltfern. Der Akzent wird auf die Tatsache gelegt, dass wir mit Himmlischem verbunden sind, auf den Herrn hoffen und uns auf die Gemeinschaft mit den schon Verstorbenen freuen dürfen. In der „pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“ setzt sich aber ein anderer Akzent durch. Man erinnert sich an das Leitwort von Johannes XXIII.: „Aggiornamento“, also an das Ziel, die christliche Botschaft und mit ihr die Kirche ins Heute zu bringen. Denn diese Pastoralkonstitution setzt sich nun mit einigen Hauptfeldern auseinander, in denen die Kirche ankommen muss. Es komme darauf an, „dass das Volk Gottes und die Menschheit, der es eingefügt ist, in gegenseitigem Dienst steht, so dass die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist.“ (11)
Interessante Themen werden da verhandelt, die man bisweilen vergessen hat. Es geht um die Würde des Menschen und seine Vernunft, die hohe Bedeutung des Gewissens und der Freiheit. Ausführlich, geradezu einfühlsam wird vom Atheismus geredet und von den Gründen, aus denen er entstehen kann. Erstaunliches ist das zu lesen: Die Kirche suche „die tiefer in der atheistischen Mentalität liegenden Gründe für die Leugnung Gottes zu erfassen, und ist im Bewusstsein vom Gewicht der Fragen, die der Atheismus aufgibt, wie auch im der Liebe zu allen Menschen willen der Meinung, dass diese Gründe ernst und gründlicher geprüft werden müssen.“ (Nr. 21). In vergleichbarer Weise werden andere Themen angesprochen: Die Gemeinschaft und die Förderung des Geheimwohls, die Achtung vor anderen Menschen, auch vor den Gegnern, soziale Fragen, Verantwortung und Partizipation, Solidarität, Arbeit und Kreativität, die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten. Es wird zuviel Einbildung gewarnt: „Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist. Wie immer auch die Geschichte über all dieses Versagen urteilen mag, wir selber dürfen dieses Versagen nicht vergessen“, sondern müssen es unerbittlich bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade. (43).
Verhandelt werden dann Ehe und Familie (47-52); es geht um den humanen[!] Vollzug der ehelichen Liebe, über kulturellen Fortschritt (53-62), die Wirtschaft (63-72), die Politik (73-76), den Frieden als eine „immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe“, den Rüstungswettlauf und den Aufbau einer internationalen Gemeinschaft (77-90).
Angesichts dieser ungeheuren Fülle von Themen kann man sich fragen, worin man deren Einheit findet. Was ist das Kriterium der Arbeit. Die Antwort ist durchaus aktuell und Ihnen allen bekannt; vielleicht ist es der herausragende Satz des gesamten Konzils überhaupt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ Enger könnte die innere Verwobenheit von christlichem Glauben und der gegenwärtigen Menschheit nicht formuliert werden. Gewiss diese Konstitution ist ein Text der vergangenen sechziger Jahre, also bald 50 Jahre alt: eurozentrisch, in manchem paternalistisch, die großen Themen der kommenden Jahrzehnte nur schwach andeutend, aber damals richtungsweisend. Man kann nur beklagen, dass diese Konstitution nicht viel intensiver zur Inspiration der kommenden Jahrzehnte wurde. Kann aber ein solch vielfältiges, verwirrend buntes Dokument eine Richtschnur abgeben? Damit kommen wir zum vorgegebenen Problem.
Es dauerte lange, bis ich das Wort von der pilgernden Kirche begriffen habe. Pilgern, das bedeutet für mich lange: ein wohlbehüteter Weg mit frommen Übungen und im Kreis von Gleichgesinnten. Inzwischen weiß ich, was pilgern einst bedeutete und heute bedeuten kann. Es geht um lange Wege, die uns an den Rand der Erschöpfung bringen. Verschwitzte Kleidung, wunde Füße, hygienisch mäßige Bedingungen, harte Lager für die Nacht und neben den angenehmen auch viele schwierige Begegnungen. Die Santiago-Pilger des Mittelalters kamen in Compostella verschwitzt, verschmutzt und zerlumpt an. In der Kathedrale stank es oft so, dass nur noch das große Weihrauchfass helfen konnte. Die Kleider der Ankömmlinge wurden verbrannt (ich holte übrigens die ersten Flöhe meines Erwachsenenlebens in Lourdes und in einem spanischen Ordenshaus). Pilgerschaft heißt Weltbegegnung unter harten Bedingungen, auf die nachkonziliare Zeit übertragen heißt diese Pilgerschaft (damals Aggiornamento genannt: Konfrontationen mit Atheismus und Säkularisierung, Bedeutungsverlust von Christentum und Kirche, Auseinandersetzung mit einem ganzen Kosmos von sozial-, human- und ideologiekritischen Kulturwissenschaften, Orientierungsverlust im Strudel zahlloser Weltanschauungsangebote, schließlich die Zielsuche in allem, was wir heute mit dem Begriff des Postmodernismus umschreiben.
Und nun einige Kampfworte. die wir in der alltäglichen Auseinandersetzung um die Zukunftsgestaltung des Glaubens plötzlich wieder hören müssen. Sie lauten „Anpassung“, „Verweltlichung“, „Taubheit“ und „Blindheit“ gegenüber dem Geheimnis des Glaubens, „Diktatur des Relativismus“. „kirchliche Gesinnung“, „Respekt“ vor Glaubenwahrheiten, die „nicht verhandelbar“ sind. Viele von uns wenden sich schon emotional von einer solchen Wortwahl ab. Denn wer sie übernimmt, ordnet sich schon einer Denkrichtung und einem Weltverständnis ein, die/den wir gemeinhin konservativ, wenn nicht gar reaktionär nennen. Aber das Hauptproblem dieser Wortwahl wird in der Regel verdrängt. Sie macht uns oft hilflos, denn wir tun uns oft schwer, mit Argumenten darauf zu reagieren? Warum eigentlich?
– Weil sich ja niemand von uns einfach an die Welt anpassen will,
– weil wir nicht wollen, dass sich unser Glaube einfach den Gesetzen der Welt unterwirft
– weil auch wir uns vor mangelndem Respekt vor dem Geheimnis fürchten,
– weil auch wir nicht ganz sicher sein können, ob wir nicht einem flachen Relativismus unterliegen.
Ich fürchte: wir alle, Progressive wie Konservative, waren im Blick auf eine erneuerte Kirche zu naiv. Die einen meinten, die Erneuerung der Kirche könne sich auf einen neuen Fassadenanstrich beschränken. Die anderen dachten, eingreifende Umbaumaßnahmen ließen sich ohne statische Probleme bewerkstelligen. Deshalb habe man das wahre Problem kaum vorausgesehen. Worin besteht es?
Das wahre Problem einer jeden Kirchenreform besteht darin, dass wir den Weg nicht im Voraus berechnen können. Es besteht darin, dass wir uns – wie wahre Weltenpilger – die Füße wund laufen, die Kleider beschmutzen und an die Grenzen unserer Weltbilder kommen. Es besteht darin, dass wir erst die Welt verstehen müssen, wenn wir ihr helfen wollen. Weltkritik und wohldosierte Weltdistanz geht nur durch Weltberührung und Weltkontakt. Die Alternative: „vom Weltgeist verderbt“ oder „vom Heiligen Geist begabt“ trifft den Kern des Problems nicht.
Ich nenne einige Beispiele:
– Benedikt XVI. schreibt in seinem „ersten“ Jesusbuch kaum eine Seite ohne Seitenhieb gegen die historisch-kritische Exegese. Sie verliere sich im Dickicht von Hypothesen, so der Papst; sie missachte das Geheimnis des Gottessohnes; sie traue den Evangelien nicht; sie zwinge alle Texte in die Zwangsjacke eines rein menschlichen Geschehens. Zugleich schreibt der Autor keine Seite, die nicht viele Ergebnisse der historisch-kritischen Voraussetzung einfach voraussetzt.
– Im vergangenen Juni verbietet ein Bischof einen Studienkongress zur Sexualität der Jugend. Die Gruppe der verpflichteten Referenten, so der Bischof, sei unausgeglichen und das Themenprofil zeige von keinem christlichen Menschenbild. Bei seiner Rechtfertigung gibt er aber zu, dass „wir“ (die Kirche? die Bischöfe? das Lehramt?) angesichts der angehenden Fragen stumm geworden seien. Muss man bei diesem Mangelzustand nicht erst einmal in die Schule der Hörens gehen?
– Die Bischofskonferenz initiiert einen landesweiten „Gesprächsprozess“; alle Diözesen sind dazu eingeladen, dasselbe zu tun. Im gleichen Atemzug erklärt Bischof Overbeck, ein Glaubensdialog bestehe zunächst im Hören und manche Positionen seien nicht verhandelbar.
– In allen Beispielen stoßen wir auf dasselbe Problem: Es ist die Angst, sich vor dem unvermeidbaren Lernprozess die Hände schmutzig zu machen, von der eigenen Autorität abzusehen und den eigenen Katechismus auf die Probe zu stellen.
Deshalb meine ich auch: Die Bezeichnungen „konservativ“ und „progressiv“ taugen zur Beschreibung der innerkirchlichen Polarisierung nicht mehr. Ich höre manche konservative Reaktionen etwa aus Gemeinden, in denen es z.B. mit dem Gottesdienst wirklich nicht gut steht. Aber ich spüre zugleich, dass die Kritiker ansonsten die Probleme der Gemeindemitglieder verstehen und mit ihnen arbeiten. Aus manchen Situationen kann man auch konservative Lehren ziehen. In den großen Polarisierungen der Gegenwartskirche geht es eher um die Alternative zwischen lernbereit oder verängstigt, doktrinal oder prophetisch, autoritär oder gesprächsbereit, gefahrenresistent oder risikobereit.
Sind sie „vom Zeitgeist verderbt“ und „geistbegabt“. Natürlich sind sie eine Alternative, aber diese Alternative verdeckt das Problem, denn nur Christ/innen bringen die Kirche voran, die sich vom Zeitgeist – hier oder dort – zumindest infizieren lassen.
Wir brauchen junge Leute, die das Risiko bestehen, die durch das Feuer digitaler Medien gehen und Wissenschaftler, die sich der Evolution oder der Hirnforschung verschrieben haben, Männer und Frauen, die die Liebe mit ihren Himmeln und Höllen infiziert hat und Ärzte, die gelernt haben, was er heißt, zum Guten (und vielleicht zum Bösen) über Leben zu verfügen. In der Alten Kirche (bisweilen auch im Mittelalter) gehörte es zur Größe von heiligen Männern und Frauen, dass sie von Dämonen versucht wurden, allen voran am Beispiel des Wüstenvaters Antonius demonstriert. Sie zwickten und plagten, trommelten und bedrohten, verführten und schickten Todesängste.
Das Geheimnis der Wüstenaskese, so die moderne Psychoanalyse, bestand darin: Diese Menschen ließen es zu, dass sie sich bis auf ihre letzten Lebensressourcen herausfordern ließen. Man kann auch darauf verweisen, dass nur die Infizierten immun werden und nur die Kenner der Lebensgefahr Lebensbedrohungen bewältigen. Eine gesunde Religion/Frömmigkeit wirkt nicht als beschützendes Cocon, sondern als Ermutigung zum Letzten. Die große biblische Metapher des Geistes sind weder Watt noch Himmelsgesang, sondern das Beben der Erde und das Feuer.
II. Geist als kritische Weltbejahung
Vielleicht wird so auch deutlich, warum ich zu Beginn so ausführlich von der pastoralen Konstitution über die „Kirche von der Welt von heute“ gesprochen habe. Ich halte diese Konstitution für ein prophetisches Dokument. Denn es war von einer prophetischen Intuition geprägt. Sie lautete: in den kommenden Jahrzehnten muss sich die Kirche der Welt in einer Weise öffnen, wie sie es bislang noch nie erlebt hat. Sie kann diese Welt aber nicht mehr dominieren und geistig belehren, wie dies in der Vergangenheit geschah, sondern muss die Autonomie der Welt anerkennen und – statt als Lehrerin – als solidarische Partnerin auftreten. Aufgabe des Heiligen Geistes ist es in dieser Epoche nicht, die Gläubigen vor den Verführungen der Welt zu beschützen, sondern sie für die solidarische Auseinandersetzung mit ihr stark zu machen, mutig und risikobereit sich auf die Auseinandersetzung mit ihr einzulassen.
Geist bedeutet in diesem Kontext Mut zur Infektion. Der Glaube zeigt sich dann im Mut und in der Gewissheit derer/dessen , der/die sagen kann: Ich bin gesund und stabil genug, um diese Infektion zu bewältigen. Religion ist zunächst eben kein Karantäne-System für Schwerstkranke, sondern ein Kräftigungs- und Ermutigungssystem für Mutige. Deshalb haben Religionen ja alle auch eine Affinität mit den schlimmsten Degenerationen, die wir uns denken können: Mit Gewalt, mit Heuchelei, mit falscher Projektion, mit Machtgier, mit Bevormundung und mit unfehlbarer Indoktrinierung. Sie haben diese Affinität, weil sie es immer aufnehmen wollen mit den großen Gefahren: mit dem Bösen, mit Schuld und dem möglichen Verderben. Wer sie überwinden will, wer es mit den Gefahren des Zeitgeistes aufnehmen will, muss sich auf sie einlassen. Das haben die Besonnenen damals unter Aggiornamento verstanden. Die Naiven allerdings meinten, der große Triumphzug könne beginnen. Zu Recht haben sie sich getäuscht.
Das heißt allerdings, dass dieses Abenteuer der Weltberührung mit Bedacht und mit der notwendigen Selbstkritik durchzuführen ist. Theologen und Kirchenleiter müssten endlich bei den Politikern in die Schule gehen. Einmal Plagiat und schon kommt der Rücktritt. Anders gesagt: zu wissen, dass es in vier Jahren Neuwahlen gibt, macht realistisch. In der Wissenschaft ist uns dieser Mechanismus selbstverständlich geworden. Eine jeder verantwortlich arbeitender Exeget wird seine Neuentdeckung nicht als seligmachende Wahrheit, sondern als Hypothese verkaufen. Das heißt nicht, dass seine Entdeckung ungewiss wäre. Es bedeutet vielmehr: die Gemeinschaft der Fachleute hat zu entscheiden.
Ich wage die These: In den vergangenen Jahrzehnten haben alle epochalen Erneuerer der Theologie und einer möglichen Kirchengestalt nicht dekretiert, sondern argumentiert. Sie machten es uns möglich, in die Kochtöpfe ihres Denkens Einblick zu nehmen und notfalls auf die falschen Ingredienzien hinzuweisen. Jeder Neuerer muss und kann wissen, dass er ein Risiko eingeht. Diese Bereitschaft zur Selbstkritik ist für mich ein Kriterium des Geistes auch die Unfehlbarkeit auf dem Spiel steht.
Papst Benedikt hat bei seiner Abschiedsrede in Frankfurt eine hochinteressante Metapher gefunden. Er sprach von Entweltlichung und hat damit viele verunsichert, wenn nicht gar empört. Ich schließe mich in diese Empörung wegen eines offensichtlichen Selbstwiderspruchs ein: Man kann nicht ohne weitere Erklärung von Entweltlichung reden und sich zugleich alle Mittel weltlicher Autorität, weltlichen Triumphes und weltlicher Prachtentfaltung in Anspruch nehmen. Also fand ich: er hätte sich wenigsten seine Brokatgewänder, die roten Schuhe eingeschlossen, vom Leibe reißen und in die Menge der ebenfalls wohl gekleideten handverlesenen Gäste werfen müssen. Vielleicht hätte ihm mancher Pileolus oder Mitra, Mozetta oder Zingulum, das goldene Pektorale und schafwollene Pallium, rote Knopflöcher und purpurdurchwirkte Schnüre, vergoldete Bischofsstäbe und edelsteinbesetzte Ringe nachgeworfen. Dann wäre wenigstens deutlich geworden, was der Papst meinte. Worum ist es ihm aber gegangen?
Ich meine: der Papst weist daraufhin, dass, dass die Kirche eine über-irdische, weltüberlegene Institution ist. Sie hat es nicht einmal nötig, diese Welt abzuwerten, denn sie steht ja darüber. Also kann sie – zu ihren eigenen Zwecken – über Weltliches verfügen, zur Ehre Gottes auch ein Papamobil zu Hilfe nehmen, Frauen in den zweiten Rang stellen und auf demokratische Regeln verzichten.
Ich weiß, dass hier ich ironisch, aber zugleich sehr ernst reagiere. Das Problem besteht ja darin, dass wir – für oder gegen Aggiornamento und Weltdistanz – eben in dieser Welt leben, dass Jesus Christus (um in der Metapher zu sprechen), in diese Welt eingegangen ist, eine menschliche Natur angenommen hat. Entweltlichung als Welt-Entfernung wäre also Unsinn. Aber ich erinnerte mich auch daran, dass „Entweltlichung“ in den fünfziger und sechziger Jahren – in der Dialektischen Theologie, also bei Karl Barth, Rudolf Bultmann, bei seinen Schülern, auch bei Jürgen Moltmann – ein ganz heißes Thema war. Bultmann erklärte das – im Zusammenhang mit dem Johannesevangelium – so: Als Menschen, auch als Glaubende, leben wir mit Haut und Haaren in der Welt; wir sind also weltlich. Aber uns treibt eine göttliche Wahrheit. Nach K. Barth leben wir zwischen den Zeiten. Nach Rudolf Bultmann finden wir im Glauben die Maßstäbe, an denen wir die Welt, uns selbst eingeschlossen, messen. Es geht also nicht um Welt-Entfernung, im Gegenteil. Wir werden der Welt auf Leib zu rücken haben. Es geht um eine angemessene Weltbeurteilung, in der traditionellen katholischen Sprache: um die Unterscheidung der Geister. Zwar können wir als Getaufte auf Gottes Geist hoffen, aber – unsere Lebenserfahrung wird uns wohl bestätigen – sogar der Heilige Geist ist nie rein zu haben. Der Heilige Geist ist ein streitbarer und ein umstrittener Geist. Wer dies verstanden hat, kann darüber glücklich sein, dass in unserer Kirche endlich zwischen oben und unten ein heiliger Streit entsteht. So gesehen ist unser Titel auch wieder trefflich gewählt. Denn die falsche Weltanpassung und die richtige Weltbeurteilung wird bis zum Ende der Welt nie ganz entschieden sein.
III. Die Erfolge seit 45 Jahren
Im letzten Teil meines Referats versuche ich, zu einigen Folgerungen konkreteren zu kommen. Leider kenne ich – als Niederrheiner von 25 Jahren – die Situation im Südweststaat wohl zu wenig, um die Akzente differenziert genug setzen zu können. Doch scheint mir die Vermittlung zwischen Konservativen und Fortschrittlichen heute wieder einfacher als vor zehn Jahren. Die innerkirchliche Polarisierung ist so weit vorgerückt, die römische Position so weit verhärtet und die Implosion der klassischen Seelsorge so weit fortgeschritten, dass die aktueller Lage auch viele Konservative beunruhigt. Dabei werden die Zügel immer straffer angezogen, so also stehe die Bruchlandung des Flugschiffs unmittelbar bevor. Seit einigen Monaten werden die säkularisierten Länder neu evangelisiert, indem man – als erste Maßnahme – den römischen Katechismus zu lesen hat. Im Petersdom gibt es nur noch Handkommunion und auf seinen Weltreisen schreitet der Papst mit dieser Praxis voran. Vor zwei Wochen war zu hören, dass jetzt auch alle Gesangbücher der Weltkirche in Rom zur Beurteilung vorzulegen sind. Einem Praxistext werden auch alle neuen Kirchengebäude unserer Weltgemeinschaft unterzogen. Mehrzweckgebäude und Gebäude, die den Besucher nicht zum Geheimnis hin leiten oder den Tabernakel eher verstecken, unterliegen jetzt schon der Kritik. Neuerdings organisiert Rom Einführungskurse für „junge“ Bischöfe, damit sie ihre Diözesen gut leiten. Diese Kurse werden ausgerechnet von Vertretern der Legio Christi organisiert. Man könnte der Meinung sein, Rom würde von anderen Sorgen geplagt. Nein, man vermisst in der Weltkirche das marianische Element und denkt an Mutter Teresa als neue Patronin.
Oft wird deshalb angesichts des bevorstehenden Konzilsjubiläums die Frage gestellt: Was ist von jenem Aufbruch geblieben? Hat der polemische, falsche und theologisch und hermeneutisch völlig unhaltbare Nachdruck auf „Kontinuität“ nicht alle Aufbrüche und neuen Entwicklungen ruiniert? Ist die Befreiungstheologie nicht zerstört, die feministische Theologie zu Erliegen gekommen, sind Exegese und Kirchengeschichte nicht wieder gezähmt und zu frommen Untertanen einer autoritären neuscholastischen Dogmatik geworden?
Es stimmt, nach Kräften wurde Vieles blockiert. Die Kirchenkonstitution und der Ökumenismusdekret werden nach römischen Vorgaben interpretiert, die Liturgiekonstitution wurde verdrängt und ihre Folgen diskriminiert, die Konstitution über die Göttliche Offenbarung vergessen. Emanzipatorische Theologien sind ebenso unerwünscht wie Frauen im kirchlichen Dienst.
Dennoch behaupte ich: Das 2. Vatikanum hat unerwartete Früchte gezeitigt; sie lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Für mich zeugt diese Entwicklung vom Wirken des Heiligen Geistes im besten christlichen Wortsinn.
Ich nenne vier Aspekte:
3.1 Die Neuentdeckung der Schrift
Das zweite Vatikanum verabschiedete eine Dogmatische Konstitution über die „Göttliche Offenbarung“. Sie handelte von der einzigartigen Bedeutung der Schrift; dies war in der Geschichte der katholischen Kirche bislang noch nie geschehen. Ihre ökumenische Bedeutung lässt sich kaum überschätzen, weil sie den reformatorischen Anliegen einen weiten Raum gibt und von der reformatorischen Tradition viel gelernt hat. Z.B.: es gibt nur eine Quelle der Offenbarung; das ist die Schrift. Die „Tradition“ bringt nichts Neues. Die apostolische Botschaft der Schrift darf nicht verändert werden. Zwar wird die Tradition der Offenbarung nicht eindeutig untergeordnet, die Ausführungen sind unklar (Nr.9), aber die Exegese wird nicht bevormundet und die exegetischen Methoden werden anerkannt. Die Heiligen Schriften sind zu verehren „wie der Herrenleib selbst“ (Nr. 21); sie bildet den „Tisch des Wortes Gottes“. Das Studium der Schrift muss „gleichsam die Seele der heiligen Theologie“ sein (Nr. 24), denn wer die Schrift nicht kennt, kennt Christus nicht. (Nr. 25)
Diese Botschaft hatte – vor allem nördlich der Alpen – eine nachhaltige Wirkung. Hier war ein reformatorisches Postulat eingelöst. Sich in der Schrift auskennen, hieß, mit evangelischen Mitchristen reden können. Fügen wir hinzu, dass mit dem Konzil das Theologiestudium von Frauen und nichtgeweihten Männern begann, ist die Bedeutung dieser Entwicklung nicht hoch genug einzuschätzen. Seitdem ist ein breites biblisches und exegetisches Wissen entstanden, gegen das die Lehramtsträger nicht angehen konnten. „Tradition“ ist im Bewusstsein der Katholiken in die zweite Stelle gerückt. Es kommt heute alles darauf an, dass dieses Wissen nicht wieder verschwindet, sondern wach bleibt. Dafür sehe ich in ökumenisch gemischten Ländern keine Gefahr. Dieses Wissen hat nachhaltige Auswirkungen auf unser Kirchenbild, die Zuordnung von Sakrament und Wort, die Amtstheologie und die Stellung der Frau.
Kommt hinzu, dass die „normalen“ Getauften zum einem breiten und unbefangenen Schriftverständnis die besseren Voraussetzungen haben, denn gegen die Schrift haben sie keine Interessen zu verteidigen. Es hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine biblische und eine jesuanische Spiritualität entwickelt. Sie ist unverzichtbar, nachdem sich das traditionelle Christusdogma kaum mehr vermitteln lässt. Das bewahrt sie vor ausgesprochen ideologischen Diskussionen.
3.2. Die ökumenische Begegnung
In den sechziger Jahren sprach man von „Ökumenismus“, der auf dem Konzil zu manchen Polarisierungen führte, aber konsequente Befürworter hatte, so der badische Jesuit Kardinal Augustin Bea. Das Dekret wurde 1964 verabschiedet. Es ist nicht ganz frei von Rückkehrgedanken, geht aber konsequent von der Grundidee aus: Alle Getauften sind Mitglieder der Kirche Christi; viele bedeutende Elemente der Kirche existieren auch außerhalb der katholischen Kirche. Das Dekret fordert: eine innere Bekehrung, Studium der nichtkatholischen Kirchen, insbesondere ihrer Geschichte, Beachtung der Sprache und der „Hierarchie“ der innerchristlichen Wahrheiten. Die orthodoxen Kirchen genießen kraft ihrer Amts- und Sakramentsstruktur eine Vorzugsstellung. Bei aller Ferne zu den reformatorischen Kirchen gilt der Satz: „Der Mensch wird durch das Sakrament der Taufe … in Wahrheit dem gekreuzigten und verherrlichten Christus eingegliedert und wiedergeboren zur Teilhabe am göttlichen Leben … (Nr. 22) „Die Taufe begründet also ein sakramentales Band der Einheit …“ (ebd.). Selbst im Abendmahl bekennen die Protestanten, „dass hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus“ bezeichnet wird.
Für die deutschsprachigen Länder und die Niederlande ist die Folgewirkung dieser Konstitution kaum zu überschätzen. Die ökumenische Theologie blühte ebenso auf wie eine Kultur der ökumenischen Begegnungen in zahllosen Gemeinden. Inzwischen wurden solche Kontakte zur Selbstverständlichkeit, für viele die gegenseitigen Gottesdienstbesuche gängige Praxis, so sehr, dass die Ökumene als Besonderheit ihren Reiz schon wieder verliert. DOMINUS JESUS (2000) mit seiner halsbrecherischen Behauptung, die evangelischen Kirchen seien keine Kirchen im eigentlichen Sinn, wurde in den deutschsprachigen katholischen Kirchen nicht rezipiert. Also hat dieses Dokument nach alter Kirchenrechtsregel auch keine Gültigkeit.
3.3 Der interreligiöse und gesellschaftspolitische Kontext
Schwieriger steht es um den interreligiösen und gesellschaftspolitischen Kontext. Allerdings ist daran festzuhalten: Beide Aspekte haben durch das Konzil ihre Legitimation erhalten. Ich nenne nur die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes und die Erklärung „über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“.
Aber wie bekannt, hat die Konzilserfahrung in Lateinamerika in den Folgejahren zur „Befreiungstheologie“ geführt; in Deutschland etablierte sich die Neue Politische Theologie. Wie man diese Dimension der Theologie und Glaubenspraxis theoretisch auch formulierten und begründen mag: für mein Urteil hat sich die nachkonziliare Theologie auf gesellschaftliche, ideologiepolitische und interreligiöse Aspekte geöffnet. Ich bin auch der Überzeugung, dass genau diese Dimension in den kommenden Jahrzehnten unsere Glaubenspraxis vorantreiben wird. In jedem Fall haben wir seit dem Konzil die hierarchischen, autoritären und innerkirchlichen Orientierungen aufgebrochen. Wir trauen unseren Erfahrungen im Umgang mit einer Welt, die auf Gerechtigkeit und Frieden hofft.
Anders ließe sich der christliche Glaube in einer aufgeklärten, wissenschaftlich und international orientierten Gesellschaft auch gar nicht mehr vermitteln. Unsere öffentliche Glaubwürdigkeit findet heute ihr Maß nicht mehr in privaten Tugenden, sondern im kundigen Umgang mit den großen sozialen und politischen Fragen, im weltoffenen Engagement und in unseren Impulsen, die wir für den Weltfrieden geben können (vgl. den Erfolg des Projekts Weltethos). Die innere Qualität unseres Glaubens zeigt sich zudem in der Art und Weise, wie wir mit anderen Weltreligionen umgehen, mit ihnen in Kontakt treten können.
3.4 Das unerwartete Selbstbewusstsein der Gläubigen
Eine letzte Folge, auf die ich hinweisen möchte, ist das unerwartete und gefestigte Selbstbewusstsein der praktizierenden, kritische engagierten Christinnen und Christen. Noch vergangene Woche berichtete mir ein älterer Priester, wie in seiner Kindheit die Frauen während der Messe noch Rosenkranz gebetet haben (sie kamen in der Regel auf 7 „Gesätze“). Das wäre heute ebenso undenkbar wie auch außerhalb des Gottesdienstes eine schweigende Gemeinde ohne eigenen Willen, ohne Arbeitskreise und offene Worte. Zu den größten Erfolgen des Geistes gehört, dass sich die Gemeinden und Verbände – trotz schärfster Polarisierungen – seit 2005 nicht zum Schweigen verurteilen ließen.
Ich weiß, dass viele Katholikinnen und Katholiken solche Thesen als zutiefst unkatholisch, vielleicht als Beginn einer neuen Kirchenspaltung begreifen. Aber diese Angst beruht auf mangelnder Geschichts- und Schriftkenntnis. Deshalb ist eine prinzipielle Autoritätskritik ebenso unverzichtbar wie ein neues Selbstbewusstsein, das den Gemeinden ein angstfreies und unbefangenes Auftreten ermöglicht. Die Bischöfe müssen zur Kenntnis nehmen, wie unchristlich und verwerflich ihre dialogfernen Leitungs- und Lehransprüche gegenüber den Gläubigen sind, wie unchristlich und verantwortungslos auch ihre unkritische Gehorsamshaltung gegenüber Rom ist. Nur wenn sie an diesen Punkten umkehren, können sie einer säkular inkulturierten Gemeinde dienen. Die in der Taufe Geheiligten müssen sich deshalb die innere Freiheit erarbeiten, mit gutem Gewissen für ihre Anliegen einzutreten und gegebenenfalls den Kirchenleitungen offen zu widerstehen. Ohne die Option für einen offenen (wenn auch wohlkalkulierten) Bruch mit der noch herrschenden Autoritätskultur, also mit gezielten Taten des Ungehorsams, ist kein nachhaltiger Fortschritt zu erwarten.
Von alters her ist die christliche Gemeinde (genauer gesagt: die umfassende Gemeinschaft der Gemeinden) die letzte und die entscheidende Instanz, in der sich die christliche Botschaft immer neu verleiblicht, darum sind sie nach paulinischem Verständnis die „Heiligen“. Die Hierarchen erklären uns gerne, der Leib sei ohne sein Haupt lebensunfähig. Paulus stellt dagegen fest: „Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht.“ (1 Kor 12, 21) Sinnvollerweise werden Reformgespräche nicht zwischen Basis und Hierarchie, innerhalb und zwischen den Gemeinden geführt. Basis einer jeden christlichen Kirchenreform sind Selbstverantwortung und Eigeninitiative in den Gemeinden und in deren Gruppierungen. Unbeschadet ihres eigenen Gewissensspruchs handeln Gemeinde- und Kirchenleiter also im spezifischen Auftrag ihrer Gemeinde und nach Maßgabe von deren Glaubensverständnis. Auch das ist im Matthäusevangelium nachzulesen.[1]
Deshalb ist auch das von Justin bezeugte Wort eines Christen aus dem 2. Jahrhundert ernst zu nehmen. Er erklärte der Polizei, die ihn eines konspirativen Treffens verdächtigte: „Ohne Herrenmahl können wir nicht leben.“ Kardinal Lehmann übersetzte 2007 in einem Fastenhirtenbrief zur Ermutigung seiner Diözesanen irreführend: „Ohne Sonntag können wir nicht leben.“ Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt, denn das Recht auf die sonntägliche Eucharistiefeier bricht immer noch die klerikalen Sakramentsprivilegien des Priesters, und eine Kommunionfeier mit importierten Hostien ist, Krankheit und Notfälle ausgenommen, theologisch falsch. Das Recht zum Vorsitz beim Mahl des Herrn ergibt sich aus der Gemeindeleitung, nicht umgekehrt.
Natürlich wird nicht jede/r Referent/in diese Entwicklungen als Erfolg deklarieren. Der Papst äußert dagegen schwerste Bedenken. Nach seinem Urteil schießen sie über das vom Konzil erlaubte Ziel hinaus und sind zudem mit der gesamtkirchlichen Kontinuität nicht vereinbar. Erinnern wir uns, was wir weiter oben über die Weltnähe und die Wirkungen des Geistes gesagt haben. Wer die Schrift liest, hat dafür noch keine Garantie, dass er sie auch wirklich versteht. Ökumenische Kontakte setzen eine besonnene Solidarität mit der eigenen Kirche voraus. Vor allem beinhaltet die Begegnung mit der Welt und anderen Religionen, diese neue Welt- und Religionsnähe also, auch das Risiko einer naiven Weltbegeisterung, deren Borniertheit und Arroganz man jetzt das Mäntelchen der neuen „Freiheit der Christen“ umhängt. Schließlich ist die Rede vom neuen Selbstbewusstsein der Gemeinde ein durchaus gefährliches Wort. Mancher Pfarrer kann sein Lied von selbstbewussten Gemeindegliedern zu singen Dies alles ist mit großer Klugheit einzuüben und Kräfte der Selbstkritik und der Selbstheilung sind zu stärken. Genau diese Argumente dürfen uns nicht davon abhalten, neue – im Neuen Testament vorgezeichnete – Wege zu gehen. Papst Benedikt wäre vor lauter Angst und Traditionsbewusstsein nie durchs Rote Meer gegangen und er hätte den gefährlichen Ideen des Paulus aufs Schärfste widerstanden. Nicht ohne Grund widerstand eben Paulus dem Petrus ins Angesicht.
Schluss: Vier Folgerungen
Was also in der aktuellen kritischen Situation tun? Wo sollen wir die Spuren des Geistes, die Inspirationen einer neuen Christenfreiheit suchen? Klar muss sein: Niemand ist von vornherein gegen Deformationen durch den Welt- oder Zeitgeist gefeit. Dagegen hilft nur ein gemeinsamer Geist der Aufmerksamkeit. Dagegen helfen Gottesdienst und die stete Suche nach dem, was Menschen gut tut. Auch ist niemand gegen die Angst vor neuen Wegen gewappnet. Auch heute werden wir uns die Hände schmutzig machen, Misserfolge in Kauf nehmen und innere Leere riskieren müssen. Man lese nur das Tagebuch der Mutter Teresa. Vor diesem selbstkritischen Hintergrund nenne ich zum Schluss vier Folgerungen, die uns nicht erspart bleiben. Im Augenblick sind es nicht die Kirchenleitungen die uns, sondern sind wir es, die den Kirchenleitungen zu Hilfe kommen müssen.
4.1 Folgerung 1: Mit den Kirchenleitungen auf Augenhöhe
Natürlich nehmen Katholik/innen die Kirchenleitungen nach wie vor ernst, – vorausgesetzt, dass Frauen nicht länger ausgeschlossen bleiben. Aber die gebotene Achtung vor einem Amt lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn wir dessen Aufgaben und Funktionen zugleich an ihren Leistungen beurteilen, also auch relativieren und funktionalisieren. Auch Bischöfe müssen sich fragen lassen, ob sie glaubwürdige, legitime Gemeindeleiter oder Mietlinge sind. Bischöfe müssen sich in absehbarer Zeit wählen lassen. Die Regeln zur Wahl des Papstes sind zu revidieren und die alten Rechtsregelungen für seinen Rücktritt wieder ins Bewusstsein zu holen. Das Konzil von Konstanz (1414-1418) ist nicht länger zu verdrängen.
Vor diesem Hintergrund kann ein fruchtbares Zukunftsgespräch mit elementaren, oft vergessenen Schlüsselfragen beginnen:
(a) Welche Autorität steht den Bischöfen in Sachen Kirchenstruktur und Kirchenerneuerung überhaupt zu? Welche Teile ihres Vollmachtsanspruchs sind ihnen erst im Mittelalter, mit der Gregorianischen Reform (11./12. Jh.), dem 1. Vaticanum (1870) oder dem Antimodernismus (19./20. Jh.) zugewachsen? Wie verstümmelt ist in Sachen Amtsautorität unsere Tradition? Zu unserer Kirchenvision müssen seit dem 2. Vaticanum ja auch die Traditionselemente gehören, die im frühen Christentum und in den ersten Jahrhunderten wie selbstverständlich dazu gehörten. Erstes Schlüsselthema eines Reformdialogs ist deshalb die Frage nach Wahl und Akzeptanz von Bischöfen und Gemeindeleitern. Anders nämlich kann sich kein Gespräch auf Augenhöhe entwickeln.
(b) Warum wird wider besseres Wissen die alte, also urkatholische Regel unterdrückt, gemäß der die Ordination primär nicht zu allgemeiner Sakramentenspendung, sondern zur Leitung einer konkreten Gemeinde oder Diözese bevollmächtigt? Die Sakralisierung der Ämter hat zu einem unverantwortlichen christlichen Autoritarismus geführt. Sie wurden zum Opfer einer verdinglichten Sakralität, die man zu Zwecken der Macht instrumentalisierte. Wir erwarten Gemeindeleiterinnen und -leiter, die ihr Handeln, auch die ihnen übertragenen Aufsichts- und Kontrollfunktionen, vor der Gemeinde offenlegen, verantworten und von ihr bestätigen lassen.
(c) Wie verstehen wir den apostolischen Bekenntnissatz, dass die Gabe der Einheit, der Heiligkeit und der apostolischen Nachfolge der Kirche insgesamt, d.h. den Gemeinden in ihrer Gesamtheit anvertraut ist? Gut katholisch geht alle kirchliche Autorität von der Gemeinschaft der Getauften aus, die an Jesus Christus glauben. Deshalb ist es für das Überleben einer Kirche unabdingbar, dass wir in überschaubaren[!] Gemeinden zusammenleben, als Gemeinde regelmäßig zu Gebet und Brotbrechen zusammenkommen (Apg 2,46) und den Menschen als Gemeinde unser Zeugnis der Liebe und des Dienstes vor-leben. Dieser Grundsatz kann nicht genug betont werden, weil er im zweiten Jahrtausend konsequent unterdrückt wurde und heute als protestantisch diskriminiert wird: Die Gemeinden, nicht die Amtsinhaber sind primäre Trägerinnen aller Autorität, Verkünderinnen der Botschaft und Hüterinnen des Heils. Die Versammlungsorte der Gemeinden, nicht nur die Bischofskathedralen sind Gottes Haus. Das dritte Schlüsselthema des Zukunftsdialogs lautet deshalb: Wiederherstellung der fundamentalen Integrität und Autorität der Gemeinden, in deren Dienst die Kirchenleitungen stehen.
4.2 Folgerung 2: Alte Fixierungen überwinden
Wir, d.h. eine Riege ergrauter Konzilskämpferinnern und Kämpfer, haben einen anstrengenden Kampf geführt und führen ihn noch. Aber dass wir als Altersgenossinnen und –genossen weithin unter uns geblieben sind, hat m.E. einen Grund. Wie wir gesehen haben, muss Kritik nach wie vor sein. Aber in der Regel lässt sie es an der letzten Offenheit, an vorbehaltoser Eindeutigkeit, an argumentativer Klarheit und an wirklicher Zivilcourage fehlen. (Im ND finden sich Musterbeispiele einer Kritik, die Angst vor ihrer eigenen Courage hat.). Das führt zu Nostalgie, zu Verkrampfungen, zu Kritikzwang und zu Fixierungen. Wir verstellen uns selbst den Blick auf das, was neu gewachsen ist.
Also müssen wir uns vom einseitigen Kritikzwang befreien. Ich sehe in dieser Freiheit gegenüber den Kritisierten das Kriterium eines gesunderen und geisterfüllten Selbstbewusstseins. Wissen wir nur, wie ein Gottesdienst besser zu gestalten wäre oder gestalten wir ihn wirklich freier, freudiger, besser und mit weniger langweiligem Ernst? Dieser Kritikzwang, diese chronische Nostalgie zeugt, wie ich fürchte, von einer inneren Armut. Wir wagen es nicht, unseren eigenen geistlichen Reichtum offen nach außen zu tragen oder wir haben ihn nicht.
Das ist, wie ich vermute, auch der Grund dafür, dass innerkirchliche Reformgruppen keine jungen Mitstreiter mehr bekommen. Dafür gibt es beeindruckende Zeugnisse, den Bericht etwa eines Mitglieds der Benediktus-Generation, auf den unsere – durchaus liberal gestalteten – Durchschnittsgottesdienste genau so langweilig wirken wie auf Liturgiebewegte damals der durchschnittliche Pfarrgottesdienst. Haben wir den Mut, eigene Gottesdienste zu feiern, mit jungen Frauen und Männern etwas zu unternehmen und ihnen den notwendigern Freiraum zu bieten, damit sie ihre eigenen, inspirierten und inspirierenden Gottesdienste feiern können?
4.3 Folgerung 3: Die säkulare Welt akzeptieren
Wir kommen aus einer Tradition, die von den Fachleuten mit dem Begriff „Antimodernismus“ umschrieben wird. Dieser Antimodernismus, von Rom initiiert und von deutschen Theologen nach Kräften unterstützt, hat im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen. Er besagt: Allem, was die Moderne hervorbringt (an Menschenbildern, an Wissenschaft, auch neuen Glaubensformen und an Theologie) – all dem müssen katholischer Glaube und Kirche nach Kräften widerstehen. Manches lässt sich in dieser Form nicht mehr halten und schien durch das 2. Vatikanum überwunden zu sein. Aber Papst Benedikt ist – dem Geiste und oft auch dem Buchstaben nach – eine Wiedergeburt jenes alten Modernismus. Dieser Standpunkt ist umso fataler, als die Moderne und die Postmoderne mit ungeheurer Wucht und Geschwindigkeit unsere Gegenwart bestimmen.
Dies wäre für eine grundlegende Reform Motiv und Grund genug. Es kommt aber ein inhaltliches Argument hinzu: Die Säkularisierung hat nicht einfach den Glauben hinweggefegt, sondern deren unglaubwürdige, herrschaftssüchtige und wissenschaftlich unhaltbare Ausformulierungen überrollt. Wir müssen begreifen lernen, dass die Säkularisierung für uns eine ungeheure Chance bedeutet.
Im vergangenen Jahr ließen sich auffallend viele warnende, diagnostische und therapeutische Stimmen vernehmen. Ich erinnere an die Publikationen von F.-X. Kaufmann, Küng, Hp. Oschwald, M. Heizer/P. Hurka, H. Halbfas oder Fr. Hengsbach.[2] Sie alle zeichnen ein dramatisches Bild von der aktuellen Krise mit der Frage, ob die „Kirche noch zu retten“ sein (Küng). Inzwischen gilt die gegenwärtige Krise (man wagt es kaum zu sagen) als die tiefste und komplexeste seit der Reformation. Keine der genannten Publikationen verbindet ihre Vorschläge mit dem naiven Ziel, durch sie erwache wieder ein blühendes Volkskirchentum oder wir könnten uns in der ökumenischen Konkurrenz Vorteile verschaffen. Vielmehr lauten die reformerischen Leitfragen: Verbohren sich die Kirchenleitungen – gewiss mit besten Intentionen – nicht in ein brüchig und unglaubwürdig gewordenes System von Rechten, Lehransprüchen und Machtbefugnissen? Warum lassen sie sich erneut und unreflektiert in eine neue, sozusagen postmoderne Variante des Antimodernismus abdrängen? Wo bleiben bei ihren Reformmaßnahmen die unverbrüchlichen Kriterien der Nachfolge, Gemeinschaft und Gottesherrschaft?
Doch diese Fragen sind leichter gestellt als beantwortet. Denn die Begriffe der Nachfolge, Gemeinschaft und Gottesherrschaft, sein keine analytischen, sondern synthetische Orientierungsbegriffe, bilden sich immer neu, werden in jeder Generation neu ausformuliert als Ergebnis der ständigen Interaktion zwischen jesuanischer Erinnerung und einer nie festlegbaren Gegenwart. Sie müssen erprobt, vollzogen, in gewissem Sinne erfahren werden. In dieser Verhältnisbestimmung mag die Crux unserer Situation liegen, denn in einem lange andauernden Prozess hat sich in unserer Gesellschaft eine neue Konstellation des Denkens, des Erfahrens, der Sprache und der Symbolwelten durchgesetzt.[3] Generell beschreiben wir sie als Säkularisierung, also als sozialen Bedeutungsverlust von Religion oder als den schrittweisen Auszug von religiösen Kategorien aus unseren Lebenswelten.[4]
Dieser Prozess und dessen Auswirkungen drohen nun unsere Reformdiskussionen zu zerreißen; sie treiben uns in ungeahnte Polarisierungen. Denn Kirchenreform und die Neugewinnung einer christlichen Sprache können nicht abstrakt auf einer Neuaneignung der biblischen Botschaft bestehen; das kann auch schnell zum Fundamentalismus führen. Diese Neuaneignung ist nur möglich bei gleichzeitiger Übersetzung in eine Sprache, die aus säkularen, säkularisierten Lebenszusammenhängen lebt. Wie ist diese Doppelaufgabe zu leisten? Und werden Reformer der katholischen Kirche nicht zu Recht mit dem Vorwurf belegt, sie verlören sich in einer diesseitigen Welt, die für Gott und Transzendenz keinen Raum mehr lässt? Um es gleich zu sagen: Ich halte den Vorwurf für falsch und widerspreche solchen impliziten und ausdrücklichen Unterstellungen nachdrücklich. Wir haben sie in der vergangenen Woche aus dem Munde des von Benedikt XVI. mehrfach gehört.
Ich selbst gehe in meiner Veröffentlichung dieses Frühjahrs[5] von der Vermutung aus: Viele gängige, in vielen Gemeinden und Gruppen geführte Reformdiskussionen vernachlässigen binnentheologische und religiös orientierte Diskurse zugunsten säkularer Argumentationen, z.B. zugunsten der Menschenrechte, einer humanen Sexualmoral und geschlechtlichen Gleichberechtigung, der Ökologie oder einer sozialen Wirtschafts- und globalen Friedensordnung. Nicht als ob solche Diskurse nebensächlich wären, im Gegenteil. Aber wer sie für religiös begründet hält, muss seine Überzeugungen auch in religiösen Überzeugungen verwurzeln können.
Zudem verliert der religiös Argumentierende in innerkirchlichen Diskussionen oft Gehör und Wirkung. Viele Kirchenleitungen (zumal der katholischen Kirche) sind auf säkulare Diskurse im prinzipiellen Sinn nicht ansprechbar und viele Mitgläubige erwarten Argumente aus einer ausdrücklich religiösen Denkwelt. Benedikt XVI. etwa verurteilt in seinem Buch „Licht der Welt“ die Kritik an seiner moralischen Verurteilung von Homosexualität und das Verbot der Frauenordination zur Einschränkung der Rechte einer Kirche bzw. Religion, als „neue Intoleranz“ oder „negative Toleranz“.[6] Kardinal Marx spricht, wie wir gehört haben, u.a. aus diesem Grund von oberflächlichen Vereinsdiskussionen und für Bischof F.-J. Overbeck (Essen) sind bestimmte menschenrechtlich begründete Desiderate „nicht verhandelbar“.[7] Inhaltlich ist ihnen nicht recht zu geben, denn schließlich sind und bleiben auch Bischöfe Menschen. Aber der Argumentationsaustausch auf dem ihnen eigenen lehramtlichen „Stockwerk“ gerät schnell ins Stocken.
Deshalb ist für reformorientierte Mitchristen daran festzuhalten: Wer zentrale, für wesentlich gehaltene kirchenoffizielle Positionen in Kirchenordnung und Lehre für unhaltbar hält, sollte – schon aus Gründen der Effizienz – deren Unhaltbarkeit aus theologieimmanenten Gründen heraus darlegen. Gegebenenfalls müssen wir Kontrahenten beides darlegen: nicht nur, dass sie aus allgemein ethischen oder anthropologischen Gründen Kritik verdienen, sondern auch, dass biblische, theologiegeschichtliche und streng theologische Gründe gegen sie sprechen. Zwar sind eine wohl begründete Ideologiekritik und eine differenzierte Verdachtshermeneutik unwiderlegbar, aber oft können sie die spezifisch christlichen Impulse – also Fragen biblischen Denkens, die Erinnerung an Jesus von Nazareth oder eine christliche Spiritualität – nicht mobilisieren. Die Säkularisierung ist im Innenraum der Kirche noch nicht angekommen. Auf diese vielleicht fragwürdige Bemerkung komme ich später zurück.
Was wir bei vielen Reformbemühungen vergessen haben, so meine These, ist der Blick auf Welt und Gesellschaft, ist die Leidenschaft für Gerechtigkeit, also die Dimension des Reiches Gottes, die die Kirchendimensionen um ein Vielfaches übersteigt. Hengsbach zeigt in seinem oben genanten Buch die vielfachen Selbstbindungen und Verstrickungen nach innen, zu denen eine klerikale Kirche führt. Er spricht von der Körperschaftskirche, der Arbeitgeber- und Bürger-Kirche, der Hoch- und der Kultkirche, schließlich von der hierarchisch verfassten Männerkirche. Es ist die Kirche, die sich immer wieder ins Zentrum des Geschehens spielte und sich noch 1961 als „Mutter und Lehrerin der Völker“ begriff. Das Programmwort des Aggiornamento hat sich noch immer nicht als Versöhnung mit der Weltlichkeit der Welt angenommen. „Kirche“ und „Reich Gottes“ sind ja nicht deckungsgleich; sondern verhalten sich wie das Mittel zum Ziel. Hier ist vorzubereiten, was sich dort erfüllt. Wer die Gemeinschaft der Glaubenden zum Selbstzweck macht, pervertiert diese zu einem selbstgefälligen, aber nichtssagenden Unternehmen. Denn es steht einer Kirche nicht zu, sich in Sachen Partizipation oder Autorität, Sexualmoral oder Geschlechterwürde, Sakramentalität oder Heilsuniversalität Sonderkonditionen herauszunehmen. Die Frage nach der Relevanz einer Kirche und das Maß ihrer Reform lautet also: Gestalten wir das kirchliche Leben ohne Vorbehalt als Vorabbildung einer zukunftsfähigen, in sich versöhnten Menschheit? In diesem Sinn bietet eine säkularisierte Gesellschaft, die ihre Fragen, Nöte und Erwartungen aus sich selbst zu Sprache bringt, der Kirche die große Möglichkeit, wieder zu ihrer Aufgabe zurückzufinden.
Vorrangig gelten deshalb auch in der Kirche die biblischen Beziehungsregeln Gerechtigkeit, Frieden, Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit, und zwar so konsequent, dass alle widerstrebenden Gewohnheiten, Theorien und Regelungen gebrochen werden. Es gilt die vorbehaltlose Gegenwart der Opfer (vgl. Armut, Trauer und Verfolgung in den Seligpreisungen) sowie die Solidarität mit ihnen. Sie haben alle anderen Motivationen und Horizonte zu justieren und zu übertreffen. Und schließlich gilt die Zuversicht auf eine Wende der Zeiten (Trost, Sättigung, Erbarmen, Eingang ins Himmelreich), die nur aus der Leidenschaft für das Heil der Menschheit wachsen kann. Die Neugewinnung dieser selbstvergessenen, weil welt-ethischen, welt-heilenden und welt-versöhnenden Dimension bedeutet den Bruch mit der klerikalen Heilsegozentrik, die auch vielen Nichtklerikern eigen ist. Diese neue Leidenschaft bildet die erste Etappe auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Glaubensgemeinschaft.
4.4 Folgerung 4: Eine eigene Spiritualität entwickeln
Hier ist der Ort, endlich auf die Frage der Spiritualität zu sprechen zu kommen, die im Streit um Reformen oft vernachlässigt wird. Sie zu übergehen ist allerdings verständlich, denn um Spiritualität lässt sich nur schwer mit Klugheit streiten. Sie bildet in uns immer schon ein vorgängiges, mehr oder weniger vitales, mehr oder weniger fruchtbares Kraftfeld, das zur Grundlage ständiger Transformationsprozesse wird.[8] Spiritualität lebt in und aus Erinnerungen und Visionen, äußert sich nur indirekt in Hoffnungen oder Projektionen, in einer behutsamen Annäherung an das Unsagbare selbst. Das Problem vieler engagierter religiöser Menschen ist nicht, dass sie aus keiner Spiritualität lebten. Wir alle haben sie und leben aus ihr, offen oder unbewusst, sofern wir die Frage zu stellen wissen, wer wir sind und was uns umfängt. Ob wir in einer traditionell religiösen oder in einer der Welt zugewandten Symbolwelt zu Hause sind, ist von zweitrangiger Bedeutung. Aber viele Menschen sind sich ihrer Spiritualität nicht bewusst. Deshalb lassen sie es zu, dass sie verwildert, jeden Kompass verliert, sich in destruktive Wut oder irrealen Enthusiasmus verwandelt oder sich auf vorläufige Horizonte ausrichtet.
Die Frage ist also nicht, ob wir überhaupt spirituelle Menschen sind, sondern welche Spiritualität wir in uns zulassen oder für welche wir uns entscheiden, welche wir also in unseren Tiefenschichten wachsen lassen, pflegen, mobilisieren. Ich habe mein Plädoyer schon ausgesprochen: Wir brauchen eine neue und entschiedene Spiritualität der selbstvergessenen, auf die Menschen ausgerichteten Weltlichkeit.[9] Nur sie kann uns von autistisch innerkirchlichen Fixierungen weg- und zu einer menschenfreundlich selbstvergessenen Kirchlichkeit führen. Wir brauchen eine diakonische Spiritualität, die – schriftgemäß, prophetisch, jesuanisch – auf die Gerechtigkeit, die Nähe zu den Hungernden und Dürstenden, auf den Trost der Armen ausgerichtet ist.[10]
Allein diese säkulare, auf die Welt der Menschen gerichtete Spiritualität löst uns von einer klerikalistischen Bindung an die Sakralität von Amtsträgern und heiligen Gegenständen. Nur sie befreit uns von der typisch katholischen Verlustangst, die im Augenblick freier Entscheidungen, offener Dialoge und unerwarteter Konflikte auftritt. Es gilt also, in langfristigen Bewusstseinsprozessen den jesuanisch-säkularen Lebensgrund unserer Ziele und Motivationen zu stärken, denn er ermöglicht es uns, den langwährigen Kampf um Erneuerungen ohne Verbitterung zu führen.
„Wenn aber der Geist aus der Höhe über uns ausgegossen ist, dass wird die Wüste zum Garten, und der Garten wird zu einem Wald“ (Jes. 32,15)
„Ich taufe euch nur mit Wasser der Umkehr. Der aber nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.“ (Mt 3,11).
„Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apg 2,4).
Gliederung:
Volk Gottes
Vom Zeitgeist verderbt oder vom Heiligen Geist begabt?
Einleitung: Zwischen Ratlosigkeit und Ungehorsam
Rückblick – ein hochdramatisches Jahr / Papstbesuch: Enttäuschungen / Bischofskonferenz zerrissen / Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos / Aufruf zum Ungehorsam
I. Volk Gottes: das Risiko der Pilgerschaft
Volk Gottes /Partizipation und Zeitdynamik / Gegenseitiger Dienst / Themen der Zeit / Trauer und Angst der Menschen / Damit kommen wir zum vorgegebenen Problem / Was heißt Pilgerschaft? / Anpassung? / Das Problem / Einige Beispiele / Konservativ und progressiv? /Das Risiko bestehen
II. Geist als kritische Weltbejahung
Weltverderbnis und Geist / Kritik und Selbstkritik / Entweltlichung oder Weltüberlegenheit? / Unterscheidung der Geister
III. Die Erfolge seit 45 Jahren
Beängstigende Entwicklungen / Was bleibt? / 1. Die Neuentdeckung der Schrift / 2. Die ökumenische Begegnung / 3. Der interreligiöse und gesellschaftspolitische Kontext / 4. Das unerwartete Selbstbewusstsein der Gläubigen
Schluss: Vier Folgerungen
Folgerung 1: Mit den Kirchenleitungen auf Augenhöhe
Folgerung 2: Alte Fixierungen überwinden
Folgerung 3: Die säkulare Welt akzeptieren
Folgerung 4: Eine eigene Spiritualität entwickeln
Anmerkungen
[1] Wie bekannt, steht im Matthäusevangelium nicht nur das Wort von der Schlüsselgewalt des Kephas (Mt 16,18f.), sondern auch die Rüge Jesu: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen!“, ferner das Wort von der Binde- und Lösegewalt der Gemeinde insgesamt: Hört dein Bruder, der sündigt, auch auf zwei oder drei Zeugen nicht, „dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Alles was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 18, 16-18)
[2] Michael Ebertz, Aufbruch in der Kirche. Anstöße für ein zukunftsfähiges Christentum, Freiburg 2003; Hanspeter Oschwald, Im Namen des Heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Mächte den Vatikan steuern, München 2010; Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg 2011; Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, München 2011; Hubertus Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss, Ostfildern 2011; Martha Heizer/Peter Hurka (Hg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung, Kevelaer 2011; Friedhelm Hengsbach, Gottes Volk im Exil. Anstöße zur Kirchenreform, Oberursel 2011.
[3] Hans Küng bespricht diesen Aspekt wiederholt unter den Stichworten Paradigma und Paradigmenanalyse, so z. B. in Hans Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, München 31995, bes. 336-601; 879-899.
[4] Jürgen Habermas, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 72007.
[5] Hermann Häring, Freiheit im Haus des Herrn. Vom Ende der klerikalen Weltkirche, Düsseldorf 2011.
[6] Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010: „Es breitet sich eine neue Intoleranz aus, das ist ganz offenkundig. … Wenn man beispielsweise im Namen der Nichtdiskriminierung die katholische Kirche zwingen will, ihre Position zur Homosexualität oder zur Frauenordination zu ändern, dann heißt das, dass sie nicht mehr ihre eigene Identität leben darf, und dass man stattdessen eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht, dem jeder folgern muss.“ (S. 71)
[7] So Overbeck in mehreren mündlichen und schriftlichen Interviews im Anschluss an das Treffen von ca. 300 Delegierten am 8. Juli 2011 in Mannheim als Reaktion auf vorgetragene Desiderate.
[8] Kees Waaijman, Spirituality. Forms, foundations, methods, Leuven 2002.
[9] Johann B. Metz (Johann Reikerstorfer, Hg.), Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg 2011.
[10] Klaus Kießling (Hg.), Diakonische Spiritualität. Beiträge aus Wissenschaft, Ausbildung und Praxis; für Godehard König, Berlin 2009.
(Vortrag am 07.12.2011)