Ijobs Gott – Wer trägt die Verantwortung?

Wer trägt für das Böse in der Welt Verantwortung. Die Epoche, da wir dem alles erschaffenden Gott die Schuld dafür in die Schuhe schieben können, ist vorbei. Die Erstverantwortung liegt bei den Menschen. Nach Ijob geht es um ein elementares Verantwortungsbewusstsein, das tiefer als einzlne Schuldzurechnungen reicht.

I. Erfahrungen des Unlösbaren

Bei einer Einreise in die Vereinigten Staaten wurde ich auf dem Flughafen, wie üblich, einer genauen Kontrolle unterzogen. Der Beamte, ein farbiger älterer Herr, entdeckte, dass ich auf dem Weg zu einem theologischen Seminar war. Streng erklärte er mir, vor meiner Einreise müsse ich ihm eine wichtige Frage beantworten: „Was ist das schönste Buch der Bibel?“ Ich zögerte. Schon lag mir „Das Hohelied“ auf der Zunge. Dann aber änderte ich meine Meinung und sagte ihm: „Das Buch Ijob“. Glücklich über diese Antwort strahlte er mich an, zeigte mir ein Photo seines Pfarrers und erzählte mir, dass Gott gerade im Unglück auf unserer Seite stehe, aber zusammen mit Ijob dürften wir klagen und weinen. Überhaupt führe es zu nichts, nach Schuld und Verantwortlichkeit zu fragen. Er habe schon immer auf Gott vertraut, und Gott habe ihm immer geholfen, auch wenn es ihm schlecht gegangen sei.

Es war nicht der Zeitpunkt, um mit diesem so sympathischen Mitchristen in einen theologischen Disput einzutreten. Jedenfalls fühlte ich mich beschämt, weil mich die Frage nach Gottes Verantwortlichkeit doch immer wieder ratlos machte. Aus meinem Herzen wäre keine so überzeugende Antwort gekommen. Aber muss ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben? Ich habe schon oft versucht, diese Frage mit der Bibel in der Hand zu beantworten[1]. Dort lese ich, dass Jahwe selbst das Herz des Pharao (Ex 10,1) und das Herz des Volkes verstockte (Jes 6,10). Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Jahwe sein Volk Israel wieder zerschlagen kann wie der Töpfer die Schüssel, die er gemacht hat (Jes 45,9; Jer 18,6). Das Jesajabuch hat mich darüber belehrt, dass Jahwe das Licht bildet und die Finsternis macht, dass er das Heil bewirkt und das Unheil erschafft[!] (Jes 45,7). Wenn zudem die systematische Theologie mit ihrer Behauptung recht hat, gemäß der Schrift habe Gott alles geschaffen, dann können wir auch das Böse einer letzten Verantwortung Gottes nicht entziehen. Wie kann aber der gute Gott das Böse ins Leben rufen? Ich weiß, dass Augustinus für dieses Dilemma eine geniale Lösung gefunden hat: Das Böse ist eigentlich nichts; wirksam werde nur der unangemessene „Mangel“ an Gutem (lateinisch: privatio boni). Zugleich hat uns Augustinus aber auch gesagt, dass das Böse nicht auf der Ebene einer Entität, sondern auf der Ebene von Wirken und Wirkung zu suchen ist. Gleich also, ob es das Böse gibt oder nicht, es gibt Zerstörung und Tod: „Schlecht und böse ist das, was schadet.“[2] So ist also die Definition des Mangels (die Gott völlig entlastet) genauso eine Grenzaussage wie das, was in Jes 6, 9f. gesagt wird und alle Last auf Jahwe legt:

Geh und sag diesem Volk:
Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen.
Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.
Verhärte das Herz dieses Volkes,
verstopf ihm die Ohren,
verkleb ihm die Augen,
damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt
und sich nicht bekehrt und nicht geheilt wird.“

Um zwei gegenläufige, einander widersprechende Aussagen geht es also. Die erste erklärt das Böse in entschiedener Gewissheit und mit philosophischem Aufwand zum Nichts, obwohl die Macht des Bösen offenkundig ist. Die zweite erklärt Jahwe zum Urheber der Bosheit, obwohl gerade sie Jahwe in die Ohnmacht treibt. Karl Barth erklärt das Böse (gegen alle Regeln der Logik) zum „Nichtigen“, ein Drittes zwischen Sein und Nichts, weil er das Böse ernstnehmen und zugleich Gottes Macht retten will[3]. Es geht offensichtlich immer um Grenzaussagen und um Grenzerfahrungen gerade für diejenigen, die ihr Dasein von der Güte Gottes her verstehen möchten. Sowohl der Glaube an Gottes gute Schöpfung als auch der Appell, das Böse radikal ernst zu nehmen, beide schießen in solchen Aussagen über das Ziel hinaus und sprengen die Regeln unseres alltäglichen konsistenten Denkens.

Können wir das Problem dann lösen, wenn wir das Böse als Strafe für eine üble Tat begreifen? Gewiss, dann treffen sich die Absichten Gottes und der Menschen in dem einen Ziel, das besagt: alles was geschieht ist wenigstens gerecht. „Ihr habt das Böse gesehen, das Ich[!] über Jerusalem und über alle Städte Judas gebracht habe: Sie liegen heute in Trümmern, und niemand wohnt darin, wegen des Bösen, das sie[!] getan haben.“ (Jer 44,2f.) Aber die katastrophalen Folgen eines solchen Denkens sind ebenfalls bekannt; denn wenn es mir schlecht geht, dann muss ich dafür auch schuld sein. Das ist eine höchst inhumane Lösung (Joh 9,2f.), zu viele Opfer stehen eben nicht in Schuld. Für Christen müsste das spätestens mit dem Tode Jesu klar geworden sein. Wenn denn einer unschuldig war an seinem Untergang, dann er selbst, der Gottes Willen erfüllt hat. Nicht ohne Grund wird diese Aporie in anderer Weise gelöst: Der Tod kann nicht das letzte Wort haben; denn die Liebe ist stärker als er (Hld 8,6). Gott ist und bleibt treu (1 Kor 1,9), deshalb hat Er seinen Sohn nicht im Tode gelassen. Auch diese Lösung beschreibt keine objektive Wirklichkeit, sondern eine Grenzerfahrung, die alles menschliche Begreifen übersteigt.

Ijob und seiner Frau sind solche Überlegungen fremd[4]. Sie sind Opfer von Raub, Bedrohung und Krankheit. Diebesbanden und kriegerische Horden haben sie überfallen (1,6-20). In ihrer Situation haben sie weder Muse noch Kraft, sich mit gelehrten Theorien zu beschäftigen. Die Rahmengeschichte gibt der Erzählung einen dunklen Hintergrund, der die paradoxe Situation der Vertrauenden beschreibt. Je mehr wir alles auf den einen Schöpfer und Lenker der Welt setzen, umso mehr vermischen sich in Ihm die Gesichter Gottes und seines Gegenspielers. Amos hat schon gefragt: „Geschieht ein Unglück in der Stadt – ohne dass Jahwe es bewirkt hat?“ (Am 3,8). Bei Ijob finden sich Gott und sein Sicherheitsdienst zu einem grausamen Spiel zusammen. Doch Ijob reagiert zunächst mit Ergebung:

„Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen,
Gelobt sei der Name des Herrn.“ (1, 21).

Doch diese Ergebung reizt die Folterer nur noch mehr (2, 1-8), Aber Ijob trägt noch Reserven guter Erinnerung in sich:

„Nehmen wir das Gute an von Gott,
sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ (2,10).

Alle Religionen versuchen, auch im Leiden noch Erklärungen zu finden, das Leiden selbst zum Schein zu verniedlichen oder ein Gleichgewicht, eine letzte moralische Ordnung zu erhalten. „Alles hat Jahwe für seinen Zweck geschaffen, so auch den Frevler für den Tag des Unheils.“ (Spr 16,4) Entsprechen also auch Hitler und die anderen Verbrecher der Menschlichkeit Gottes Willen? Das hieße doch nichts weniger als dies: Nicht nur das Übel, die Erfahrung von Schmerz und Leid an sich, sondern auch die Bosheit des Herzens und das Grauen aller Zerstörung können, ja müssen von Jahwe gewollt sein[5]. Gerade die prophetischen Religionen sind mit dieser Frage konfrontiert. Biblisch verstanden schafft der Schöpfungsglaube keinen konfliktfreien und unschuldigen Gottesbegriff, sondern die dramatische Auseinandersetzung zwischen einerseits einer grenzenlosen Hoffnung auf Gottes Güte und andererseits den völlig hoffnungslosen Erfahrungen, mit denen die Opfer der Welt konfrontiert sind. Wir kennen nur eine Hoffnung, die, wie Abraham, „trotz allem“ hofft (Gen 15,6; Röm 4,18). Weil Ijob alles auf sie setzt und dennoch seine Wut nicht verdrängte, wurde er zur aktuellen Gestalt der Weltliteratur[6]. Auch die religiösen Reserven Ijobs werden irgendwann erschöpft sein und in nackter Verzweiflung enden (3,3):

„Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin,
die Nacht, die sprach: Ein Mann ist empfangen.“

Ijob erfährt Gott selber als Feind (30,21). Gottes Blick ist ihm lästig (7,19), sein Handeln wirkt wie tödlich (13,15). Ja, Gott führt zum Tod (30,23). Gott ist nirgendwo zu finden, wo er helfen müsste (23,8f.); er bleibt stumm und ohne Anteilnahme (30,20). Zugleich ist dessen Ferne Ijobs innerster Wunsch (7,8 f.); der Mensch wird vor Gott zum vergehenden Nichts (14,1-4). Deshalb beharrt er auf seiner Unschuld (16,17) und hält an seinem Weg fest (17,9); nur das gibt ihm noch Halt. Seine Plädoyers werden direkt zur Anklage gegen Gott (13,3), zum scharfen Protest gegen ihn. Worauf soll sich Ijob aber berufen, wenn nicht auf Gott und auf sein Recht? So zerbrechen alle Maßstäbe; die Regeln religiöser Weltinterpretation gelten nicht mehr. Ijob kann nur noch gegen Gott selbst protestieren, obwohl er von Ihm abhängt. In dieser Zerstörung aller Illusionen sehe ich die erste Botschaft des Ijobbuches, von der her sich alle Fragen nach Gott neu stellen.

II. Gott: Ursache – Legitimation – Verantwortung

Wer trägt Verantwortung für die Situation? Die Erzählung bringt drei Aktoren ins Spiel: Gott, Satan, die Gruppe der Räuber und Aggressoren. Es fällt auf, dass diese Gruppe, die doch die eigentlichen Täter sind, überhaupt keine Rolle mehr spielt. Wie so oft in der Weltgeschichte werden die Übeltäter anonymisiert und zu Schicksalskräften hochstilisiert. Man spricht von „Krieg“ und „Hunger“, von „Unruhen“ und „Feinden“. Nur schemenhaft berichten Boten, die selbst dem Unglück entronnen sind, von den Naturkatastrophen und den Tätern (1, 14. 16. 17. 18).

Die Rinder waren beim Pflügen
 und die Esel weideten daneben.
Da fielen die Sabäer ein, nahmen sie weg
 und erschlugen die Knechte mit scharfem Schwert.“

Im wörtlichen Sinn des Wortes spielen sie Schicksal; weder Ijob noch die Theologen Elifas, Bildad und Zofar[7], die er als seine Freunde schätzt, gehen später auf sie ein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Geschichte für unsere Erwartungen so zwiespältig ausgeht. Ijob protestiert und ergibt sich dann doch, wie wir noch genauer sehen werden. Auch von Satan wird später nichts mehr berichtet. Das ist schade, denn alle Religionen und Kulturen haben das Bedürfnis, „Widersacher“ oder übelwollende Götter, „Teufel“, „Dämonen“, „böse Mächte“, Kräfte der Zerstörung oder ein „Schicksal“ zu benennen, auch wenn man ihnen keine Entität zuschreibt. Aber nur wer sie benennt, kann sie überwinden. Auch monotheistische Kulturen haben ihren Dualismus zwischen Heil und Unheil nie völlig überwunden, weil wir Welt und Leben eben immer als zwiespältig erfahren. Im Gegenteil, je mehr wir alles auf einen Gott setzen, umso dunkler bricht neben Ihm oder in Ihm ein Abgrund auf.

Für die Geschichte Ijobs bleibt also nur Gott selbst übrig. Er hat die Ereignisse inszeniert; Satan und die Schurken stehen ganz in seinem Dienst. Er erreicht sein Ziel, nämlich die Prüfung dieses frommen Menschen. Offensichtlich soll Ijob einsehen, dass er sich ohne Widerwort und in nüchternem Realismus dem Gang der Welt sowie dem Geschick seines eigenen Körpers zu fügen hat. Das Ijobbuch greift also eine auffallend moderne Frage auf. Aufgeklärt schaltet es mythische Zwischenkräfte aus. Es zählen nur noch Gott und Mensch; über den Gang der Naturgewalten denk es nicht eigens nach.

2.1 Glück und Unglück verrechnen

So erscheint es geradezu selbstverständlich, dass Gott selbst für die Katastrophe verantwortlich ist, denn niemand anders kann frei und aus Überlegenheit über den Gang der Dinge verfügen. Das ist die naheliegende und angemessene Reaktion aller Geschlagenen und Erniedrigten, wie sich an erschütternden Psalmtexten zeigen lässt[8]. Der Glaube an Gottes Allmacht führt von selbst zu all den Theorien, die zwischen Verhalten und Schicksal der Menschen das schon genannte moralische Gleichgewicht herstellen möchten. Nur so lässt sich Gottes Handeln in ein System bringen, das zu verstehen ist. Gemäß der Apokalypse warten selbst noch die schon Ermordeten auf Gottes Eingreifen: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Apk 6,10) An wen sonst sollen sie sich wenden? Wer sonst, so unsere moderne Frage, ist verantwortlich? Was aber meinen wir hier mit Verantwortung und Verantwortlichkeit? Diese abstrakten Begriffe sind im Ijobbuch nicht zu finden. Es sind moderne, heute oft verwendete Begriffe. Sie erhielten ihre hohe Bedeutung zumal in christlichen Kulturen, in denen drei wichtige Gedanken zusammengekommen sind: Freiheit der Entscheidung, juridisch moralische Zurechnung und die Sorge und Fürsorgepflicht für Mitmensch und Natur[9].

Ihre Bedeutung ist im 20. Jahrhundert noch gewachsen, denn Natur, Umwelt und Gesellschaft konfrontieren uns mit immer komplexeren Systemen, die wir nicht einfach in ihre verwirrende Eigendynamik entlassen können. Verantwortung und Verantwortlichkeit helfen uns, Ordnung und Grundorientierungen zu schaffen. So möchten wir einfache Gründe, am liebsten Personen kennen, die für ein Geschehen „verantwortlich“ sind. Sie haben es bewirkt, zugelassen, nicht verhindert oder (bei politischen Analysen beliebt) langfristig Bedingungen entstehen lassen, die zum gegenwärtigen Zustand führten. Natürlich ist die Suche nach Verantwortlichen nicht immer positiv, denn sie entlastet uns, die Mitbeteiligten, oft im falschen Augenblick entlastet oder erweckt den Eindruck, als könnten wir alle Probleme durch die Bestrafung von Schuldigen regeln. Darum geht es Ijob gerade nicht, eher schon seinen Freunden. Sie wollen ihn trösten (2,11), aber im Grunde verletzen sie ihn, machen die Situation also nur noch schlimmer. Elifas spricht von Vergeltung und der Verantwortlichkeit des Menschen (4,1-11), ebenfalls Bildad (8,1-7) und nach längerem Anlauf und indirekt auch Zofar (11,13-20). Die beiden weiteren Rederunden zeigen, dass diese Herrn das so schmerzliche Thema nur zu persönlichen Angriffen steigern können (20, 4-29). Brauchen wir aber eine Theologie, die uns in ihrer Phantasielosigkeit nur unsere Bosheit beweist?

„Der Himmel enthüllt seine Schuld, die Erde bäumt sich gegen ihn auf.
Die Flut wälzt sein Haus weg, Wasserströme am Tage des Zorns.
Das ist des Frevlers Anteil von Gott, das Erbe, das Gott ihm zuspricht.“ (20, 27-29)

 Diese Behauptung klingt fromm, aber sie ist reine Ideologie, denn gemeint ist in geradezu zynischer Weise: Die Erdbeben- und die Flutopfer sind Übeltäter vor Gott, weil sie Opfer sind. . Im Grunde aber können sie Ijob nichts Konkretes vorhalten. Ihr Bild von einem Gott der moralischen Buchhaltung ist es, das sie zu unerlaubten Schlüssen, zu Angriffen und Beleidigungen führt. Es ist ein Gottesbild, das – bis in die Gegenwart hinein – als Versuchung den monotheistischen Welterklärungen beigegeben ist.

2.2 Von Rechthaberei und Selbstrespekt

Gegen diese Buchhaltung, die Schuld und Verantwortung in roten Zahlen zuweist ist, so scheint mir, das Ijobbuch geschrieben. Ijob beteiligt sich an diesem Rechnen nicht, sondern weist es in doppelter Weise ab. Zum einen zeigt er, dass die Vergeltungstheorie seiner Kontrahenten nicht aufgeht, nie aufgehen kann. Denn „wie wäre ein Mensch vor Gott im Recht!“ (9,2). Niemand also, auch die Besten nicht, sind vor Gott ohne Schuld. Deshalb kann Gott auch die Edlen verachten und den Starken ihren Gurt lockern, der ihnen Kraft gibt (12,21). Das Vergeltungsargument ist damit abgewiesen. Zum andern stößt Ijob immer mehr zum harten Kern des Problems vor. Man mag sich fragen: Warum lässt sich Ijob auf die Fährte der Vergeltungsfrage locken, wenn sie in die Irre führt? Beginnt er nicht selbst, sich gegenüber den drei Herren zu rechtfertigen? Wird er also nicht zum Rechthaber?

Gewiss, die Dramatik der Geschichte führt zu einem unheilvollen Zirkel von Verteidigung und neuen Vorwürfen. Ijob wendet die Vorwürfe seiner Freunde gegen sie selbst. Irgendwann beginnt Bildad, sich selbst zu verteidigen. Ja, man könnte meinen, ihm sei das Geschick von Ijob widerfahren: „Warum sind wir wie Vieh geachtet, gelten als unrein in euren Augen?“ (18,3). Ähnliches gilt von Zofar, der sich ebenfalls geschmäht fühlt (20,3). Mit mehr Weitsicht als seine Kollegen reagiert auch hier Elifas, indem er den Horizont der Verfehlungen – sozusagen gesellschaftskritisch – auf Ijobs frühere Position als solche ausweitet. Immerhin gehörte er zu den Wirtschaftsführern und Besitzenden. Notfalls wird da Grund und Boden gepfändet, müssen andere ihre Armut ertragen, verbinden sich Macht und Besitz, verkommt seine Güte zur Günstlingswirtschaft (22,6-9).

Wie reagiert Ijob auf diese Gedanken? An diesem Punkt sind die Texte eindeutig. An keiner Stelle preist Ijob sich als den Gerechten an. Zwar weist er den Schluss der drei Theologen konsequent zurück, denn keiner von ihnen kann ihm eine konkrete Verfehlung nachweisen. Auf Elifas’ umfassende und grundsätzliche Kritik reagiert er aber nicht mit Ablehnung, sondern mit Zurückhaltung. Er fordert Gottes eigenes Urteil heraus (23,1-17). Er selbst hat nichts Böses getan, das in seiner unmittelbaren Verantwortung liegt, also sein Elend auch nicht verursacht. Dies ist für den Kontext unserer Gegenwart eine wichtige Botschaft: Auch vor Gott erhält sich Ijob seine Selbstachtung. Er macht sie zwar nicht zum Prinzip und trägt sie nicht zur Schau; Klage und Verzweiflung liegen ihm als erstes auf der Zunge (3,1-26). Aber dann will er auch Klarheit über sein Versagen: „Hab ich gefehlt? Was tat ich dir, du Menschenwächter? Warum stellst du mich vor dich als Zielscheibe hin?“ (7,20; vgl. 6,24; 10,15; 13,23; 27,6; 31, 4-34). Er will sich also sich nicht als Unschuldsengel präsentieren; aber über seine Verfehlung möchte er Aufklärung:

„Sprich mich nicht schuldig,
lass mich wissen,
warum du mich befehdest“ (10,2; 13,23),

oder doch wenigstens Vergebung:

„Warum nimmst du mein Vergehen nicht weg, lässt du meine Schuld nicht nach? (7,21).

Er appelliert schließlich – wie wir sehen werden – an Gott selbst.

2.3 Warum?

Ijob sucht nach Gründen. Vielleicht zwingt ihn sein Elend dazu, sich neu zu orientieren. So wirft ein Netz der Warum-Fragen aus. Es ist zunächst das „Warum“ der Verzweiflung, des Rückzugs, der Verweigerung. „Warum starb ich nicht vom Mutterleib weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich“ ? „Warum schenkt Er dem Elenden Licht?“ (3, 11.20; vgl. 10,18). Dazu kommt das „Warum“ der Gerechtigkeitszweifel: „Warum bleiben die Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft?“ (21,7), und warum wird ständig die Erwartung widerlegt, dass die Guten belohnt und die Ungerechten bestraft werden? (21,9-34). Genau solche Fragen säen Zwietracht zwischen den Frommen, weil ihre Lebenserfahrungen plötzlich so verschieden sind. Die Elenden gelten plötzlich als die Unruhestifter, die sich dem Geschick nicht beugen. Bildad fühlt sich verletzt (18,3), und Ijob versteht seine Freunde nicht mehr: „Warum führt ihr nichtige Reden?“ (27,12). Der Fluch Gottes wird zur Verachtung, mit der ihn – in einem zusammenbrechenden sozialen System – seine Mitmenschen behandeln: „Warum verfolgt ihr mich wie Gott, warum werdet ihr an meinem Fleisch nicht satt?“ (19,23).

Es bereitet keine Schwierigkeiten, dieses zerbrechende Netzwerk von Codes, von Werten und Normen, von Selbstvertrauen, Weltinterpretationen und Selbstverständlichkeiten in die Gegenwart zu übertragen. Genau dasselbe passiert heute, wenn Menschen ins Elend stürzen, sozial ausgeschlossen werden und sich für ihre Ausnahmesituation verantworten müssen. Es ist die Krise, die Auschwitz über die europäische Theologie gebracht hat und die wir erst allmählich begreifen.[10]

Doch aus einem weiteren Grund bleibt dieses Buch wichtig: Genau an diesem Punkt der Ijobgeschichte wird nämlich der Glaube an den einen Gott, den Schöpfer der Welt, wirksam. Dieser Glaube besagt ja nicht (im modern wissenschaftlichen Sinn des Worts), dass Gott, der Allmächtige, alles verursacht. Schöpfung, Allmacht und Lenkung der Welt bedeuten nicht, dass Gott alles so eindeutig und einschichtig bewirkt, wie es dann faktisch ist. Die komplexen selbstwirkenden Systeme, von denen wir sprachen, lassen sich auch jetzt nicht leugnen. Glaube heißt Weltinterpretation und schließt einen merkwürdig spannenden Versuch ein: Wir möchten Welt, Geschichte und Einzelschicksale von dem einen, geheimnisvoll umfassenden Gesichtspunkt her zu verstehen, den wir „Gott“ nennen. So schließt „Gott“ also dieses endlose Netzwerk von Problemen in einer letzten und umfassenden Warum-Frage zusammen. JeE offener die Fragen selbst sind, umso mehr Last fällt auf „Gott“. Alle, die einmal Opfer waren oder sind, kennen diese Situation.

Die vorgeschlagene Operation ist aber gefährlich, wie die Ijobgeschichte zeigt. Denn unversehens stehen nicht nur meine Existenz und die Gerechtigkeit der Welt zur Diskussion, sondern auch die Frage, ob unser Leben und Handeln, ob unser Zusammenleben, ob ein grundlegendes Vertrauen auf den Gang der Geschichte überhaupt noch einen Sinn hat. Aber die Zusammenführung und ständige Konfrontation der gegenläufigen Fragen, nicht deren rationale Lösung gehört zu den Aufgaben des Glaubens. Aus diesem Grund fasst auch das Ijobbuch das zerbrochene Vertrauen in Welt und Mitmenschen zusammen in der Warum-Frage an Gott: Warum lässt Du[!] mich nicht sterben (10,18)? „Warum verbirgst du dein Angesichts und siehst mich an als deinen Feind?“(13,24)? Ijob beklagt, dass diese Grundfrage eines zerbrechenden, vom Tode bedrohten Lebens nicht irgendwann beantwortet wird. Der Glaube an den Einen Gott sucht ja nicht nur eine synchrone Einheit der Welt, sondern auch eine Einheit der Zeit, die Vergangenheit und Zukunft umfasst. Das ermöglicht Geduld, schafft aber auch eine drängende Ungeduld; wir können nicht ewig warten:

„Warum hat der Allmächtige keine Fristen bestimmt?
Warum schauen, die ihn kennen, seine Gerichtstage nicht?“ (24,1).

2.4 Zum Sinn der Verantwortung

Ist es also nicht Sache Gottes, die Unordnung der Welt endlich wieder zurecht zu rücken? Je öfter ich Ijobs Reden lese, umso mehr fällt mir auf, wie differenziert da formuliert wird. Einerseits ist Ijob die fromme Person, die sich ihr Vertrauen an Gott nicht so schnell nehmen lässt. Das findet die volle Zustimmung derer, die auf Gott vertrauen. Andererseits lässt sich dieses Vertrauen auf Gott nicht einfach in eine der Gerechtigkeitstheorien übersetzen, die vor allem den Schriften der biblischen Weisheitsliteratur so vertraut sind. Ijob stellt, wie wir oben sahen, eben nach allen Seiten hin Fragen und er stellt sich ihnen, bezieht sie also auf seine eigene Situation. Er will keine Antworten, die ihn (oder Gott) einfach entlasten. So durchbricht er die Alternativen seiner theologischen Freunde, die bis heute noch zu hören sind. Auch dies trifft auf die Zustimmung von vielen von uns. Offensichtlich will er ganz einfach, aber in voller Ehrlichkeit, die Zusammenhänge selbst entdecken, die sein Schicksal bestimmen. Was aber sind die Zusammenhänge selbst?

An diesem Punkt spitzt für Ijob – wie für alle Leidenden, Verhöhnten und Ausgestoßenen – das Problem zu. Diese offenen Fragen klären nicht, sondern verwirren. Sie spiegeln die tiefe existentielle Desorientierung von Menschen, die sich angesichts ihres Schicksals nicht blind ergeben wollen. Zwar erfährt Ijob Gott als seinen Feind, aber zugleich erklärt er ihn gerade nicht zum Verantwortlichen für sein Geschick. Zwar konfrontiert ihn seine Frau mit der Tatsache, dass sein Leben (wie auch immer) jetzt beendet sei (2,9), dennoch nimmt er die Auseinandersetzung mit seinem Geschick auf. Zwar kündigt  er den Herren Theologen seine Freundschaft auf, weil sie ihn doch nur betrügen (21,34); dennoch steht er ihnen weiterhin Rede und Antwort. Der entscheidende Umschlag erfolgt nach der ersten Rederunde seiner Freunde. Sie haben ihm alle Argumente aus der Hand geschlagen. Was aber wissen sie von den Umständen selbst, von Gott selbst, den sie zu kennen scheinen? Ijob weiß so viel (oder so wenig) wie seine Kontrahenten von Gottes Macht (12, 7-24). Mit welchem Recht also müssen genau diejenigen Spott erfahren, die Gott selbst anrufen (12,4)? Deshalb durchbricht Ijob eine Grenze, die in der jüdischen, aber auch in der christlichen und in der muslimischen Tradition tief verankert ist. Er spricht seinen Freunden das Recht ab, im Namen Gottes zu sprechen (13,7). Nachdem er zu Gott gerufen hat, will Ijob von Gott selbst eine Antwort (12,4). Er will seine Wege vor Ihm verteidigen (13,15), von Gott selbst hören, was er falsch gemacht hat (13,23).

„Dann rufe, und ich will Rede stehen,
oder ich rede, und du antworte mir!“ (13,22)

Gegen welchen Gott protestiert aber Ijob, und von wem fordert er Antwort? Bald zeigt sich, dass sich für Ijob das Gottesbild selbst aufspaltet, denn jetzt hat er keine andere Wahl mehr als Gott, den er als seinen Feind erfährt, als seinen Verteidiger anzurufen. Er appelliert an einen besseren Gott. Er verlangt – über alles religiös Gängige hinaus – eine unmittelbare Garantie: „Leg doch die Bürgschaft für mich bei dir nieder“ (17,3). Es ist – in einer Art utopischer Antizipation auf ein letztes Gericht – die hoffende Berufung auf Gott gegen Gott. „Seht, im Himmel ist mein Zeuge, mein Bürge in den Höhen“ (16,19). Von diesem „Bürgen“ erfahren wir weiter nichts, das sich mit unserem Wissen von Gott verbinden könnte, aber der Gott der Theologen wird damit in die Schranken gewiesen. In höchster Provokation und in letzter Selbstachtung zugleich ruft er:

„Ich aber weiß: mein Anwalt lebt
und ein Vertreter ersteht mir aus dem Staube.
Selbst wenn meine Haut zerfetzt
und mein Fleisch an mir zerschlagen ist,
werde ich Gott schauen …
damit ihr wisst: Es gibt noch ein Gericht“ (19,25.26.29c).

Mit diesem äußersten Versuch setzt Ijob seine Existenz, seine Selbstachtung, sich selbst aufs Spiel. Meistens lautet die Folgerung: Ijob protestiert gegen Gott, er ruft ihn zur „Verantwortung“. Aber mit „Verantwortung“ ist zunächst nur das „Geben einer Antwort“ gemeint, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Erniedrigten stellen Fragen, dazu haben sie ganz offensichtlich ein Recht. In einer Welt, die zusehends komplizierter wird (und deren innere Vielfalt wir immer mehr entdecken), werden die Fragen an viele Aktoren und Systeme gestellt, an Gesellschaft und Politik, an Wissenschaft und Medizin, an Biographien und Geschichte, an individuelles, fremdes und eigenes Handeln. Aber je weniger sie alle mein konkretes Schicksal erklären können, umso mehr richtet der Glaube eine umfassende Frage an Gott.

„Gäbe es doch einen, der mich hört!“ (31,35).

Damit erklären sie Gott nicht zum Verursacher unseres Elends (auch Ijob tut das nicht), aber gerade im Elend wollen sie gehört werden, schreien sie zu ihm, bitten sie ihn um Hilfe, erhoffen sie von ihm Recht und eine letzte Orientierung. Wenn Gott für den Gang der Welt Verantwortung trägt, dann heißt das in erster Linie: ein Gott der Güte und der Macht muss sich diesen Fragen stellen. Allerdings müssen die Klagenden und Schreienden (wenn sie denn auf Gott vertrauen) auch bereit sein, in dieses Spiel von Frage und „Verantwortung“ ihre eigene Existenz bis zu dem Punkt einzubringen, an dem sie nichts mehr zu verlieren haben. Die Antworten werden dann die Ebene reiner Information und Erklärung überschreiten, denn was anderes soll Gott ihnen offenbaren als etwas Unerwartetes, das ihre Existenz selbst verändert?

Das Ijobbuch hilft uns, solche „Verantwortung“ neu und elementar zu verstehen. Natürlich wissen wir, dass wir das Problem der Verantwortung nicht auf die Frage einer einschichtigen Verursachung reduzieren können. Wir bewerten mit „Verantwortung“ komplexe Zusammenhänge und stellen deren Bedeutung heraus. Wir rechnen sie bestimmten Menschen oder Instanzen zu[11]. Der Gedanke der Freiheit lebt seinerseits aus diesem Gedanken der zurechenbaren Verantwortung. So haben sie gemeinsam eine wichtige Orientierungsfunktion, – gravierende Folge eines prophetischen Erbes. Dazu zählt auch, dass wir in Solidarität (oder gar in freiwilliger Stellvertretung) die Schicksale anderer Menschen übernehmen, uns zumindest für deren Veränderung einsetzen können. Es wäre deshalb absurd zu behaupten, Gott, der eine letzte Verantwortung trägt, hätte konkretes Elend gewollt oder verursacht. Wenn Gott aber die Welt und Menschen „erschafft“, zu ihnen ganz grundsätzlich Ja sagt, wenn Gott uns Menschen also als sein Bild und Gleichnis (Gen 1,26) akzeptiert, dann möchten wir wenigstens wissen, was es mit der Rückseite dieser umfassenden Liebe und Bejahung auf sich hat, was sie uns kostet, oder (wie das Neue Testament sagt) um welchen Preis wir erkauft sind (1 Kor 6,20). Gerade weil Ijob die Tiefe und Radikalität solcher Verantwortung begriffen hat, wächst er über Einzelfragen hinaus, denn er entdeckt seine eigenen Widersprüche in Gott und umgekehrt. Nur Gott selbst kann darauf antworten. Gott entzieht sich seiner Verantwortung also nicht, indem er Ursachenketten verdeckt oder die Elenden mit Schuld bedeckt, sondern indem er sich zurückzieht, abwesend ist. Der Schrei verstummt in der Leere:

„Wissen möchte ich die Worte, die er mir entgegnet,
erfahren, was er mir sagt.
Würde er in der Fülle der Macht mit mir streiten?
Nein, gerade er wird auf mich achten .…
Geh’ ich nach Osten, so ist er nicht da,
nach Westen, so merke ich ihn nicht,
nach Norden, sein Tun erblicke ich nicht;
bieg’ ich nach Süden, sehe ich ihn nicht.“ (23, 5-6, 8-9)

 Wie ist es also möglich, dass Gott sich von dieser Welt, wie sie ist, zurückzieht? Wie kann er so allem Elend, Schmerzen und Armut den Schein einer letzten Bestätigung lassen? Wie ist es möglich, dass selbst die Botschafterinnen Gottes, die Religionen und ihre Theologien, immer wieder verkürzte Antworten geben? Das ist die Grundsatzfrage, die sich hinter dieser Anklage Gott verbirgt: Wo eigentlich ist Gott, der sich ausgerechnet den Elenden nicht zeigt?[12]

III. Vom Hören und Sehen

Bisweilen wird zwischen Kulturen der Scham und der Schuld unterschieden[13]. Zwar hat diese Unterscheidung keine allgemeine Anerkennung gefunden. Aber ganz gewiss spielt in den prophetischen Kulturen (von Judentum, Christentum und Islam) die Frage nach persönlicher Zurechnung, Verantwortlichkeit und Schuld eine dominierende Rolle. Dabei wird oft etwas Wichtiges vergessen: Den Fragen nach der Verantwortung gehen Erfahrungen der Scham voraus. Die Frage nach unserer und nach Gottes Schuld ist das eine, etwas anderes die Frage, ob wir uns vor Gott und Menschen überhaupt noch sehen lassen können, ob Gott sich vor uns noch sehen lassen kann. Das ist für unser Verhältnis zu Gott von großer Bedeutung.

3.1 Gesicht und Herz

Im ägyptischen religiösen Schrifttum fällt ein interessanter sprachlicher Dualismus auf [14]. Das Verhältnis eines Menschen zu anderen wird mit zwei sich ergänzenden Metaphern ausgedrückt. Wir tragen Dinge „auf dem Herzen“ oder mir erscheint etwas „im Gesicht“.

„Auf dem Herzen“ trage ich die Meinung anderer von mir. Ich erwäge, was sie über mich denken, was sie sagen, was ich höre. Daraus ziehe ich meine Schlüsse der Gerechtigkeit oder der Schuld. Es geht dabei nicht um eine direkte Erfahrung, sondern um die Beurteilung meines (vergangenen) Handelns; dafür werde ich zur Verantwortung gerufen. Dieser Wahrnehmungsraum des Herzens wird vom Sprechen und Hören bestimmt[15]; Vergangenheit und Gedächtnis sind das Medium der Diskussion. Die ganze Auseinandersetzung, die uns das Ijobbuch bisher vorgeführt hat, spielt sich auf dieser Ebene, der Ebene des Wortes ab. Ijob führt uns aber am Ende vor, dass dieses Erwägen, dass die Diskussion über Freiheit und Schuld in Abwesenheit Gottes letztlich zu keiner Lösung führt; das ist das Schicksal des klassischen Theodizeeproblems[16]. Wer in der christlichen Tradition hätte das besser erkannt als Paulus, der uns allen die Rechtfertigung aus „eigenen Werken“ abspricht? (Rom 3-4).

Als hätte der Gott des Hiobbuchs nur auf diese Erkenntnis gewartet, erscheint er jetzt selbst, nachdem die Diskussion zwischen Ijob und seinen Freunden gescheitert ist[17]. Jetzt spricht der Abwesende „aus dem Wettersturm“, – ich denke mir einen Orkan, dem im Wüstengebiet nur schwer zu wiederstehen ist (38,1). In der Macht dieser Naturerscheinung ist Er jetzt gegenwärtig, völlig präsent (38-41). Der Ton verändert sich; drei Gesichtspunkte bestimmen jetzt die Atmosphäre: (1) Gott selbst redet in Hoheit und Überlegenheit, immer wieder von sich selbst; allein er bestimmt die Thematik. Genau das schafft die Erfahrung, dass Gott jetzt die Szene bestimmt. Niemand mehr braucht in diesem Augenblick über ihn zu sprechen. Er ist in seiner Macht zu sehen. Der Blick wird auf Gott selbst gelenkt. (2) Gott verweist Ijob auf die Wunder der Schöpfung. Wichtig ist „nur“, was es da an Herrlichem zu sehen gibt, eingeschlossen das Nilpferd und das  Krokodil (38f.; 40,15-41,26). Der Blick wird also auf die Wirklichkeit gelenkt. (3) Kurz, aber mit beißender Ironie weist Gott Ijob selbst in seine Grenzen (40, 7-14). Die Lage Ijobs spielt keine Rolle mehr.

Wie ist Gottes Antwort zu verstehen? Warum tritt Gott jetzt doch als der Allmächtige auf und warum wird Ijob vor Gott jetzt so klein, obwohl er doch so deutlich auf seine Würde bedacht war? Stürzt die Hoffnung auf einen Gott, der den Entwürdigten Recht gibt, nicht in sich zusammen? In der Tat müssen wir uns fragen: Werden unsere „modernen“ Ijobinterpretationen, die so stark auf die menschliche Würde und Hoheit bedacht sind, der Botschaft des Ijobbuches gerecht? Ich fürchte, dass wir Gott und unsere Welt nicht mehr in ein wirklich religiöses Verhältnis zueinander bringen können. Für viele von uns ist Gott dort oben, fern von uns, so abwesend eben, wie er in der Rede der drei Freunde war. Gott ist höchstens noch imstande, die Welt zu lenken und bei den Menschen – gegen deren Willen – zu intervenieren. Das ist die einseitige Schau eines reflektierenden „Herzens“, das Gott nicht mehr sieht, weil es das „Gesicht“ Gottes verloren hat.

Doch das Ijobbuch führt die Dimension dieses „Gesichts“ in dramatischer Weise wieder ein. Gott, der Abwesende, ist jetzt unerwartet gegenwärtig. Er „erscheint“, wie es in manchen Übersetzungen des Ijobbuchs heißt. Er, Gott selbst, lädt Ijob nicht ein, nachzudenken, sondern Er zwingt ihn geradezu, zu sehen, hinzuschauen. Es geht um eine direkte, sozusagen unreflektierte Wahrnehmung, die allen Überlegungen vorangeht. In diesen Erfahrungsraum gehört das unmittelbare Gefühl der Scham, der Hoffnung auf Ehre, der Furcht vor der Schande. Erfahre ich mich vor diesem Gott entblößt, in meiner Identität getroffen, erfahre ich mich als zugehörig und begehrt? Diese Ebene der „Inter-Vision“ kennt keine Verschleierungen,. Sie lässt keine immunisierende Reflexion mehr zu. Adam und Eva gingen die Augen auf, sie erkannten, dass sie entblößt, also nackt waren (Gen 3,7). Jesaja sieht Jahwe auf seinem Thron, worauf er rief: „Weh mir, ich bin verloren!“ (6,5). In der Apokalypse sehen wir „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Apk 21,1). Diese überwältigende Gegenwart, dieses ungeschützte Stehen vor Gott, ist in allen Religionen von zentraler Bedeutung[18]. Wir könnten Religion als ein Erfahrungshandeln beschreiben, in dem alle Zeitrelationen überwunden und in die absolute Gegenwart aufgehoben sind. Die Rede über Gott geht in seine Anrede über. Deshalb mündet die Frage nach Gott (wenn sie denn authentisch gestellt und Gott wirklich gut ist) immer in diesem sichtbaren, erfahrbaren Gegenüber und Jetzt. Wie wir auch nach Gottes und nach unserer Verantwortung fragen, diese Frage mündet in die Dimension der Gegenwart ein: Wie stehe ich hier und jetzt zu Dir, Gott? Wie zeigst Du Dich mir? Bist Du angesichts dieses Zustands der Welt, angesichts meines Elends (und nachdem ich mit meinen Fragen lächerlich geworden bin) voll Ehre oder wirst Du angesichts dieser Welt selbst lächerlich? Zeigst Du Dich meinen Augen als machtvoll oder als klein, als nichtssagend und im Grunde unbedeutend?[19]. Können die Himmel Dich wirklich rühmen? (Ps 19,2)

3.2 Immer neue Fragen

Ich fürchte, dass wir in der westlichen Kultur diese Dimension einer vitalen, geradezu leiblichen Gotteserfahrung verloren haben. Ich vermute auch, dass wir Gott viel zu oft als falschen Gründen und mit oberflächlichen Argumenten zur Rechenschaft ziehen. Er „legt seine Hand auf den Mund“ (40,5) und „widerruft“ (42,6). Ijob musste in seinem Elend seinen Glauben neu lernen, das bedeutete eine existentiell radikale Umkehr. Die Freunde Ijobs sind damit nicht gerechtfertigt, sondern – zusammen mit Ijob – noch radikaler widerlegt. Ist damit alles gesagt? Gewiss, wirkliches Vertrauen auf Gott verlangt von uns die Bereitschaft, nicht mehr uns selbst als Lebensperspektive zu wählen. Dennoch wage ich nicht, diese Antwort des Ijobbuchs den Ärmsten der Armen, den Opfern der Schoa oder des Genozids in Ruanda, den sozial Vernichteten in den vielen wirtschaftlich abhängigen Ländern anzubieten, weil sich nur Gott selbst so zeigen kann.

Doch hat Gott hat den Ijob gelehrt, den Blick auf die Wirklichkeit dieser Welt zu wenden. Dazu gehört heute die enorme Bedeutung kultureller, gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Dimensionen. Die Kinder der Globalisierungsepoche müssten von Gott auch lernen, diese Dimensionen ernst zu nehmen – und zu reagieren. Aber muss es nicht auch eine letzte und rettende Verantwortung für den aktuellen Weltzustand geben? Ja, zu dieser Verantwortung gehört es, dass wir Menschen uns gegenseitig Brüder und Schwestern sind. Die Schreie zu Gott finden nur in einer Welt eine Antwort, in der Gottes Solidarität mit uns durch uns selbst Wirklichkeit wird. Nur wer den Schrei zu Gott als konkrete „Option für die Armen“ begreift, kann den Beginn einer Antwort erkennen[20].

Die hier gegebenen Antworten sind nicht neu, aber sie sind immer neu zu entdecken. Das Ijobbuch ist kein Lehrbuch, sondern ein Drehbuch zum Erlernen von Gottes Gegenwart und zur Bereitschaft, sich von ihm anreden zu lassen. Es erzählt zugleich die wahre Geschichte der Erniedrigten und Entrechteten unter uns. Es ist ein echtes, ein bleibendes theatrum mundi, das sich auch in Zukunft ständig wiederholt[21], und uns zeigt, wie Gott vor uns Verantwortung ablegt.

Anmerkungen:

[1] H. Häring, Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Darmstadt 1999, 15-36.

[2] ”Id quod nocet”: De moribus Manichaeorum II,3,5 (PL 32,1346), vgl. Häring a.a.O. 3-6.

[3] K. Barth, Gott und das Nichtige, in: Die Kirchliche Dogmatik III/3, Zürich 31979, 327-425.

[4] Diese Artikel verdankt viele Inspirationen dem wunderbaren Buch von E. vanWolde, Meneer en mevrouw Job. Job in gesprek met zijn vrouw, zijn vrienden en God, Baarn 1991.

[5] W. Gross und K.-J. Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil“. Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992.

[6] G. Langenhorst, Hiob. Unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Mainz 21995.

[7] Die vier Reden des Elihu (32,1-37,24), die redaktionell nicht in den Gesamttext verwoben, also offensichtlich en bloc eingefügt sind, werden hier nicht berücksichtigt.

[8] Dieses Drama hat U. Berges bei der Auslegung von Ps 88 sehr anschaulich vor Augen geführt: U. Berges, Schweigen ist Silber – Klagen ist Gold. Das Drama der Gottesbeziehung aus alttestamentlicher Sich mit einer Auslegung zu Ps 88, Münster  2003. Dort ist weitere wichtige Literatur zur Problematik genannt.

[9] H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979; A. Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, Frankfurt 1997.

[10] R. Ammicht-Quinn, Von Lissabon nach Auschwitz. Zum Paradigmenwechsel der Theodizeefrage, Freiburg 1992.

[11] P. Ricoeur, Finitude en Culpabilité I. L’homme faillible, Paris 1960.

[12] Die Frage nach der Gegenwart Gottes ist nicht erst eine Frage des 20. Jahrhunderts. Schon 1512 lässt der Maler Matthias Grünewald Antonius, der von Dämonen versucht wurde, sagen: Ubi eras bone Ihesu, ubi eras? Quare non affuisti ut sanares vulnera mea?” [Wo warst Du, guter Jesus, wo warst Du? Warum bist Du nicht gekommen, um meine Wunden zu heilen?] („Isenheimer Altar“ in Colmar, Frankreich).

[13] Th. Schirrmacher, Scham- und Schuldkultur, in: Querschnitte 14 (Nr. 7), Juli 2001.

[14] J. Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000, 133-137.

[15] J. Assmann nennt dies die Sphäre der „Inter-Lokution“. H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 41984; J. Assmann (Hg.), Die Erfindung des inneren Menschen, Gütersloh 1993, 81-113. Leider hat die klassische Herz-Jesu-Verehrung der katholischen Kirche noch keinen Anschluss an die genannten Dimensionen gefunden.

[16] A. Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, Freiburg  1997.

[17] Y. Pyeon, You Have Not Spoken What Is Right About Me. Intertextuality and the Book of Job, New York 2003.

[18] G. H. Seidler, Der Blick des Andern, Stuttgart 1995. Aus dieser Perspektive ist das Werk von E. Lévinas noch intensiv aufzuarbeiten.

[19] Diese Differenzierung könnte helfen, das Dilemma der klassischen Theodizeefrage besser zu verarbeiten. Hier liegt wohl auch der Grund, weshalb wir uns vom Bittgebet zwar Hilfe erwarten, unser Vertrauen auf Gott aber auch dann nicht verlieren, wenn er nicht eingreift. Entscheidend ist die Frage: Können wir uns Gott im Gebet anvertrauen, uns ihm sozusagen ganz ausliefern? Gelingt es uns auf diesem Wege, die Wirklichkeit so zu verstehen, wie sie wirklich ist?

[20] E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1974, 555-564.

[21] G. Theobald, Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee, Gütersloh 1983.


Erschienen in: Concilium 40, Okt. 2004, 429-443