Leonardo Boff, Tugenden für eine bessere Welt

Unter den Stichworten (1) Gastfreundschaft, (2) Zusammenleben, Respekt und Toleranz, sowie (3) Tischgemeinschaft und ein Leben in Frieden legte legte der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff im Jahr 2009 eine umfassende Monografie zu einem ökologischen und friedfertigen Umgang mit der Erde vor. Das Buch hat große Beachtung gefunden.

Besprechung von:
Leonardo Boff, Tugenden für eine bessere Welt, Kevelaer 2009, 351 Seiten, übers. v. Bruno Kern

Leonardo Boff legt ein Buch über moderne Tugenden vor, die er um die Schwerpunkte Gastfreundschaft, Zusammenleben und Tischgemeinschaft bündelt. Er ermuntert Menschen dazu, sich selbst zu ändern und sieht darin den Beginn einer ökologisch geordneten, ökonomisch verträglichen und politisch befriedeten Zukunft. Dass die religiöse Perspektive nicht zu kurz kommt, braucht beim Theologen Boff nicht eigens betont zu werden. In der Einleitung präsentiert er sich als Visionär: Wir stehen am Beginn einer neuen, der planetarischen Phase, die ein neues Verhalten erfordert. Bislang wurden Politik und Wirtschaft überbetont. Jetzt ist es an der Zeit, ethischen und spirituellen Fragen einen neuen Raum zu geben. Der Einzelne hat sich der Gemeinschaft, die Wirtschaft der Politik und die Politik der Ethik unterzuordnen, die ihrerseits ihre Inspiration aus einer neuen Spiritualität beziehen. Dieses Programm wird auf drei Ebenen durchgespielt.

Gastfreundschaft (15-151): Der Gedankenbogen beginnt mit der Entstehung des Kosmos, fasst den Gang der (vor allem westlichen) Weltgeschichte mit ihren Globalisierungsschüben zusammen und endet mit einer Analyse der höchst (ökologisch, politisch und kulturell) bedrohlichen aktuellen Situation. Uns bleibt die Alternative: Weltkatastrophe (Huntington) oder eine gelingende Gastfreundschaft in Gerechtigkeit, Demokratie und einer Kultur des Friedens. Man entdeckt allmählich: Das Buch verfolgt nicht das Ziel analytischer Wissensvermittlung, sondern eher einer Pädagogik mit anschaulichen Entwürfen, Geschichten und der Möglichkeit persönlicher Aneignung.

Zusammenleben, Respekt und Toleranz (153-245): Im zweiten Teil rücken das mitmenschliche Verhalten und deren Auswirkungen in den Mittelpunkt: Wie entstehen Gemeinschaften und Völker, wie Macht, wie organisieren sich (als Beispiel) die verschiedenen Typen von Kirche? Welche Funktion haben der Respekt vor dem Anderen, vor dem Gewissen, dem Staat und dem Sein überhaupt? Aus Boffs Antworten ergeben sich die Bedingungen einer aktiven Toleranz, die als Grundlage eines demokratischen Zusammenlebens gelten kann und die gegen jeden Fundamentalismus und Terrorismus zu schützen ist.

Tischgemeinschaft und ein Leben in Frieden (247-345): Im dritten Teil zeigt sich: Der Befreiungstheologe Boff begreift Tugenden nicht als abstrakte Gesinnungen, sondern als selbstverständliche, fleischgewordene Handlungen. Paradigmatisch dafür steht das Teilen der Nahrung am Tisch, Ort der Gemeinschaft, Geschwisterlichkeit und Solidarität, die sich in den langen Prozessen der Kulturbildung herausbildete und den aktuellen Hunger von ca. 800 Millionen Menschen umso schrecklicher erscheinen lässt. Das ist ein ethisches und ein politisches Problem, das uns zu neuen Maßstäben der Produktion, der Verteilung, des Umgangs mit Wasser und Grundnahrungsmitteln zwingt. Das Buch kulminiert in der Frage des Friedens, der nicht nur als politisches, sondern auch als zutiefst menschliches, auch als religiöses Ziel zu sehen ist. Die Frage nach dem Frieden zeigt, dass sich äußere und innere Umstände finden müssen. Nicht ohne Grund hoffen Christen auf die Tischgemeinschaft Jesu und auf Gottes Reich.

Das ist ein erstaunliches Buch. Es ist von Mythen und Geschichten ebenso durchzogen wie von zahllosen Hinweisen auf den Stand historischer und anthropologischer, kosmologischer und theologischer Forschung. Jeder Teil ist um eine zentrale Erzählung organisiert. Sehr sensibel ausgelegt wird die Legende von Philemon und Baukis (Teil I), prägnant interpretiert die vom barmherzigen Samariter (Teil II), geradezu verlockend und mit weiteren Erzählungen angereichert die Parabel vom König, der alle zum Hochzeitsmahl einlädt (Teil III). Der Leser erfährt viel über die Erd- und Menschheitsgeschichte, über die Ambivalenz des Menschen, den homo sapiens und demens. Viele Informationen finden sich – wie kann es anders sein – über die Geschichte Lateinamerikas. Manches klingt vielleicht klischeehaft und wohlbekannt; viele Informationen sind an zufälligen Orten untergebracht. Bei der reichlichen Literatur und den vielfältigen Bezügen zu vergleichbaren Veröffentlichungen und Konzepten erstaunt es allerdings, dass Boff alle Hinweise auf europäische Entwürfe (Weltethos, Compassion) eher ausklammert. Dennoch kann dieses Werk zu einem Begleitbuch die ethischen und ökologischen Fragen der Weltzukunft werden. Für Katechese und Religionsunterricht kann es vorzügliche Dienste leisten.

Erschienen in: Stimmen der Zeit, März 2011, 207-208

Letzte Änderung: 6. August 2017