Die Umweltenzyklika Laudato si‘ im Kreuzfeuer von Wirtschaft, Politik und Religion
„In jedem Laut dieser Welt ein Geheimnis“ (Al Khawwas)
Einleitung: Eine andere Enzyklika
Was für ein Dokument! 1968 schrieb Walter Jens zu einem aufsehenerregenden Artikel von Hans Küng: „Dieser Glücksfall! … Kühn in die Lüfte steigend eine Rakete, abgefeuert in helvetischen Marken, nun über Tübingen kreisend … und die Frage auslösend: sollte der Papst kein Leser von ATTEMPTO sein – wie können wir ihm unsere Zeitschrift zugänglich machen?“ Jetzt haben sich die Zeiten geändert. Der Papst selbst feuert eine weithin leuchtende Rakete ab, die über der ganzen Welt kreist und mich fragen lässt: Sollte nicht alle Welt diese Enzyklika lesen? Wie können wir den Regierenden diesen Text zugänglich machen? Doch keine Angst, sie werden ihn lesen. Barack Obama und Kofi Annan haben ihn schon positiv gewürdigt, ebenso Repräsentanten anderer Kirchen und der Club of Rome. Vertreter der Republikaner in den USA sind über diese Wahlhilfe für die Demokraten empört. Die prominente Vertreterin der Demokratischen Partei findet, der Papst schreibe „mit Schönheit, mit Klarheit und mit moralischer Kraft“ und niemanden wird es verwundern, wenn der Katholik Jeb Bush erklärt, er werde das Dokument nicht lesen. „Ich gehe nicht zur Messe, um mir wirtschaftspolitische oder politische Ratschläge anzuhören.“ Hingegen hebt die deutsche Herder Korrespondenz aus dem katholischen Verlag das Dokument groß als einen „dramatischen Appell“ heraus.[1] Da ist der deutsche Sozialethiker Gerhard Kruip ganz anderer Meinung. Er ist begeistert, seine ohnehin hohen Erwartungen seien übertroffen; jetzt müsse ein Ruck durch die katholische Welt gehen.[2] Dagmar Dehmer erkennt im diesem Dokument gar eine Neuinterpretation des christlichen Glaubens.[3] Gemäß dem peruanischen Ökonomen Hernando de Soto ist der Papst zu sehr marxistischen Thesen verhaftet.[4] Der anerkannte Spezialist für Klimaforschung Ottmar Edenhofer verteidigt das Dokument und weist zugleich auf dessen spezifischen Charakter hin. Der Papst sei kein Prophet, aber Brückenbauer. Zugleich nennt es das Dokument „natürlich … utopisch. Alles, was eine Transformation verlangt, ist utopisch.“[5] Bei jedem Widerspruch werden also die Motive der Kritik genau zu betrachten sein. Für mein Gefühl hat die Diskussion gerade erst begonnen. Erst in ein oder zwei Jahren wird abzusehen sein, wie und in welchem Sinn es die aktuelle Diskussion wirklich beeinflusst. Joachim Schellnhuber, weltweit anerkannter Klimaforscher, stellte am 18.06.2015 die Enzyklika zusammen mit zwei kirchlichen Funktionsträgern im Vatikan vor und verlieh ihr damit sein wissenschaftliches Gütesiegel. Vergleichbares hat es bislang noch nie gegeben.[6]
I. Eine katholische Vorbemerkung
1.1 Überraschte Reaktionen:
Laudato si‘, die Umweltenzyklika von Papst Franziskus, wurde schon lange erwartet, dennoch hat sie die meisten überrascht. Klischeehaft, fast hilflos wirken erste Reaktionen: eine „Enzyklika zur rechten Zeit“ und ein „grüner Papst“, „radikale Kapitalismuskritik“ und der „Geist Lateinamerikas“, „Kampf gegen den Klimawandel“ und „Schutz der Artenvielfalt“, „lieber zweiten Pulli als zu viel Heizung“. Ein cleverer süddeutscher Bischof wirbt sofort für die Photovoltaik-Anlagen seiner bischöflichen Häuser; jetzt fühlt er sich von höchster Stelle bestätigt. Das alles mag ja richtig sein, trifft aber nicht den Kern, der sich offensichtlich erst auf den zweiten Blick erschließt. Laudato si‘, kann man da nur sagen, gepriesen sei Franziskus für dieses erstaunliche, in vieler Hinsicht beispielhafte und hoffentlich stilbildende Dokument.
1.2 Stilfragen:
Ich beginne mit scheinbar Nebensächlichem, das vor allem katholischen LeserInnen auffallen mag. Die komplizierte Adresse früherer Enzykliken „an Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die anderen Oberhirten“ ist verschwunden; der Papst wendet sich schlicht an alle Bewohner dieser Erde. Vor uns liegt ein Dokument, das auf weite Strecken hin sachlich, mit vielen Fakten geradezu unwiderlegbar dokumentiert und keine kirchliche Sondersprache entfaltet. Abgesehen von einigen unvermeidlichen Formeln und Zitaten von Dritten spricht der Papst selten von der Kirche, nur einmal von der christlichen, nie von der kirchlichen, sprich: katholischen Tradition. Auch erschöpft er sich nicht in der endlosen Repetition früherer Lehramtsdokumente, mit denen er die Weisheit seiner Vorgänger dokumentieren will. Vielmehr zitiert er die Bischofskonferenzen von Argentinien, Bolivien, Deutschland, Japan, Kanada, Lateinamerika, Südafrika und den USA, was früher als unmöglich galt. Zitiert werden ferner Bartholomäus I., Patriarch von Konstantinopel, Paul Ricoeur (1913-2005), Romano Guardini (1885–1968, Sohn eines italienischen Geflügelgroßhändlers und deutscher Theologe). Zu Wort kommt der lange verfemte französische Jesuit und Paläontologe Teilhard de Chardin (1881-1955), den seine Kirche zwanzig Jahre nach China verbannte. Zu aller Erstaunen wird sogar Ali Al-Khawwas, ein sufischer Dichter aus dem 9. Jahrhundert genannt, dessen schönes langes Zitat sich leider mit einer Fußnote begnügen muss.
1.3 Auf Augenhöhe:
Diese Enzyklika will von der Sache her argumentieren, und wenn der Papst persönlich zu Wort kommen will, verwendet er – auch dies ein Novum ‑ das einfache Pronomen „ich“. Nicht kraft höherer Autorität, sondern als engagierter Gesprächspartner tritt er uns gegenüber: „Angesichts der weltweiten Umweltschäden möchte ich mich jetzt an jeden Menschen wenden, der auf diesem Planeten wohnt.“ [3] Diese Zurückhaltung tut allen gut und weckt Interesse an dem, was dieser Mann, der die Elenden seines Landes kennt, sagen möchte. So gesehen ist die Enzyklika, um es paradox auszudrücken, kirchlicher als zahllose andere, weil sie die Kirche nicht mehr zu einem autoritären Machtapparat verfremdet, sondern als gesprächsfähige Gemeinschaft ernst nimmt und in ein weltweites Gespräch aufnimmt. Bei so viel Stilbruch verwundert es nicht, dass konservative Vatikanbewohner diese Enzyklika mit einigem Argwohn betrachten und am liebsten ihren theologischen Charakter anzweifeln möchten.
Fragen zum Gespräch:
– Bietet eine Enzyklika zur Besprechung der vorliegenden Thematik einen sinnvollen Rahmen?
– Legen sich andere Formen der Kommunikation nahe?
II. Ein sachbezogenes und diskussionsfreudiges Dokument [Einleitung und Kap. 1]
2.1 An alle Menschen gerichtet:
„In dieser Enzyklika möchte ich mit allen ins Gespräch kommen über unser gemeinsames Haus.“ [3] Bei manchem der Vorgängerpäpste hätte man hinter solchen Worten einen überheblichen Autoritätsanspruch entdeckt. Zwar hat die katholische Kirche 1,22 Milliarden Mitglieder, das aber sind nicht mehr als 17,5 % der Weltbevölkerung. Mit welchem Recht fordert Papst Franziskus das Gehör aller Menschen? Er beruft sich auf Paul VI., der sich im Jahr 1971 mit seinem Rundschreiben über den Frieden (Pacem in terris) an alle „Menschen guten Willens“ wandte. Franziskus geht es aber nicht nur um die gutwilligen Menschen, sondern auch um die Opfer der Situation. Er folgt keinem verengenden Moralistenblick, denn in Fragen der Ökologie seien alle Menschen betroffen. Er zitiert einen päpstlichen Text von 1971 an die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO) über die Möglichkeit einer „ökologischen Katastrophe als Konsequenz der Auswirkungen der Industriegesellschaft“. Mit ihm betont er „die Dringlichkeit und die Notwendigkeit eines radikalen Wandels im Verhalten der Menschheit“, denn „die außerordentlichsten wissenschaftlichen Fortschritte, die erstaunlichsten technischen Meisterleistungen, das wunderbarste Wirtschaftswachstum wenden sich, wenn sie nicht von einem echten sozialen und moralischen Fortschritt begleitet sind, letztlich gegen den Menschen“. Dieses durch und durch weltliche, weil durch und durch humane Motiv durchzieht das ganze Schreiben.
2.2 Auf Welt und Fakten bezogen:
Im Vergleich zu den meisten päpstlichen Rundschreiben zuvor hat sich auch der theologische Charakter der Erklärung geändert. Wie man hört, sollte ursprünglich Laudato si‘ mit theologischen Grundsatzerklärungen beginnen; sein Vorgänger hätte dies ganz sicher und mit intellektueller Brillanz getan. Doch ein erster klassisch theologischer Entwurf soll, wie man hörte, verworfen und eingestampft worden sein. Der vorliegende Text sollte „von unten“ beginnen, wie es im theologischen Fachjargon heißt. Gemeint sind jedoch keine beliebigen Erfahrungen, die bei Theologen oft höchst subjektiv ausfallen können, sondern eine wissenschaftlich abgesicherte Empirie. Sie soll nicht folgenlos bleiben, darf also nicht in der Aufzählung und Analyse komplexer Prozesse enden, denn die ethische Forderung folgt auf dem Fuß: „wir brauchen eine neue Solidarität“. [14] Eine solche Solidarität ist sicher sinnvoll, doch erst jetzt, also auf einer wirklichkeitsgesättigten Diskussionsebene, kann der Kirchenführer Anspruch auf Gehör finden: „Alle können wir als Werkzeuge Gottes an der Bewahrung der Schöpfung mitarbeiten, ein jeder von seiner Kultur, seiner Erfahrung, seinen Initiativen und seinen Fähigkeiten aus.“
2.3 Was unserem Haus widerfährt:
Symbole und Metaphern, also Vergleiche und konkrete Anschaulichkeit sind dem Papst wichtig: Was unserem Haus widerfährt, so ist das erste der sechs Kapitel überschrieben. Die Überschriften der einzelnen Paragrafen lauten:
– Verschmutzung, Abfall und Wegwerfkultur
– Die Wasserfrage
– Verlust der biologischen Vielfalt
– Verschlechterung der Lebensqualität und sozialer Niedergang
– Weltweite soziale Ungerechtigkeit
– Die Unterschiedlichkeit der Meinungen
Könnte sich ein naturwissenschaftliches Institut dieser Gliederung anschließen? Ich habe meine Zweifel. Begriffe wie Wegwerfkultur, sozialer Niedergang und soziale Ungerechtigkeit würden sofort gestrichen, weil sie den Kompetenzbereich der Naturwissenschaften überschreiten. Diese Überschreitung ist für den Autor aber unverzichtbar, weil er menschliche Verhaltensweisen mit deren Folgen für eine menschliche Lebensqualität verbindet. Später setzt er die ökologischen Probleme bewusst zu den sozialen Problemen in Beziehung. Aus seiner Perspektive bedingen sie sich gegenseitig und gemäß seiner christlich-theologischen Überzeugung lässt sich die Gottesfrage davon nicht abspalten. Daraus folgt, wie er wiederholt erwähnt, die Forderung nach einer ganzheitlichen Analyse der Menschheits- und Weltsituation. Alle hochkomplexen ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und anthropologischen Prozesse sind interdependent; sie hängen miteinander zusammen. Damit gibt er seinen Analysen, wie sich zeigen wird, einen unerreichbaren Maßstab vor. Hinzu kommt, dass die Menschheit in dieser Situation eine Vielfalt von Lösungsmodellen bzw. Ideologien entwickelt hat, die teils Verursacher, teils Produkt der aktuellen Situation sind. Dieses Schreiben ist weit davon entfernt, die Lage zu vereinfachen und simple Rezepte anzubieten:
„Schließlich erkennen wir an, dass sich in Bezug auf die Situation und die möglichen Lösungen unterschiedliche Sichtweisen und gedankliche Richtungen entwickelt haben. Im einen Extrem vertreten einige um jeden Preis den Mythos des Fortschritts und behaupten, dass sich die ökologischen Probleme einfach mit neuen technischen Programmen lösen werden, ohne ethische Bedenken und grundlegende Änderungen. Im anderen Extrem ist man der Meinung, der Mensch könne mit jedem seiner Eingriffe nur eine Bedrohung sein und das weltweite Ökosystem beeinträchtigen. Deshalb sei es angebracht, seine Präsenz auf dem Planeten zu reduzieren und ihm jede Art von Eingriff zu verbieten.“ [60]
Wie ist mit dieser überkomplexen Situation umzugehen? Ein besonderes Verdienst der Enzyklika scheint mir in ihrer vermittelnden Position zu liegen. Zwar hält Franziskus mit seinen eigenen Urteilen nie hinter dem Berg. Der Argentinier, der das soziale und das ökologische Elend am eigenen Leib erlebt und zugleich die dramatischen politischen Folgen menschlichen Machtwillens erfahren hat, weiß über die gegenwärtige ökologische und soziale Situation der Menschen zwar nicht viel Gutes zu berichten, aber er will nicht von einer höheren Position aus urteilen. Die Lösungen liegen in den Händen der Betroffenen selbst. Seine Folgerung lautet:
„Zwischen diesen beiden Extremen müssten mögliche zukünftige Szenerien erdacht werden, denn es gibt nicht nur einen einzigen Lösungsweg. Das würde Anlass zu verschiedenen Beiträgen geben, die im Blick auf ganzheitliche Antworten miteinander in Dialog treten könnten.“ [60]
2.4 Aus der Anschauung lebend:
Bislang wurde dem Text viel Wohlwollen entgegengebracht, doch lautet eine oft wiederkehrende Kritik, er sei von Fakten überladen und die Analyse halte ihnen nicht immer stand. Man verweist auf zahlreiche Wiederholungen; vielleicht hätte ihm eine Kürzung gutgetan. In der Tat überrollen die Wellen unterschiedlichster Informationen schon im ersten Kapitel die Aufnahmekraft der Lesewilligen.
Genannt werden das Phänomen der Beschleunigung, dies im Gegensatz zur Langsamkeit der biologischen Evolution [18], ein naiver Fortschrittsglaube im Gegensatz zu einer wachsenden Sensibilität für Umwelt und Natur [19], die wachsenden Probleme mit Schadstoffen und Müll, bis hin zum „Effekt einer Bioakkumulation…, der auch dann eintritt, wenn sich an einem Ort des Vorkommens ein toxisches Element auf niedrigem Niveau hält“ [20, 21] und – am Papierverbrauch illustriert – hin zu den mangelnden Mechanismen eines industriellen Recyclings. [22]
Verwiesen wird auf die Erwärmung der Meere und das Ansteigen der Meeresspiegel, verursacht durch Treibhausgase „Kohlendioxyd, Methan, Stickstoffoxyde und andere“ [23], auf den Teufelskreis der daraus entstehenden Probleme für Trinkwasser, Energie und Agrarproduktion [24], die daraus folgende Verarmung und das sich verstärkende Problem der Migration [26].
Ein ganzer Paragraf wird in ähnlichem Detailreichtum den globalen Wasserproblemen gewidmet [27-31], nicht ohne den Zugang zu sicherem Trinkwasser für alle Menschen zu fordern. Auf Wasser nehmen später noch einmal acht Nummern Bezug.[7] Elf Nummern sind dem Verlust der biologischen Vielfalt gewidmet [32-42]. Für das gute Funktionieren des Ökosystems sind auch „die Pilze, die Algen, die Würmer, die Insekten, die Reptilien und die unzählige Vielfalt von Mikroorganismen notwendig“ [34], ganz zu schweigen vom Problem der Agrotoxide [25] oder dem schädlichen Einfluss von „Schnellstraßen, Neukultivierungen, Drahtzäune(n), Talsperren und andere(n) Konstruktionen“ [35]. Beispiele für den Raubbau an der Natur sind „das Amazonasgebiet und das Kongobecken“, „tropische Urwälder“ und schließlich die immer „heikle Balance“ in den hochkomplexen Ökosystemen. Neben den Monokulturen [49] wird erneut über die Ozeane mit ihren Korallenbänken nachgedacht [40], die sich oft in „Unterwasser-Friedhöfe“ verwandelt haben [41]. Zerstört wird nämlich der Reichtum von Natur, Kultur und Menschsein, der für den Papst eine geheime Leitlinie seiner Gedanken bildet. Denn später wird die Rede sein vom Verlust kultureller Erinnerung [47] und dem kulturellen Reichtum [57; 63; 143; ], vom Reichtum der Religionen [62] und einer human organisierten Stadt [151], kontrastiert mit dem fiktiven Reichtum der Finanzwelt [189]. Hinzu kommen der Reichtum Gottes selbst [86], der christlichen Spiritualität [216] und der Reichtum, „den Gott der Kirche geschenkt hat“ [216].
Immer wieder kreisen die Analysen des Dokuments um zentrale ökologische, zugleich soziopolitische Themen, mit denen sich nicht nur die Theologie, sondern vorrangig die Wissenschaften, die internationale Politik und aufsehenerregenden Weltkonferenzen beschäftigen, die von einem bedrohten Weltalltag [48], [211], von Umweltvergiftung [51], Weltklima (in zwölf Nummern)[8] und Erdverschmutzung (in 22 Nummern)[9] umgetrieben sind, von der Sorge um die Beschädigung der Natur, die Verödung von Städten und Landschaften, um eine von Überproduktion gefährdete [189], auf Monotonie hin tendierende Weltwirtschaft [39], [41], die den Konsumismus antreibt [34], [203] und zugleich Hunger [108] , Migrationen [24], [175] und Verelendung (neun Nummern)[10] in Kauf nimmt, bis hin zur Zerstörung von Familien (sieben Nummern)[11], und eine destruktive Vereinsamung [10], [47], [134] von Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen, dies nicht nur unter denjenigen, die auf der Schattenseite der Weltwirtschaft stehen.
2.5 Ein engagiertes Dokument:
Im Blick auf die Faktenlage ist dieses Kapitel unwiderlegbar. Es ist von wissenschaftlich oft akribischer Sachkunde geleitet. Der Papst hat sich des Rates anerkannter Fachleute versichert; daraus macht er kein Geheimnis. Dabei belässt er es nicht einfach bei der Darstellung von Tatsachen; vielmehr versucht er, vielfache, höchst sensible und gefährdende Prozesse zu benennen. Über sie will er einen Dialog führen, um in den differenzierten Diskursen der folgenden Kapitel angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Zugleich ist schon dieses beschreibende Kapitel von entschiedenem Engagement geprägt und stellt damit auch eine Frage an die Wissenschaft in ihrem alltäglichen Verständnis. Haben empirische und verstehende Wissenschaften von Interessen und wertenden Aspekten frei zu sein? Natürlich nicht, so sehr sie ihre Interessen offenlegen und versuchen sollten, denjenigen Interessen auf die Spur zu kommen, von denen sie faktisch, oft unbewusst geprägt sind. Wir nennen das gerne Ideologiekritik.
Wir müssen aber grundsätzlich zur Kenntnis nehmen, dass schon die Themen und die Zusammenhänge, die wir beschreiben, von Prägungen und Interessen geleitet sind. Der Papst folgt hier, wie man weiß, dem Dreischritt von Sehen-Urteilen-Handeln. Deshalb beginnt er mit der Anleitung dazu, diejenigen Dinge zu sehen, die unangenehm sind und weh tun. Schon das erste Kapitel zeigt, dass dieses Dokument keinem diskursiv wohl ausgeglichenen Duktus folgt, das sich auf eine strenge Logik konzentriert, um Gedankengänge konsequent abzurunden und Wiederholungen zu vermeiden. Schon die Bestandsaufnahme des ersten Kapitels folgt einem konsequent zyklischen Modell. Der Text scheut sich nicht vor Wiederholungen, weil er Kernpunkte einprägen will. Deshalb sollte dieses Dokument auch nicht in einem Zuge wie eine schlüssige Abhandlung gelesen werden, sondern Etappe um Etappe durchgearbeitet werden. Die Gedanken sind miteinander zu vernetzen, dies nicht ohne didaktische, pastorale und katechetische Absicht.
2.6 Ein prophetisch ungeduldiges Dokument:
Kann man von einem prophetischen Dokument reden? Man sollte mit diesem Ehrentitel sehr zurückhaltend sein. Dennoch möchte ich ihn diesem Dokument zuerkennen. Auch die großen Propheten sagten nicht simpel eine unbekannte Zukunft voraus, sondern lenkten den Blick auf Bekanntes, das andere im Grunde auch schon wussten. In Paragraf 6 des ersten Kapitels beklagt der Papst die „Schwäche der Reaktionen“: „Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten.“ Deshalb verlangt er Führungsqualitäten (leaderships) zu bilden, die Wege in die Zukunft zeigen. Er fordert die Entwicklung eines effektiven Rechtssystems und das Ende „neuer Formen von Macht, die sich vom techno-ökonomischen Paradigma herleiten, schließlich nicht nur die Politik zerstören, sondern sogar die Freiheit und die Gerechtigkeit“ [53]. Er klagt das Ende unseres selbstmörderischen Verhaltens ein [55] und warnt davor, die Erschöpfung einiger Ressourcen werde neue Kriege begünstigen [56]. Die Politik muss also den Primat erhalten. Diese Enzyklika dient nicht einfach der Belehrung, sondern einem Handeln aus einer unverfälschten humanen Orientierung heraus.
Fragen zum Gespräch:
– Liefert das erste Kapitel belastbare Informationen?
– Von welchem Ziel ist die Auswahl der Informationen bestimmt?
– Ist der „Mythos des Fortschritts“ eine brauchbare Leitlinie?
– Ist die Metapher vom bewohnbaren Haus hilfreich?
III. Der Beitrag der christlichen Botschaft [Kap. 2]
3.1 Motivationen und Deutungen:
Verändern die Situation unserer Umwelt und die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse den christlichen Glauben? Ausdrücklich vermeidet die Enzyklika eine jede Belehrung, doch sie plädiert für einen intensiven und produktiven Dialog zwischen Wissenschaften, Philosophie und Religion [62]. Im (christlichen) Glauben entdeckt sie kein neues Fachwissen, sondern „wichtige Motivationen für die Pflege der Natur und die Sorge für die schwächsten Brüder und Schwestern“. Ökologische Verpflichtungen gehören für ihn zum Bestandteil des Glaubens [64]. Genauer betrachtet schaffen die christliche Botschaft und andere religiöse Botschaften große Impulse des Vertrauens und der Wertschätzung. Sie verhelfen dazu, die Wirklichkeit aus einer Perspektive der grundsätzlichen Akzeptanz, der Sorge und des Schutzes zu verstehen. Zur Debatte stehen also hermeneutische Prozesse des Zugewandtseins und der Zuwendung, der Treue zur Erde, der Inspiration zum Handeln und zur Gewinnung umfassender, ganzheitlicher Perspektiven.
3.2 Nichts Neues, sondern Altes neu erkannt:
In dieses Licht rücken also die vielfältigen Elemente der biblischen Botschaft, die der Text entfaltet. Ob es der 1. Schöpfungsbericht ist („… es war sehr gut“) [65] oder die Zusage von Jeremias: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen“ [65]; ob es um den Auftrag geht, die Erde nicht zu beherrschen, sondern zu behüten [67] oder um die Ruhe am siebten Tag [68], die zur wohltuenden Tradition des wöchentlichen Sabbattages geführt hat [71]. Das Lob der Psalmen von Sonne, Mond und Sternen und der Aufruf der Propheten, auf die göttliche Kraft zu vertrauen [73], werden ebenso in Anschlag gebracht wie die ganz neue Entdeckung des Universums und seines Beginns in Gott in der Krise der babylonischen Gefangenschaft [74]. Diese Inspirationen sind umso erdverbundener, als auch das Buch der Natur mit dem Willen Gottes zur Kenntnis genommen wird: Dies illustrieren die Frage „Wo ist dein Bruder, Abel?“ und dessen Verbannung vom Ackerboden [70]. Eine neue Wende schafft der Neubeginn mit Noah: „Ein guter Mensch ist genug, um die Hoffnung nicht untergehen zu lassen.“ [71]
3.3 Gott, Mitte der Welt:
Die Perspektive gegenseitiger Verbundenheit zwischen Gott, Erde und Menschen wird durch einen Blick auf die „Harmonie der gesamten Schöpfung“ [76-83] ausgeweitet. Der Kosmos ist ein System offener Systeme, das von seinen globalen gegenseitigen Abhängigkeiten lebt und in ihnen weiterwächst. In der theologischen Deutung dieses Gesamtzusammenhangs scheint der Papst ganz zu seinem Anliegen und seiner eigenen Sprache zu finden. Zuvor schon beschreibt er das Universum als einen „Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit“ [73]. In aller Wirklichkeit sieht er „eine Liebkosung Gottes“ [84]. Orte können zu Orten der „Freundschaft mit Gott“ werden, an denen wir unsere Identität wiederfinden können [84]. Gott habe mit der Natur „ein kostbares Buch“ geschrieben [85]. Man hört den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyala, der seine Jünger dazu anleitet, Gott in allen Dingen zu finden. Daraus erwächst für Franziskus nahezu organisch eine „innige Verbundenheit“ [91] mit den Armen. Sein leidenschaftlicher Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung findet hier seine spirituelle Mitte, gespiegelt in Jesu rührender „Zärtlichkeit“, gemäß der Gott keinen einzigen Spatzen vergisst [96].
3.4 Erde und Mensch:
Öfter wurde schon die Frage gestellt, ob wir es mit einer Umwelt- oder mit einer Sozialenzyklika zu tun haben. Für den Papst steht ein Umweltproblem zur Debatte, das unsere sozialen und politischen Probleme engstens berührt und einschließt. Zu Beginn wird Pacem in terris, die Friedensenzyklika Johannes XXIII. (1963) genannt [4], und erwähnt werden entsprechende Hinweise von Paul VI. und – unter dem Stichwort der Humanökologie – von Johannes Paul II. [5]. „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind drei absolut miteinander verbundene Themen, die nicht getrennt und einzeln behandelt werden können, ohne erneut in Reduktionismus zu verfallen.“ [92]
So ist es nur konsequent, wenn nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Zusammenhänge zwischen Mensch und Umwelt thematisiert werden. Die Menschen sind inzwischen zu den großen Umgestaltern der Erde geworden. Wie setzen sie diese ihre neue Macht um? Hier setzt die zentrale Ideologiekritik des Papstes an.
3.5 Das technokratische Paradigma:
Der Papst ist alles andere als ein Pessimist. Er hofft auf die Kräfte des Guten, dennoch sieht er die gesamte Menschheit unter dem Einfluss eines technologischen Paradigmas, gegen das er alle Kräfte mobilisieren will. Wir brauchen „einen anderen Blick …, ein Denken, eine Politik, ein Erziehungsprogramm, einen Lebensstil und eine Spiritualität“, die diesem Paradigma Widerstand leistet [111]. Er spricht vom „technokratischen Paradigma“ [101], [108], das uns in seinen Bann gezogen hat.
„Wir sind die Erben von zwei Jahrhunderten enormer Veränderungswellen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, der Telegraph, die Elektrizität, das Automobil, das Flugzeug, die chemischen Industrien, die moderne Medizin, die Informatik und jüngst die digitale Revolution, die Robotertechnik, die Biotechnologien und die Nanotechnologien.“ [102]
Der Mensch erscheint nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter. Deshalb muss es auch um „die menschliche Wurzel der ökologischen Krise“ [Titel des 3. Kapitels] gehen. Auch dieses Thema ist nicht unbekannt, hier kommt es auf die Details an. Der Text anerkennt die großen Fortschritte von Medizin, Ingenieurswissenschaften und Informatik in all ihren Einzelheiten. Die Enzyklika achtet die Technosciense, preist technische Gebrauchsgegenstände
„im Haushalt bis zu wichtigen Verkehrsmitteln, Brücken, Gebäuden, öffentlichen Orten“. Die Technik „ist ebenso in der Lage, das Schöne hervorzubringen und den in die materielle Welt eingetauchten Menschen in die Sphäre der Schönheit ‚springen‘ zu lassen. Kann man denn die Schönheit eines Flugzeuges oder mancher Wolkenkratzer leugnen? Es gibt wunderschöne Werke der Malerei und der Musik, die durch die Verwendung neuer technischer Mittel erzielt wurden. So vollzieht sich bei der Suche des technischen Erzeugers nach Schönheit und im Betrachter dieser Schönheit ein Sprung.“ [103]
Zwar mag man von technischen Produkten begeistert sein, doch hat sich auch diese Begeisterung zu einem globalen, leider eindimensionalen Paradigma ausgewachsen. Es strebt nach Machtgewinn über die Natur. Die sozialfeindliche Lüge lautet: unbegrenzte Verfügbarkeit über die Natur [106], über Wirtschaft und Politik [109]. Die im Rundschreiben dargelegten desaströsen Folgen sind weithin bekannt, eingeschlossen die Langeweile, die von der dauernden Neuheit der Produkte ausgelöst wird [113]. Erneut zeigt sich, dass Wissenschaft und Technologie nicht neutral sind [114]. Doch auch hier wird die entscheidende Kehre zum Positiven nicht vernachlässigt. Eine Befreiung aus diesem tödlichen Paradigma ist möglich und geschieht in vielen Situationen [112].
3.6 Der Herr der Dinge?
Dennoch verschärft sich in Paragraf 3 des dritten Kapitels [115-136] noch einmal der Ton. Die Rede ist von „Anthropozentrismus“, also einer negativ-einseitigen Konzentration des Menschen auf sich selbst, die mit Romano Guardini so beschrieben wird:
„Der moderne Anthropozentrismus hat schließlich paradoxerweise die technische Vernunft über die Wirklichkeit gestellt, denn ‚dieser Mensch empfindet die Natur weder als gültige Norm, noch als lebendige Bergung. Er sieht sie voraussetzungslos, sachlich, als Raum und Stoff für ein Werk, in das alles hineingeworfen wird, gleichgültig, was damit geschieht.‘ Auf diese Weise wird der Wert, den die Welt in sich selbst hat, gemindert.“ [115]
Nicht dass sich der Mensch als Mitte der Wirklichkeit erfährt, ist das Problem, sondern dass es aus dieser Erfahrung einen prometheischen Traum der Weltherrschaft entwickelt und den Eindruck erweckt, die Sorge für die Natur sei eine Sache der Schwachen. Dieser destruktiven Fehlhaltung stellt der Papst die Abhängigkeit des Menschen von der Natur und seine Verbundenheit mit ihr entgegen.
Doch als hätte der den Abgrund unserer Menschheit noch nicht hinreichend ausgeleuchtet, setzt Franziskus zu einem weiteren kritischen Durchgang an, dieses Mal unter dem Stichwort des praktischen Relativismus [122-123]. Unter seiner Regie scheint alles möglich zu sein: die Relativierung aller Werte, die Ausbeutung der Mitmenschen, der sexuelle Missbrauch von Kindern, das Vertrauen auf die unsichtbare Hand des Marktes, organisierte Kriminalität, Handel mit Rauschgift oder Blutdiamanten, mit den Fellen bedrohter Tiere oder den Organen von Armen, bis hin zum „Wegwerfen“ von Kindern [123]. Diese Passagen gehören zu den dunkelsten des ganzen Rundschreibens. Einige Nummern zum Sinn der Arbeit [124-129] und Fragen der biologischen Innovation (Tierversuche, genetische Manipulation, Oligopole in der Getreideproduktion) schließt dieses Kapitel ab [130-136].
Fragen zum Gespräch:
– Ist der Enzyklika eine spezifisch christliche Auseinandersetzung gelungen?
Sind die biblischen Bezüge stimmig?
– Lässt sich das Universum als „Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit“ verstehen?
– Wie beurteilen Sie die Koppelung von ökologischer und sozialer Frage?
Das „technologische Paradigma“ wird scharf verurteilt. Stimmen Sie diesem Urteil zu?
IV. Wurzel der ökologischen Krise [Kap. 3]
Das theologische Gewicht des zweiten Kapitels ist, wie wir sahen, groß und schließlich werden solche Deutungen von einem Kirchenführer erwartet. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob es für den Autor das Wichtigste ist. Denn ihm geht es vorrangig um eine neue Spiritualität und um ein neues Verhalten. Beide leben letztlich nicht von Kritik, Verneinung und Widerstand, sondern aus positiven Inspirationen. Doch theologisch und anthropologisch gesehen musste und mussten die kritischen Fragen natürlich gestellt und nach Möglichkeit beantwortet werden. Die Antwort des Papstes hat tiefe Wurzeln in der theologischen Tradition. Und doch unterscheidet sie sich von den klassischen Theorien, die in den westlichen Kirchen gemeinhin zu Hause sind. Kein Wort findet sich von Erbsünde und böser Begierlichkeit, kein Wort von der Sündigkeit des Menschen und seiner Angewiesenheit auf die Rechtfertigung durch einen gütigen Gott. Es geht ihm um höchst aktuelle Erscheinungen. Zugleich werden in Kapitel 3 viele im Dokument verstreute Überlegungen gebündelt.
4.1 Macht der Technologie:
Die erste der drei Antworten ist gesellschafts- und kulturphilosophischer Art. Es gibt ein damals einflussreiches Buch des katholischen Theologen Romano Guardini mit dem Titel Die Macht (1951), in der er sich intensiv mit der „Dämonie“ der Macht auseinandersetzt. Diese Thematik tauchte schon in Guardinis Das Ende der Neuzeit (1950) auf, das in der Enzyklika zitiert wird. So wird die technologische Macht zu einem Schlüsselbegriff. Wer über technische Macht und Fähigkeiten verfügt, hat auch Verantwortung und eine breite Teilhabe durch alle anzustreben. Streng genommen wird diese Macht nicht verteufelt, doch wehrt sich Franziskus dagegen, diese Macht schlicht als etwas Gutes zu charakterisieren, denn der Mensch ist „seiner eigenen Macht, die weiter wächst, ungeschützt ausgesetzt“. [105] Hinter dieser These steckt kein pessimistisches, wohl aber ein realistisches, von schlimmen Erfahrungen gesättigtes Gottesbild. Es ist die Freiheit des Menschen, die ihn zum gefährlichen Mitmenschen werden lassen kann.
4.2 Globalisierung des technischen Paradigmas:
Der nächste Schritt folgt aus dem vorhergehenden wie von selbst. Die Globalisierung politischer, ökonomischer, technischer und finanzieller Verhältnisse kennt nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Seite einer globalen Verbreitung: Die Möglichkeiten der aktuellen Technik erlauben es, in die Wirklichkeit der Dinge selbst einzugreifen. Es entsteht die Idee, man verfüge unbegrenzt über Ressourcen und Energien, man könne die „natürliche Ordnung“ nach seinen eigenen Interessen manipulieren. [106] Dieses technokratische Paradigma ist, so die These des Dokuments, dominant geworden. [108-109]
4.3 Anthropozentrismus:
Der Gesichtspunkt des Anthropozentrismus rückt die Gedanken des Autors der traditionellen christlichen Anthropologie am nächsten. [115-121] Schon Augustinus und Thomas von Aquin verstanden Sünde als eine Fixierung des Menschen auf sich selbst (incurvatio in seipsum). Der Autor spricht davon, dass der Mensch seine Bezogenheit auf die Wirklichkeit (auf Mitmenschen, Natur, Erde, Gott) abschneidet.
Fragen zum Gespräch:
– Wo liegt nach Ihrer Meinung die Wurzel der Krise?
– Ist es die Macht?
– Was ist das Problem der Globalisierung?
– Wie beurteilen Sie den Vorwurf des „Anthropozentrismus“?
V. Weisheit und Religionen [Kap. 4-6]
5.1 Ganzheitlich denken:
Das vielleicht ausgewogenste Stück bildet Kapitel 4 [137-162] zum Programm einer ganzheitlichen Ökologie, die der hohen Komplexität der Krise Rechnung tragen soll. Der Kampf gegen die Armut und die Sorge für die Natur gehören unlösbar zusammen. Die Anstrengungen sind auszuweiten zu einer Ökologie der menschlichen Kultur. Gemeint ist damit eine sorgsame und menschenfreundliche Gestaltung des Alltagslebens, die vom Prinzip des Gemeinwohls gesteuert und auf eine generationsübergreifende Gerechtigkeit abgestimmt ist. Gewiss, der Papst fordert einen revolutionären Wandel in unserer Gesinnung, aber von gewaltsamem Umsturz keine Spur. In diesem ganzheitlichen Zusammenklang, in dem das eine Bestreben das andere nicht zerstört, erwartet er eine „echte Menschlichkeit, die zu einer neuen Synthese einlädt … gleichsam unmerklich, wie der Nebel, der unter der geschlossenen Tür hindurch dringt“. [112]
5.2 Fortschritt durch Dialog:
Deshalb folgt ein eigenes Kapitel, das keine autoritären Folgerungen zieht, sondern zum Dialog mit den gestaltenden Kräften der Welt aufruft. [163-201] In diesem Kapitel bringt der Papst seinen warnenden Anspruch und sein Handlungsvermögen zu einem guten Ausgleich. Seine „Leitlinien für Orientierung und Handlung“ zielen auf internationale, nationale und lokale Umweltdialoge, an denen Nichtregierungsorganisationen beteiligt sind [164-181], dies alles im Rahmen transparenter Entscheidungsprozesse [182-188], in denen klare Fragestellungen und Zielvorgaben garantiert sind[12], dies alles mit dem „Ziel der vollen menschlichen Entfaltung“ [189], die eine magische Auffassung des Marktes vermeidet und die Rhythmen der Natur nicht unterdrückt [190]. Zu suchen sind neue Leitbilder für den Fortschritt. [194] Kurz gesagt: Wir brauchen eine Politik mit weitem, ganzheitlichem Horizont. [197] Schließlich wird es wichtig sein, dass die Glaubenden der Welt miteinander in Dialog treten. [199-201]
5.3 Die Kraft der Spiritualität:
Aus religiöser Perspektive gehört es zur Stärke dieser Enzyklika, dass auch alle nüchternen, empirisch gedeckten und kritischen Analysen von der Wärme eines letzten Grundvertrauens durchzogen sind. Sie ist getragen von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur und dem Universum, mit den guten Kräften der Menschen, letztlich von einem tiefen Vertrauen auf Gott. Auf diese innere Wärme stoßen wir erneut im letzten Kapitel Ökologische Erziehung und Spiritualität. [202-245] Auch jetzt wird keine abstrakte Wahrheit entwickelt, vielmehr steht auch dieses Kapitel der verführbaren – und oft verführten – Weltvernunft der Menschen bei, damit sie ganz zu sich kommen kann.
„Trotzdem ist nicht alles verloren, denn die Menschen, die fähig sind, sich bis zum Äußersten herabzuwürdigen, können sich auch beherrschen, sich wieder für das Gute entscheiden und sich bessern, über alle geistigen und sozialen Konditionierungen hinweg, die sich ihnen aufdrängen.“ [205]
Dieses letzte, durchaus anspruchsvolle Kapitel 6 liest sich leicht, wird aber nur ernst genommen, wenn zuvor geklärt ist, was auf dem Spiel steht. Vor dem Hintergrund einer niederdrückenden und hochgefährlichen Realität will es religiös betroffenen Menschen klarmachen, worauf es ankommt. Das Kapitel lebt von der Überzeugung, dass sich die „Offenheit für das Gute, die Wahrheit und die Schönheit nie vollkommen vernichten“ lässt [205] und deshalb auch immer wieder eine Änderung der Lebensstile möglich ist. Diese Spiritualität schließt allerdings ein, dass auch die Tiere als selbstwertige Geschöpfe ernst genommen werden.[13] Erinnert wird an die Erd-Charta, die – unter Inspiration der UNO im Jahr 2000 zu erderhaltenden ethischen Grundprinzipien der Verantwortung und Interdependenz aufrief; es geht – im Verein mit Albert Schweitzer – um eine neue Ehrfurcht vor dem Leben. [207][14] Dadurch wird diese Enzyklika in ein säkulares Weltgespräch eingepflanzt. Das Kapitel appelliert an die neuen Inspirationen der Jugend mit ihrer Kritik an die instrumentell verengte Vernunft. [210] Damit entsprechende Gesetze wirksam werden, bedarf es einer Bevölkerung, die diese Gesetze von innen her akzeptiert, also zu Tugenden umformt. [211] Schließlich geht Franziskus davon aus, dass auch einzelne Handlungen in der Gesellschaft Gutes verbreiten und immer Früchte tragen.[212] Aufgerufen sind deshalb Schulen, Familien, Kommunikationsmittel und Katechese, sich gegen eine Kultur des Todes zu stellen. [213] „Wir müssen wieder spüren, dass wir einander brauchen.“ [229]
Auch dieses Kapitel kommt am besten als eigenständiger Text zur Geltung. Es bildet einen Zyklus, der vor allem religiöse Menschen anspricht, die ausdrücklich an Gott glauben, und für die das Bild des dreifaltigen Gottes zum Symbol der gegenseitigen Beziehung geworden ist. Deshalb kann es mit zwei Gebeten enden, in deren Zentrum die Sehnsucht nach Frieden und die Herkunft der Schöpfung aus einem göttlichen Grund stehen.
Das letzte Kapitel Ökologische Erziehung und Spiritualität hebt hervor, was der spezifische Beitrag der Religionen, insbesondere des Christentums sein kann, was eine rein rationale Analyse nicht leistet, so leidenschaftlich sie auch sein mag. Es ist das Angebot eines „anderen Lebensstils“, eines vorbehaltlosen Bündnisses mit Menschheit und Umwelt, einer ökologisch orientierten „Umkehr“ mit all den ihr eigenen Tugenden der Dankbarkeit, der Genügsamkeit und der Bereitschaft, für andere einzustehen. Man könnte von einem Ethos reden, das alles ethische Pflichtbewusstsein überschreitet. Wer der inneren religiösen Triebkraft von Laudato si‘ auf die Spur kommen will, sollte die Lektüre mit diesem Kapitel beginnen.
Fragen zum Gespräch:
– Lässt sich mit ganzheitlichem Denken die Welt gestalten?
– Was bedeutet Dialog zwischen Kirche und gesellschaftlichen Kräften?
– Welche Kraft erkennen Sie bei der anstehenden Frage der Spiritualität zu?
– Wo und wie kann die ökologische Erziehung beginnen?
VI. Die Diskussion ist eröffnet
Sehr schnell hat die Enzyklika in öffentlichen Medien eine breite Debatte ausgelöst. Eine gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung ist erst im Kommen. Zunächst war der Blick ohnehin auf die Klimakonferenz vom 30.11.-12.12.2015 in Paris gerichtet.[15] Insider des Vatikan erklären, Laudato si‘ sei daraufhin terminiert worden. Doch zeigen die vorbereitenden Konferenzpapiere und der Konferenzverlauf, wie groß der operative Abstand zwischen einer solchen Konferenz und der Enzyklika ist. Sie konnte und wollte politische Arbeit weder ersetzen noch technisch vorbereiten.
6.1 Ein politisches Dialog-Dokument zum und im Dialog:
Doch Ausgangslage und unmittelbares Ziel des Dokuments sind unstrittig: Zur Diskussion steht ein Dokument, das politisch-offensiv sein will und mit der Wirtschaft und den sozialen Weltverhältnissen ins Gericht geht. Wir haben es mit keinem neutral wissenschaftlichen oder beschreibenden, sondern mit einem Text zu tun, der den Lebensraum der Menschheit verändern will. Hier spricht kein Thomas von Aquin, auch kein Benedikt XVI., auch keine Baumeister einer katholischen oder christlichen Soziallehre, sondern ein Argentinier mit der großstädtischen Lebenserfahrung eines lateinamerikanischen Landes, das keine Versöhnung mit den herrschenden Umständen zulässt, sondern auf tiefgreifende Veränderungen auf allen öffentlichen Handlungsgebieten drängt und deshalb ökologische und soziale Fragen aufeinander bezieht. Gefragt sind alle, die sich als Christ oder Christin bekennen, wie sich ihre christlichen Überzeugungen und Lebenshaltungen in diesem Kontext auswirken.
Die Enzyklika spricht Klartext und scheut den Widerspruch nicht. Im Gegenteil, sie beabsichtigt ausdrücklich den Dialog mit allen Analytikern, Visionären und Akteuren im gesellschaftspolitischen Raum: „Ich lade dringlich zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten. Wir brauchen ein Gespräch, das uns alle zusammenführt.“ [14][16] Alle Leitlinien des Kapitels 5 stehen unter dem Motto des Dialogs: Umweltdialog in der internationalen Politik [164ff], Dialog über neue nationale und lokale politische Konzepte [176ff], Dialog und Transparenz in den Entscheidungsprozessen [182f], Politik und Wirtschaft im Dialog für die volle menschliche Entfaltung [189ff] und Religion im Dialog mit den Wissenschaften. [199-201] Dieses Dokument beansprucht kein besseres Wissen und keine höhere Weisheit, sondern Erfahrungs- und Wirklichkeitskompetenz im Dienste globaler Menschlichkeit. In diesem Sinn ist es dem „Projekt Weltethos“ vergleichbar. Es beansprucht also, als Gesprächspartner in diesem Weltgespräch ernstgenommen zu werden.
6.2 Biografisch geprägt:
Dieses Dokument konnte nur eine Person aus Lateinamerika schreiben. Dies zeigt sich am Tableau der konkreten sozialen und ökologischen Problemstellungen, an der engen Koppelung von ökologischen und sozialen Fragen, an seinen radikalen Urteilen über den herrschenden Kapitalismus und die aktuellen Zusammenhänge der Wirtschaft (vgl. Evangelii Gaudium: „Diese Wirtschaft tötet“). Bevor sich die Kritik allerdings zur Behauptung versteigt, der Papst sei ein „primitiver Kapitalist“[17], ist über die Frage zu nachzudenken, ob die angeprangerten Konstellationen paradigmatisch für die Weltsituation und e contrario paradigmatisch für die westliche Welt sind, wir uns also mit der Kluft zwischen verarmenden und einer immer reicher werdenden Weltteilen auseinandersetzen müssen. Diese sorgfältige Diskussion dieses Problems wird und muss sicher für manche Differenzierungen sorgen, kann den Grundansatz und die geschilderten Situationen aber nicht widerlegen.
6.3 Im Fluss der wissenschaftlichen Diskussion:
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Dokument dem Fluss der wissenschaftlichen (ökologischen, soziologischen und politologischen) Diskussion ausgesetzt ist.
Laudato si‘ bewegt sich ja auf einer Grenze. Der Text wendet sich offen dem Weltdialog zu, ist aber unterschwellig doch noch einem innerkatholischen Perfektionismus verhaftet. An vielen Stellen entsteht der Eindruck, er wolle die ganze Welt erklären. Er will die hohe Komplexität einer ganzheitlichen Ökologie thematisieren und ausschöpfen. So rührt er an manchen Stellen an eine inhaltliche Überkomplexität, die sprachlich kaum noch zu meistern ist, weil sie sich zwischen universalen und konkreten Details aufreibt.
Verwirrung schafft die Überzahl der etwa zwanzig ideologie-, kultur- und gesellschaftskritischen Kategorien, die seit Jahrzehnten im Umlauf sind. Ähnlich wie bei der Überfülle von Beispielen wäre weniger vielleicht mehr gewesen. In ihrer Summe schaffen sie eher Unklarheit, da jede ihren eigenen Ort und ihre eigene Dynamik hat. Wie etwa ist der Zusammenhang zwischen ökologischem und sozialem Unrecht genau zu beschreiben? Ist die leitende Metapher vom Haus der Menschen zutreffend oder irreführend, weil sie den Blick auf die Erde anthropozentrisch, geradezu fatalistisch verengt?[18] Führen Emissionszertifikate wirklich weiter? Ist es realistisch oder sinnvoll, eine Weltregierung zu fordern? Muss dem wachsenden Sektor der Dienstleistung kein größerer Raum zuerkannt werden? Sollen wir erneut vorindustrielle Zeiten mit bäuerlicher Kleinwirtschaft anstreben? Was genau ist von Wirtschaftsrezession als Mittel gegen ein endloses Wirtschaftswachstum zu denken? Versteht die Enzyklika wirklich, wie eine hochmoderne Wirtschaft funktioniert? Warum wird gegen den Gedanken der Geburtenregelung polemisiert und war es nötig, gegen die Abtreibung ein massives Geschütz auszufahren? Hier zeigen sich doch spezifisch katholische Vorurteile.
6.4 Ein neuer innerkirchlicher Ansatz?
Für weitere innerkatholische Debatten wird das Dokument Geschichte machen. Es hat nämlich keinen kirchlich/christlichen Wahrheitsanspruch aufgegeben, ihn aber auf sein authentisches Gebiet menschlicher Wahrheitserfahrung beschränkt. So nimmt der Papst vom alten Modell einer autoritär dekretierenden Wahrheitslehre Abstand und begibt sich zusammen mit anderen Wahrheitsinstanzen auf eine gemeinsame Suche. Dabei sollte er sich der Zustimmung der Theologen sicher sein, denn der Glaube erklärt keine abstrakte Wahrheit, vielmehr wirft er auf die Krisensituation ein Licht. Das ist keine definierende, sondern eine deutende Funktion. Gemäß Laudato si‘ bieten auch die biblischen Erzählungen keine schlüssige Weltinterpretation, die sich in eine Ontologie oder in ein wohl definiertes Menschenbild umsetzen lässt. Der Papst spricht ganz unprätentiös von einer Weisheit, die zur Achtung vor Mensch und Natur einlädt.
Ich höre darin einen Ton bedingungsloser Positivität, zugleich einen Ton, der von allen Religionen mitgetragen werden kann. Diese Positivität von geradezu mystischer Dichte wird im Weltgespräch eine tragende Stimme bleiben können und müssen. Anders ist die Welt buchstäblich nicht zu retten. In dieser Positivität sehe ich auch den entscheidenden Impuls. Er wird sich bei allen wissenschaftlichen Diskussionen gerade deshalb halten, weil er seinen Test in der bedingungslosen Empathie sucht, mit der die Armen und die von ihrer Umwelt Zerstörten nicht allein gelassen werden.
In einer solchen Denkhaltung gibt die römisch-katholische Kirche endlich die scheinbar unausrottbare Nabelschau auf, von der päpstliche Dokumente bislang durchzogen waren. Endlich verweist der Papst innerkirchliche Debatten auf den zweiten Rang und scheut sich – in aller Liebenswürdigkeit – nicht vor kritischen Bemerkungen gegenüber innerkirchlichem Verhalten. Nicht nur Insidern ist klar, dass er mit seiner säkularen Thematik der Egozentrik nicht nur der Kirche, sondern auch der Finanzwelt, Wirtschaft und Politik einen unmissverständlichen Riegel vorschiebt. Zudem führt er, wie schon gesagt, als erster Papst in einem hochoffiziellen Dokument ein theologisches Paradigma ein, das mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit beginnt und christliches Denken auf die Spur eines aktuellen und gesprächsfähigen Diskurses setzt.
Umso bedauerlicher ist, dass der Papst innerkirchlich jetzt doch wieder als der Allerklärer auftritt. Manche Passage hätte einfacher werden können, hätte er einschlägige Literatur genannt und auf abgehandelte Debatten verwiesen. Den Pionier aller „Ehrfurcht vor dem Leben“, Albert Schweitzer, sucht man vergebens. Genannt wird nicht einmal das verdienstvolle Buch von Leonard Boff, das er schon lange kennen muss. Übergangen werden die ökumenischen Diskussionen, die der Weltrat der Kirchen im Rahmen des konziliaren Prozesses zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung seit 1983 auf verschiedenen Ebenen führte. Übersehen wird das epochales Buch von C. F. von Weizsäcker: Die Zeit drängt (1986). Projekte wie „Weltethos“ und „Compassion“ sind nur zwei der weiteren zahlreichen Impulse, die eine neue, universal orientierte Sorge für die Menschheit schon vorweggenommen haben. Eine Enzyklika, die nicht unbefangen auf Diskussionen zurückgreift, die in eigenen Reihen schon seit Jahrzehnten geführt werden, macht es sich unnötig schwer.
6.5 Der weltpolitische Sinn von Spiritualität:
Missverstanden wurden in der ersten Rezeption die Tragweite einer religiös vitalen Spiritualität und der Sinn ökologischer Tugenden. Die Anweisungen zu kleinen ökologischen Handlungen wurden als „Albernheiten“ diskreditiert. In einer katholischen Verbandszeitschrift erschien eine Besprechung unter dem Titel „Der Papst traut dem Markt nichts Gutes zu“. Das Gegenteil ist der Fall. Man muss nur begreifen, dass er genau zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterscheidet.[19] Die Absichten des Dokuments werden banalisiert, wenn geschrieben wird: „Als individuelle Beiträge im Alltag werden u.a. genannt: wärmere Kleidung anziehen anstatt unnötig zu heizen, Verbrauch von Kunststoff und Papier vermeiden oder das Licht ausschalten nach Verlassen von Räumen.“ Dabei schützt sich die Enzyklika selbst gegen ein solches Missverständnis ab.
„Diese Handlungen verbreiten Gutes in der Gesellschaft, das über das Feststellbare hinaus immer Früchte trägt, denn sie verursachen im Schoß dieser Erde etwas Gutes, das stets dazu neigt, sich auszubreiten, manchmal unsichtbar. Außerdem gibt uns ein solches Verhalten das Gefühl der eigenen Würde zurück, führt uns zu einer größeren Lebenstiefe und schenkt uns die Erfahrung, dass das Leben in dieser Welt lebenswert ist.“ [212]
Die Enzyklika kann so zum Anlass werden, über die kulturprägende und politisch deshalb hochrelevante Bedeutung von Spiritualität nachzudenken. Die Enzyklika spricht von Tugend [88], [211], [217], [224], das „Projekt Weltethos“ von einem Ethos, also einer internalisierten, vollzogenen, sozusagen zur zweiten Natur gewordenen Haltung, die Religionen einzuüben fähig sind. Doch offensichtlich hatte er nicht die Intention, die katholische Sozialethik, die sich auf mehrere Enzykliken beruft, weiterzuschreiben. Mit gutem Grund weist Christoph Hübenthal auf eine Lücke dieser Enzyklika hin: „Die tugendpädagogischen Anstrengungen müssten … durch eine Sozialethik flankiert werden, die diesen Namen auch verdient. Es müssten politische und ökonomische Alternativen aufgezeigt werden.“[20] Hübenthal hofft deshalb auf ein weiteres Lehrschreiben. Warum eigentlich? Schließlich ist der Papst weder ein säkularer noch ein theologischer Sozialethiker. Es wäre deren Sache, die vorgetragenen Anregungen aufzunehmen und weiter zu verarbeiten. Der Papst verfolgt ein anderes Ziel. Er enthüllt seine innersten Intentionen mit dem Zitat des sufischen geistlichen Lehrers Ali Al-Khawwas:
„Man soll nicht von vornherein diejenigen kritisieren, welche die Verzückung in der Musik oder in der Poesie suchen. Es liegt ein feines Geheimnis in jeder Bewegung und in jedem Laut dieser Welt. Die Eingeweihten gelangen dahin zu erfassen, was der wehende Wind, die sich biegenden Bäume, das rauschende Wasser, die summenden Fliegen, die knarrenden Türen, der Gesang der Vögel, der Klang der Saiten oder der Flöten, der Seufzer der Kranken, das Stöhnen der Betrübten […] sagen.“ [233, Anm. 160]
Offensichtlich schöpft der Papst aus solchen Erfahrungen die Kraft für sein politisches Wirken, in dem er die Botschaft Christi gegenwärtig sieht. Für ihn gilt, was Johannes vom Kreuz schrieb: „Alle Dinge – das ist Gott.“ [234]
Fragen zum Gespräch:
– Sprechen Sie dem Dokument Erfahrungs- und Wirklichkeitskompetenz zu?
– Ist die Kapitalismuskritik überzeugend?
– Kommen wissenschaftliche und sozial engagierte Diskurse zum Ausgleich?
– Hat die ökumenische Diskussion Schaden genommen?
– Welche politische Bedeutung messen Sie einer religiösen Spiritualität zu?
Schluss
Aus innerchristlicher Perspektive zweigt sich die Enzyklika Laudato si´ als ein historisches Dokument. Es lässt sich auf eine weltpolitisch hochaktuelle Frage ein und gibt ein Beispiel dafür, wie sich die christliche Botschaft auf die Gegenwart beziehen lässt. Darauf folgt nicht, dass diese Enzyklika zum allein verbindlichen katholischen Lehrdokument in Sachen Ökologie hochstilisiert werden sollte. Ihr ist aber eine breite Resonanz zu wünschen. Sie will keine definitiven, geschweige denn unfehlbaren Antworten geben, sondern das Weltgespräch inspirieren und auf ein Niveau heben, das ihm gebührt, indem sich alle kompetenten Instanzen, von den betroffenen Menschen über die Wissenschaften und Technik bis hin zur Spiritualität der Weltreligionen, daran beteiligen. Wenn dies gelingt, ist es aus weltpolitischer und weltreligiöser Perspektive ein epochales Dokument.
Anhang:
Gliederung der Enzyklika Laudato si‘ von Papst Franziskus
Über die Sorge für das Gemeinsame Haus
Laudato si‘, mi‘ Signore [1-2] ‑ Nichts von dieser Welt ist für uns gleichgültig [3-6] ‑ Vereint in ein und derselben Sorge [7-9] ‑ Der heilige Franziskus von Assisi [10-12] ‑ Mein Aufruf [13-16]
Erstes Kapitel: Was unserem Haus widerfährt [17-19]
I. Umweltverschmutzung und Klimawandel [20]
Verschmutzung, Abfall und Wegwerfkultur [20-22] ‑ Das Klima als gemeinsames Gut
[23-26]
II. Die Wasserfrage [27-31]
III. Der Verlust der biologischen Vielfalt [32-42]
IV. Verschlechterung der Lebensqualität und sozialer Niedergang [43-47]
V. Weltweite soziale Ungerechtigkeit [48-52]
VI. Die Schwäche der Reaktionen [53-59]
VII. Die Unterschiedlichkeit der Meinungen [60-61]
Zweites Kapitel: Das Evangelium von der Schöpfung [62]
I. Das Licht, das der Glaube bietet [63-64]
II. Die Weisheit der biblischen Erzählungen [65-75]III. Das Geheimnis des Universums
[76-83]
IV. Die Botschaft eines jeden Geschöpfes in der Harmonie der gesamten Schöpfung
[84-88]
V. Eine universale Gemeinschaft [89-92]
VI. Die gemeinsame Bestimmung der Güter [93-95]
VII. Der Blick Jesu [96-100]
Drittes Kapitel: Die menschliche Wurzel der ökologischen Krise [101]
I. Die Technologie: Kreativität und Macht [102-105]
II. Die Globalisierung des technokratischen Paradigmas [106-114]
III. Krise und Auswirkungen des modernen Anthropozentrismus [115-136]
Der praktische Relativismus [122-123] ‑ Die Notwendigkeit, die Arbeit zu schützen
[124-129] ‑ Die von der Forschung ausgehende biologische Innovation [130-136]
Viertes Kapitel: Eine ganzheitliche Ökologie [137]
I. Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialökologie [138-142]
II. Die Kulturökologie [143-146]
III. Die Ökologie des Alltagslebens [147-155]
IV. Das Prinzip des Gemeinwohls [156-158]
V. Die generationsübergreifende Gerechtigkeit [159-162]
Fünftes Kapitel: Einige Leitlinien für Orientierung und Handlung [163]
I. Der Umweltdialog in der internationalen Politik [164-175]
II. Der Dialog im Hinblick auf neue nationale und lokale politische Konzepte [176-181]
III. Dialog und Transparenz in den Entscheidungsprozessen [182-188]
IV. Politik und Wirtschaft im Dialog für die volle menschliche Entfaltung [189-198]
V. Die Religionen im Dialog mit den Wissenschaften [199-201]
Sechstes Kapitel: Ökologische Erziehung und Spiritualität [202]
I. Auf einen anderen Lebensstil setzen [203-208]
II. Erziehung zum Bündnis zwischen der Menschheit und der Umwelt [209-215]
III. Die ökologische Umkehr [216-221]
IV. Freude und Frieden [222-227]
V. Liebe im zivilen und politischen Bereich [228-232]
VI. Sakramentale Zeichen und die Feiertagsruhe [233-237]
VII. Die Trinität und die Beziehung zwischen den Geschöpfen [238-240]
VIII.Die Königin der ganzen Schöpfung
IX. Jenseits der Sonne [243-245]
Gebet für unsere Erde [246] ‑ Christliches Gebet mit der Schöpfung
Anmerkungen
[1] Herder Korrespondenz 69 (2015), Heft 7.
[2] Gerhard Kruip, „Es muss ein Ruck durch die katholische Welt gehen“, Interview im Internetportal katholisch.de vom 19.06.2015.
[3] Dagmar Dehner, Papst Franziskus interpretiert den christlichen Glauben neu, in: Tagesspiegel vom 18.06.2015.
[4] Hernando de Soto, Der Papst irrt, in: DIE ZEIT vom 19.11.2015.
[5] Ottmar Edenhofer, „Natürlich ist das utopisch“, Interview in: Süddeutsche Zeitung vom 20.06.2015.
[6] Joachim Schellnhuber, Common Ground. The Papal Encyclical, Science and the Protection of Planet Earth, als Dokument des Potsdamer Instituts für Klimaforschung im Internet abzurufen.
[7] Vgl. die Nummern [84], [129], [140], [164], [180], [185], [215] und [235].
[8] Vgl. die Nummern [48], [23], [24], [25], [26], [52] [55], [169], [170], [172], [181], [204].
[9] Vgl. die Nummern [8], [20]; [21], [24], [29]; [42], [44], [47], [48], [50], [110], [111], [112], [152], [153], [167], [169], [172], [175], [177], [195], [206].
[10] Vgl. die Nummern [24], [48], [51], [90] [108] [109] [134][142] [172].
[11] Vgl. die Nummern [6] [94], [142], [152], [157] [162], [213].
[12] „Wozu? Weshalb? Wo? Wann? In welcher Weise? Für wen? Welches sind die Risiken? Zu welchem Preis? Wer kommt für die Kosten auf, und wie wird er das tun?“[185]
[13] Rainer Hagencord, Mitgeschöpfe statt Statisten, in: Mitteilungen der KNA vom 04.10.2015.
[14] Leider wird Albert Schweitzer mit keinem Wort erwähnt. „ … der Papst hat meinen Helden Albert Schweitzer vergessen. Dass ich kein Zitat von dem großen Ökophilosophen gefunden habe, ist mehr als verwunderlich.“ Fritz Schorlemmer in: DIE ZEIT vom 25. Juni 2015.
[15] COP [Conference of the Parties] 21 vom 30.11.-12.12. 2015 in Paris.
[16] Vgl. die Nummern [15], [47], [60], [62], [63], [64], [81], [121], [143].
[17] Alan Posener, Papst Franziskus ist ein primitiver Antikapitalis, in: Die Welt vom 5.12.2015.
[18] Edgar L. Gärtner, Die Häresie der Häuslichkeit. Zur Öko-Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus, in der Monatszeitschrift: eigentümlich frei vom 18.10.2015.
[19] Wendelin Wilhelm, Der Papst traut dem Markt nichts Gutes zu, in: Hirschberg Nr. 9/2015, 588-591.
[20] Christoph Hübenthal, Ökospiritualität als Naturrecht ‑ Ein Kommentar zu Papst Franziskus‘ jüngster Enzyklika Laudato si‘, in: Imprimatur 4/2015, 188-192; zit. 192.