Versöhnung als religiöse und politische Tugend

Die Frage nach persönlicher, gesellschaftlicher und weltpolitischer Versöhnung wird mit neuem Interesse gestellt. Denn für eine gute Zukunft der Menschheit ist Versöhnung notwendiger denn je. Dieses Referats geht den inneren existentiellen, kulturellen und politischen Zusammenhängen in differenziertere Weise nach.

1. Mythos und Wirklichkeit (Einleitung)

1.1 Elektra: antik und modern

Wie bei vielen Themen, die mir am Herzen liegen, so erging es mir auch hier: Lange ist der Kopf voll ungeordneter Gedanken, bis sich die entscheidende Perspektive anbietet. Es war die Oper „Elektra“ von Richard Strauss in ihrer gegenwärtigen Stuttgarter Inszenierung, die vier für mich wichtige Elemente vereinigte und miteinander verband. Nicht um Versöhnung geht es in dieser Oper, sondern um Gesichtspunkte, mit denen sich Versöhnung auseinander zu setzen hat, wenn sie denn wirklich gelingen will. Es sind:
* die Grundidee der antiken Tragik, in der unausweichliche tödliche Verstrickungen zu keinem versöhnten Ende kommen,
* die schockierende Entdeckung von Freud und seinen Denkverwandten, dass unversöhnte, oft tödliche Endlosverstrickungen durch Generationen hin weiter wirken,
* die politische Realität des 20. Jahrhunderts, in der – der Auslöschung der mykenischen Familie gleich – die Unfähigkeit zur Versöhnung zu grauenhaften Konflikten bis hin zum Genozid führt. Man will Grauen durch noch schlimmeres Grauen überwinden.
* Schönbergs Moses und Aron nicht unähnlich kulminiert diese Inszenierung von P. Konwitschny in einer „Endlösung“, die sich als eine Freuden- und als eine Tötungsorgie zugleich vollzieht. Mehr als alles andere entfernt uns die Rache von jeder Versöhnung, obwohl sie das Unrecht doch wieder ins Gleichgewicht bringen soll. Unrecht lässt sich aber nicht durch neues Unrecht sühnen.

1.2 Versöhnung etymologisch:

Es geht um Versöhnung, die ich vorläufig als Rückkehr in einen Zustand gegenseitiger Annahme und Zuwendung beschreibe. Es ist ein elementarer, der Reflexion nur schwer zugänglicher Begriff, weil der damit angedeutete Prozess (bzw. dessen Verweigerung) ständig und in elementarer Weise die individuellen, sozialen und politischen Beziehungen durchzieht. Umso erstaunlicher ist es, dass die etymologische Herkunft des Begriffs nicht viel Aufschluss gibt. Als sicher gilt, dass Versöhnung nichts mit „Sohn“ zu tun hat; man macht sich in der Versöhnung niemanden zum Sohn. Deshalb sind auch feministische Vorschläge absurd, die von „Vertöchterung“ oder – noch demokratischer – von „Verschwisterung“ reden möchten. Letzteres ist ein schöner Gedanke, mit der ursprünglichen Wortbedeutung hat er aber nichts zu tun. Versöhnung hängt dagegen eng mit dem auf das Gericht bezogenen Schwesterbegriff „Sühne“ zusammen, der die Überwindung einer Schuld durch Strafe oder Wiedergutmachung meint. Ziel der Sühne ist die Wiederherstellung einer unbeschädigten Gemeinschaft (wie das niederländische „zoen“ = Kuss, dieses schöne Säkularisat des Begriffs „verzoening“ [= Versöhnung] im Niederländischen zeigt). Im Englischen spricht man von „reconciliation“, die „Wieder-vereinigung“ im wörtlichen Sinn, in religiösen Zusammenhängen von „atonement [at-one-ment])“, also dem „Eins-werden“. Dieser religiöse Zusammenhang ist wohl auch im deutschen Begriff der Versöhnung präsent, dies aus zwei Gründen:
(1) Eine umfassende, hier und jetzt vollzogene Wiedergutmachung ist oft ohne das Zusammenspiel mit einer weiteren Dimension nicht möglich.
(2) Das moralische Bewusstsein fordert nicht nur eine Versöhnung zwischen Täter und Opfer, sondern auch eine Versöhnung des Täters mit sich selbst.

Die Worte „Versöhnung“ und „Sühne“ rufen also fundamentale, der Sprachebene vorausgehende Erfahrungen von Unfrieden und Befriedung nach innen und nach außen auf. Deshalb sind diese Worte immer schon stark von den Anschauungen und Praktiken geprägt, die Kulturen an sie herantragen, innerhalb derer konkrete Religionen und Religionspraktiken Versöhnung vollziehen. Man denke an die sogenannten Opferreligionen, in denen Blut fließen muss, oder daran, dass der Sühnegedanke auch in der christlichen Religion eine zentrale Rolle spielt. Wichtig ist deshalb die Frage, wie sich der Begriff der Versöhnung verändert, wenn etwa eine Religion aus dem öffentlichen Leben einer Gesellschaft verschwindet.

1.3 Versöhnung, allgegenwärtiges Stiefkind der öffentlichen Diskussion

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert kommt in der westlichen Kultur eine zunächst unerwartete Entwicklung in Gang. Je mehr sich das Verständnis des christlichen Glaubens individualisiert und unter dem Druck der Aufklärung rationalisiert, umso mehr verschwinden Begriff und Sache der Versöhnung aus dem öffentlichen Leben. Versöhnung bleibt der religiösen, immer mehr privatisierten Welt vorbehalten und wird zunehmend als ein rein religiöser Prozess verstanden, der mit der Politik oder der Öffentlichkeit nichts zu tun hat. Das führte dazu, dass der Versöhnungsgedanke aus der Öffentlichkeit wie der Philosophie verschwunden ist, die ihn höchstens noch in einem sehr spezifischen technischen Sinn verwendet; man denke an Hegels Rede von der Versöhnung der Gegensätze im dialektischen Weltprozess. Dabei verstehe ich hier Versöhnung als einen umfassenden Prozess, der die Bitte um Vergebung sowie das Angebot von Vergebung umschließt.

Nun fällt auf, dass der Begriff heute – zusammen mit der Bitte um Entschuldigung – eine Renaissance erlebt. 2001 schrieb H. Lübbe ein kleines und streitlustiges Buch mit dem Titel: „Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual“ (Berlin). In der Tat hatte sich im politischen Leben unbemerkt ein neues Ritual eingestellt, das sich nicht auf persönliches Verhalten, sondern auf historische Taten und Ereignisse bezieht. In den vergangenen Jahrzehnten begannen Staatsmänner, sich für die Taten früherer Generationen zu entschuldigen: Präsident Clinton etwa entschuldigte sich für die Sklaverei, die kanadische Staatsführung für das Verhalten gegenüber den Ureinwohnern; Japan entschuldigte sich (nach politischem Druck) bei China für die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, die russische Staatsführung bei den Opfern des Stalinismus, der Papst für die Untaten gegenüber den Juden, Deutschland in vielfältiger Weise bei den Opfern des Krieges, des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung. Willy Brandt wurde ironisch „Pionier des Bußrituals“ genannt.

Wie aber sollen wir heute auf der Schwelle der religiösen zur politischen Welt mit Versöhnung umgehen? Ich persönlich teile Lübbes ironischen Ton nicht, wohl wissend, dass sich solche Rituale ebenfalls instrumentalisieren lassen und dass man sie ständig instrumentalisiert. Man kann sich entschuldigen, um anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen oder um seine Stelle zu behalten, um rein formal einer Forderung nachzukommen oder um die Strafe zu mildern. Aber der Akt der Entschuldigung und Versuche zur Versöhnung gehören zu den wichtigen Grundvoraussetzungen, die ein Zusammenleben ermöglichen, weil sie die kleinen Missverständnisse, Ungehörigkeiten und Fehler entgiften und weil sie helfen, mit den großen Katastrophen des Lebens besser umzugehen. Wir wissen auch, dass manch naheliegende Entschuldigung nicht ausgesprochen wird. So entschuldigt sich die Bundesrepublik Deutschland nicht bei den Herero für das Verhalten des Deutschen Reichs während des Aufstandes in Südwestafrika/Namibia (1904-1907), weil man Schadensersatzansprüche fürchtet. Entschuldigungen sind also keine leere Formeln, sondern bilden die Grundlage für weitere Handlungen, denen man sich nicht einfach entziehen kann oder sollte. Wir wissen auch, welch enorme Wirkung der Kniefall von Willy Brandt auf das deutsch-polnische Verhältnis hatte. Entschuldigung und Versöhnung, so sehr man sie auch in religiöse Gefilde abdrängen möchte, sind Akte von enormer politischer Valenz.

Mehr noch, eine Entschuldigungspraxis wird in demokratischen Verhältnissen geradezu unverzichtbar, denn Demokratie meint eine Form des Zusammenlebens, in der wir nicht nur auf Grund vergleichbarer moralischer Regeln zu behandeln sind, uns nicht nur formal als gleichberechtigt ansehen, sondern auch diese Gleichheit realisieren, Unrecht ausgleichen und uns zu getanem Unrecht verhalten wollen. Dies geht nicht ohne die Bitte um Entschuldigung. Ein solcher Ritus hat also einen fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Sinn. Die Reaktion von Hermann Lübbe aus dem Jahr 2001 zeigt, dass über die Hintergründe der Frage ausführlicher gesprochen werden muss.

2. Eine Welt der Unversöhnten – Gerechtigkeit als statischer Begriff

2.1 Neuzeitliche Rationalität

Bislang haben die Demokratien dieses Ideal versöhnter Gesellschaften noch nicht erreicht. Im Gegenteil, wir leben in einer Welt der Unversöhnten. Ist das keine pauschale, geradezu nichtssagende Behauptung? Sagen wir es also genauer und beschränken wir uns auf unsere eigene Geschichte: Gewiss, es gab und es gibt wohl keine Epoche wirklicher und umfassender Versöhnung. Christlich gesprochen wäre das der Beginn von Gottes endgültigem Reich. Aber über Jahrhunderte hin hatte die westliche Kultur ihre eigenen religiös untermauerten Wege entwickelt, auf denen sie mit dem Schmerz des Nicht-Versöhnt-Seins umgehen konnte. Einerseits hat sie für den gegenseitigen Umgang strenge Regeln geschaffen, die auf den Glücksfall selbstbewusster, leistungsfähiger und erfolgreicher Menschen hinführten, von Menschen, die sich im letzten von Gott gehalten und in ihm versöhnt wussten. Zwar verliefen solche Wege nie ohne Härte, oft genug mit Brutalität, denn meistens dominierte der Komment derer, die in einem Gemeinwesen, in einem Land oder unter einer Herrschaft das Sagen hatten. An konkret vollzogener Versöhnung mangelte es also an allen Ecken und Enden. In den entstehenden Stadtkulturen wusste man damit sublimer umzugehen, denn größere Räume der Selbstdarstellung ließen größere Räume des Gewährens zu. Doch konnte sich unter ihren Tischen auch mehr an nicht Aufgearbeitetem ansammeln als in Dorfkulturen, die ihre Konflikte schneller und direkter ausagierten. Aber letztlich waren alle – die Armen und die Kranken, die geistig oder leiblich Behinderten sowie die schuldig Gewordenen – von einer Atmosphäre letztmöglicher Versöhnung umgeben. So beließ man ihnen auch eine letzte Würde vor Gott und wies ihnen in der Gesellschaft einen Ort zu, auch wenn ihn sich niemand wüschen konnte. Die religiösen Wurzeln der Versöhnung blieben noch lange Zeit präsent; sie gründeten im Glauben an einen Gott, der ohne Ausnahme und Vorbehalt allen seine Versöhnung anbot. Sosehr man Vertröstungsillusionen auch einsetzte und missbrauchte, im letzten brauchte niemand aus dem Rahmen von Gottes Güte zu fallen.

Allerdings kamen seit dem 18. Jahrhundert drei Faktoren ins Spiel, die miteinander zusammenhingen und diesen umfassenden Rahmen allmählich aushöhlten. Ich nenne sie religiöse Individualisierung, privatisierte Religion sowie eine aufgeklärt regelnde Vernunft.

Religiöse Individualisierung nenne ich den Impuls, den die Reformation in unsere Kultur eingebracht hat. Zwar hat nach dem Urteil vieler Luther die Welt entdeckt und dem mönchischen Zugriff entzogen, aber er entdeckte sie eben als eine weltliche Welt, der die Innerlichkeit des religiösen Individuums jetzt als der eigentliche Raum der Gottesbegegnung gegenüberstand. Im Sinne Luthers spielt sich die Rechtfertigungslehre als existentielle Suche nach meinem(!) gnädigen Gott ab.

Eine privatisierte Religion (die mit dem reformatorischen Impuls zwar zusammenhängt, mit ihm aber nicht identisch ist) wurde durch die Interessen- und Machtpolitik der jetzt entstandenen christlichen Konfessionen nach Kräften, wenn auch wider Willen gefördert. Die Überzeugung, dass Religion aufs Private zu beschränken sei, ließ sich nicht mehr zurückdrängen, denn so wie im Dreißigjährigen Krieg konnte es schließlich nicht mehr weitergehen. Je mehr aber der öffentliche Raum religiös brach lag, umso mehr fand sich dort für Versöhnung kein Anhalt mehr. Was durch Recht und Gerechtigkeit nicht zu regeln war, wurde jetzt gesellschaftlich nicht mehr bearbeitet. Natürlich sehnte man sich weiterhin nach Versöhnung, aber diese Sehnsucht wurde einseitig vertikalisiert, vollzog sich also im intimen Innenraum von „Gott und meiner Seele“ (Augustinus). Der Satz der Schrift: „Lasst euch mit Gott versöhnen“ (2 Kor 5,20) wurde jetzt als ein privates Geschehen interpretiert. Der katholische Brauch der im Halbdunkel gelispelten Sündenbekenntnisse sowie eines magisch verborgenen „Ego te absolvo“ („Ich vergebe Dir Deine Sünden“) bekamen für diesen Prozess des Wirklichkeitsverlustes symbolische Bedeutung.

Schwerer wiegt schließlich die aufgeklärt regelnde Vernunft. Je mehr sich in unseren Gesellschaften die Prinzipien neuzeitlicher Rationalität durchsetzten, umso mehr wurden unsere Gesellschaften und Staatsgebilde geregelt. Flächenstaaten entstanden mit einer gut geregelten Bürokratie, die sich bei wachsendem Gerechtigkeits- und Regelungsbedarf siegreich durchsetzte und unter demokratischen Bedingungen übermächtig wurde. Man sah im Reform- und Verwaltungseifer nicht, dass eine jede rational effiziente Verwaltung bestimmte Gruppen, Phänomene oder Anliegen aus unserer Gesellschaft schlicht und einfach ausschloss, weil sie nicht mehr ins System passten, ausschließen musste, weil nie alles ins System passen konnte. Denen, die ihre Steuerfragen mit dem Elsterprogramm regeln, haben dafür gutes Anschauungsmaterial. Was nicht in eines der vielen Kästchen passt, existiert einfach nicht, kann auch nicht auf einem Sonderblatt hinzugefügt werden. So wurde aus der selbstverständlichen Gegenwart verschiedenster Gruppierungen in einem Gemeinwesen deren kontrollierte Daseinserlaubnis. Auch die Regeln der Demokratie gelten nur für diejenigen, die erfassbar sind. Ohne Wohnsitz, ohne einen bestimmten Bildungsstand sowie ohne bestimmte Verhaltensweisen gibt es keine Zugehörigkeit. Eine Gruppe, die ein den Verwaltungsbeamten verschlossenes Schriftsystem (etwa das Hebräische) benutzt oder überhaupt kein Schriftsystem kennt, verliert auf Dauer seine Daseinsberechtigung. Betroffen sind so verschiedenartige Gruppen wie die „Irren“ und Homosexuellen, die Obdach- und Mittellosen, die Herumziehenden oder Migranten, die Juden oder sonstige Andersgläubige. Der Kreislauf von Ausschluss und Aggression lädt sich dann umso mehr auf, als die Bürokratie auf Ordnung besteht und in ihrer Ordnung die einzige Möglichkeit der Akzeptanz sieht (Zygmunt Bauman). Da diese regelnde Rationalität jetzt als umfassendstes Ordnungsprinzip gilt, haben die diskriminierten Gruppen keinen Anspruch mehr auf Entschuldigung oder Versöhnung.

Gesellschaftspolitisch hatte dies im Laufe von drei Jahrhunderten nachhaltige Auswirkungen. Die Betroffenen begriffen sich ihrerseits als kulturell, gesellschaftlich oder wirtschaftlich zu definierende Gruppierung; dadurch entstanden neue Legitimationen, die Versöhnungen teilweise ersetzen. Sie organisierten sich und fanden dafür in den entstehenden Demokratien Legitimationen. Wir können Demokratie ja nicht nur als Ausdruck grundsätzlicher Gleichberechtigung und Verständigung verstehen, sondern auch als eine Arena, in der Rivalitäten und Gegensätze mit Würde ausgetragen werden. Zunächst schien es so, dass Begriffe wie Entschuldigung und Versöhnung überflüssig wurden, denn dem System der ordnenden Machtverteilung wird jetzt eine mythische Würde zugesprochen (nach jeder Wahl wird davon geredet, was denn der „Wille des Wählers“ sei, wie „der Wähler“ also gewählt habe). Die Gerechtigkeit aber erhält als Ergänzung neben der Gewalt nicht mehr die Begnadung, und „die Gnade allein“ bleibt nicht mehr die letzte Sinnantwort, sondern die Gewalt bleibt (leider in Anlehnung an die Vorstellung vom Letzten Gericht) als einziger Ausweg übrig. Über dem Eingangstor des französischen Justizministeriums in Paris (gegenüber dem Pont St. Michel) ist noch immer die martialische Inschrift aus Zeiten der Französischen Revolution zu lesen: „Gladius custos legis“ („Das Schwert bewacht das Gesetz“). Wenn man daran denkt, dass einst Gott selbst als Garant von Recht und Ordnung galt, kann man sich die katastrophalen Auswirkungen auf das abendländische Gottes- und Gesellschaftsbild vorstellen. Die Gewaltorgien des 20. Jahrhunderts kommen nicht von ungefähr.

Gewiss, man konnte und kann die humanisierenden Aspekte einer rationalisierten Gesellschaftsperspektive auch darin erblicken, dass sich die unversöhnten Widersprüche der Gesellschaft (die von Hegel und von Marx als Versöhnungsproblematik angesprochen wurden) jetzt als freies Spiel innergesellschaftlicher Kräfte organisieren ließen. Es ging zum Beispiel um das Proletariat, das nicht im Besitz der Produktionsmittel war. Damit schien ein Ausweg aus dem Elend und ein Weg zur Versöhnung der Gesellschaft gegeben zu sein. Aber die gesellschaftlichen Folgen dieser Konzeption sind bekannt: Eine revolutionäre Versöhnung schloss Gewalt und das Spiel mit Menschenleben nicht aus. Die Konzentration auf den Klassengegensatz zwischen besitzender und arbeitender Bevölkerung degradierte andere Gruppierungen zu Zielscheiben einer unkontrolliertem Willkür, die sich als administrative Rationalität tarnte. Ich nenne hier nur die Juden. Im Namen einer unbarmherzig gewordenen Vernunft wurden auch die Vergasten in den Vernichtungslagern minutiös registriert. Von den Niederlanden, so wird erzählt, sagte man einer Mutter angesichts ihres kleinen sterbenden Jungen: Auch wenn ein jüdisches Kind nur noch eine Stunde lebt, es ist zu registrieren.

Die Wahrheit wird so zur statistischen Zahl, Fragen des Elends und der Demütigung werden in Verwaltungskonstellationen transformiert. Bei diesem nur noch rechnenden Gesellschaftsmodell bleibt ein ungelöster und unlösbarer Rest. Die europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bestanden nicht einfach darin, dass es in hohem Ausmaß Macht und Gewalt gab, sondern darin, dass Vernichtung ihr letztes Wort blieb. Sie bestanden darin, dass Macht, Gewalt und Vernichtung als sinnvolle Wege zum gesellschaftlichen Fortschritt gerechtfertigt wurden. Das war gewiss nicht im Sinne der wohlorganisierten christlichen Kirchen, doch wie bekannt, wussten auch sie dem organisierten Verbrechen kaum ein wirksames Wort entgegenzusetzen.

2.2. Was uns eine tragische Weltsicht zu sagen hat

Wir sehen uns also mit zwei Tatsachen konfrontiert: Unsere Geschichte steckt voller unversöhnter und unversöhnlicher Widersprüche und der Horizont einer auf Vergebung beruhenden Versöhnung ist verschwunden. Hinzu kommt eine dritte Tatsache: Christliche Theologie und Verkündigungen versuchten uns lange klarzumachen, dass die tragische Weltschau der Antike überwunden sei, weil uns Christus doch erlöst habe. Im Grunde wird damit der Widerstandsgeist gegen Unrecht und Schuld geschwächt.

Deshalb komme ich noch einmal auf Elektra und deren Verstrickung in eine Kette von Schuld und Verderben zurück. Ich erinnere etwa an Sophokles, für den das Schicksal in tödliche und unauflösliche Widersprüche führen muss. Schon Klytämnestra ermordet ihren Ehegatten Agamemnon, weil dieser ihre Tochter um eines erfolgreichen Krieges willen geopfert hatte. Sie ist also nicht nur die ungetreue und triebgesteuerte Ehefrau, sondern vollzieht eine gebotene Rache. Dennoch sehen sich Elektra und Orest in der Pflicht, den Gattenmord ihrer Mutter zu rächen. Dies geschieht durch Muttermord, ebenfalls ein unverzeihliches Verbrechen, das selbst wieder zur Katastrophe von Täterin und Täter führt. Das alles kommt uns bekannt vor, denn Geschichten der Blutrache, die Geschichten von Erb- und Klassenfeinden durchziehen auch unsere Epochen. Die Behauptung, das Christentum habe eine tragische Weltanschauung ins Unrecht gesetzt und überholt, ist nicht einfach falsch, aber viel zu einfach. Worauf man uns nicht hingewiesen hat, das sind die katastrophalen, unaufhaltsamen, sich immer steigernden Kreisläufe der Welt, die alle Gemeinschaften, Völker und Geschichtsabläufe im Griff haben. Immer dasselbe Spiel: Erinnerung an ein Unrecht, das die Opfer zu rächen bzw. zu sühnen gedenken. Immer wird Versöhnung mit Vernichtung verwechselt, weil man im Grund alle Erinnerungen auslöschen will, die einem unangenehm werden könnten. Die schon genannte Stuttgarter Inszenierung von Elektra lässt nach der Erschlagung oder Erschießung von Klytämnestra und ihres zweiten Mannes Ägist das Spiel in eine Orgie des Massenmords ausbrechen. Denn jetzt sei alles Blut gesühnt und – das ist das Problem! – kein Zeuge des Alten dürfe den Beginn des Neuen stören. Die aufblitzenden Lichtstrahlen sind so, dass man nicht weiß, ob es die Feuerkränze von Zerstörungswaffen oder die bunten Lichtkreise eines Feuerwerks sind. Freude erstarrt – dem Tanz ums Goldene Kalb bei Moses und Aron vergleichbar – in einer blutrünstigen Hysterie. Die Assoziationen an den Kosovo und an die neue Weltordnung eines G. W. Bush lässt der Regisseur bewusst zu. Der Streit um die Frage, ob eine tragische Weltsicht überholt sei, bringt uns deshalb nicht weiter. Wir haben uns zuerst mit dieser durch und durch tragischen Welt auseinander zu setzen. Erst dann wissen wir, was Christen ihrem Gott und sich selbst an Erlösungsarbeit schuldig sind.

2.3. Ein psychoanalytischer Zugang (Elektra)

Zugegeben, die großen Weltperspektiven sind nicht mehr Sache der gegenwärtigen Epoche. Man hat sich in sein Scheckenhaus zurückgezogen und sorgt sich um sein persönliches Glück. Euphemisch wird von einer „neuen Bürgerlichkeit“ gesprochen. Doch was einen da erwartet, ist nicht viel besser: Hinter gut geschmückten Fassaden zeigt sich allüberall das, was man gedämpft mit dem Wort Verstrickungen umschreibt. Wir sind mit Problemen überladen, weil es die Probleme meiner Eltern waren, und sie hatten ausweglose Probleme, weil sie wiederum Kinder ihrer Großeltern sind. Auch in der Psychotherapie ist der Optimismus der rationalen Aufarbeitung vielfach verflogen; eine klassische Psychoanalyse kann Jahre beanspruchen. Die Kinder, die sich endgültig von ihren hoffnungslos verqueren Eltern lossagen, weil sie sich endlich befreien möchten, bemerken irgendwann, dass sie in derselben Falle stecken. Die Lossage aus der Vergangenheit beschert ihnen umso mehr Probleme, da der Widerspruch gegen die Eltern und die Vorgängergeneration immer auch Selbstwiderspruch bedeutet. So zeigt sich, dass die weltgeschichtlichen und gesellschaftlichen Unglücksketten nur ein Abbild, nur eine Funktion, nur eine Erweiterung der persönlichen Ketten von Verletzung und Rachedurst sind. Keine der bekannten Methoden bringt endgültige Befreiung. Am meisten ermöglicht es noch die Kunst, sein eigenes Geschick, seine Eltern und all die vorgegebenen Verstümmelungen anzunehmen. Diese Kunst grenzt schon an religiöse Dimensionen. Wo und in welchem Augenblick aber solche Annahme seiner selbst und der anderen in eine billige Ergebung übergeht, ist ebenso schwierig festzustellen wie die Grenze, von der ab eine solche Zumutung die Betroffenen überfordert.

Die Analogie dieser Kinder-Eltern-Probleme zu späteren zwischenmenschlichen und zu politischen Beziehungen ist bekannt: Auch hier erfordert Versöhnung den Weg auf einem schwer einzuhaltenden Grat zwischen Arroganz und Untertänigkeit, zwischen ichbezogener Selbstbehauptung und Identitätsverlust. Autoritäre und ihnen entsprechende untertänige Charaktere bringen aber keine Besserung. Versöhnung wird nur in einem komplizierten und zugleich stimmigen Geflecht von vielen Faktoren möglich, in dem Selbstbewusstsein respektiert und Demut nicht gescheut wird, das Individuen und kleinere Gruppen nicht einfach dem Diktat der Mehrheit ausliefert und sie nicht ins Nichts der Selbstvernichtung absinken lässt. Nur eine so stabilisierte Gesellschaft gibt Aussicht auf Freiheit und Erfolg, wie wir umgekehrt nur dann auf eine versöhnte Umwelt hoffen können, wenn sie von halbwegs geheilten und versöhnten Menschen aufgebaut wird. So hat an diesem Punkt eine abstakte Beschwörung von Vergebung und Versöhnung nur wenig Sinn. Wie also können wir ohne Vergebungszusagen aus diesem Kreis der Teufelskreise herauskommen?

3. Versöhnung als gesellschaftspolitische Wirklichkeit

3.1 Wahrheitskommissionen

Lange Zeit gab es keine Aussicht auf einen Ausweg aus dieser bedrückenden Situation. In einer Epoche, da die Welt im Ost-West-Konflikt zu erstarren schien, und da sich im Westen eine Diktatur nach der anderen etablierte, ereignete sich ein unerwarteter Umschwung. Seit Ende der achtziger Jahre erhielt der Gedanke der Versöhnung einen neuen politischen Stellenwert, den niemand voraussah. 1998 begann die Diktatur Chiles (1973) zu zerbröckeln, aber die Gesellschaft war zerfallen, in Opfer und Täter gespalten. Weder das Politik- noch das Rechtssystem war imstande, in dieser Situation der Feindschaften Frieden und Versöhnung zu schaffen. Das neue Regime richtete eine „Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit“, die „Rettig Kommission“ ein. Bekannter und zum Modell vieler anderer Kommissionen wurde die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission) zur Untersuchung von politisch motivierten Verbrechen, die während der Zeit der Apartheid begangen wurden. Sie geht auf eine Initiative des ANC zurück, wurde 1995 vorbereitet und im Januar 1996 von Präsident Nelson Mandela eingesetzt. Vorsitzender der Kommission war Bischof Desmond Tutu. Die Kommission arbeitete bis 1998, also insgesamt zwei Jahre. Diese zeitliche Begrenzung war umstritten, aber wohl auch klug gewählt. Zwar konnten bei weitem nicht alle Verbrechen aufgearbeitet werden, aber eine Überfülle von exemplarischen Fällen wurde bekannt. Genau darauf kam es an. Opfer und Täter wurden in einen Dialog gebracht; die jeweils Anderen wurden gehört und wahrgenommen. Nach dem Vorbild von Mahatma Ghandi sollte es um diese Wahrnehmung, nicht um Konfrontation gehen. Neben der Aufklärung von Verbrechen (Ausschuss 1) ging es um die Entschädigung der Opfer (Ausschuss 2) und Gewährung der Amnestie für Täter (Ausschuss 3). Sämtliche Anhörungen waren öffentlich. Im Oktober 1998 wurde der Abschlussbericht vorgelegt.

Alle diese Elemente sind unverzichtbar: Soweit möglich, muss nämlich die Wahrheit ans Licht, müssen die Täter ihr Unrecht einsehen und um Entschuldigung bitten, müssen die Opfer ihre Würde zurückerhalten und zur Vergebung bereit sein, muss die Versöhnung öffentlich werden. Dabei lässt sich die Abfolge der Schritte nicht in ein „erst du, dann ich“ versachlichen. Sie bleiben nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch ineinander verschränkt. In der Regel mag die Bitte um Entschuldigung der Vergebung vorangehen, oft aber macht Vergebungsbereitschaft es den Tätern erst möglich, sich zu bekehren und zu ihrer Schuld zu stehen.

Vergleichbare Kommissionen wurden später in vielen Ländern eingesetzt. Zu nennen sind Argentinien (2003), El Salvador (1992), Fiji (2005), Ghana (2006), Guatemala (2003), Liberia (2006), Marokko (2004), Panama (2005), Peru (2003), Sierra Leone (2002), Südkorea (2000), Ost-Timor (2005) und die Vereinigten Staaten (Greensboro Massaker von 1979: 2005). Für den Irak wurde die Einrichtung einer vergleichbaren Kommission vorgeschlagen.

Diese Kommissionen haben mit unterschiedlichem Erfolg gearbeitet und man kann nicht behaupten, sie hätten alle Erinnerung entgiftet und deren Folgen unschädlich gemacht. Aber dort, wo sie ehrlich arbeiteten und nicht instrumentalisiert wurden, haben sie geholfen. Böse Vergangenheiten wurden aufgearbeitet. Sie haben gezeigt, dass Täter und Opfer nicht bei einem statischen Rechtsverständnis verharren müssen, dass festgelegtes Recht nur in bestimmten Grenzen Versöhnung bringt. Diese Kommissionen zeigten auch, dass ihr Ansehen immer von bestimmten Personen abhängt. Für die Anerkennung der südafrikanischen Wahrheitskommission etwa war entscheidend, dass zwei Personen von höchster Integrität für die Glaubwürdigkeit der Kommissionen sorgten: Bischof Tutu als ihr Vorsitzender und Mandela als damaliger Staatspräsident. In anderen Fällen ist nie auszuschließen, dass eine so sensible Institution missbraucht wird, dann etwa, wenn die nach wie vor Herrschenden die Unterlegenen dazu aufrufen, sich mit ihrer Situation endlich zu versöhnen, sprich abzufinden. Das scheint im Augenblick in Marokko der Fall zu sein.

Insgesamt aber hatten und haben solche Kommissionen eine entgiftende, eine heilende Funktion im besten Wortsinn. Wir würden ihren Sinn aber nicht hinreichend begreifen, wenn wir sie auf ein außerordentliches Mittel in außerordentlicher Zeit reduzierten. Natürlich erhalten sie in extremen Umbruchzeiten ihre besondere Bedeutung, aber sie zeigen nur in besonders klarer Form, was einer jeden Gesellschaft und Gemeinschaft – manchmal ausdrücklich, bisweilen in implizit verlaufenden Prozessen – gut tut. Es geht nie ohne Erinnerung, ohne Gespräche zwischen Bevorzugten und Benachteiligten, nie ohne den Augenblick, an dem der Täter dem Opfer oder dessen Angehörigen wenigstens in die Augen sieht, nie ohne Markierungspunkte des Verstehens, des Vergebens und eines neuen Einverständnisses, das zuvor zerbrochen war. Es geht wohl auch nie ohne symbolträchtige Zeichen, die im kirchlichen Raum als Sakrament(e) der Vergebung institutionalisiert sind und in denen die zerbrochenen Beziehungen mit anderen Menschen wieder ausdrücklich, mit Zeit und Ort feststellbar aufgenommen werden.

3.2 Vergangenheitsbewältigung in Deutschland

Am Beispiel Deutschlands zeigt sich, dass auch Länder mit langen Friedensperioden und mit sozial stabilen Verhältnissen ständig einer entgiftenden Erinnerung und ausdrücklicher Vergebungsmomente, dokumentierter Versöhnung nach außen und nach innen, bedürfen. Die Marksteine teils gelungener und teils ausstehender, teils erreichter, teils zu leistender Versöhnung sollten nicht vergessen lassen. Auch Deutschland hat eine lange und schmerzhafte Phase der Versöhnung zum Teil hinter, zum Teil vor sich. Auch in der deutschen Geschichte der vergangenen Jahrzehnte ging es darum, glaubwürdig Schuld einzusehen und um Vergebung zu bitten, das Angebot der Betroffenen (von in- und ausländischen Mitbürgern oder von anderen Völkern) anzunehmen und sich auf diesem Weg selbst mit einer Vergangenheit zu versöhnen, von der wir uns nicht einfach wie von einem fremden Geschehen absetzen können.

Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der EKD (19. Okt. 1945) hat dafür über die Evangelischen Kirchen hinaus Maßstäbe gesetzt. Über den schwierigen und glücklich verlaufenen Versöhnungsprozess mit dem jüdischen Volk wäre ein eigener Vortrag zu halten. Als Modell politischer Aussöhnung innerhalb Europas kann das Verhältnis zu Polen gelten (s. Dokumentationsband einer Veranstaltung vom Okt. 2005 „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“). Die Lektüre der dort dokumentierten Texte und Berichte macht noch einmal deutlich, wie schwierig (und immer auch umstritten) ein jeder Schritt war, der da gesetzt wurde. Versöhnung ist kein abstraktes Geschäft um Raum weltabgehobener Frömmigkeit. Rechtliche Probleme waren zu lösen oder wenigstens besprechbar zu machen (etwa die Oder-Neiße-Linie). Höchst vielfältig waren die Interessen, die es plötzlich zu berücksichtigen und zu bündeln galt. Bis heute sind die Nachwirkungen noch nicht abgeschlossen; selbst in der offiziellen Politik zwischen den beiden Staaten brechen sie immer wieder auf. Dennoch gilt das Gesamturteil, dass die Versöhnung gelungen und nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Am wichtigsten scheint mir aber auch hier, dass es zunächst bestimmte, als integer geltende Personen und Gruppierungen waren, die keine unmittelbaren Interessen vertraten, sondern zwischen den Gruppierungen glaubwürdig vermitteln konnten: 1965 erschien aus den Reihen der EKD die sogenannte Ostdenkschrift („Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“), verfasst unter dem Vorsitz von Wilhelm Raiser. Im selben Jahr ergriff der polnische Episkopat die Initiative unter dem Motto „Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung“. Nach einigem peinlichen Zögern antwortete der deutsche Episkopat. Es waren Minderheiten, die zeigten, dass ein Weg der Versöhnung wenigstens initiiert werden kann. Nach einiger Zeit (und einigem Erschrecken) schlossen sich die großen Parteien diesem Weg an.

Zu erwähnen sind die vielen großen und kleinen Aussöhnungsprozesse, die in zeitlich großen Verschiebungen mit anderen Nachbarvölkern initiiert wurden und immer noch im Gang sind. In Kleve brauche ich darüber nichts Besonderes zu berichten; Initiatorinnen und Initiatoren solcher Versöhnung sind unter uns anwesend. Dass eine solche Versöhnung nicht mit einem Federstrich geschehen kann, wurde erst allmählich klar, als immer neue Fälle des Unrechts und immer neue Opfergruppen bekannt wurden, die Homosexuellen, die Sinti und Roma, die körperlich und geistig Behinderten, die ermordet wurden, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die im Krieg zu Krüppeln Geschlagenen, die zu Unrecht Enteigneten …

Ich persönlich war in den vergangenen Monaten sehr erschrocken, als mir klar wurde, wie sehr noch andere vergiftete und vergiftende Erinnerungen unsere jüngste Geschichte belasten; offensichtlich sind sie bis heute nicht bewältigt. Unversehens waren die Morde an Siegfried Buback (7. April 1977) und Hanns-Martin Schleyer (18. Oktober 1977) wieder präsent, als eine öffentliche Diskussion über die Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt (25. März 2007) und die Begnadung von Christian Klar aufbrach. Auch dies ein Beispiel fortgesetzter und immer neu schuldhafter Verstrickung. Die RAF repräsentiert ja keine Unheilsgeschichte, die aus heiterem Himmel begann, vielmehr ist auch sie aus einer vergifteten Erinnerung an den Nationalsozialismus, etwa der Erschütterung durch die Auschwitzprozesse, entstanden; die Empörung über den Vietnamkrieg kam hinzu. Dass Christian Klar bei der ersten Frage nach seiner unglücklichen Erklärung, statt endlich etwas zu bedauern, an die Bombardements von Belgrad erinnerte, zeugt nicht gerade von seiner Reue, wohl aber von der Tatsache, dass Geschichten der Versöhnung initiiert werden müssen, um die existierenden Geschichten der Rache zu unterbrechen. Teufelskreise knüpfen aneinander an und jede Verknüpfung kann sich vom Rechtsgedanken etwas leihen.

Gerade an den deutschen Diskussionslinien, die sich um unselige Erinnerungen ranken, ist ein weiteres fatales Gesetz zu entdecken: Je mehr eine Kultur auf Verantwortlichkeit und moralische Regeln, auf Recht und Gerechtigkeit ausgerichtet und auf sie stolz ist, umso unversöhnlicher können solche Diskussionen werden. Genau daraus ergibt sich eine Frage an die monotheistischen Religionen und ihre moralisch hohen Standards. Ermöglichen sie mit ihrem Menschenbild nicht auch einen selbstgerechten Interpretationszirkel, den sie kaum mehr verlassen können? Schafft nicht gerade das Wissen um die menschliche Freiheit und Schuldfähigkeit, um Gottes unabänderlichen Willen und unabdingbare Regeln des Zusammenlebens nicht auch die Illusion, dass wir Monotheisten alles berechnen, nach Gut und Böse abzirkeln und dafür sorgen können, dass unser eigenes Leben in überprüfbarer Weise in Ordnung ist?

Betrachten wir die Entwicklungen Israels, mancher Länder aus dem muslimischen und aus dem christlichen Kulturkreis, dann lässt sich diese Gefahr nicht bestreiten. Wir verhaken uns ineinander, dies ausgerechnet im Namen der Gerechtigkeit, die doch zu den höchsten Gütern dieser drei Religionen gehört. Aus religiöser Innenschau geht uns leicht die (an sich richtige) Antwort über die Lippen, Versöhnung brauche Religion, weil sich die Zirkel von Selbstbestätigung und Unrecht nur von außen, von einem Jenseits her, aufbrechen lassen. Mit ebenso guten Gründen neigt aber die religiöse Außensicht der gegenteiligen Antwort zu: Nach aller Erfahrung brauchen gerade die hochmoralischen Religionen selbst eine Versöhnung, woher sie immer auch kommt. Die Gerechtigkeitszirkel dieser Religionen schaffen oft massive Mauern der Selbstgerechtigkeit, weil Gerechtigkeit und religiöse Identität eine unreflektierte Symbiose eingehen können. Leider wird dieses Problem von Religionsvertretern gerne übersehen. Mich brachte in dieser Frage ein kluger Hinweis von scheinbar anderer Art weiter: Er lautet, dass jede Religion nur so gut sei wie die Menschen, die eine Religion leben. Für uns heißt das, dass es Religionen an sich nicht gibt. Zwar gibt es religiöse Erinnerungen, Traditionen, Ideale und Vorschläge zur Weltinterpretation, die wir mit Judentum, Christentum, Islam oder vielleicht Buddhismus umschreiben. Solche Erinnerungen und Traditionen entlasten uns aber nicht von der Frage: Welche Positionen beziehen wir – bei täglich neuen Situationen – im unendlichen Gewirr von gutem Handeln und Versagen, von Selbstbestätigung und Selbstdistanzierung, von Solidarität mit den Opfern und Mitleid mit den Tätern, von Eifer für die eigene Überzeugung und Abscheu von deren Missbrauch?

Dürfen wir (um bei einem Beispiel zu bleiben) durch unsere Parteinahme für die polnischen Opfer die Opfergeschichten von deutschen Vertriebenen relativieren und umgekehrt? Dürfen katholische Christen durch harte Kritik am Verhalten der katholischen Hierarchie während des Nationalsozialismus die Solidarität mit ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft in Zweifel ziehen? Wer diese Fragen im abstrakten Raum belässt, erhält sicher eine abstrakt ausgewogene Antwort, die etwa lautet: Die eine Parteinahme schließt die andere nicht aus. Wer die Frage jedoch auf konkrete Situationen anwendet, wird schnell bemerken, dass Ausgewogenheit die jeweils vollzogene Versöhnung der Konfliktparteien voraussetzt. Vollzogene Religionen sind in keinen Schriften oder Katechismen, sondern nur in Menschen und Gemeinschaften zu Hause. Fragen wir deshalb noch einmal, ob und wie in Einzelfällen trotz der genannten Verstrickungen und Gerechtigkeitszirkel Versöhnung gelingen kann.

4. Gelingende Versöhnung

4.1. Verschiedene Welten: Sprachen und Vorstellungen

Wie wir sahen, ist Versöhnung eine politische und zugleich je individuelle, immer auch eine konkrete Frage. Man kann nicht sagen, die Versöhnungsfrage werde seit einigen Jahrzehnten politisch vorangetrieben, da die Versöhnungsarbeit der Religionen versagt habe. Der Anteil von religiösen Gruppierungen und Repräsentanten seit dem 20. Jahrhundert ist nicht unerheblich.
* Man denke an die hinduistisch motivierte frühe indische Nationalbewegung, die muslimisch pakistanischen Soldiers of God, an die christlich motivierte amerikanische Bürgerrechtsbewegung sowie die buddhistisch tibetanische Befreiungsbewegung, personifiziert in den Personen Mahatma Gandhi, Khan Abdul Ghaffar Khan, Martin Luther King und Dalai Lama. Sie alle kennzeichnet eine Kombination von gesellschaftspolitischen Forderungen und streng gewaltlosen Proteststrategien. Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihr Engagement mit dem Leben bezahlt.
* Erfolgreich war das Engagement der katholischen Kirche auf den Philippinen (1986), die Mitte der 1980er Jahre maßgeblich an der »Peoples Power Revolution« gegen das Marcos-Regime beteiligt war und dafür sorgte, dass der Diktator nach gefälschten Wahlen und gegen den Willen der amerikanischen Regierung das Land verlassen musste.
* Über Nelson Mandela (den späteren Staatspräsidenten) und Desmond Tutu (den Vorsitzenden des South African Council of Churches in Südafrika) wurde schon gesprochen, deren gewaltfreier Protest gegen das Apartheidsregime Erfolg hatte und die – so die breite Überzeugung – das Land Ende der 1980er Jahre vor dem Abgleiten in einen blutigen Bürgerkrieg bewahrten.
* Zu nennen sind prominente Bischöfe der katholischen Kirchen Süd- und Mittelamerikas. In den dramatischen 1970er und 1980er Jahren haben sie den zivilen, ebenfalls gewaltfreien Widerstand gegen Militärdiktaturen unterstützt oder initiiert. Man denke an Dom Helder Camara von Recife, Dom Evaristo Arns von Sâo Paulo, Oscar Romero von El Salvador (1980 ermordet), an viele Laien, Ordensleute und Priester. Sie haben – bis hinein in die Gegenwart – die massiven Menschenrechtsverletzungen, Folterungen, andere Folgen des Staatsterrors öffentlich beklagt und dafür mit ihrem Leben bezahlt.
* Religiöse Gemeinschaften und deren Führer spielten bei zu Friedensschlüssen und Friedenskonsolidierungen oftmals eine wichtige Rolle. Zu nennen sind die katholische Laienorganisation Sant’Egidio (Rom) im Bürgerkrieg von Mozambique (1990), der Lutherische Weltbund in Guatemala (seit 1983), kambodschanische Mönche in den 1990er Jahren, die Friedensmärsche organisierten, zur Teilnahme an Wahlen und zur Demilitarisierung der Gesellschaft ermunterten und dadurch zur Stabilisierung des Landes beitrugen.

Aber genau sie haben bei diesen Aktionen – aus religiösen Motiven und mit den Möglichkeiten einer Religion – gesellschaftspolitisch gedacht und politisch gewirkt. Versöhnung ist nämlich ein umfassendes Beziehungsgeschehen, deshalb nie fertig, immer wieder von vorn beginnend und immer zugleich mit Selbstversöhnung verbunden, gekoppelt mit der Versöhnung mit der eigenen Familie und Gemeinschaft, immer auch schon ein Geschehen mit politischen Implikationen. Deshalb haben wir mit all den Hinweisen nur einen kleinen Zipfel angerührt und Dimensionen benannt, die sich zugleich selbst im Wege stehen.

Wir müssen – um der Weltversöhnung willen – die Frage stellen, wie bitte Versöhnung hier und jetzt nicht nur ausgedacht, beschrieben oder analysiert, sondern wie sie nun wirklich beginnen kann. Kann sie dadurch beginnen, dass wir mit unseren Worten über bestehende, in Selbstgerechtigkeit verkrustete Situationen hinausgreifen? Gewährt uns die Sprache vielleicht die Möglichkeit (sogar die einzige Möglichkeit), dem Gefängnis der vergangenheitsbestimmten Gegenwart zu entfliehen und auf eine erhoffte Zukunft vorauszugreifen? Gehört es nicht zum Geheimnis gerade der monotheistischen Religionen, dass sie das Spiel von Phantasie und Wort vorantreiben, um dadurch die Bindungen an Raum, Zeit und Geschichte zu durchbrechen? Es könnte sich also lohnen, einen Blick auf die Frage zu werfen, was Sprache mit uns tun, was sie erhellen und wie sie uns weiterbringen kann.

Zunächst möchte ich einen Text vorstellen, der in aller Härte zeigt, wogegen Versöhnung anzukämpfen hat. Es ist ein starker, hochpoetischer Text, der diese Situation nicht nur beschreibt, sondern zugleich vergegenwärtigt, also die Situation der unversöhnten Rache hier und jetzt herstellt. Im Zentrum steht wiederum „Elektra“ als Metapher der Tragik, d.h. einer Zerstörung, die sich gnadenlos fortzeugen muss:

Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessen durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.
(Heiner Müller, Hamletmaschine)

Wie schon gesagt: dieser Text beschreibt nicht nur eine Wahrheit, sondern wie ein Bildhauer arbeitet Müller sie mit harten Schlägen heraus, bringt uns so in die Stimmung tragischer Rache, macht uns zum Teil dieser Weltstimmung. Aber wie das bei einem wirkungsstarken Text eben ist: Dieser Text dringt in uns hinein. Zugleich aber steht er uns als ausgesprochener und geschriebener Text gegenüber. Wir können uns zu ihm verhalten, ihn anerkennen und aus ihm dennoch unsere eigenen Folgerungen ziehen. Die Situation der Elektra ist unbestritten und wer wie sie handelt, mag unser Verständnis finden. Ist aber auch ein anderes Handeln möglich?

Zur Beantwortung dieser Frage diene der zweite Text. Es ist kein künstlerisch anspruchsvoller, gar poetischer Text, sondern ein einfacher Korrespondentenbericht. Aber er bietet uns eine kleine Kostbarkeit an Sprechstil und Sprachgestus, der uns sofort in eine andere Welt des Handelns und der Beziehungen führt. Es geht um die Wahrheitskommission in Südafrika:

Durch die Leitung der Wahrheitskommission wurde Tutu zur wichtigsten Gestalt der südafrikanischen Geschichtsbewältigung. Von 1995 bis 1998 saß Tutu der Wahrheitskommission vor. ‚Wir haben die Wunden der Vergangenheit noch einmal geöffnet, damit sie nicht eitern, und sie mit Schmerz mildernder Salbe behandelt, damit sie heilen können’, beschrieb der Friedensnobelpreisträger die Arbeit seiner 17-köpfigen Kommission. Fast 22.000 Zeugen prangerten vor dem Gremium die unterschiedlichsten Menschenrechtsverletzungen an. Zugleich beantragten mehr als 7.000 beschuldigte Täter Amnestie, wobei viele von ihnen aufrichtige Reue zeigten. Tutu selbst war oft den Tränen nahe. Es waren Tränen des Schmerzes beim Anblick geschundener Menschen, aber auch Tränen der Rührung über großmütige Gesten des Verzeihens. Tutu war überzeugt davon, dass der äußerst schmerzhafte Prozess der Wahrheitsfindung unbeirrt zu Ende geführt werden musste, um die unseligen Geister der Vergangenheit ein für alle Mal zu Schweigen zu bringen. Sich selbst bezeichnete Tutu, der 1996 als Bischof von Kapstadt zurückgetreten ist, einmal als „Quälgeist für Gerechtigkeit“.

Dieser Text ermutigt dazu, sich der Frage der Versöhnung nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft her noch einmal zu nähern. Heiner Müllers Antwort auf die Fragen, ob Versöhnung Religion, ob Religion Versöhnung braucht, ist niederschmetternd, vielleicht dient dazu schon die Personalisierung der Rache in Elektra. Rache zeigt sich als Machtkonstellation, als Entität, als Stein des Anstoßes und des Scheiterns schlechthin. Die Worte von Bischof Tutu nehmen gerade diese Metapher nicht auf, indem sie etwa das (abstrakte) Lob der Versöhnung singen. Versöhnung erscheint für ihn nicht als eine Entität an sich, sondern als eine Beziehung, eine zwischen den Menschen schwebende Wirklichkeit, nur dort anwesend, wo es um konkrete Menschen geht und nur dann anwesend, wenn sie auf diese oder durch diese wirkt. Wir brauchen eine Sprache, die von konkreten Menschen redet, uns also mit deren Schicksal und deren Zukunft konfrontiert; es bedarf einer Imagination der Versöhnung. Tutus Sprache nun bietet den Raum für Beziehungen (so wie etwa die Psalmen Räume für Beziehungen bieten). Sprache vermag diese Beziehungen zu schaffen, zu erleuchten oder zu verdunkeln; sie schafft ein vertrauenerweckendes oder ein misstrauisches Klima.

Ich folgere daraus nicht einfach, dass wir zur Versöhnung Religion brauchen, aber wir bedürfen zur Versöhnung einer Sprache (und einer Imagination), die den Rahmen der enttäuschenden Feststellungen und festgezurrten Schicksalsfäden, der niederschmetternden Analysen übersteigt. Es ist eine Sprache, die (statt „Beziehungen“ nur zu analysieren) konkret „ich“ oder „du“, „wir“ oder „ihr“ sagt. Es ist eine Sprache, die (statt Schuldverstrickungen nur korrekt zu objektivieren) auch sagt: „Das darf nicht sein“, oder: „Es ist gut so“, und dadurch eine neue Situation schafft. An diesem Sprung von der Unheilsanalyse zur bewussten Setzung: „Es ist gut!“, liegt die spezifische, zutiefst rationale Irrationalität des Versöhnungsbeginns, der sich erst vom Erfolg her bestätigen lässt.

Eine solche Sprache ist aus unserer szientistischen Kultur, deren Erwartungen auf objektive Information reduziert sind, weitgehend verschwunden. Vielleicht schlägt sich diese unterdrückte Beziehungsfähigkeit unserer Sprache in der sogenannten säkularisierten Kultur nieder. J. Habermas hat es in seiner berühmten, inzwischen zum Klassiker gewordenen Rede vom 14. Oktober 2001 formuliert. Er weist darauf hin, was mit der Säkularisierung unserer Sprache verloren ging:

„Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Es ist ein Unterschied, ob man den Triumph des Mörders feststellt, oder zur stellvertretenden Versöhnung die Hand reicht, ob man in der Tragik keinen Ausweg konstatiert, oder auf eine Auferstehung vertraut.“

Habermas weiter: „Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.“ Vergangenheit lässt sich vergegenwärtigen, aber im strengen Sinn des Wortes nicht aufarbeiten. Deshalb kommt Habermas zum Schluss:

„Die ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zu glauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist – so, als seien deren semantische Potenziale noch nicht ausgeschöpft.

Habermas, der sich als religiös unmusikalisch zu nennen pflegt, aber aus einer protestantischen Pfarrersfamilie stammt, weist damit der religiösen Sprache und Imagination eine Aufgabe zu, die sonst niemand leisten kann. Sie greift voraus, indem sie sich vorbehaltlos auf die Gegenwart einlässt und – für einen Augenblick jedenfalls– von den Fesseln der Vergangenheit löst. Religiöse Sprache ist die Sprache bedingungslosen Augenblicks, des hier beginnenden Reichs. Sie arbeitet am „Weltknoten des Seins“ (E. Bloch). Ich füge hinzu: Zumal die Weltreligionen (also: die Religionen, die das Erbe der Achsenzeit in sich tragen), stimulieren damit ein Vermögen, das der Sprache selber eigen ist. Anders gesagt: Mit der wachsenden Säkularisierung unserer Öffentlichkeit ist Religion nicht einfach verschwunden, auch nicht einfach in die Privatheit verdrängt worden, sondern vielerorts in die Möglichkeiten einer humanen Sprache, der Literatur und des Alltags, ausgewandert. Es ist ja nicht zufällig, dass die neue Sensibilität für Religion und Religiosität in der Kunst nie verschwunden war und von durchaus säkularen Philosophen neu angestoßen wurde (ich nenne nur J. Derrida, G. Vattimo und P. Sloderdijk). Das gilt auch für die Initiation von Versöhnung. Insofern interessiert hier weniger die Frage, was im Namen einer konkreten, hochinstitutionalisierten Religion geschieht, sondern dass wir – trotz erlittener Tragik auf Schritt und Tritt – in der gegenseitigen Kommunikation und mit der entsprechenden Sprache den Vorgriff auf mögliche Versöhnung leisten können, denn sie macht es uns möglich, die Perspektiven zwischen Betroffenen zu wechseln.

Vor diesem Hintergrund wäre es an der Zeit, auch die gängigen biblischen und christlich-religiösen Hinweise wieder aus den Beschränkungen und Verengungen zu befreien, die der neuzeitlichen Rationalität geschuldet sind, so als könne man Schuld und Wiedergutmachung im Sinne der austarierenden Waage miteinander verrechnen und die Versöhnungstat Christi in dieses Kalkül einbeziehen (Anselm von Canterbury sollte die Erinnerung an Jesus nicht mehr verdrängen). Zugleich gilt, wie wir sahen, dass die Sprache Versöhnung initiieren und auf deren Erfolg vorausgreifen kann. Damit ist die Vergangenheit nicht zu den Akten gelegt. Wohl aber werden die Wunden, wie Tutu sagt, neu geöffnet, um den „Eiter“ zu entfernen. Lässt sich diese Metapher konkretisieren? Was genau ist mit der Wunde gemeint, die da gereinigt werden soll?

4.2. Scham und Schuld

Wir erinnern uns: Die hebräische Bibel beginnt mit archaischen Bildern und der ersten Erzählung von Menschen, von der ab das menschliche Schicksal seinen Lauf nimmt. Die zentrale Aussage lautet: Mann und Frau, von Gott geschaffen, versagen in ihrer entscheidenden Lebensprobe. Damit öffnet sich eine Schleuse des Unheils. Wie eine Lawine, wie eine große Infektion, wie die Pest (so die klassischen Bilder) brechen Bosheit und Zerstörung über die Menschheit herein. Wie gingen die Menschen von damals – sozusagen weit vor der Zeit Israels – mit diesem Fiasko um? Die Frage ist kaum von Bedeutung, denn es geht um eine Gegenwartsgeschichte. Wir brauchen uns nicht lange bei der Frage aufzuhalten, wie groß der historische und wie wichtig der mythische Anteil solcher Erzählungen ist: der Ermordung des Abel, der Arroganz der Menschen, die himmelhoch hinauswollen, statt dessen nur eine babylonische Verwirrung zustande bringen, der wachsenden Katastrophen bis hin zur Sintflut. Genau diese Geschichten des Schreckens und des Versagens haben in der Gegenwartsgeschichte unbegrenzte Ausmaße erreicht. Wir Westeuropäer leben nur scheinbar auf einer Insel der Seligen; selbst diesen angenehmen Schein haben wir nicht verdient, da unser Wohlstand auf Kosten anderer Länder zustande kam und erhalten wird. Die Vergangenheit hat uns, wie wir hörten, fest im Griff.

Wer hat an Vergangenheit und an Gegenwart Schuld? In der Neuzeit haben wir uns daran gewöhnt, die Schuldfrage nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung zu verrechnen, Schuld also auf ökonomische oder auf ein juridische Probleme einzuschränken. Schuld wurde zur Pflicht oder zur unmoralischen und in Freiheit verantwortlichen Tat, zur unerlaubten Einzelhandlung eingeengt. Diese Reduktion wird dem Phänomen der Schuld nicht gerecht. Genau besehen bezeichnet Schuld ein vielschichtiges Phänomen, das mit unmoralischer Entscheidung nicht einfach deckungsgleich ist. Uns müsste neu bewusst werden, dass die Erfahrung von Schuld (die Erfahrung eines Schuldbeginns oder einer Verpflichtung also), zeitlich kaum einzugrenzen ist. Schuld meldet sich als Verbindlichkeit immer schon in einem Stadium, in dem von ausdrücklicher Verfehlung oder Verschuldung noch gar nicht die Rede sein kann.

Schuld meint zunächst eine Pflicht, die ich abzuleisten habe und die von mir etwas einfordert. Ich habe etwas gut zu machen, bevor ich mich verfehlt habe. Diese Pflicht hat noch nichts mit den Folgen einer Übeltat, sondern vielleicht mit den Folgen eines Nichtstuns, einer Zugehörigkeit oder einer übernommenen Situation zu tun. Sie hat damit zu tun, dass ich mich vom ersten Beginn meiner Existenz an anderen verdanke. Nach E. Lévinas bedeutet ein jedes Antlitz eines anderen Menschen eine Anfrage an mich, die mich in Bewegung hält, mich herausfordert, meine Aufmerksamkeit, einen Wechsel der Perspektive verlangt. Ohne mein Zutun braucht der Andere Hilfe und ohne mein Zutun ist die Wirklichkeit im günstigsten Fall so unmenschlich neutral, im Normalfall so verdreht, grausam, ungerecht und verlogen, wie sie eben ist. Ich stehe mitten in ihr als jemand, der sie – wenigstens indirekt – immer bestätigt, weil ich sonst gar nicht leben könnte. Das betrifft vielleicht die Unsitten meiner Familie und meiner Umgebung, die öffentliche Meinung, die große Weltpolitik. Deshalb verliert diese meine Verbindlichkeit, zu der ich mich gerne stelle, von vornherein alle Neutralität, alle Unbefangenheit, alles unbeschwerte Verhalten. Ein reines Gewissen gibt es nicht.

Für unsere Tradition, so meine ich, ist es deshalb ein Unglück, dass die Schuldfrage spätestens seit Augustinus kausal mit Sünde und Verfehlung in Verbindung gebracht wurde. Der elementare „Unheilszusammenhang“ (K. Rahner) wurde zur Adamssünde rationalisiert, die in meinem Namen geschehen sein soll. Aber auch ohne meine persönliche Übeltat liegt über allem ein Schleier des Versagens, das mich schon im Vorraum meiner Freiheit berührt. Diese Intuition, die in vielen Unheilsmythen der Menschheit niedergelegt ist, berührt uns alle. Das Interesse an vergangener Schuld oder an der „Erbsünde“- wie es sich im westlichen Christentum überproportional ausgebildet hat und bis heute in Schuldneurosen gepflegt wird -, hat mit dieser unbeantworteten und unbeantwortbaren Frage zu tun. Sie lautet nicht: Was genau haben wir falsch gemacht?, sondern: Wie sollten wir heute unsere menschlichen Beziehungen pflegen, uns zu Gesellschaft und Welt verhalten, ohne dabei immer schon zu versagen? Bewusst oder nicht leben wir alle aus einer Erfahrung des Ungenügens gegenüber den übermenschlichen Herausforderungen der uns umgebenden Wirklichkeit. Neben einer monopolisierten Schuldkultur, die immer auf die Vergangenheit des Hörens und deshalb auf Verantwortung verantwortlicher Menschen zielt, sollten wir auch wieder eine Schamkultur entwickeln, die immer auf die Gegenwart des Sehens zielt, uns in unserer Verletzlichkeit entdeckt und bereit ist, auf die durchbohrenden Blicke derer zu achten, die von uns etwas erwarten. Große Heilige (Ignatius von Loyola etwa) pflegten ihre Briefe mit dem Zusatz zu unterzeichnen: „Geringster aller Sünder“. Dies kann nicht mehr unser Stil sein, aber in einer neuen Demutskultur die Erfahrung zu pflegen, die sich darin äußert, wäre der Mühe wert.

Hatte D. Sölle also mit ihrem Hinweis recht, mit jeder Banane, die wir essen, unterstützten wir die Ausbeutung einer verarmten Bevölkerung? Fördern wir nicht schon aus Gründen des Überlebens immer wieder (wenn vielleicht auch in kleinen Anteilen) Ausbeutung, Korruption und Lebensverachtung? Müssten wir nicht lernen, uns zu schämen, statt ständig nach Rechtfertigungen zu rufen? Diese Frage ist kaum mit einem Ja oder Nein zu beantworten; das ist kein theoretisches, sondern ein existentielles Problem mit zigtausend Varianten. Aber moralische Appelle und überzogene Vorwürfe helfen eben nicht. In erschütternder Hilflosigkeit sehen wir nur die verheerenden Folgen, die eine mangelnde oder eine zu späte Verantwortlichkeit nach sich zieht und uns zugleich überfordert. Ein tragisches Dilemma? Ja, solange wir nicht lernen, unsere Gefühle der Verantwortlichkeit in ein Grundgefühl der Scham, eines elementaren Geschuldetseins einzubetten. Denn ohne eine solche Scham schleift sich die tragische Grundsituation in uns ab. Wir rationalisieren sie, entwickeln Mechanismen der Entschuldigung und geraten unmerklich in einen Sensibilitätsmangel, der uns unversehens in immer dichtere Netzwerke einer Schuld einbindet. Er wird dann immer realer und zwingender; der Ruf nach Versöhnung wird in ihm nicht mehr ankommen.

Denn vergessen wir nicht, je mehr sich unsere Welt in ihren Globalisierungsprozessen vernetzt, je differenzierter und anonymer sie sich in ihren Strukturen darstellt, umso weniger werden auch Schuld und Verantwortung benennbar, in die wir hineingeraten. Es gibt da nicht wie bei Elektra einen erschütternden Muttermord, sondern vielleicht eine schleichende Entfremdung. Abgründige Unsicherheiten und Fragen brechen dann nicht erst auf, wenn man uns ein Unheil zufügte, sondern weil man uns im falschen Augenblick vergessen hat. Im Juni vergangenen Jahres nannte ich an einer vergleichbaren Stelle noch Günter Grass. Wenige Tage zuvor stellte er sich die selbstkritische Frage, wie sich denn die Literatur vor Verstrickungen hüten könne, gehütet habe:

Als wir uns brav ins Schweigen retteten? Ich spreche aus Erfahrung. Sechzehn zählte ich, als ich Soldat wurde. Mit siebzehn lernte ich das Fürchten. Und glaubte dennoch bis zum Schluß, als längst alles in Scherben gefallen war, an den Endsieg.“

Es ist die Sensibilität, die diese Worte so bemerkenswert machte. Gewiss, keine Schuld hatte ihn getroffen. Als er achtzehn war, war das Grauen zu Ende. Dennoch weiß er genau, wie nahe er bei den Verlockungen war, wie wenig ihm gefehlt hat, um in den Schrei der Unmenschlichkeit einzustimmen. Genau das ist, wenn wir ihm glauben dürfen, der Grund für seine spätere, durchaus schuldbewusste Wachsamkeit.

„Seitdem will mir der Krieg selbst während Pausen, die Frieden heißen, nicht aufhören.“

Es gibt also nichts, das uns vor solcher Schuld, vor ihrem Beginn bewahren könnte: auch keine Religion und kein Glaube. Im Gegenteil, manchmal denke ich: Gerade Religionen, welche die Frage nach der Schuld kennen und pflegen, die vor ihr warnen und die Wege der Schuldvermeidung anbieten, gerade sie könnten unrettbarer in die Hände der Gewalt und des Fanatismus geraten als andere, die nicht um solche Schuldverflechtungen wissen und die nicht von der Leidenschaft für eine bessere Welt getrieben sind. Das Wissen um diese Zerbrechlichkeit und die Erfahrung, dass wir für uns nur bedingt garantieren können, genau sie machen die Scham derer aus, die um Grenzen wissen. Über Grass’ spätere Mitteilung, dass er sich zur SS gemeldet hatte, kann ich nicht urteilen, aber nicht jede selbstgerechte Reaktion in der darauffolgenden Debatte hat mich überzeugt. Allzu oft verrechnete man eine objektivierbare, aber hypothetische Schuld, ohne an die eigene Zerbrechlichkeit und Schwäche zu denken.

4.3. Die fatalen Folgen der Schuld

Vermeiden wir also Missverständnisse: Angesichts unseres katastrophalen Weltzustandes, nicht weil wir von Geburt an böse Wesen wären, wird uns alle Verantwortlichkeit zum Ungenügen, behält sie trotz aller Erfolge einen bitteren Nachgeschmack. Auf den verschiedensten Ebenen unseres bewussten Tuns und Lassens mischt sich ein Bewusstsein bei, das wir in der Regel Schuld nennen und von dem wir uns einfangen lassen – gerade weil wir moralisch denkende Menschen sind. Nur kurz seien in diesem Abschnitt einige fatale Folgen genannt, die diese mentale Schuldverstrickung in uns Menschen bewirkt. Mit ihr beginnt in einem jeden Menschen und in einer jeden Gemeinschaft ein destruktiver Prozess, dessen Bedeutung wir kaum überschätzen können. Paulus hat ihn in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Thora thematisiert. Es geht darum, dass sich das – an sich gute, moralisch hochwertige – Bewusstsein von Schuld wie Blei an unsere Glieder hängen und uns geradezu zerstören kann, solange uns das Wort nicht rettet.

  • Diese Schuld, in unserer Scham aufbewahrt, ist immer schon geschehen und in unsere Geschichte eingegangen. Sie macht uns persönlich auch immer schon unstet, zu Gespaltenen und Entfremdeten. Sie bindet uns an die Vergangenheit. Schuldige, ihrer Schuld ausgelieferte und in Selbstrechtfertigung verstrickte Menschen können sich der Gegenwart nicht zuwenden, weil sie immer mit dem Vergangenen beschäftigt sind.
  • Diese anonyme Schuldenlast isoliert uns von anderen Menschen, von Ereignissen, von Beziehungen, weil wir uns ihrer schämen. Sie isoliert Gemeinschaften von anderen Gemeinschaften, von Fremden, mehr noch, sie macht die Nächsten zu Fremden. Sie führt schließlich zu Entlastungsprojektionen, weil wir uns selbst nicht mehr aushalten. Man selbst verdrängt seine Abhängigkeiten und Einflüsse. Man steht allein und wird zum Solipsisten. Auswegloses Schuldbewusstsein tötet deshalb unsere Fähigkeit zu Religion und Religiosität, weil Religion immer Überschreiten bedeutet. Seit der Achsenzeit, so scheint mir, ist es das Grundgesetz der Weltreligionen, dass sich kein Mensch von den Grundaussagen einer Religion verabschieden kann. Es geht immer um die Scham und um die Schuld aller. Eine Universalität also, gegen die sich die Isolierung der Schuld zugleich wieder sträubt.
  • Eine solch deprimierende Schulderfahrung entwickelt in uns eine Dynamik, die zu immer mehr Schuld und Bosheit führt. Scham wird konsequent als Schuld objektiviert und multipliziert. Schuldbewusstsein wird zur Haltung, weil es uns – aus Gründen der mentalen Selbsterhaltung – zur trotzigen Selbstbestätigung zwingt. Es träufelt destruktive Elemente in unseren Charakter ein, weil es immer mehr Böses (und vermeintlich Böses) zerstören will, statt Gutes zu fördern. Schuld wird so zum Erbe, das sich immer mehr anhäuft.
  • Weil eine solche verwirrende Schuldverstrickung nicht erst dort beginnt, wo wir freie Entscheidungen treffen, schlägt sie auf unsere Freiheit zurück. Paradoxerweise sind in Schuld verstrickte Menschen und Gemeinschaften unfrei, obwohl ihre Schuld Verantwortlichkeit voraussetzt. Viele Menschen, die in neuer Freiheit handeln und Verfehltes wieder gutmachen möchten, stehen sich selbst im Wege, denn faktisch kennen sie nur noch einen Maßstab. Er lautet: Nichts Verkehrtes mehr tun! So ist ihre Zukunftsplanung aber Oft bedeutet das den Verslust der Authentizität und der Eindeutigkeit. Zum Schluss wissen wir überhaupt nicht mehr, was wir wollen.
  • Schuld insgesamt, in welcher Form auch immer, nimmt uns schließlich unsere Freiheit und Identität. Es gibt nicht nur eine Infektion durch die Schuld, die Einzelleben und ganze Gemeinschaften zerstören kann. (Man denke an die Stadt Theben, auf der die Schuld des Inzests liegt; man denke an Sodom und Gomorrha.) In unserer Not legen wir uns oft eine zweite Haut zu. Wir legen unsere Intentionen nicht mehr offen, lassen uns nicht mehr ins Herz schauen. Wer eigentlich können wir noch sein?

Ver-Schuldung und das Versinken in Schuldbewusstsein sind also unmerkliche Prozesse, die nicht nur Individuen, sondern Gemeinschaften vergiften können, schon längst vergiftet haben. Wir haben das in unserer Geschichte hinreichend erlebt. Es ist Paulus, der in größter Schärfe dieses Grundgesetz menschlichen Versagens angeprangert hat und zur Überzeugung kommt, dass wir uns selbst nicht mehr helfen können. Diese Schuldfrage lässt sich moralisch, mit noch größerer Anstrengung und noch besseren Programmen, weder beantworten noch überwinden. Was ist der Grund? Solche Schuld ist nicht einfach zu groß; gerade der sorgfältige Wille zur Rechtschaffenheit treibt uns ja in die Katastrophe, denn Schuld beschädigt unsere Identität. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Versöhnung noch einmal ausweglos.

4.4 Vergebung und Versöhnung

Wie aber werden Vergebung und Versöhnung dennoch möglich? Klar ist, dass wir uns selbst – als Individuen, als Familie oder örtliche Gemeinschaft, als Volk oder als Weltgemeinschaft – nicht einfach durch ein besseres Leben retten können. Das ist nicht nur eine christliche und biblische, sondern auch eine allgemein menschliche Einsicht. Sie entspricht religiöser Erfahrung und ist einer der zentralen Punkte humaner Menschenbilder der vergangenen Jahrzehnte, etwa des Menschenbilds von Erich Fromm. Weder ein umfassender Fatalismus noch ein simpler Moralismus helfen weiter. Eine monotheistische (allgemein religiöse oder christliche) Weltinterpretation könnte an diesem Punkt einhaken und sagen, nur der Glaube an Gott helfe weiter, denn Gott sei die einzige Instanz, die fähig wäre, von außen einzugreifen, den Einzelnen zu vergeben und zwischen Menschen, Gruppen oder der gesamten Menschheit Versöhnung zu schaffen.

Doch bleiben wir zunächst einmal im religiösen Sprachspiel: Die vorgeschlagene Antwort ist nicht falsch, setzt aber voraus, Gott interveniere von außen, wie ein Mensch auf den anderen einwirkt, wie eine Magnetspule den Motor zum Laufen bringt. Schon Ignatius von Loyola dachte da dialektischer: „Vertraue so auf Gott, als ob alles von dir abhinge, und setze dich so ein, als ob alles von Gott abhinge.“ Nein, die Satzteile sind nicht durcheinandergeraten, sondern zeigen, wie nach christlichem (und genuin religiösem) Verständnis göttliches und menschliches Handeln, wenn man so will, ineinander verschränkt sind. Wir Menschen sind und wir bleiben es, die bei allen Verstrickungen anderen auch vergeben, mit den Wegen der Vergebung einen Beginn machen können. Mit unseren Worten und unserer Imagination (vielleicht auch mit einer Erinnerung des Gelingens) können wir auf eine Wirklichkeit vorausgreifen, die noch zu realisieren ist. In religiöser Sprache gesagt: Auch mitten in unserer Schuld spricht Gott uns auf unsere Freiheit, also auf diese Möglichkeit des Vorgriffs an. Es ist ein Gott, der nur als Vergebung und Versöhnung, der nur in ihr ansprechbar ist.

Wir erinnern uns an die vorletzte Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld“, die Matthäus mit dem bemerkenswerten Nachsatz abschließt: „…wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben.“ (6,12) Ebenfalls bei Matthäus lesen wir: „Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort daran erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar. Geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder. Dann komm und bring deine Gabe dar!“ Das ist eine drastische, für allen Opferkult sehr kritische Aussage, denn wenn du nach solch verspäteter Versöhnung zurückkommst, wird dein Opfer nichts mehr wert sein, weil das Blut des getöteten Tieres geronnen ist. Also, „willfahre schnell deinem Gegner, während du noch mit ihm unterwegs bist, damit dich nicht der Gegner dem Richter, der Richter dem Justizvollzug übergibt und du ins Gefängnis kommst. Wahrlich ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.“ (5,23-26) Für Matthäus ist Vergebung durch uns Menschen unabdingbar.

Bleiben wir immer noch im religiösen Sprachspiel: Hängt die Vergebung durch Gott also doch an einer Vorleistung, die der Gnade vorausgehen muss? Seit der Reformation hat diese Frage die evangelische und die katholische Tradition immer wieder gespalten. Doch wie mir scheint, ist weder das eine noch das andere eine angemessene Folgerung. Denn beides gilt zugleich, ohne Abstriche und mit derselben Entschiedenheit. Wir haben mit der Vergebung zu beginnen und bedürfen dazu der Hilfe Gottes, der Eingebung seines Geistes. So sehr es auch an uns liegt, Versöhnung zu gewähren, so sehr müssen wir uns versöhnen lassen: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20), – mit Gott und durch Gott mit unseren Mitmenschen, mit dieser Welt.

Bewegen wir uns also nicht in einem Zirkel, in dem wir uns von Gottes Vergebung abhängig machen, Gott aber unsere Vergebungsbereitschaft voraussetzt? Das ist gewiss nicht der Fall. Mit Versöhnung und unseren zerbrochenen Verhältnissen, mit Schuld und Vergebung bewegen wir uns in einer Tiefe menschlicher Erfahrung und menschlicher Freiheit, in der die Kategorien von Ursache und Wirkung versagen. So oft uns Vergebung im eigenen Handeln gelungen ist, erfahren wir zugleich, dass Gott schon lange in uns gehandelt hat.

Verlassen wir wieder das religiöse Sprachspiel, um uns der Sache in säkularen Worten zu nähern. Wir nannten Schuld ein vielschichtiges Geschehen. Genau so vielschichtig und vieldimensional sind Vergebung und Versöhnung. Wir sagten ferner, Schuld beginne in einer existentiellen Tiefe, die meiner bewusst gesetzten Freiheit und Entscheidung vorausgeht. Genau so steht es mit Vergebung und Versöhnung. Beide fangen an einem Punkt an, an dem wir (noch) ganz unreflektiert und wie selbstverständlich Situationen annehmen und mit anderen Menschen zusammenleben, Gemeinschaft also gleichursprünglich mit unserer Individualität erfahren. Wir Menschen leben nicht nur in (und nicht nur von) primär sinnlichen Erfahrungen, auf Grund derer wir instinkt- oder zwanghaft reagieren, auch nicht einfach von intellektuellen Erwägungen, die einer freien, weil überlegten Entscheidung als Basis dienen. Wir leben von Erfahrung und Erwägung zugleich, aber – und das wird meistens übersehen – beide sind immer schon in einen gemeinsamen „Raum“ unseres Lebens aufgenommen (Platon [chora]/ Derrida/ Petermann). Es geht also nicht nur um Sein und Freiheit, wie die klassische Philosophie sagt, sondern um ein „Da-sein“ (Heidegger), um ein quasi Drittes, von dem unsere Existenz immer schon aufgefangen ist und in dem sie lebt (Sloterdijk). Dieser Daseinsraum geht der Existenz immer schon voran, er fängt sie auf, weist ihr ihren „Ort“ zu. Wir existieren nicht nur, sondern wir gehören irgendwo hin.

Obwohl dies sehr abstrakt und ganz weltlich klingt, sind wir mit solchen Worten der religiösen Sprach- und Vorstellungswelt wieder ganz nahe, denn diesen „Ort“, in dem wir aufgehoben sind, erfahren wir als Lebenssinn und als das Letzte, das uns umfängt (das Mittelalter kannte noch den Kosmos als das große umfassende Symbol). In diesem Raum können wir uns bewegen und zugleich das Da-sein Anderer erfahren, denn sie bewegen sich in demselben Raum. Von ihm umfangen können wir aus uns herausgehen, ohne uns zu verlieren. Dieser Raum ermöglicht uns Vorausgriffe, ein grundlegendes Vertrauen, den Mut aus uns herauszugehen, ohne in einen Abgrund zu fallen. Er vermag zu erklären, warum sich trotz aller Enttäuschung ein solches Vertrauen immer wieder wie selbstverständlich meldet, warum der Tragik ein anderes Lebenskonzept vorausgeht. Er führt uns zur Fähigkeit, unsere Perspektiven vom „Ich“ zum „Du“, vom „Wir“ zum „Ihr“ zu wechseln. Dieser Raum gibt uns die Erfahrung einer letzten Grenze, ermöglicht uns also Transzendenz. Er wird real als Sprache, als Darstellung (Kunst), als Kultur, aber auch als Haltung (die wie ein Raum Kontinuität verspricht) erfahren. Beschränken wir uns hier auf die Haltung, die man in traditioneller Sprache „Tugend“ nennt.

Wie wir sahen, ist Versöhnung kein Zustand, sondern (ähnlich wie Religion) im Kern ein Ereignis und ein Prozess, der erst allmählich zur Haltung heranwächst. Aber nur als Haltung können geschehene und geschehende Versöhnung in Menschen und Gemeinschaften wirklich dauerhaft und zu einer Situation werden, die alle Sektoren eines Lebens durchzieht. So gesehen wird die Versöhnung zum Gegenbild alles dessen, was sich über unsere Schuldverstrickungen sagen ließ. Weil aber Scham und Schuld nie einfach verschwinden, kann Versöhnung nie zu einem Besitz werden.

Weiter oben war es mir wichtig, auf die Scham einen Blick zu werfen, weil sie zur Schuld in ihrer elementaren Bedeutung gehört. Ebenso wichtig ist ein Blick auf die Haltung des Versöhntseins, weil wir ohne sie die Vergebung nicht richtig einordnen können. Wir neigen dazu, die Vergebung (ebenso wie die Schuld) als moralische Tat zu verstehen und vergessen dabei, dass auch die Vergebung schon in einer elementaren Grunderfahrung des Zusammengehörens wurzelt. Sie bildet den Grundstock dieser Tugend, denn eine Tugend lässt sich ja mit einer Gewohnheit vergleichen, die aus vielen unreflektierten Elementen, aus selbstverständlichen Beziehungen und Zuwendungen lebt. Darin wurzelt das Phänomen, dass wir Vergebung – ebenso wie Solidarität – oft nicht mehr als moralische Leistung, sondern irgendwo als Selbstverständlichkeit, als die Rückkehr zu einem geradezu notwendigen Zustand erfahren. Es ist ein Zustand, der nicht mehr als Versöhnungsleistung, sondern als die Rückkehr in einen zuvor verlassenen Raum erscheint. Wir sind wieder zu Hause und vergessen in diesem Glück die vorhergegangenen Strapazen. Christlich gesprochen ist es wieder die Gnade, die uns ohne Vorleistung geschenkt wird.

4.5. Politische und religiöse Tugend

Führen wir diesen Gedanken noch etwas weiter. Tugend galt lange als ein altmodisches Wort, aber ihr unverzichtbarer Stellenwert ist wieder erkannt. „Tugend“ als Haltung hat für das Individuum die Bedeutung, die wir auf der Ebene der Gemeinschaft einer Kultur zuschreiben. Das „Projekt Weltethos“ spricht von einer Kultur des Lebens, einer Kultur der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und einer Kultur der Gleichberechtigung und der Partnerschaft. Gemeint sind wie selbstverständlich präsente Räume der Selbstverständlichkeit, Rückzugsräume, in die wir uns in Augenblicken der Ermattung zurückziehen können. Es sind Räume des „Man“, das von Heidegger noch negativ konnotiert wurde. So gibt es, wie wir sahen, nicht nur isolierte Taten des Vergebens, so wie es nie isolierte Taten der Bosheit gibt. Wenn Vergebung eine Wirkung haben und zur Versöhnung führen soll, dann muss sie uns – genau und in vollem Umfang – aus der verlorenen Situation holen, die unsere Geschichte zur Katastrophe macht. Letztlich geht es um Versöhnung und Versöhntsein mit der Geschichte, mit Menschen und zwischen ihnen, zwischen Kulturen und Kontinenten.

Allerdings können sich Versöhnung und Versöhnungsbereitschaft nur dann als politische Tugend auswirken, wenn die sozialen und die politischen Strukturen dies ermöglichen. Dazu gehören ein Minimum an Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, ein Minimum an Wahrhaftigkeit und Partnerschaft, ein Minimum an geschichtlicher Aufarbeitung des Vorhergegangenen. Umgekehrt gesagt: Die politische Tugend der Versöhnung beginnt damit, dass wir entsprechende Strukturen aufbauen, die Versöhnung lebbar und besprechbar machen. Dass diese Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg in West-, dann auch in Mitteleuropa gelungen (oder wenigstens auf dem guten Wege dazu) ist, hängt mit dem Gelingen politischer, sozialer und demokratischer Voraussetzungen zusammen. Wie aber können solche Voraussetzungen auf den Weg gebracht, als Hinweise der Versöhnung interpretiert, wie kann Versöhnung als wünschenswertes politisches Gut verstanden werden? Am Beginn stehen das Handeln, das Reden und die Imagination von Menschen, für die ihre Versöhnungsbereitschaft zur persönlichen Tugend und zur selbstverständlichen Grundlage ihres Handelns geworden ist. Deshalb ist die persönliche Tugend der Vergebung immer auch der Beginn zur politischen Tugend der Versöhnung.

Mit welchem Recht sprechen wir dann aber von einer religiösen Tugend? Ich habe weiter oben vom Raum unseres Da-seins, von der Sprache, dem Selbstausdruck und der Imagination geredet. Im Bild gesprochen gleicht dieser Raum einer Zwiebel, in deren Mitte wir sitzen und die wir nach außen hin Schale um Schale durchstoßen können. Die Leistung des Religiösen besteht nicht darin, dass wir Schale um Schale wirklich überwinden, uns also in das Gefüge immer umfassenderer Räume von Materie und Geist, Instinkt und Freiheit, Individuum und Gemeinschaft, Vergangenheit und Zukunft, Aktualität und Verlangen hineinbegeben können. Das ist eine Gabe menschlicher Freiheit und Humanität. Die Leistung des Religiösen besteht darin, dass es dem wirklichen Geheimnis des Menschen einen Namen und damit eine unzerstörbare Stoßkraft gegeben hat: Wir können uns (ob religiös oder nicht) in einem letzten und umfassenden Raum bewegen, der uns selbst immer noch übersteigt. Es ist ein Raum, der selbst nicht mehr verfügbar und nicht mehr instrumentalisierbar ist. Die religiöse Sprache des Westens nennt diesen Raum „Gott“.

Nun können wir angesichts unserer Menschen- und Geschichtserfahrung, angesichts der Weltsituation nur darüber staunen, dass es so etwas wie Versöhnung überhaupt noch geben kann und dass so etwas wie Versöhnungswille überhaupt noch als sinnvoll erscheint. Das Geheimnis der so verstandenen Versöhnung, die einfach geschieht, weil sie eben geschieht, kann nur noch einen transzendenten Grund haben. Wenn Paulus sagt: „Lasst euch von Gott versöhnen“, dann meint er keinen Aufruf zur Passivität im Sinn von: „Lasst halt Gott tun, wozu ihr selbst nicht imstande seid“. Paulus spricht die Erfahrung einer jeden gelingenden Versöhnung und Versöhnungsbereitschaft an, denn bei realistischer Sicht der Dinge ist sie immer ein Wunder. Sie kommt immer aus einer letzten elementaren Schicht unseres Daseins, die uns in jedem Fall geschenkt ist. Solche Erfahrung ist aber keine geleistete Erfahrung, kein Glaube also, der in Vorleistung geht (im Sinne von: Ich werde meinen Glauben aktivieren, dann muss Versöhnung gelingen). Es ist eine geschenkte Erfahrung, also eine Überraschung, die sich fragt, wie das denn möglich ist. Es ist übrigens genau die Erfahrung, die den Jüngern bei ihrer Auferstehungserfahrung zuteil wurde. „Friede sei mit euch“, sagte der Auferstandene: „Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben …“ (Joh 20, 22f.).

Schluss: Christentum als Lebenspraxis der Versöhnung

Wer das verstanden hat, kann auch begreifen, warum im Zentrum aller uns bekannten Religionen die Frage nach der Versöhnung, der Vergebung, der Sühne, des Opfers auftaucht (R. Girard; J. Assmann). Offensichtlich erfahren alle Religionen, dass Versöhnung nicht nur wünschenswert, sondern faktisch auch möglich ist. Sie begegnen der ganzen Skala dieses Prozesses, vom ersten Augenblick geschenkter Vergebung an bis hin zu einer Tugend und einer Kultur, die diesem Geschenk die Wege ebnet und dafür sorgt, dass Versöhnung zu einer nachhaltigen, wenn auch immer bedrohten Wirklichkeit wird. Alle Religionen erfahren diesen Beginn. Deshalb geben auch alle diesem Augenblick der Vergebung und der Versöhnung ihren eigenen, sozusagen sakramentalen Ausdruck. Dieser Ausdruck konzentriert sich immer auf den Augenblick der Wiedergutmachung, die von Gott anzunehmen, zu ergänzen, zu bestätigen ist. Dieser Ausdruck hat eine höchst politische Bedeutung, denn die Überwindung von Unfrieden und Gewalt ist die Menschheitsfrage schlechthin. Genau deshalb haben sich Religionen mit Gewalt und deren Überwindung zu beschäftigen – das ist wohl der Grund, weshalb sie sich (wie in einem homöopathischen Prozess) so schnell mit Gewalt infizieren, aber wie anders soll der Prozess ihrer Überwindung zustande kommen? Drei Bilder sollen dies kurz vor Augen führen.

Sie beginnen mit dem Gedanken des Opfers. Versöhnung, so eine alte Menschheitsidee, erfordert Blut. Die Baalstempel im Vorderen Orient geben davon noch heute ein eindrucksvolles Beispiel. Zwar sind die uns bekannten Opferreligionen schon einer humaneren Stufe zuzurechnen, denn – wie in der Isaakgeschichte demonstriert – ersetzen sie das Menschenopfer durch Tieropfer. Doch bleibt ein ungelöster Rest: Gewalt wird zwar kanalisiert, von Menschen abgedrängt, aber nicht überwunden, auch nicht beim Sündenbock, den man – mit Sünden beladen – in die Wüste schickt.

Ein wunderbares und in seiner Weise unübertroffenes Modell der Versöhnung bietet das Gleichnis Jesu von den zwei Brüdern. Der jüngere, der davonläuft und zum Vater zurückkehrt, wird ohne Vorbedingungen aufgenommen. Der Vater schließt ihn in seine Armen und richtet ein Fest aus. Dieses Gleichnis zeigt, dass Versöhnung keine Vorbedingungen kennt, sondern aus der Bereitschaft zur Gemeinschaft kommt. Aber das Gleichnis zeigt auch, dass der ältere Bruder frustriert daneben steht. Wo bleibt sein Lohn für die Treue, die er über Jahre hin dem Vater gezeigt hat? Solche Versöhnung ist zwar richtig, gut gemeint und bewundernswert, aber sie schafft auch neue Probleme, denn auch Versöhnung schafft nie eine abstrakt austarierte Gerechtigkeit.

Deshalb folgt die Erinnerung an das Geschehen, das dem Christentum seine Identität gegeben hat. Es ist der Tod Jesu am Kreuz. Dieser Tod ist und bleibt ein Justizmord, ein Skandal. Aber entgegen allen Erlösungstheorien gibt es bei diesem Tod keine Berechnung und kein Sterben, um der Menschheit das Heil zu verdienen. Es stellt sich also keine Erlösungsmechanik, auch keine justiziable Stellvertretung ein. Hier wird die Versöhnungsfrage gerade nicht objektiviert. Es ist, wenn man so will, ganz einfach und nur in dieser Einfachheit überzeugend: Jesus gibt seine Solidarität mit den Verlorenen nicht auf, auch wenn es ihn das Leben kostet. Ohne jede Berechnung ist ihm dieser Einsatz den aufgezwungenen Preis des Todes wert. Er will schlicht bei den Todgeweihten und bei den Elenden bleiben, wie Janusz Korczak als der Stärkere bei den schwachen und hilflosen Kindern blieb; sie konnten sich mit ihm identifizieren, sich an ihn halten. Eigentlich kann man hier nur noch im metaphorischen Sinne von Sühne sprechen. Es geht – in Jesu Tod, für uns übersetzt – ganz einfach darum, dass Menschen an ihrer ursprünglichen Gemeinschaft mit allen Menschen festhalten und auf sie zurückkommen. Es geht – in der Wirkung seiner Anhänger, für deren Gottesfrage übersetzt – darum, dass einer dem Tod exemplarisch widerstanden hat und dadurch die Sache Gottes ganz unmissverständlich definierte. „Gott ist treu“, heißt es bei Paulus wiederholt (1 Kor 1,9; 10,13; 2 Kor 1,18; 1 Thess 5,24.). Indem Jesus ohne jede Gegengewalt und ohne Sühneforderung seinen Weg geht, entlarvt und entmächtigt er zugleich die Bosheit der Gewalt, von der hier ausführlich die Rede war. Genau diese Erinnerung hat eine ungeheure Macht. Paulus spricht vom „Wort der Versöhnung“ (Rom 5,19).

Ich breche hier ab und möchte zum Schluss zusammenfassen, welche Konsequenzen eine Lebenspraxis der Versöhnung für Menschen und Kultur beinhalten kann. So zeigt sich auch, dass und in welchem Sinn religiöse Versöhnungsbotschaften, insbesondere die christliche Botschaft, politisch zu begreifen sind.

  • Diese neue Lebenspraxis fixiert die Glaubenden (schon der ersten Stunde) nicht mehr auf die Verfehlungen der Vergangenheit. Im Handeln Jesu, im Eingedenken an seine Geschichte, erfahren sie reine Zukunft, können auch wir reine Zukunft erfahren. Diese Geschichte, aus der die Jünger in der Auferstehungserfahrung jetzt leben – und aus der wir immer noch leben -, ist so stark, sie ist eine so machtvolle, erfreuliche, geradezu unzerstörbare Botschaft, dass in ihr die ersehnte Wahrheit zur Wirklichkeit wird. Das Reich Gottes, das alle Menschen und die ganze Welt umspannt, wird als Versöhnung greifbar. Das Reich Gottes steht am Anfang, hat also begonnen. Die Auferstehungsbotschaft ist nicht so machtvoll, weil irgendwann das Grab leer war, sondern diese Imagination von der Auferstehung drängt sich so machtvoll auf, weil die berichtete Sache so eindeutig und unwiderlegbar ist: Der Versöhnung der Menschheit allein gehört die Zukunft.
  • Wir können erfahren, dass sich die Isolierung zu Einzelkämpfern, zu aussichtslosen Eiferern und übereifrigen Sektierern aufbrechen lässt. Gemeinschaft wird erneut möglich, weil uns die Möglichkeit zur Versöhnung, diese Rückkehr in einen elementaren Zustand verbindet. Vergebung und Versöhnung sind keine kultische Einzeltat, sondern eine versöhnende Lebenshaltung, die sich in Gemeinschaften verwirklicht.
  • Schon die Auferstehungserfahrungen zeigen, dass und wie plötzlich ein Neubeginn möglich wird. Die Ketten des Todes, also der innere Zwang zur Bosheit, der Teufelskreis von Schuld und unversöhnter Rache, werden aufgebrochen. Man fühlt sich an die Lieder vom „Diener Gottes“ im Buch Jesaja erinnert: „Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht.“ (Jes 42, 2f.) Wer dieser Logik folgt, wird bald deren zutiefst humane Wahrheit entdecken.
  • In diesem Neubeginn kann das Handeln eine neue Orientierung erhalten, die von der Vergangenheit nicht mehr gefesselt wird. Die Potenzen, aus denen eine versöhnte Menschheit erwachen kann, sind in den religiösen Kulturen schon unter uns.
  • Schließlich wächst denen, die mit sich und mit an anderen versöhnt sind, eine neue Identität. Selbst aus einem tödlichen Justizmissbrauch, ja ausgerechnet aus ihm, kann eine neue Religion entstehen. Im Tod Jesu erweist sich eine unwiderlegliche Wahrheit und Authentizität.

Das also ist die Erfahrungswelt, der Bezugsrahmen einer umfassend neuen Lebenspraxis, in der Vergebung zwischen Menschen möglich und die Versöhnung der Menschheit zum großen Ziel wird. H. Joas (Die Entstehung der Werte) stellt die Frage, wann und wie sich in Menschen neue Werte einstellen können. Neue Werte, so seine Antwort, entstehen aus „Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“. Neue Werte entstehen nur dann, wenn wir neu zu uns selbst kommen. Zu uns selbst kommen wir nur, wenn wir uns selbst überschreiten können. Wir überschreiten uns selbst, sobald wir loslassen und uns einer letzten Instanz anvertrauen können, die den Neubeginn garantiert.

Dass Versöhnung für die großen Gemeinschaften der Erde (für Staaten, Ethnien, Kulturräume) heute überlebensnotwendig ist, lässt sich nicht mehr bestreiten. Dass Religionen darin eine Schlüsselrolle zu übernehmen haben, wird heute vielfach akzeptiert. Je mehr die Religionen aber die Aufgabe der Versöhnung als zentrales Element ihres Profils übernehmen, umso besser gelingt es ihnen auch in säkularisierten Kulturen, die verfälschende Alternative von „privat oder öffentlich“ zu durchbrechen. Wir müssen wieder öffentlich sagen können, was Sache ist. Versöhnendes Handeln bedeutet Austritt aus dem Teufelskreis der privaten, der familiären, der gesellschaftlichen und der menschheitlichen Gewalt. In diesem Sinn könnte dem Jesuswort eine ganz neue Bedeutung zuwachsen: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18).

(erweiterter Vortrag vom 19.04.2007)

 

Letzte Änderung: 13. Juli 2017