Dieser Text wurde zum Weihnachtsfest 2005 geschrieben
Weihnachten? Dass der Sinn des Festes eindeutig sei, beruht auf Täuschung. Zu viel wechselnde Erfahrungen fließen ein. Im Jahr 1914 geriet es an der Westfront (so der Film „Merry Christmas“) zum Fest atemberaubender Versöhnung, auch wenn es den Krieg mit 11 Millionen Toten nicht verhindern konnte. Ende der sechziger Jahre entdeckten wir den messianischen Friedenskönig, auch wenn er die Diktaturen von damals nicht stürzen konnte. Im Dezember 1989 (das Brandenburger Tor wurde soeben geöffnet) schien eine neue Friedensepoche anzubrechen. Im Jahr 2004 Jahr konnten wir uns auf den religiösen Innenraum konzentrieren, doch am zweiten Weihnachtstag erzwangen die Tsunamiwellen die Korrektur unserer Hoffnung, wenigstens die Natur stelle Räume der Geborgenheit und des Friedens bereit.[1] Seitdem war kaum eine Weihnachtserinnerung von Schreckensmeldungen verschont. 2020 steht das Fest im Schatten der Corona-Pandemie.
Natürlich wird es weiterhin die Familienfeier im Kerzenschein geben: mit den Kindern, den Eltern, vielleicht mit einigen Freunden. Ihren Platz werden weiterhin auch die Gottesdienste behaupten, in denen Gottes Friede besungen, das Licht des fleischgewordenen Wortes gepriesen und um die große Versöhnung gebetet wird. Doch zu diesen bleibenden Erinnerungen tritt in den vergangenen Jahren, wiederum unerwartet, eine neue Irritation, die sich von der Feierstimmung abspalten oder in sie integrieren lässt. Es ist, wie viele Fachleute sagen, ein unterschwelliges Gefühl von sozialer, politischer, geradezu physischer Bedrohung.
Katastrophen als Schatten
Begleiten uns solche Schatten wirklich, die – ökologisch, weltpolitisch und im sozialen Umfeld – seit etwa vier Jahren bedrohlicher werden? Hat Wolfgang Sofsky recht, der in einem provozierenden Essay („Das Prinzip Sicherheit“) dazu auffordert, lähmende Ängste entschlossen zu überwinden? Vielleicht lässt sich solcher Mut an Weihnachten lernen, obwohl bisherige Erfahrung eine andere Sprache spricht, denn von Jahr zu Jahr verleitet uns das Fest zur Realitätsflucht. Das mag erstaunen, hat die Flucht diesem Kind doch nur ein hartes Exil beschert. Aber Werbung und inszenierte Wehmut halten diese Tiefendimensionen des Festes vom neugeborenen Kind verborgen. Andere missbrauchen die in ihm verwobene Geschichte von der Anbetung der Könige zu einem Mega-Event, das wie ein Tornado die präzise Botschaft zu jubelnder Ekstase verwirbelt.
Auf die politische Botschaft des Festes weisen uns die Fachleute schon lange hin. Dieses Kind sagt den Mächtigen den Kampf an und eröffnet eine messianische Zukunft; so nimmt es den Umsturz der Bergpredigt vorweg. Zugleich entfesselt es eine brutale Gewalt, in der es selbst zwar entkommt, aber zum Anlass eines stadtweiten Kindermordes wird. Von jenen Müttern aus gesehen wäre der Junge besser nicht geboren. Wurde er nicht zur unnötigen Provokation? Seinen Eltern hat er nur Elend gebracht: den Weg in ein Ägypten, das schon vor Jahrhunderten zum Symbol der Sklaverei geworden war.
Das verachtete Kind
Nein, so friedlich und freundlich ging es beim Knaben im lockigen Haar wirklich nicht zu, auch wenn Engel und Hirten einen anderen, bedenkenswerten Ausblick eröffnen. So bleibt etwa die Frage an Franz von Assisi: Warum erinnerte er sich ausgerechnet dieses Kindes, das die eigenen Entbehrungen wohl nicht ertragen hätte? Warum rief er eine Frömmigkeitskultur ins Leben, die die Weihnachtstage bis heute in ökumenischer Eintracht prägt? Ganz sicher war ihm bürgerliche Idylle fremd. Er kannte die Härte der Natur, die Verletzlichkeit eines ungeschützten Kindes, das in seiner Zeit nicht von großer Fürsorge umgeben war, nicht einmal als Kind mit seiner Erfahrung wahrgenommen wurde. Damals wurde ein Kind nur selten zum Mittelpunkt der Familie. Die hoch gepriesenen Muttergefühle sind, wie wir wissen, frühestens vor 300 Jahren erwacht. Zu hart galt es, fürs Überleben zu schuften, dies ohne hochentwickelte Fürsorge und Medizin. Die Kindersterblichkeit von 25 % und mehr wurde eher als gesundes Regulativ denn als Unglück begriffen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hat man Kinder verwahrlost, hart gewickelt und bandagiert, bis zur nächsten Fütterung bisweilen an die Wand gehängt und in der Regel dafür gerügt, dass es noch kein Erwachsener war.
So war das Kind – in den neutestamentlichen Texten noch Modell politischer Ohnmacht und Provokation – zum Zeichen der Missachtung, der Schwäche und Verletzlichkeit geworden, bei Franziskus dann aufgenommen in seine grenzenlose Liebe zu Sonne, Mond und der gesamten Schöpfung. Wer sich mit diesem Neugeborenen beschäftigte und eben noch nicht als Kind wahrnahm, lernte (wie an sich selbst) die Paradoxie dieser bedrohten Kostbarkeit kennen, den Preis eines geschenkten Lebens, die Konfrontation mit einer armseligen Wirklichkeit, von der kaum Hilfe zu erwarten war.
Lernte man vielleicht, in einer Situation der Verletzlichkeit Vertrauen zu gewinnen? Natürlich bleibt das Kind ein archaisches Symbol. In vielen Religionen taucht es auf: als kleiner Krishna oder Buddha, als Horus oder gar als Dionysos (nur von Müttern, leider nie als Mädchen oder von Mädchen umgeben). Auch das Kind Moses erfährt Bedrohung und Rettung. Schließlich wird es geadelt durch Jesus, der ein Kind als aller Vorbild in die Mitte seiner Mitstreiter stellte. Offensichtlich strahlt es in einer jeden Kultur nicht nur Schutzbedürftigkeit, sondern auch Offenheit, Neugier und das Verlangen nach Mitteilung aus. Es inszeniert sich gerade nicht durch Schwelgen im Kerzenlicht, das früher eine unverzichtbare Lichtquelle war. Es erwartet auch keine Verzückung, die vielen in unserer kinderarmen Kultur ohnehin vergangen ist.
So könnten wir das Kind in der Krippe neu entdecken, wenn wir es schützen und für eine kostbare Glaubensbotschaft bewahren wollen. Vielleicht sollten wir es nicht weiterhin als das Symbol umgrenzen, das Kinder von Erwachsenen trennt. Recht besehen feiern wir auch Jesus nicht als Kind, sondern als den Schwachen und Machtlosen, als Quelle einer umfassenden Wahrheit, die jetzt schon eine messianische Botschaft übernimmt.
Von Engeln gehalten
Wie können wir dieses Kind also verstehen? Kein Geringerer als der jüdische Maler Marc Chagall hat mir auf die Sprünge geholfen. Im Chagall-Museum zu Nizza hängt seine monumentale, von Farben überquellende, im südlichen Sonnenlicht aufstrahlende, in gelb und blau gesenkte Leinwand, „Schöpfung“ genannt. Chagalls große Themen sind da alle versammelt. Rechts oben entspringt in der gleißenden Spirale ihres glutrot sonnenhaften Ursprungs unsere Welt. Der Wüstenzug Israels, David mit seiner Harfe, die von Chagall so geliebte Jakobsleiter und der Gekreuzigte sind die dort kreisenden, auch unsere Gegenwart definierenden Motive. Rechts unten erscheinen (klein angedeutet und einander zugeneigt) Mann und Frau, links unten Taube und Ziegenbock als Symbole der Liebe. Links oben bricht, in strahlendes Gelb getaucht, der Bereich des Göttlichen ein: Jahwe, die Thora, ein Fisch, Menschen im jubelnden Fest.
Am meisten Raum aber nimmt – von unten her und zur Bildmitte hin in tiefem Blau und in Weiß gehalten – ein Engel ein, dessen Flügel noch flüchtig das Gelb des Göttlichen streifen. In seinen Armen trägt er Adam, noch bevor Eva geschaffen ist, aber nicht mit den Zeichen männlicher Kraft oder Würde, sondern geradezu kindlich, als nackten, verletzlichen, waagrecht wie im Schlaf liegenden Menschen, mit nach hinten hängendem Kopf. Da liegt er: wehrlos, der ihn umgebenden Wirklichkeit mit all ihrer Dynamik geradezu ohnmächtig ausgesetzt. In sie gehört er hinein, denn ohne sie wäre er sinnlos, geradezu nichts. Ins Bodenlose würde er fallen, wäre da nicht der mächtige Engel, der in der Farbgebung mit dem Menschen verschmilzt, ihn aber wie selbstverständlich, mit starken Armen trägt.
Die erste Frage, die unserer Erneuerungswut und unserem Trotz vorangeht, lautet also nicht: Was können wir selber?, sondern: Wem vertrauen wir uns in und trotz der Bedrohung an? Das Kind in der Krippe bleibt ein Zukunftszeichen, geradezu als Antizeichen zum machtvoll siegenden Helden. Von den Machtphantasien der Vergangenheit trennt es uns ebenso wie von den Eruptionen der Angst und der Aggression in einer imperialen Weltgestaltung. Dabei verhilft Chagalls nackter, verletzlicher und doch vom Engel getragener Mensch zur genaueren Klärung. Chagall macht uns auf die beunruhigende Paradoxie aufmerksam, die dieses geradezu erwachsene Kind für uns mit sich bringt. Es ist die Paradoxie der Freude und der Versöhnung gerade in und trotz der härtesten Bedrohung.
Das Geheimnis der Schwäche
Kommen wir zur Gegenwart zurück. Nach vielen Seiten hin sind wir abgesichert. Wir kennen die Engel der Psychologie und der Medizin, eines technischen Weltwissens von ungeahntem Ausmaß. Die Möglichkeiten zur Inszenierung und Regulierung unseres Selbst sind gewaltig. Aber mit diesen Fortschritten wächst eine fatale Fähigkeit zur Selbstzerstörung, gleich ob man sie welt-, sozial- oder kulturpolitisch deutet. Je mehr wir zudem meinen, das Christentum sei anderen Religionen überlegen, umso unerbittlicher verrennen wir uns – man kann es tagtäglich erleben – in die alten Klischees eines sublimen Imperialismus.
Deshalb führt kein Weg an Selbstbescheidung und Selbstbegrenzung vorbei. Zu viel Energie verwenden wir darauf, Schwächen zu verdecken, – ein unsinniges Unternehmen, dem die Botschaft vom Kind widerspricht. Die Anbetung der Könige hat das Kind ja nicht zur Würde der Könige erhoben, sondern die Könige zur Würde seiner Schwäche heruntergeholt. Weil das zwar leicht gesagt, aber schwer zu verwirklichen ist, bleibt Weihnachten eine Konfrontation, – auch für die Kirchen. Denn in einer Epoche der medialen Großereignisse sollten auch sie von einer Schein-Stärke Abstand nehmen, die mit diesem Kind nicht zu vereinbaren ist. Karl Rahner konnte im Jahr 1960 noch erklären, Macht komme und zeuge von Gott. Zweifel sind angebracht, denn Gottes Macht erscheint als das genaue Gegenteil: seine Spur finden wir in einer Ohnmacht, die alles auf die Karte der Liebe setzt.
[1] Dieser Text wurde zum Weihnachtsfest 5005 geschrieben.