Ein theologischer Blick aus Deutschland
Nach Meinung vieler gehört zu den positiven Aspekten von Bergoglios Wahl zum Papst die Tatsache, dass mit der eurozentrischen Dynastie im Vatikan gebrochen wurde. Aus deutscher Sicht analysiert Hermann Häring in einem E-Mail-Interview für IHU On-Line, wie Franziskus eingeschätzt wird, welche Herausforderungen und Fortschritte seine Wahl bedeutet. Was unmittelbar überrascht, ist die positive Reaktion des deutschen Volkes. Häring erklärt: „Nach dem ersten Schock, den der Rücktritt von Benedikt XVI. ausgelöst hatte, spielen nationale Gefühle (Abschied von einem deutschen Papst) nur eine geringe Rolle. Unabhängig von der Position einzelner Bischöfe verhält sich die Deutsche Bischofskonferenz (noch) auffällig neutral. Von aktivem Enthusiasmus ist wenig zu spüren. Deshalb fordern katholische Reformgruppen die deutschen Bischöfe mit wachsender Intensität dazu auf, sich eindeutig mit den Reformzielen des Papstes zu solidarisieren und gegen die neuesten kurialen Widerstände Stellung zu nehmen.“
Häring weist darauf hin, die Bewegung der Befreiungstheologie sei in Deutschland nicht sehr bekannt gewesen. Es sei jedoch, so Häring, das große Verdient des Papstes, dass er die Grundprinzipien dieser theologischen Strömung ins Zentrum seiner Botschaft stelle. Er fügt er hinzu: „Seit seinem Pontifikat werden die Gedanken der Befreiungstheologie von vielen Gruppen in Deutschland wieder offen propagiert. Bei Mitgliedern engagierter christlicher Gemeinden finden sie offenes Gehör.“
Das Zweite Vatikanische Konzil ist ein anderes Thema, das Franziskus wieder in die Diskussion brachte. Häring sagt: „ Für katholische Reformgruppen in Deutschland sind für Papst Franziskus drei konziliare Impulse wichtig: der Gedanke des Gottesvolkes, die Stärkung der Kollegialität und die Dezentralisierung kirchlicher Strukturen.“ Diese Impulse eröffnen neue Perspektiven. Der Theologe weist daraufhin, dass das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde von den Vorgängern restriktiv interpretiert wurde. Mit Francisco setzt sich aber eine neue Sicht durch. „Deshalb kann Papst Franziskus formal betonen, dass er ganz in der Kontinuität seiner Vorgänger steht. Faktisch geht er aber neue Wege.“
IHU On-Line:
Was sind die Auswirkungen der ersten beiden Jahre des Franziskus-Pontifikats in Deutschland? Wie betrachtet die Kirche in Deutschland sein Pontifikat?
Hermann Häring:
Die deutsche Öffentlichkeit steht dem Pontifikat des neuen Papstes sehr positiv gegenüber. Unabhängig von sehr unterschiedlichen religiösen Einstellungen (Katholiken, Protestanten, Agnostiker, Atheisten) genießt der Papst hohe Sympathiewerte. 78 Prozent finden sein Auftreten positiv, nur 13% wünscht sich seinen Vorgänger zurück.
Eine große Mehrheit der in ihrer Kirche engagierten Katholikinnen und Katholiken begrüßt den neuen Pontifikat. 72% sehen ihn gerne als ihr Kirchenoberhaupt. Davon erkennen 59% in ihm einen entschiedenen Reformwillen. Man erwartet von ihm konkrete kräftige Impulse der Erneuerung, in der die großen Ideen des 2. Vatikanischen Konzils zur Wirkung kommen können. Allerdings meinen nur 32%, dass er die Modernisierung der Kirche auch wirklich durchsetzen kann.
Kleinere, schon unter Benedikt XVI. ausgesprochen konservative Gruppen stehen dem Franziskus-Pontifikat mit innerer Distanz gegenüber. Sie sehen die traditionellen Werte und kirchlichen Strukturen bedroht, die von Benedikt XVI. noch stark betont und autoritär durchgesetzt wurden. Die Zahl dieser Nostalgiker beläuft sich auf 12%.
Neutralität des deutschen Episkopats: Nach dem ersten Schock, den der Rücktritt von Benedikt XVI. ausgelöst hatte, spielen nationale Gefühle (Abschied von einem deutschen Papst) nur eine geringe Rolle. – Unabhängig von der Position einzelner Bischöfe verhält sich die Deutsche Bischofskonferenz (noch) auffällig neutral. Von aktivem Enthusiasmus ist wenig zu spüren. Deshalb fordern katholische Reformgruppen die deutschen Bischöfe mit wachsender Intensität dazu auf, sich eindeutig mit den Reformzielen des Papstes zu solidarisieren und gegen die neuesten kurialen Widerstände Stellung zu beziehen.
IHU On-Line:
Lässt sich erkennen, wie Franziskus das Zweite Vatikanische Konzil liest? An welchen Punkten nähert bzw. entfernt sich seine Lektüre vom entsprechenden Verständnis seiner Vorgänger Papst Benedikt XVI und Johannes Paul II?
HH: Für katholische Reformgruppen in Deutschland sind dem Papst drei konziliare Impulse wichtig: (1) der Gedanke des Gottesvolkes, (2) die Stärkung der Kollegialität und (3) die Dezentralisierung kirchlicher Strukturen. Alle drei Impulse wurden von seinen Vorgängern zwar nicht abgelehnt, aber restriktiv im Sinne eines römischen Machterhalts ausgelegt. Deshalb kann Papst Franziskus formal betonen, dass er ganz in der Kontinuität seiner Vorgänger steht. Faktisch geht er aber neue Wege.
Die Vorstellung vom Volk Gottes: Unter „Volk“ versteht Papst Franziskus in erster Linie die einfachen, armen und sozial unterdrückten Menschen (Frauen, Männer, Kinder), denen er als Seelsorger in Argentinien täglich begegnet ist. Dieser Begriff hat für ihn eine starke sozio-politische Komponente. Dadurch steht er im theologischen und lebenspraktischen Erbe der Befreiungstheologie. Die Kirche muss sich als „Lazarett“ begreifen und an die Ränder der Gesellschaft gehen. Angesichts dieses sozialökonomischen Ansatzes treten die innerkirchlichen Strukturfragen von „Laien“, Priestern und Hierarchie in den Hintergrund.
Dagegen haben diese innerkirchlichen Strukturfragen bei Johannes Paul II und Benedikt XVI. (mit ihrem sakramental fixierten Kirchenbild) eine zentrale Rolle gespielt. Dieser Unterschied der Ansätze wird in der hochindustrialisierten Gesellschaft Deutschland – auch innerhalb der Kirche – als starker und positiver Kontrast erfahren.
Stärkung der Kollegialität: Vergleichbares gilt für die Stärkung der Kollegialität. Die beiden Vorgänger haben den Gedanken der Kollegialität immer wieder aufgegriffen. Sie haben ihn aber auf die Kollegialität der Bischöfe eingeschränkt und zu einer monopolistischen Disziplinierung des Weltepiskopats missbraucht. Ihr Argument lautete, diese Kollegialität setze ein strenge (faktisch: eine monolithische) Einheit unter dem Papstamt voraus.
Dezentralisierung der kirchlichen Strukturen: Franziskus kehrt diesen Gedanken um und weitet ihn in dramatischer Weise aus. Dadurch handelt er im Sinne der reformorientierten Kräfte des 2. Vatikanums. Er kehrt den Gedanken um, indem er die Kollegialität nicht als einen autoritär gesteuerten Zusammenhang begreift, der von oben nach unten wirkt, sondern als einen organischen Prozess, der von unten nach oben eine Gemeinschaft der transparenten Partizipation aufbaut und die Menschen zu eigenen Initiativen und zu eigener Redefreiheit [parrhēsía] ermutigt. Zwar hat er bislang die offiziellen Kollegialitätsregeln der Kirche nicht verändert (und wird dies wahrscheinlich nicht tun), aber er ermutigt z.B. die Bischöfe immer wieder, ihre Meinung, Vorschläge und Kritik offen zu formulieren. Das war bei seinen Vorgängern nicht der Fall.
Er weitet die Kollegialität, die sich offiziell nur auf die Bischöfe erstreckt, auf alle Mitglieder der Kirche aus. So hat er z.B. darauf bestanden, dass die offiziellen Fragekataloge zu den Bischofssynoden 2014 und 2015 auch von Mitgliedern des Kirchenvolkes beantwortet werden. Diese Grenze wurde von seinen Vorgängern nie überschritten. Vermutlich weiß Papst Franziskus, dass er damit eine Dynamik in Gang setzt, die für das Kirchenvolk immer mehr Miktspracherechte ermöglicht.
IHU On-Line:
Der Papst erwähnt oft die Begriffe Brüderlichkeit, Kollegialität, Kultur, Raum und Zeit. Wie verstehen Sie diese Begriffe, sofern sie bei ihm zum Vorschein kommen?
HH: Der Papst hat die Bedeutung der konkreten Gemeinschaft und der Tatsache entdeckt, dass das christliche Heil sich nicht in einem himmlischen Jenseits, sondern im konkreten Zusammenleben von Menschen abspielt. Im Sinne der jesuanischen Botschaft sind Menschen immer Mitmenschen, letztlich Teil einer universalen Menschheitsfamilie. Deshalb sieht er die Menschen als Brüder und Schwestern. Die Kirche, die diese Botschaft verwirklichen will, muss sich deshalb als Gemeinschaft von Gleichgesinnten begreifen, die solidarisch zusammenarbeiten; deshalb spricht er von Kollegialität.
Dieses konkrete Zusammenleben von Geschwistern vollzieht sich im Rahmen von sehr verschiedenen sozialen, kulturellen und zeitlichen Kontexten; Heil ist für Franziskus immer kontextuelles Heil. Zur Grundsituation der Menschen gehören zudem Prozesse; wir sind auf dem Weg. Diese Grundbedingungen menschlichen Lebens müssen immer mit berücksichtigt werden, sonst werden unsere Verkündigung und unser Handeln orientierungslos und anfällig für Ideologien: Spreche ich mit einer Frau oder einem Mann, einem armen Fischer oder einer reichen Industriellentochter, einer hart arbeitenden Bäuerin oder einem gebildeten Wissenschaftler, mit Einwohnern von China oder von Nigeria?
IHU On-Line:
Welche theologischen Begriffe werden in seinen Reden besonders behandelt? Aus welchen Gründen? Können Sie erkennen, welche Theologen Bergoglios Theologie beeinflussen?
HH: Als die zentralen theologischen Begriffe erkenne ich (a) die Kirche und das Evangelium, (b) das Volk und die Armen, (c) die aktuelle kapitalistische Wirtschaft mit ihren katastrophalen Folgen.
Die Kirche und das Evangelium: Trotz aller Kritik an der Kirchenrealität spielen Stellenwert, Aufgabe und faktische Funktion der Kirche in Bergoglios Theologie eine höchst wichtige Rolle. Nur in ihr kann man wirklich an Christus glauben, in ihr wird das Evangelium als die Botschaft vom Reich Gottes richtig verstanden und sie gibt uns die Fähigkeit, das Heil Gottes hier und jetzt beginnen zu lassen. In diesem Sinne ist bei Franziskus keine Kritik an der klassischen katholischen Theologie von Kirche zu verspüren. In diesem Sinn versteht er auch sein Amt ganz im Sinne des offiziell definierten päpstlichen Primats.
Doch geht er mit dieser Kirche nicht triumphalistisch um, sondern unterstellt die Kirche und ihre Amtsträger (Bischöfe und Priester) strengsten Maßstäben. Er mahnt, kritisiert und sucht Wege ihrer Erneuerung, indem er mit einer eingreifenden Kurienreform beginnt. Diese Maßstäbe ergeben sich aus dem Evangelium, dieser Botschaft von einem Heil (einer Befreiung, einer Solidarität und eines Friedens), das sich konkret in der gegenwärtigen Zeit an den Armen und Ausgestoßenen ereignet. Die Kirche kommt erst zu ihrer Identität, wenn sie den Erwartungen des Evangeliums auch wirklich entspricht.
Das Volk und die Armen: Empfänger des Heils ist mit Vorzug das sozial bedürftige Volk, das sind in erster Linie die Armen, die um ihre primären Lebensbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Versorgung, Ausbildung, Rechtssicherheit) kämpfen müssen. In der samaritanischen Sorge für sie und in der Gegenwart bei ihnen erfüllt die Kirche ihre Bestimmung. Bei ihnen schlägt das Herz dieses Mannes, der in voller Offenheit auf die Armen zugehen und mit ihnen zusammensein kann. Er erwartet von allen Christen, dass das Schicksal der Armen sie intellektuell beschäftigt und ihnen emotional ans Herz geht, dass über sie geweint und ihnen geholfen wird. Seine Fahrt nach Lampedusa hat dies in ergreifender Weise gezeigt.
Die aktuelle kapitalistische Wirtschaft mit ihren katastrophalen Folgen: Bergoglios Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft Heils entzündet sich an der Reibung mit den sozial ungerechten, demütigenden, oft himmelschreienden Umständen, die die weltweiten ökonomischen Verhältnisse heute produzieren, und von denen etwa zwei Drittel der Menschheit negativ betroffen sind. Sein Satz „diese Wirtschaft tötet“ wurde in Deutschland sehr kontrovers diskutiert. Im Verständnis vieler lässt er offen, ob er eine kapitalgesteuerte Wirtschaft prinzipiell ablehnt oder ob er sagen will: Die aktuelle Form der globalen Ökonomie, also dieser konkrete, sozial ungezügelte Raubtierkapitalismus, hat ungerechte, tödliche und katastrophale Auswirkung; deshalb können ihn Christen in keiner Weise akzeptieren.
Es ist das große Verdienst des Papstes, dass er diese Frage in das Zentrum seiner Botschaft gestellt hat und die Christen Deutschlands dazu herausfordert, dieses Problem zur Kenntnis und in Angriff zu nehmen. Seit seinem Pontifikat werden die Gedanken der Befreiungstheologie von vielen Gruppen in Deutschland wieder offen propagiert. Bei Mitgliedern engagierter christlicher Gemeinden finden sie offenes Gehör.
Bergoglio gilt als Anhänger der Befreiungstheologie und alle Insider erkennen in ihm die großen Impulse, die die Befreiungstheologie seit Ende der 1960er Jahre entwickelt haben (Gustavo Gutiérrez, Leonardo Boff, Jon Sobrino, die Bischöfe Hélder Câmara und der Märtyrer Oscar Romero sind weithin bekannt). Meines Erachtens hat ihn auch das Kirchenbild von Henri de Lubac stark geprägt, das er mit befreiungstheologischen Ansätzen zu kombinieren weiß. Bekannt ist ferner der große Einfluss des argentinischen Befreiungstheologen Lucio Gera mit seiner „Theologie des Volkes“. Lucio Gera ist in Deutschland kaum bekannt.
IHU On-Line:
Wie verstehen Sie die Reden von Papst Franziskus über die politischen Folgen der industriellen und wirtschaftlichen Globalisierungsprozesse, vor allem wenn er auf die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ eingeht? Worauf will er in diesen seinen Äußerungen hinaus?
HH: Meines Erachtens bedarf es keiner besonderer theologischer oder ökonomischer Kenntnisse, um die Kernaussagen des Papstes zu den genannten Globalisierungsprozessen zu verstehen. Er leitet uns schlicht dazu an, die Realität so zur Kenntnis zu nehmen, wie sie ist, im Licht der christlichen Botschaft zu urteilen und entsprechend zu handeln.
Franziskus sieht, dass die modernen Finanzwege und Kommunikationsmittel unseren Globus, d.h. die gesamte Menschheit immer umfassender in einen Mechanismus einbinden, der strukturell überall gleich, also nach denselben Gesetzen abläuft. Er weist darauf hin, dass diese Globalisierungsprozesse immer anonymer, mächtiger, aktueller und ungerechter werden. Der Papst ist davon überzeugt: Wir alle sind geneigt, diese korrespondierenden Prozesse von Bereicherung und Verelendung immer apathischer über uns ergehen zu lassen, – die einen, weil sie ihnen nützen, die anderen, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Er will erreichen, dass wir aufwachen und nach unserem Vermögen diese ökonomisierte Welt umgestalten. Dieser Appell ist für ihn unverzichtbar, weil er wesentlich zur christlichen Verkündigung und zur Lebenspraxis des Gottesreichs gehört.
Die aktuellen Probleme in der Europäischen Wirtschaftsunion und das Drama der Flüchtlinge, die täglich über das Mittelmeer zu uns kommen und oft ertrinken, zeigen die Aktualität seiner Botschaft. In der deutschen Kirche hat Bergoglio jetzt schon erreicht, dass dieses sozialkritische Bewusstsein in der Öffentlichkeit, besonders in christlichen Kreisen, viel intensiver als vor einigen Jahren diskutiert wird. Das besagt nicht, dass bis jetzt klare Lösungen gefunden wurden. Aber die Bereitschaft zu Hilfe und Solidarität ist in signifikanter Weise gewachsen.
IHU On-Line:
Inwiefern beleuchtet und prägt Evangelii gaudium das Pontifikat des Franziskus? Was sind die Hauptstränge, die im Apostolischen Schreiben erscheinen, und wie signalisieren sie, welche Richtung das Pontifikat von Franziskus einschlagen wird?
HH: Das Apostolische Schreiben Enzyklika Evangelii Gaudium ist das wichtigste Dokument, das Papst Franziskus bis jetzt [Frühjahr 2015] veröffentlicht hat. Sein einfacher, direkter und bildreicher Sprachstil beleuchtet die Person in authentischer Weise. Er zeigt, dass Bergoglio nicht primär von abstrakt theologischen Ideen, sondern von der lebendigen Begegnung mit einfachen Menschen und von einer tiefen Spiritualität, also einem unerschütterlichen Vertrauen zu Gott geprägt ist. Sein Pontifikat lebt aus solchen Begegnungen und aus dieser starken Glaubenserfahrung.
Hauptstränge dieses Schreibens sind (1) das Modell einer Kirche und eines Evangeliums, die vorbehaltlos auf der Seite der Armen stehen, (2) ein unverstellter und kritischer Blick auf die Probleme der aktuellen ökonomischen und soziopolitischen Verhältnisse und (3) die Sorge für eine Pastoral, die bei den Menschen ist, von ihnen verstanden wird und beispielhaft wirkt.
Kirche und Evangelium auf der Seite der Armen: Die Kirche hat ausschließlich im Dienst des Evangeliums zu stehen, also zu den Menschen hinzugehen, mit ihnen zu leben. Ernstfall und Test für diese Menschenliebe der Kirche sind die Armen und Marginalisierten. Sie genießen im Reich Gottes einen bevorzugten Platz, haben also einen erstrangigen theologischen Stellenwert. Deshalb ist dem Papst ein jeder kirchliche Narzissmus oder Triumphalismus ein Gräuel. Vor allem anderen müssen wir eine Kirche der Armen sein. Dies ist die oberste Leitlinie seines Reformwillens.
Kritischer Blick auf die ökonomischen und soziopolitischen Probleme: Das Schreiben kritisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit den traditionellen Kategorien der individuellen Moral (Sünde, persönliche Laster, Klage über Gottesferne und Säkularisierung), sondern mit den säkularen Kategorien des gesellschaftlichen Unrechts (Ausschluss, Macht des Geldes, Gewalt als Folge der unsozialen Situation) und fordert eine Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Perspektive der Opfer (die Schreie hören, sich der Armen annehmen, Einkünfte und Güter angemessen verteilen). Einer seiner Schlüsselsätze lautet: „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee.“
Sorge für eine volksnahe Pastoral: Doch versteht sich der Papst nicht primär als Analytiker der Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Hauptinteresse ist von pastoraler Art. Er will, dass die Seelsorger (Männer und Frauen) die Menschen von ihrer konkreten Situation, ihrer Kultur und ihrer Frömmigkeit her verstehen. Deshalb widmet er der Verkündigung, der Homilie und der Predigt ein ganzes Kapitel, das von seiner eigenen großen pastoralen Erfahrung zeugt.
Das Schreiben als päpstliches Programm: Zusammenfassend verstehe ich dieses Schreiben als die programmatische Grundlage aller Erneuerungsprogramme, die wir von Franziskus erwarten. Die Kurienreform ist für ihn nur ein erster Ausgangspunkt. Allerdings bindet er sich zugleich an die kollegiale Kooperation der Bischöfe, weil er die Kirche nicht als eine autoritäre Körperschaft versteht. Es ist zu hoffen, dass die Bischöfe der Welt endlich aufwachen und die geistliche Autorität des Bischofs von Rom zur Kenntnis nehmen und sie mit Herz und Verstand akzeptieren.
IHU On-Line:
Wie hat die Synode für die Familie auf die deutsche Kirche eingewirkt?
Welche Punkte wurden bei den deutschen Priestern und Laien am intensivsten diskutiert?
HH: Die Synoden 2014 und 2015 haben in der katholischen Kirche Deutschlands auf allen Ebenen zu intensiven Diskussionen geführt, die noch nicht abgeschlossen sind. Sie begannen im Frühjahr 2014 mit großer Begeisterung und hohen Erwartungen. Die zahlreichen Antworten auf den Fragekatalog 2014 zeigen, dass sich die moralischen Vorstellungen des katholischen Kirchenvolkes in Deutschland von den offiziellen Vorstellungen in massiver Weise unterscheiden, dies gilt besonders für jüngere Menschen. Der Verlauf der Synode im Oktober 2014 hat dann zu Enttäuschungen geführt. Der Fragekatalog 2015 wurde nur noch von wenigen Katholikinnen und Katholiken beantwortet. Dafür gab es drei Gründe; sie charakterisieren die römische Arbeit, die von Franziskus erst wenig gelernt hat:
– Die Sprache der Fragen war abstrakt und nur schwer verständlich
– Viele Fragen waren suggestiv formuliert
– Viele Fragen nahmen die moralischen Vorstellungen des Volkes nicht ernst.
Diese Ernüchterung hat auch zu Fragen nach der Rolle des Papstes geführt: Welchen direkten Einfluss kann der Papst auf den Gang der Synode nehmen? Wie viel freie Hand gewährt er z.B. dem konservativen Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Müller?
Wo steht der Papst theologisch? Glaubt er, dass er sein modernes Programm der Erneuerung durchführen kann, ohne die offizielle Glaubenslehre (konkret: die strengen Vorstellungen einer restriktiven Sexual- und Ehemoral) an bestimmen Punkten zu revidieren?
Diskussionspunkte der Kirche in Deutschland: Folgende Punkte wurden in der katholischen Kirche Deutschlands am intensivsten diskutiert:
– die Wiederzulassung der Wiederverheirateten zu den Sakramenten. Die Beantwortung dieser Frage gilt als Test für die Menschennähe und Barmherzigkeit der Kirche.
– die Erlaubtheit einer Wiederheirat in bestimmten Fällen: Warum wird die Klausel von Mt 5,32 in den kirchlichen Dokumenten ignoriert?
– die Akzeptanz von Paaren, die als homosexuelle Männer oder Frauen zusammenleben.
– Immer stärker werden wichtige Hintergrundfragen diskutiert: eine zeitgemäße Auffassung von Sexualität; damit verbunden Sexualität vor der Ehe und die Frage, was mit dem Begriff der „Unauflöslichkeit“ gemeint ist; das mittelalterliche Menschenbild, das die offizielle Lehre noch immer beherrscht; die Tatsache, dass zölibatäre Männer über diese Fragen entscheiden und alle Verheirateten von den Abstimmungen ausgeschlossen sind.
IHU On-Line:
Was heißt es, die Kirche ins einundzwanzigste Jahrhundert zu führen?
Ist Franziskus dabei, dies zu tun? Wie und in welcher Weise?
HH: Von einer christlichen Weltkirche sind im 21. Jahrhundert zu erwarten:
(1) kulturelle Pluralität,
(2) interkonfessionelle und interreligiöse Offenheit,
(3) Kompetenz im Gespräch mit den modernen Natur- und Humanwissenschaften
(4) Kompetenz im Umgang mit den globalen (sozialen, ökonomischen und politischen) Problemen der Welt,
(5) dies alles im Dienst ihrer Botschaft von der Gerechtigkeit, der Versöhnung und dem Frieden zwischen den Völkern.
Gerechtigkeit und Frieden: Unbestritten ist, dass Franziskus alle Aktivitäten in den Dienst der Gerechtigkeit stellt. Prinzipiell ist er also auf einem guten Weg und sollte darin vorbehaltlos unterstützt werden. Er beschränkt sich nicht auf Theorien und geht als glaubwürdiges Beispiel voran. Dies ist für die gesamte Weltkirche von unendlichem Wert.
Umgang mit Gesellschaft und Welt: Im Umgang mit den sozialen, ökonomischen und politischen Problemen verfügt Franziskus über ein hohes Interesse und eine hohe Kompetenz. Zu Recht räumt er diesen Problemen einen allerhöchsten Stellenwert ein. Konkret arbeitet er daraufhin, dass die Kirche wirklich bei den Armen ist. Dies wird auch außerhalb der Kirchen in hohem Maße anerkannt. Was aber heißt dies an unterschiedlichen Orten konkret? Jeder geographische Großraum (z. B. Europa, Zentralafrika, Lateinamerika usw.) muss seine eigenen konkreten Antworten ausformulieren. In Zusammenarbeit mit den Kirchen anderer Ländern der Europäischen Union ist die Deutsche Kirche dazu aufgerufen, im Sinne des päpstlichen Programms ihre eigenen Antworten auszuformulieren und für ihr eigenes Verhalten Konsequenzen zu ziehen. Bisher ist das noch nicht geschehen.
Natur- und Humanwissenschaften: Meines Wissens ist Franziskus auf diesem Gebiet noch nicht aktiv geworden [Laudato sí ist noch nicht geschrieben]. Viel wichtiger ist, dass er gegebenenfalls einvernehmliche Kontakte zwischen Theologie und Wissenschaften fördert und evangelikale Einflüsse fernhält.
Interkonfessionelle und interreligiöse Offenheit: Gegenüber anderen Religionen hat Franziskus keine Berührungsprobleme. Seine tiefe Spiritualität gibt ihm die Überzeugung, dass Gott in allen Menschen und Religionen gegenwärtig ist. Offen ist die Frage, wie er sich zu den streng dogmatischen Fragen stellt, die von katholischer Seite aus einer Gleichwertigkeit der Religion entgegenstehen. So ist kaum zu erwarten, dass er die exklusiven Positionen von Dominus Iesus „über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ (2000) revidiert. Aber vorerst genügt es, in den großen Weltproblemen (vgl. 4) zu einer vorbehaltlosen Kooperation mit allen Weltreligionen zu kommen. Auch an diesem Punkt ist der Papst auf Initiativen vor Ort angewiesen. Dem „Projekt Weltethos“ und ähnlichen Programmen steht er, wie es scheint, aufgeschlossen gegenüber.
Es gibt noch keine ausdrücklichen Stellungnahmen gegenüber anderen christlichen Kirchen bzw. Denominationen. Auch hier ist es Zeit, dass die Bischöfe derjenigen Kirchenregionen aktiv werden, die stark in interreligiöse Situationen involviert sind. So ist von der Katholischen Kirche Deutschlands zu erwarten, dass sie für das Reformationsjahr 1917 (Erinnerung an den Reformationsbeginn vor 500 Jahren) eine weiterführende Initiative ausarbeitet und dem Papst unterbreitet.
Kulturelle Pluralität: Der Respekt vor der kulturellen Pluralität innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche ist dem Papst selbstverständlich.
Wie man hört, wird dieser Aspekt bei Vorbereitung der Kurienreform berücksichtigt. Notwendig wäre es, dass in einer neuen Grundordnung der Gesamtkirche den kontinentalen Bischofskonferenzen – im Sinn der früheren Patriarchate – umfassende Rechte zuerkannt werden. Ob Franziskus dafür eine Revision der aktuellen Kirchenordnung (Revision der Primatsidee) zulässt, ist kaum zu beantworten.
Im Rahmen dieser Pluralität müssen einzelne Kulturräume das Recht erhalten, eigene Kompetenzen zu entwickeln und sie in den Dienst der Gesamtkirche zu stellen. Franziskus führt im Augenblick vor, was eine bestimmte lateinamerikanische Kompetenz (in Kooperation mit der Befreiungstheologie erworben) für die Gesamtkirche bedeuten kann. Asiatische Kirchen könnten eine hohe Kompetenz für den Umgang mit anderen Religionen, zentralafrikanische Kirchen für den Umgang mit Natur und den Ahnen entwickeln. Europäische Kirchen haben schon jetzt viel Erfahrung für das Leben in einer säkularisierten Gesellschaft gesammelt. Sie müssen vom Stigma der Verweltlichung befreit werden. So könnten sie Pionierarbeit leisten für ein Umfeld, das andere Regionen noch herausfordern wird.
Mängel der Bischofssynode: Im Blick auf die Bischofsynoden 2014 und 2015 wurde die Chance der Dezentralisierung und kulturellen Pluralisierung leider verpasst. Es wäre ungleich besser gewesen, einzelne Kulturräume hätten in einem längeren Zeitraum erst ihre eigenen Vorstellungen erarbeitet. In einer zweiten Phase hätte man sie dann miteinander in Beziehung setzen und ein Dokument erarbeiten können, das den einzelnen Kulturräumen eine gebotene Autonomie zugesteht.
Zusammenfassend: In vielfältiger Hinsicht ist der Papst dabei, die katholische Kirche für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Dabei weiß er, dass nicht alles auf einmal und nicht ohne eine breite kirchliche Zustimmung geschehen kann. Darin ist er Realist. Er denkt nicht in revolutionären Beschlüssen, sondern in klug gesteuerten Prozessen, die kraft ihrer inneren Logik zu revolutionären Folgen führen können.
IHU On-Line:
Was hat die Kirche den modernen Werten entgegenzusetzen? Wie sollte sich die Kirche auf die Moderne einlassen?
HH: Die katholische Weltkirche, ein global player mit ca. 1,2 Milliarden Mitgliedern, hat die Nachfolge Jesu und deren Vision vom Reich Gottes in unserer Weltepoche überall dort zu realisieren, wo sie gegenwärtig sein kann. Das bedeutet eine kontinuierliche theoretische und lebenspraktische Übersetzungsarbeit (Johannes XXIII. sprach von aggiornamento), also eine aktuelle Weltdeutung und ein vorbildhaftes Leben.
Dazu gehören:
– das existentielle Engagement von einzelnen und Gruppen in vorbehaltloser Aufrichtigkeit und Konsequenz. Franziskus geht darin der Kirche als inspirierendes Vorbild voran.
– unbedingte und aktive Solidarität mit den Benachteiligen im Einsatz für ihr konkretes Wohlsein und im Kampf für sozial, ökonomisch und politisch gerechte Strukturen. Auf diesem Gebiet liegt eine besondere Kompetenz des Papstes.
– die Pflege und das Angebot einer Spiritualität, die im Vertrauen auf den Gott aller Menschen gründet, also nicht an den Kirchentüren endet. Alle Aktivitäten des Papstes sind von einer überzeugenden Spiritualität begleitet.
– die kontinuierliche Erinnerung an die großen Werte des menschlichen Zusammenlebens. Ich nenne die Stichworte: Goldene Regel, Humanität, Nächstenliebe, insbesondere Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben, Gerechtigkeit und Fairness, Wahrhaftigkeit und Toleranz , Gleichberechtigung und Treue, Sorge für Versöhnung und Frieden. Diese Werte sollen den Mitmenschen nicht als überlegene Belehrung, sondern als geschwisterliche Erinnerung vorgetragen werden. Diese Werte sind allen Menschen aus ihrer eigenen Lebenserfahrung bekannt sind, werden aber oft vergessen oder verdrängt.
– prophetischer Protest und Widerstand, wenn diese Werte durch Handeln oder Strukturen offenkundig missachtet werden. Dazu gehört die Unterstützung aller, die (innerhalb und außerhalb von Kirchen und Religionen) für diesen Einsatz ihr eigenes Leben einsetzen und zur Unterbrechung von Gewaltketten ihre Nächstenliebe zur Feindesliebe radikalisieren.
Kirche: Die Kirche hat der Ort zu sein, an dem diese Praxis beispielhaft beginnen und erprobt werden kann. Die Kirche lässt sich auf die Moderne ein, indem sie die Nachfolge Jesu in der Moderne ebenso aktuell lebt, wie sie sie in früheren Epochen gelebt hat. Wichtig ist, dass sie sich vor einer säkularisierten Gesellschaft nicht fürchtet. Dann werden wir entdecken: Eine christliche Lebenspraxis ist auch unter säkularisierten Vorzeichen, also als säkulares Handeln und mit einer säkularen Sprache, möglich.
IHU On-Line:
Wohin möchte Franziskus die Kirche führen, und folgt sie ihm dabei?
HH: Franziskus möchte die katholische Kirche erneuern, d.h. zu einer schlagfertigen Gemeinschaft machen, die sachgemäß und hilfreich auf die Nöte der Gegenwart, auf ihre apokalyptischen Abgründe von Unrecht, Gewalt und Verelendung reagieren kann. Für ihn ist das im Sinne der Nachfolge Jesu möglich. Er will zeigen, dass das Evangelium eine durch und durch moderne Angelegenheit ist, die auch heute glücklich macht. Er will die Kirche dazu bringen, dass sie diesen Auftrag nicht durch Narzissmus, Triumphalismus und Perfektionismus blockiert. Dabei hat er besonders die Bischöfe und die amtlichen Seelsorger im Auge.
Ob ihm die Kirchen der Welt wirklich folgen? Für Deutschland lässt sich diese Frage noch nicht beantworten. Die Mehrheit der Bischöfe reagiert auf die päpstlichen Impulse recht zögerlich, weil sie sich bislang als Befehlsempfänger verhalten haben, jetzt aber eigene Initiativen entfalten und manches Privileg aufgeben müssten. Doch für ein endgültiges Urteil ist es zu früh.
IHU On-Line:
Möchten Sie noch etwas Zusätzliches bemerken?
HH: Bei der Beurteilung des neuen Pontifikats wird meistens übersehen, dass sich das Leben der Kirche auf mehreren Ebenen abspielt und es darauf ankommt, sie gut miteinander in Einklang zu bringen. Sie werden konstituiert durch
Spiritualität: Von hoher Bedeutung für die Gesamtkirche scheint mir die tiefe und ausgereifte (jesuitisch geprägte) Spiritualität des Papstes. Sie hat eine hohe Ausstrahlungskraft, beeindruckt Viele in und außerhalb der Kirche und wirkt im „Kirchenvolk“ der deutschen Kirche inspirierend. Das Leben vieler Pfarrgemeinden ist wieder angstfrei geworden. Wünsche, Erwartungen und Kritik werden offen ausgesprochen. Diese Wirkung auf die Haltung und Mentalität der Menschen ist von hoher Bedeutung und langfristig für eine Erneuerung der Kirche sehr effektiv.
Gemeinschaft: Der christliche Glaube lebt prinzipiell in Gemeinschaft und hat sie zum Nährboden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Franziskus in vielen Gesten und Worten die Gemeinschaft, ihre Partizipation und die Offenheit ihr gegenüber wieder aufwertet. Langfristig muss diese Umkehr revolutionär wirken. Werden die christlichen Gemeinden an der Basis in absehbarer Zeit auch theologisch aufgewertet? Sollte diese Aufwertung ausbleiben, können sich erneuernde Impulse nie umfassend auswirken.
Rechtliche Strukturen: Wie jede Gemeinschaft, so wäre auch die Kirche ohne Strukturen und rechtliche Regelungen nicht lebensfähig; sie sind aber zu dominant geworden und erstarrt. Franziskus versucht, die vorgegebenen Strukturen möglichst offen zu gestalten. Doch fühlt er sich (noch) an die offiziellen rechtlichen und dogmatischen Regelungen gebunden. Wird es sich und die Kirche davon befreien?
Um auf struktureller Ebene wirklich voranzukommen, ist nicht nur die Kurie, sondern auch das gesamte Kirchenrecht mit seinem monokratischen Hierarchie- und Papstverständnis zu revidieren. An diesem wichtigen Punkt sind noch keine Würfel gefallen. Die jesuitische Biographie des Papstes lässt hier keine tiefgreifenden Änderungen erwarten, weil auch über das Papstamt diskutiert werden müsste. Langfristig stellt sich also die Frage, ob die gegenwärtige Struktur grundlegende Reformen im Sinn von Evangelii Gaudium wirklich zulässt. Wir bräuchten aufrechte und mutige Bischöfe, um diese Frage mit dem Papst zu besprechen.
Theologische und andere Deutungen: Eine zentrale Rolle spielen in der katholischen Kirche die Reflexion, also die Glaubenslehre, das Dogma, die Theologie und andere Deutungen von Glaube, Welt und Gesellschaft. An vielen Punkten hat Franziskus klare theologische Überzeugungen, die ich als konservativ umschreiben würde. Dabei hält er sich mit eigenen theologischen Aussagen zurück; in der Theologie will er ein Hörender bleiben. Doch früher oder später muss dies zu Spannungen mit grundlegenden Erneuerungsprozessen führen (päpstlicher Primat, Rolle der Frau, Sexualmoral …). Ob und wie sich dieses Problem lösen lässt, ist noch nicht zu beantworten.
Verhältnis zur Gesellschaft und Welt: Eine Kirche mag sich noch so sehr als eine übernatürliche oder als eine von Christus gestiftete Gemeinschaft verstehen, sie ist in jedem Fall eine Gemeinschaft in der Welt, die Anteil an dieser Welt hat. Es ist das große Verdienst der Befreiungstheologie, dass sie dieses Weltverhältnis neu reflektiert hat, und es ist ein Glücksfall für die gesamte Kirche, dass Franziskus sie dazu auffordert, ihr Weltverhältnis neu zu regeln. Vielleicht ist dieser Impuls das schwerste Gewicht, das Franziskus in die Schale der Erneuerungen legt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Neben seiner Spiritualität sind große Gütesiegel dieses Pontifikats der entschiedene Reformwille sowie die Solidarität mit der aktuellen Welt und ihren Menschen. In jedem Fall kann sich die Kirche wegen dieses Papstes glücklich schätzen und man kann nur wünschen, dass er sein Amt lange ausüben wird.
Lesen Sie ferner:
De „autoritário“ a „fraternal“: os desafios do papado no século XXI. Interview mit Hermann Häring, in: Notícias do Dia, vom 18. 01. 2010;
Paulo, o universalismo e a Ética Mundial. Interview mit Hermann Häring, in: IHU On-Line 289 vom 22. 12. 2008.
Das Interview ist erschienen unter dem Titel O pontificado e as reformas de Bergoglio. Um olhar teológico desde a Alemanha (Interview), in: IHU.On-Line Nr. 465, Jahrgang 15 (18.05.2015), 98-105.
Die Fragen stellten Patricia Fachin und João Vitor Santos.
Portugiesische Übersetzung Walter O. Schlupp