Ende der Schweigespirale

Wer physische Gewalt gegen einen Bischof anwendet, zieht sich die Strafe des Interdikts als Tatstrafe zu. Ihm ist es untersagt, Sakramente oder Sakramentalien zu spenden und Sakramente zu empfangen (Can 1370 i.V.m. 1331)

 Wegen Missbrauchs muss der erste Kardinal ins Gefängnis; vor 20 Jahren hätte man es noch nicht gewagt, so gegen einen Kardinal vorzugehen. Jetzt geht meine Phantasie ihren eigenen Gang: Wie viele seiner Kollegen müssten ihm Gefolgschaft leisten, wenn ihre Verbrechen bekannt, öffentlich untersucht und geahndet würden? In Österreich begannen die großen Skandale ja mit Kardinal Gröer, der sich noch in ein Kloster zurückziehen konnte. Vor wenigen Tagen wurden Kardinal McCarrick laisiert und Kardinal Wuerl abgesetzt. Andere stehen mindestens im Verdacht hartnäckiger Vertuschung und Strafvereitelung. Wie viele Verstrickungen sind noch nicht bekannt oder bleiben für immer im Dunkeln? So gerate ich mit mir selbst in Konflikt, weil ich mir hässliche Gedanken verbieten möchte. Ich habe Besseres zu tun. Hat Kardinal Walter Kasper nicht mit seiner Aufforderung recht, wir sollten lieber über die Erneuerung des Glaubens als über so hässliche Dinge nachdenken?

Das Schweigekartell zerbrochen

Doch im Laufe der Jahre habe ich mein Vertrauen in die kirchliche Oberleitung (so hieß es noch in meiner Kindheit) verloren und in geradezu zwanghafter Empörung frage ich mich, was diese Herren sonst noch alles trieben. Denn immer befremdlicher ist es mir geworden: Während diese Herren ihre Karriereleitern erklommen und sich allmählich von uns „Laien“, auch den kirchlich engagierten, mental entfernten, desto konsequenter bauten sie hinter verschiedensten Mauern ihr wohlbehütetes, vielfach abgeschirmtes, klerikal ideologisiertes und überhöhtes Leben auf. Dazu gehörte ihr Schweigetraining, immer weniger ließen sie sich in die Karten schauen. Lange dachte ich voll Bewunderung, ob ihrer Diskretion könnte ich mich ihnen auch persönlich anvertrauen, es gebe ja ein Beichtgeheimnis. Inzwischen wurde mir klar, dass dieses Schweigen im selben Maße zu ihrer eigenen Schutzhülle wurde. Seit Jahrzehnten hat mich unter diesen würdevoll gekleideten Verantwortlichen kein Einziger durch seine persönliche Offenheit überrascht.

Manches ist an diesem Schweigekartell zerbrochen. Ich erinnere mich an einen verdienstvollen Dekan, der im Jahr 2010 aus eigenem Antrieb seinen Amtsverzicht anbot, denn als junger Kaplan habe er im Wald einmal eine junge, ansonsten selbständige Frau geküsst. Seine Mitbrüder lachten und beschworen ihn, weiterhin Pfarrer zu bleiben. Doch im selben Jahr nahm sich in Mexiko auch ein von mir hochgeschätzter Ordensmann das Leben. In seinem Abschiedsbrief gestand er einige Übergriffe, was seine Freunde zutiefst überraschte und das Lachen blieb mir im Halse stecken, denn er konnte sich niemandem anvertrauen, geschweige denn mit seinen Opfern in Kontakt treten. Die klerikale Schweigekultur hat sein Leben und vermutlich die Lebensläufe seiner Opfer zerstört.

Seitdem warte ich auf den ersten, purpur- oder zinnoberrot-geschmückten Würdenträger, der sich ohne öffentlichen Druck, aus eigenem Antrieb, vielleicht im Verbund mit Mittätern oder Mitvertuschern, zu seinen Fehlern gegenüber Kindern oder Jugendlichen bekennt, seien es massive Gewalttaten, Vertuschungsaktionen oder auch nur harmlose Grenzüberschreitungen. Wie wichtig wäre es, den Aufschrei der Misshandelten einmal aus freien Stücken anzuerkennen. Wie wichtig wäre es auch, authentisch etwas von den gleitenden Übergängen zu hören, die zu diesen Verbrechen führen, den Wegen wachsender Verstrickung und der klerikalen Atmosphäre, die solchen Lastern Raum bieten: „die Heuchelei, die priesterliche Anmaßung, die manipulative Rede von Gott, der heillose Gebrauch heiliger Rituale, die Perversion frommer Gesten.“ (E. Finger in der ZEIT v. 28.02.2019) Es gibt sie nicht, diese offenen Bekenntnisse, die sich durch keine Beichte und kein rituelles „Vater, ich habe gesündigt“ ersetzen lassen, so oft dieses auch ausgesprochen wird. Auch der Bußgottesdienst vom 23.02.2019 in Rom mochte gut gemeint sein. Die Dichte eines existentiellen Bekenntnisses erreichte er nicht, und viele der Geschädigten haben ihn als eine Alibihandlung erfahren.

Schlimmer noch, an einem Punkt stimmen die Täter mit ihren hierarchischen Kollegen überein, deren Lauterkeit niemand bestreitet. Sie mögen noch so eifrig über strukturelle Reformen und die Überwindung des Klerikalismus nachdenken, doch ihr jetzt beschworener Reformwille knickt genau dort ein, wo ihre angestammte bischöfliche und priesterliche Identität ins Schwanken kommt. So mahnte (bei Anne Will am 24.02. zum Abschluss des römischen Missbrauchsgipfels) Bischof Ackermann, der allseits anerkannte Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, zwar tapfer Strukturreformen an, zeigte sich sogar mit der päpstlichen Schlussansprache unzufrieden und gab zu erkennen, dass auch die deutschen Bischöfe entschlossener handeln müssten. Als es aber um die Ordination der Frauen ging, winkte er sofort ab. Das sei, wie er erklärte, eine dogmatische Frage. Im Klartext: daran sei nicht zu rütteln. Mich erinnerte das an Peter Kohlgraf, Kardinal Lehmanns Nachfolger in Mainz. Zuvor schon hatte er die schlanke These formuliert, das kirchliche Amt sei ein Beziehungsgeschehen. In den Tagen seines Amtsantritts aber weigerte er sich sogar, die Ordination von Frauen überhaupt zur Diskussion zu stellen.

Na und? Meinen die Herren, die sich Nachfolger der Apostel nennen, wirklich, kraft bischöflichen Konsenses gebe es im offiziellen Kirchenglauben sturmfreie Zonen, auch wenn diese von hinten und vorne nicht von der apostolischen ursprünglichen Botschaft gedeckt sind? Meinen er und seine Kollegen wirklich, nach wie vor sei Homosexualität zu tabuisieren, weil dies im Katechismus des Ratzinger-Papstes steht, und über die Frauenordination dürften wir nicht diskutieren, weil Rom dies offiziell verboten habe? Das wäre theologischer Schwachsinn und zeugte nur von einer tiefen Verachtung der jesuanischen Botschaft. Und warum bestehen unsere quasifürstlichen Wappenträger nach mittelalterlichem Vorbild immer noch darauf, zwischen Priestern und „Laien“ gebe es einen qualitativen Unterschied, wie man lange zwischen Adel und einfachem Volk unterschied? Warum nehmen sie noch immer nicht zur Kenntnis, dass das sakrale Priesteramt gerade nicht aus urchristlichen Impulsen gewachsen, sondern dem imperial-byzantinischen Machtverständnis entnommen ist? Huldigen sie noch immer der ziemlich überheblichen Illusion, sie könnten ernsthafte Ökumene betreiben, wenn sie Luthers und Calvins Dogmen- und Kirchenkritik ausklammern, weil diese den Nerv ihrer Selbstüberhöhung traf? Offensichtlich haben es alle außer den Bischöfen begriffen: die viel beschworenen Strukturänderungen bleiben Fassadenkosmetik, wenn sie nicht alles auf den Prüfstand stellen, vom Pflichtzölibat über eine erneuerte Sexualmoral bis hin zur sakramental überhöhten Amtsverehrung.

Jahrtausendkrise

Kürzlich sprach die Presse von einer Jahrtausendkrise und einer Kernschmelze der Kirche. In der Tat zwingt uns die aktuelle Krise dazu, alte verhängnisvolle Weichenstellungen zu korrigieren, die bis auf das 5. Jahrhundert zurückgehen und der Logik einer Volkskirche folgten, außerhalb derer es kein Heil mehr gab. Doch diese Logik hat sich ausagiert, sie ist unerträglich geworden. Macht- und Klerikalismuskritik sind unverzichtbar; da hat Papst Franziskus recht. Doch bislang haben alle Selbstreformer einen Punkt übersehen: Samt und sonders sind die Machtverhältnisse der römisch-katholischen Kirche sakral, genauer: von einem weltlichen Sakralverständnis her begründet. Man spricht vom „Weiheamt“, von der „Priesterweihe“ und der „Bischofskonsekration“ und hält an der priesterlichen Wandlungsvollmacht und ihrer sakramentalen Würde fest und verlang dafür äußere Anerkennung.

Seitdem unsere Gesellschaft auch noch differenzierungslos als säkularisiert und damit als gottlos gilt, hat sich dieser Anspruch verschärft. Faktisch gebärden sich die kirchlichen Amtsträger als die exklusiven Sachwalter des Heiligen und damit erst recht als unberührbar. Leicht kann dies zu unbewussten, aber höchst destruktiven Prozessen führen. Auf der römischen Bischofssynode zur Jugend erklärten deutsche Bischöfe: „Wir lernen mit den Jugendlichen die Weise, sie zu begleiten. Wir wollen ihren Herzschlag lernen und darin Mithörende sein für den leisen Impuls Gottes für ihr Leben.“ Diese geistliche, geradezu distanzlose Übergriffigkeit kann einen erschrecken. Der Weg zu leiblichen Übergriffen ist geradezu vorgeformt.

Die grausame Ironie der Missbrauchsepidemie besteht ja darin: Die Täter zerstören ihre Opfer genau an dem Punkt, an dem das Heilige in verleiblichter Weise zu Hause ist, sich spirituelle und leibgewordene Identität also treffen. Das ist die Sexualität, die der amtliche Katholizismus bislang schon aus eigenen Konkurrenzgründen zu verteufeln suchte. Solange er nicht konsequent mit seiner Selbstsakralisierung bricht, wird er auch diese Epidemie nicht los. Deshalb trifft eine „Kernschmelze der Kirche“ nicht den Punkt. Wir brauchen eine Kernschmelze der sakralisierten Amtsstruktur, damit sich die Gemeinschaft der Glaubenden wieder erneuern kann. Diese „heilige Herrschaft“ ist purer Überbau. Paulus hat alle sakralen Begriffe vermieden, und selbst die klassische Sprachregelung nennt die Priesterweihe noch „Ordination“, also einen Schritt der institutionellen „Einordnung“ in die Kirchenstruktur. Deshalb lässt sich auch die lebenslängliche Verortung der scheinbar Erhöhten in den Klerikerstand nicht mehr rechtfertigen, obwohl dies in den standesgeprägten Gesellschaften als selbstverständlich galt. Wessen Amtsdauer beendet ist, der/die tritt in die Gemeinschaft zurück. Wir brauchen keine emeritierten Bischöfe mit Mitren und Bischofsstäben, auch keinen emeritierten Papst, der sich im Schatten der Peterkuppel niederlässt. Es müsste zur Ehre dieser wohlverdienten Amtsträger gehören, dass sie wieder in die Reihen des Gottesvolkes zurücktreten. Schließlich sind wir alle getauft und vom Geist belehrt. Deshalb beleidigt das Kirchenvolk, wer jemanden zur Strafe „laisiert“, als ob „Laien“ Christinnen und Christen zweiter Klasse wären.

Verstanden hat man das noch nicht. Beim Abschlussgottesdienst des Anti-Missbrauchsgipfels aktivierten die versammelten, in Messgewänder gekleideten mächtigsten Bischöfe der Welt ihre Verwandlungsvollmachten in geballter Gemeinsamkeit: „Das ist mein Leib …“. Damit dokumentierten sie es ungewollt: Vorerst sind sie weder bereit oder überhaupt dazu fähig, ihren Klerikalismus in die Knie zu zwingen, denn sie haben die Ursache allen Übels noch nicht erkannt. Dies zeugt von einer Verdrängung der jesuanischen Prophetie durch ein mythisches Opferdenken, von einer Missachtung der Glaubensgemeinschaft zugunsten der Institution und von einem erschreckenden Mangel an spirituellem Denken, der gemeinsam den Zugang zu den erneuernden Heilquellen erschließt.

„Zölibat, Sexualmoral und so weiter“

Wenn jemand dieses katastrophale Defizit unserer Amtsideologie nicht verstanden hat, dann der vielfach gerühmte Kardinal Walter Kasper, der für ein systemstabilisierendes Handeln alle Voraussetzungen mitbringt. In der Märznummer der Herder Korrespondenz warnt er in geradezu hochmütigem Ton vor neuen innerkirchlichen Reformdebatten. Die „hinlänglich bekannten Streitfragen“ wie „Zölibat, Sexualmoral und so weiter“ brächten nichts. Notwendig sei hingegen eine „geistliche Erneuerung“. Die ganze Selbstbesinnung passt ihm nicht. Was von den verbrecherischen Untaten ist ihm wirklich bekannt? Wie vielen Opfern hat er schon zugehört? Vor wie vielen ist er verstummt? Wie vielen hat er gesagt: „Ich glaube Ihnen“, wie das Kardinal Schönborn getan hat? Abstrakt ist sein Ruf nach „geistlicher Erneuerung“ richtig, aber er tut so, als hätte seine Hierarchenklasse mit dem geistlichen Verfall nichts zu tun. Er verwechselt schlicht Ursache und Wirkung.

Fünfzig Jahre hatten unsere Bischöfe Zeit, bei dieser geistlichen Erneuerung voranzugehen. Gewiss, vor Jahrzehnten setzte er sich schon für die Zulassung konfessionsverbindender Eheleute zur Kommunion ein. Das war aber auch alles. Gegen das römische Verbot seiner Initiative setzte er sich nicht weiter zur Wehr. Im Gegenteil, auch er klomm unter fragwürdigen Pontifikaten auf der Karriereleiter weiter, ohne je seinen Widerstand gegen eine katastrophale Entwicklung kundzutun. Jetzt betreibt Kasper mit den Anderen das bekannte Spiel von Hase und Igel. Er ignoriert die geistlichen Aufbrüche, die allenthalben zu beobachten sind und die Tatsache, dass Kritik am aktuellen Kirchenzustand unverzichtbar zu diesen Aufbrüchen gehört. Denn sie stellen sich gegen alles, was diese Aufbrüche verhindert.

Dass jetzt ausgerechnet Walter Kasper seine Stimme erhebt, lässt sich nur mit Ironie zur Kenntnis nehmen. Seit den 1970er Jahren propagiert er einen kirchlich naiven Umgang mit der Wahrheit und stabilisiert so alle rechthaberischen Traditionen des Katholizismus. Es gibt keinen Weg, die Aussagen des Lehramtes außer Kraft zu setzen. Die Möglichkeit eines Irrtums wird ebenso ausgeblendet wie die Amputation des theologischen Lehramts vor 150 Jahren (Katholische Kirche 94). Noch immer repetiert er die Romantik seiner Tübinger Theologenväter, ihnen voran J. A. Möhler (1796-1838), der die Kirche in einem unreflektierten Realismus als Abbild des Urbildes Jesus Christus (Symbolik §34), als den „fortlebenden Christus“ (§36) begreift. Zwar identifiziert Kasper nicht Christus und Kirche, aber Christus sei in der Kirche präsent (KK 191), und zwar in einer fassbaren Konkret­heit, die letztlich als Unterordnung unter das bischöfliche Amt begriffen wird. Die legitime Apostolizität lässt sich aber nicht mehr an der apostolischen Botschaft (sprich: an der Schrift) messen, weil die Apostolische Sukzession laut Ratzinger „die konkrete Gestalt“ dieser Tradition sei (KK 273). Mit dieser abstraken Dialektik von Gestalt und Gehalt ist er unlösbar in die Falle der real existierenden Amtseliten geraten, deren augenblicklicher Zustand niemandem mehr verborgen bleibt.

Auch Kaspers Weg zu einem eigenen Kirchenkonzept im Jahr 1985 macht nicht plausibel, warum die Primärorienterung auf das Volk Gottes nicht mehr gelten soll. Außerdem hat sein „Durchbruch“ zur althergebrachten Leitidee der Gemeinschaft (communio) nichts Neues gebracht, denn diese Gemeinschaftsidee wird gerade nicht an die Gemeinschaft der Getauften, sondern an die Feier der Eucharistie gekoppelt, also sofort wieder klerikalisiert (KK 44-48). Damit fällt er hinter das 2. Vatikanum zurück.

So bleibt Kasper in einer vorkritischen Hermeneutik voller Naivität und Selbstgerechtigkeit stecken. Sie gibt sich modern, liberal und argumentiert mit der „Geschichtlichkeit“ des christlichen Glaubens und der Kirchlichkeit all seiner Dokumente, als hätten die Evangelien und das Ordinationsverbot von Frauen denselben Rang. Gewiss, sie hat neuzeitliche Impulse aufgenommen, die neuscholastische Starre des Dogmatismus überwunden, doch zu modernen, gar spät- oder postmodernen Fragestellungen hat sich Kasper jeden Zugang verstellt. Im Grunde dienen diese Geschichtlichkeits- und Kirchlichkeitsrhetorik nur der Selbstimmunisierung des kirchlichen Lehramts. Keine Rationalitäts- oder Ideologiekritik und kein kritisch-emanzipatorischer Impuls wird aufgenommen, keine Konsequenz ergibt sich aus der permanenten Selbstbestätigung der katholischen Lehrentwicklung, kein Blick richtet sich auf die inneren Verfälschungen, die seit 150 Jahren einen absurden päpstlichen Absolutismus ermöglichten und die Selbstverherrlichung dieser Männergesellschaft auf die Spitze trieben. Vom spezifischen Charakter religiöser Sprache und Poesie ist ebenso wenig die Rede wie von der narrativen Struktur der Jesuserzählung und vom Preis, den die Hellenisierung des Glaubensbestands und seine Fixierung in rechtlich verfügbare und einklagbare Formeln kostete. Von den Erkenntnissen protestantischer Lehrhermeneutik bleibt Kasper unberührt. So steckt er (seit 1979) ein Gelehrten- und ein Kardinalsleben lang in der Fallgrube des 1. Vatikanums. Seine unglückliche Rolle in den damaligen Diskussionen kommentiert er ohne Selbstdistanz und mit Selbstmitleid (KK 42), als ob er das Opfer der damaligen Ereignisse gewesen wäre. Unter sorgsam verschwiegenen Voraussetzungen erweist sich alle demonstrierte Liberalität als trügerischer Schein. Verschleiernd spricht er von „grundsätzlichen Fragen einer Metakritik neuzeitlicher Kritik der theologischen Hermeneutik und des Kirchenverständnisses“ (ebd.). Was das sein soll, hat er niemandem erklärt.

Unausgegorene Reformkonzepte

So verwundert es nicht, dass auch sein fragwürdiges Plädoyer für eine „geistliche Erneuerung“ nicht neu ist. Aber erneut offenbart es seine Unfähigkeit, die komplexe Struktur dieser Erneuerung zu erkennen. Er durchschaut nicht, wie er gerade diejenigen diskriminiert, die sich für die Umkehr der Kirchenelite einsetzen und deshalb auf Wahrheit bestehen; Kasper projiziert sein eigenes Versagen auf die Opfer, die sich jetzt wehren. Warum ging er zwischen dem 21. und 24. Februar nicht einmal auf den Petersplatz, um den Betroffenen zuzuhören? So übersieht er oder will er übersehen, dass er ausgerechnet den machtfixierten und vorgestrig verhärteten Betonköpfen in die Hände spielt.

In dieser Konstellation wird Kardinal Müller einem schon wieder sympathisch, denn er spricht nur offen aus, was eine zur Umkehr unfähige Dogmatik in den vergangenen Jahrhundertern produziert hat und was im Katholischen Katechismus steht. Hätten im Jahre 1970 die hierarchischen Eliten und führenden Theologen die Zeichen der Zeit erkannt und hätte Karl Rahner seinen Kollegen Küng nicht als „liberalen Protestanten“ beschimpft und damit die Reformszene gespalten, hätte man den Zustand der römisch-katholischen Kirche wohl nicht in das Elend abdriften lassen, in dem sie sich jetzt befindet und aus dem uns nur noch die Entlarvung dieses lernunfähigen hierarchischen Systems retten kann.

Warum konzentriere ich mich ausgerechnet auf Walter Kasper, diese an sich sympathische Gestalt? Weil er die Generallinie einer breiten Mittelschicht repräsentiert und legitimiert, die sich ebenfalls für liberal und offen hält, sich aber sehr duldsam gibt. Sie meint, mit etwas positivem Denken kämen die Reformen voran, gegenüber den Bischöfen solle man aber freundlich bleiben, denn stete Petitionen an sie höhlten langfristig den Stein. Schließlich seien diese für alle Zeiten die Träger einer christlich legitimierten Autorität. Ich habe daran meine Zweifel und berufe mich – mit Hans Küng und vielen Anderen ‑ auf die paulinische Charismenlehre, die die kirchliche Autorität aller Kirchenmitglieder recht funktional nach dem Wohl bemisst, das sie für die Gemeinde erbringen.

Deshalb kommen wir in der aktuellen Situation auch nicht weiter, wenn wir undifferenziert den Papst unterstützen, weil er eben Papst ist. Auch an ihn sind Fragen zu stellen. Zwar begeistern seine spirituellen Impulse, aber offensichtlich ist seine Theologie nicht durchreflektiert. An entscheidenden Punkten führt sie nicht weiter. Wir werden kraft eigenen Urteils auch ihn belehren, ihn unterstützen und gegebenenfalls kritisieren. „Die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr und keine Lüge. Bleibt in ihm, wie es euch seine Salbung gelehrt hat.“ (1 Joh 2,27)

Die Epoche des Obrigkeitsglaubens ist endgültig vorbei: „Es gibt nicht nur die Weltkirche, es gibt auch die Weltgemeinde der »survivors«, der Überlebenden, wie sie sich selbst nennen.“ (Finger, ebd.) Selbst Kardinäle können heute zur öffentlichen Rechenschaft gezogen werden, und das ist gut so. Manche erfahren dies als demütigende Krise, doch die wirklich Gedemütigten kommen nur weiter, wenn wir die große Chance solcher Entwicklungen erkennen. Es ist die Zeit, in der die Opfer offen reden und die Gemaßregelten auf ihre Rehabilitierung pochen können. Nur so ist das Böse zu überwinden, das nicht vom Teufel, sondern von gottgeweihten Priestern, wenn nicht gar Bischöfen initiiert wurde. „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3,15) Endlich gilt dieses Wort auch für die römisch-katholische Führungselite und nicht nur für die Verdächtigten, deren rechter Glaube oft genug inquiriert wurde. Wir sollten diese Chance der Offenbarung nach bestem Wissen und Gewissen nutzen.