Unheilbar religiös?

Die hier gestellte Frage kann kaum mit einem Ja oder Nein beantwortet werden. Zunächst ist die hochkomplizierte Frage zu beantworten, was Religion ist und welche Rolle sie in der gegenwärtigen Gesellschaft spielt.

Zur Einführung

Erst wenn die Gewissheit derer verschwunden ist, die Religion für überflüssig halten, aber auch die Gewissheit derer, die außerhalb des Glaubens nur Verfall sehen, erst dann lässt sich wieder sinnvoll über diese Frage reden (H. Joas).

Braucht der Mensch Religion?
Die Frage, ob wir Menschen unheilbar religiös sind, lässt sich nicht eindeutig beantworten, und kein kluger Referent wird sich mit einem klaren „ja“ oder „nein“ gleich in mehrere Fallen verstricken. Zunächst provoziert die Frage ja Gegenfragen.
Was meint „religiös“ und wer soll wovon geheilt werden?
Was soll der ironische Unterton, der in der Schwebe lässt, ob nun Religion oder deren Mangel krank macht, ob wir die altbekannte Opiumtheorie bestätigen oder endgültig auf der Müllhalde der Ideologien deponieren wollen.
Was verstehen vielleicht junge Menschen unter Religion, was vielleicht solche, die in einem kirchlich integrierten, in einem säkularen, vielleicht in einem muslimischen Kontext leben oder groß geworden sind?

Im Frühjahr 2002 hat man in Schmochtitz bei Bautzen über die religiöse Situation in Ostdeutschland[1] nachgedacht. Unter Vernachlässigung der vielen Angehörigen anderer Religionen sagte Eberhard Tiefensee, in Westeuropa gebe es neben Katholiken und Protestanten inzwischen die „Konfessionslosen“ als dritte Konfession. Zudem ist Ostdeutschland nach Tiefensee „so areligiös, wie Bayern, Polen oder Spanien katholisch ist“. Er sieht keine Hinweise dafür, dass der Mensch Religion brauche, denn in den neuen Bundesländern funktioniere das gesellschaftliche Leben auch ohne sie, ohne dass der Einzelne ein Defizit bemerkt. Sogar Grenzsituationen bilden keinen Anlass zu religiöser Ein- und Umkehr. So empfahl Tiefensee, man solle es im Umgang mit „der Konfession der Konfessionslosen“ als einer Art Ökumene versuchen.

Warum ist das ein vernünftiger Vorschlag? Weil mit schwindender Religiosität gerade kein Werteverfall einhergeht und weil nach Dompfarrer Hauke die Kirche sich nicht zu schade sein sollte, um für Nichtchristen Heiligabend, für ungetaufte Jugendliche einen Segnungsgottesdienst, für lebensfrohe Paare einen „Valentinstag“ und für Trauernde ein monatliches Totengedenken anzubieten. Menschen brauchen nicht unbedingt eine christliche Bekenntnisäußerung, wohl aber authentische Zeugen, die ihnen helfen, das Leben zu deuten. Über die Hintertür also doch wieder ein Christentum, das seine Attraktivität doch verloren hat? Oder geht es um die Stärkung der Werte, von denen Tiefensee spricht? Was aber haben diese Werte mit Religion zu tun? Dies ist eine der Schlüsselfragen, die das Gewirr der Meinungen zum Sinn und zur Zukunft von Religion und Religionen entschlüsseln könnte.

Verwirrung entsteht schon bei der Standortbestimmung im innerdeutschen Gespräch; beschränken wir es auf die Standpunkte von Christen. West und Ost umschreibt die aktuelle Situation als säkularisiert. Während Christen aus Köln oder dem Ruhrgebiet vielleicht dem Verfall christlicher Traditionen und kirchlicher Strukturen nachtrauern, vielleicht den neuen Konservatismus junger Geistlicher und den Rückfall in fundamentalistische Allüren beklagen, fragen Katholiken aus Leipzig oder Danzig eher, was mit Organisationsverlust eigentlich verloren geht. Sie sind autonome Basisarbeit ebenso gewohnt wie die Ökumene mit nichtchristlichen Mitbürgern. Ein Papstbesuch, der in München zu Dauerübertragungen führt euphorische Schlagzeigen produziert, wird in Halle nur nebenbei erwähnt. Während sich die Religionslehrer Nordrhein-Westfalens mit den neuesten Weisungen Kardinal Meisners zum interreligiösen Gebet auseinandersetzen, freuen sich ihre Kolleginnen aus Bautzen über jeden Muslimen, der ihre schütteren Unterrichtszahlen aufwertet und ihre Religionsgespräche bereichert.

Wo also stehen wir? Nehmen wir dieselbe Wirklichkeit nur verschieden wahr, streben wir verschiedene Ziele an oder liegt die neue Wirklichkeit woanders? Der Zeitpunkt für ein neues Gespräch ist günstig, denn inzwischen ist auch die Säkularisierungsthese ins Wanken geraten. Es ist Zeit, vergangene Entwicklungen neu zu verstehen. Vor 20 Jahren galt noch als unbestritten und unbestreitbar, dass die Säkularisierung unter bestimmten Bedingungen alle Gesellschaften mit naturgesetzlicher Härte überrollt. Gemeint war das Schwinden des Einflusses von Religion und Kirche in der Gesellschaft, bedingt vor allem durch gesellschaftliche Differenzierung, Verwissenschaftlichung und Industrialisierung. Im Maße solcher Entwicklungen, hieß es, werden Religion und Religiosität unwiderruflich verschwinden; politische Einflussnahmen können diesen Prozess höchstens verlangsamen oder beschleunigen. Religionsphilosophie und Religionssoziologie haben diese These inzwischen aufgegeben oder in hohem Maße differenziert. Gegen sie spricht, wie wir noch genauer sehen werden, schon die Tatsache, das Säkularisierung eine speziell europäische Erscheinung ist. Gegen sie spricht ferner die Tatsache, dass das Verhältnis zu Religion und Religionen in verschiedenen Ländern, die man säkularisiert nennt, sehr verschieden sein kann. Man vergleiche nur die Niederlande mit Ostdeutschland oder Frankreich mit Westdeutschland.

Das Hauptproblem der Säkularisierungsthese liegt in der Tatsache, dass sie Religion als eine eigenständige, in sich geschlossene Größe betrachtet und die Größe Kirche ebenso monolithisch mit Religion in Parallele setzt. Man hatte vergessen, dass Religion eine höchst komplizierte Zusammensetzung von verschiedensten kulturellen und anthropologischen Erscheinung bedeutet, die erst durch einen neuzeitlichen Blick als Einheit gesehen wurde. Erst seit der Aufklärung bürgert sich unser Wortgebrauch ein, der, wie es scheint, so selbstverständlich ist. Wer also von unheilbarer Religiosität spricht, wer dies gut oder schlecht, verzichtbar oder erstrebenswert findet, muss zur Begründung seine Überzeugung erst erklären, was er damit meint.

Heute ist dies wichtiger denn je, denn keine der globalen Behauptungen zu diesem Sachverhalt wird der komplizierten Wirklichkeit gerecht, mit der wir inzwischen konfrontiert sind, denn unter veränderten Bedingungen nehmen Religion und Religiosität ganz neue und unverwartete Formen an. Neben ganz persönliche, aber zutiefst prägende Werteerfahrungen treten wieder sich machtvoll inszenierende Institutionen, neben gesellschaftlich dominante Verhaltensansprüche ganz private, geradezu intime Überzeugungen, neben ekstatische Erfahrungen tritt eine unauffällige Innerlichkeit und Dienstbereitschaft, neben die bekannten Formen eines kämpferischen oder agnostischen Atheismus gibt es unerwartete Neuentdeckungen einer Transzendenz, die mit tiefster Behutsamkeit gepaart ist, neben eine Religiosität, die einer existentiellen Entscheidung entspringt, wird wieder das Loblied humanisierender und stabilisierender Konventionen gesungen, die Ostereier und Christbaumkugeln mit einschließen. Es ist deshalb höchste Zeit, den Globalbegriff „Religion“ einmal einzuklammern oder wenigstens neu zu situieren.

Vielleicht haben traditionelle Religiosität und säkularisierte, gleichwohl verantwortliche Verantwortung trotz allem eine gemeinsame Wurzel, einen Kern von Erfahrungen, der zu verschiedensten Gestalten führt. In uns Menschen, so die These von Hans Joas, gibt es elementare Erfahrungen der „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“[2]. In ihnen werden wir unserer selbst und zugleich unserer Grenzen bewusst. Wir können wir selbst sein und zugleich fühlen wir uns über uns selbst hinausgehoben; das eine ist ohne das andere nicht möglich.. Vieles können wir selbst nicht regeln; dafür ist uns anderes schon längst geschenkt. Wir rufen in unserer Verzweiflung nach Werten und bemerken zugleich, dass wir schon längst in sie verwickelt und deren Nutznießer sind. Werte wie Leben, Gerechtigkeit, Wahrheit und Würde sind unabdingbar und nützlich, zugleich sind sie über alle Nützlichkeitserwägungen erhaben.

Wer sich dieser ständigen Schwebe zwischen Herkunft und Gegenwart, Fakt und Möglichkeit, zwischen Selbsterhaltung und Verantwortung bewusst wird, hat das entscheidende Kriterium gefunden, das für seine Selbstorientierung gilt und das auf der Eben der Kultur immer wieder zu Religionen geführt hat. Der Blick auf die Werte und deren Entstehungsprozess macht es uns möglich, die existierenden Religionen in ihrer Pluralität anzuerkennen und notfalls scharf zu kritisieren. Dieser Blick macht es zugleich möglich, mit dem Verschwinden oder mit tiefgreifenden Umformungen von Religion und Religionen umzugehen. Schließlich ermöglicht er es, den Verlust von Verhaltensformen auszuhalten, die in einer Kultur als religiös gelten. Es ist selbstverständlich, dass wir zugleich dafür zu sorgen haben, dass sie sich nicht in destruktive Kräfte verwickeln.

 In der Öffentlichkeit und für viele Vertreter der Kirchen ist die Aussage schon zum Klischee geworden: Die Talsohle der Säkularisierung ist überwunden; Religion ist wieder im Kommen. Jugendliche haben religiöse Ereignisse entdeckt und machen sie zu Mega-Events. Fernsehkomiker wie Harpe Kerkeling geht auf den Pilgerpfad Jakobs, um dann ausführlich zu berichten. Ein TV-Moderator nach dem andern outet sich als ehemaliger Ministrant, gleich ob Alfred Biolek oder Frank Elstner, Thomas Gottschalk oder Günther Jauch. Der Abtprimas der Benediktiner, Notker Wolf, erscheint als Popmusiker in Talkshows. In Bayern ist Benedikt XVI. zum Publikumsliebling und Fernsehstar Nr. 1 avanciert. Ein Papst, der in Istanbul Friedenstauben in den Himmel aufsteigen lässt, wird zum historischen Ereignis eines neuen Religionsfriedens hochstilisiert. Was ist von alledem zu halten.

I.   Im Dreieck von Fakten, veröffentlichter Meinung und Meinungen

1.1 Das neue Interesse

Was wir da erleben, ist nicht unerwartet und neu. Viele konnten schon in den siebziger Jahren Säkularisierung nicht einfach als Verschwinden von Religion und Religiosität verstehen. Schon im „glaubenslosen“ und „materialistischen“ Westen der 70er und der 80er gab es entkirchlichte, aber religiös orientierte Menschen, denen man es nicht ansah. In den 70er Jahren begann eine neue Faszination für asiatische Ideen, für Seelenwanderung und Reinkarnation, für die Idee des Karma und für transzendentale Meditation. Seit den 80er Jahren zeiht man sich wieder zur Besinnung zurück; gerade in Großstädten werden Kirchen und Räume der Stille vermehrt besucht. Welche politische Sprengkraft von manchen Kirchen der DDR ausging, wurde beim Zusammenbruch des  Systems im Herbst 1989 offenkundig, ganz zu schweigen von der religiös-politischen Bewegung in Polen. Der Westen zeigte eine diffuse Entwicklung, aber esoterische und Neue religiöse Bewegungen gewannen zusehends an Attraktivität. 1988 fasste sie eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages noch unter dem Titel „So genannte Sekten und Psychogruppen“ zusammen und sprach ihnen keinen großen Einfluss zu. Immerhin schätzte man 1988 schon 1 Million Anhänger. Etwas abschätzig sprach man von „Kundenkult“ und verstand darunter „therapeutische Seminarangebote, …die keine langfristigen Anhängerstrukturen“ ausbilden.

Aber die Lage ist komplizierter. Weltweit rechnet man bald mit 110 Millionen Anhängern im unübersichtlichen Szenario. Seit Ende der 80er Jahre kommt ein neues Phänomen hinzu: Ausgerechnet im so viel gescholtenen Westen und ausgerechnet unter jugendliche Menschen sucht man nach neuer Orientierung. Gesellschaft und Kirchen lassen sie zugleich im Stich. Man erarbeitet keine neuen Lösungen, sondern bietet ihnen veraltete an. Das neue Stichwort lautet „Fundamentalismus“, obwohl auch dieser Begriff schon zwischen 1910 und 1920 in den Südstaaten der USA von Christen entwickelt wurde. Immer mehr erweist er sich als Kurzschlussreaktion auf die Moderne. Er gibt vor, den Glauben wieder auf unerschütterliche Fundamente zu stellen, auf einen glasharten Felsengrund, den es für Geschichte und Kulturen, auch für Religionen leider nicht gibt.[3] So lässt er Religion als ausgesprochen rigide und unbarmherzige, politische aber schlagkräftige Lebensform erscheinen.

Es waren diese Umwege, die das tabuisierte Thema Religion in der Öffentlichkeit, wenn auch verdeckt, präsent hielten. So bedurfte es einiger unerwarteter Anstöße, die diese unterschwellig veränderte Situation in die Öffentlichkeit dringen ließen.
(1) Es war zunächst eine Entdeckung, die viele aus dem Westen völlig unerwartet traf: Ungeachtet der katastrophalen wirtschaftlichen und finanziellen Situation der kommunistische Regime waren es starke religiöse Impulse, die – vor allem in Polen und in der DDR – zu deren Zusammenbruch beitrugen und dafür sorgten, das Gewalt weithin vermieden wurde.
(2) Ein anderes, ebenfalls unerwartetes Signal setzten der Tod und die Beerdigung von Prinzessin Diana, die am 30. August 1997 tödlich verunglückte. Eine Welle der Anteilnahme, geradezu eine Trauerhysterie überzog Kontinente. Ungezählte Millionen von Menschen verfolgten die Totenliturgie. Inzwischen gab es in säkularisierten Ländern offensichtlich keine Möglichkeit mehr, Trauer gemeinsam auszuagieren. Religion schien doch mehr als Privatsache zu sein.
(3) Es waren schließlich die Terroranschläge vom 11.September 2001, die definitiv zeigten, dass Religionen alles andere als Privatsache sind. Zwar wurde Religion hier zu Gewalttaten missbraucht, aber es waren politische Gegner, die sich religiöse definierten.

Was wir also seit wenigen Jahren als Erstarken von Religion und Religiosität registrieren, hat eine lange Vorgeschichte; es widerlegt das vereinfachte Religionsbild, von dem die Säkularisierungsthese getragen war. Ist Religion also nur das, wofür man sie hält? War Religion nur verschwunden, weil man sie für verschwunden hielt und öffentlich nicht mehr erwähnte? Und gilt sie heute nur deshalb als wiedererwacht, weil man sie für eine Siebenschäferin hält, deren Höhlenzeit abgelaufen ist, sodass man sie wieder sehen kann? Es ist kein Geheimnis, dass Fakten und Öffentliche Meinung nicht übereinstimmen müssen. So verwundert auch nicht, dass es zwischen dem, was man für Religion hält und real existierender Religion Diskrepanzen gibt. Es ist ferner kein Geheimnis, dass die Öffentliche Meinung nicht etwa die Summe konkreter Meinungen darstellt, sondern oft zufällige und gewaltsame Vereinfachungen, of auch die Folge eines gründlichen Unverständnisses darstellt. Es gibt bekanntlich Meinungsmacher und die Medien als Meinungsmittel, sodass sich der naiv gedachte Zusammenhang immer mehr umkehrt: die Meinungsmacher bestimmen, was die Bürger zu meinen haben. Durch Selektion, Präsentation, Interpretation werden wir alle beeinflusst.

Kritische Zeitbeobachter gehen zudem davon aus, dass sich die Übermacht der Medien einen neuen Zeitgenossen schafft. Es ist nach R. Funk der Ich-orientierte Charakter. Im aktiven Fall findet er seine Befriedigung darin, dass er in seiner Kommunikationsfreude Inszenierungen schafft und sich dafür sein Publikum schafft . Im passiven Fall lebt er vom Mit-erleben, also von der Partizipation an inszenierten Lebenswelten. Beide Varianten, der Star und der Fan, reagieren auf die Übermacht der Medienwelt, die alles zum Erlebnis macht oder als Erlebnis präsentiert. Je mehr dieser Lebensstil unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit prägt, umso mehr setzt sich auch Religion in solcher Wahrnehmung fest: als Erlebniswelt und inszeniertes Schauspiel, als Strategie der Überwältigung und der großen Gefühle. Es fällt auf, dass uns viele kirchliche Ereignisse als Erlebniswelt angeboten wird, von den Tagen der Besinnung über das Gemeindefest bis zum klösterlichen Kräutergarten, getreu der Mitteilung im Internet: „Erlebnis Kirche: Konfirmandengruppe mit Pastor übernachtet im Sprengstoffbunker“. Der Erlebnis wird zum Faktum selbst, der Papst, der Friedenstauben fliegen lässt, wird zum Kämpfer für den Frieden. Inszenierung und Wirklichkeit überschneiden sich; für die Authentizität bürgt der Bildschirm. Ist Religion also wieder Gegenwart, sobald sie perfekt inszeniert wird? Ist jetzt unheilbar religiös, wer auf das Mega-Event von Massenchor und Enthusiasmus angewiesen ist? Wie wollen wir Truppenparade und Fußballweltmeisterschaft noch Gottesdienst mit Menschenmassen unterscheiden? Sobald das Medium zur Botschaft wird, ist äußerste Zurückhaltung geboten.

1.2 Kein Weg zurück

Natürlich waren und sind die Reaktionen auf diese veröffentlichte Religionsmeinung unterschiedlich. Dies gilt für München und Warschau ebenso wie für Dresden oder Paris, von den calvinistischen Niederlanden einmal ganz abgesehen.
* Europaweit ist eine naiv nostalgische Sympathie verbreitet: Man hofft, Religion komme so beruhigend zurück, wie sie einst gegangen ist. Man setzt voraus, Religion sei zu allen Zeiten unverändert, selbstverständlich eben Religion,. Das ist pure Selbsttäuschung. Um das einzusehen, müsste man den eigenen Lebensstil, die eigenen geistigen Standards und Überzeugungen mit denen der Großeltern und Urgroßeltern vergleichen. Die Nostalgiker bedenken nicht, wie unendlich viel sich mental, sozial und kulturell verändert hat. Es wäre fatal, als würde sich Religion auf Hochzeitsbraut und Weihnachtsfest und reduzieren.
* Garantiert Religion aber nicht Unveränderlichkeit und Kontinuität? Wird sie nicht zum stabilisierenden Gesellschaftskitt (Durckheim) und sorgt sie nicht dafür, dass die Brücke zum Alten nicht verloren geht (Hermann Lübbe)? Es gibt in der Tat eine Gruppe kulturbeflissener Mitbürger, mehr in den altern als in den neuen Bundesländern zu Hause, die Religion als hervorragende Kulturträgerin verstanden, als die Verwalterin eines reichen Erbes, prägend für die Sprache, für Baugeschichte und Kunst, Inspiratorin für Musik und das Stilgefühl, schließlich Garantin für die Standards bürgerlicher Bildung. An religiöse Bildungsinstitutionen konnte man die elterliche Verantwortung delegieren, den Ordenshäusern, die Krankenpflege, den Predigern sie Sorge für eine stabile Moral. Gewiss, man sollte diesen Ruf nicht verachten, bei aller Bürgerlichkeit bleibt aber in Religionen ein Rest, der beunruhigt und gerade nicht dort zu Haus ist, wo Bürgerlichkeit versagt. Die Kirchen der ehemaligen DDR wissen von der Glaubwürdigkeit zu erzählen, die ihnen ihre Opposition zum Staat gebracht hat.

Aber auch ihre Kirchen haben sich nicht wieder gefüllt. So zwingt die nüchterne Bestandsaufnahmen eben zur Differenzierung. Bürgerliche Milieus begegnen unseren Kirchen eher mit Distanz. Bekannten Umfragen zufolge ist das Ansehen der Polizei größer als das der Kirchen. Innerhalb der Kirchen werden nicht die Pastoren, sondern die Sozialen Dienste geschätzt. Die Zahlen verlangen Deutung. Wenn sich in der DDR 1964 noch 12 Millionen Bürger zum kirchlichen Christentum bekannten, in den 80er Jahren  nur noch 5 Millionen, kann man sich freuen, dass diese durchgehalten haben. Wenn sich heute noch 74 % der Bürger in der ehemaligen BRD, dagegen nur 26,9 % in der ehemaligen DDR Christen nennen, dann täuscht eben der Gesamtschnitt von 65% ( = 53,68 Millionen, davon 25,9 Millionen Katholiken, 25,6 Millionen Protestanten). Denn was sagt diese Zahl aus? 2004 gingen durchschnittlich 3,8 Millionen Katholiken (= 15% ) und 1 Million Protestanten (= ca. 3,8%); im Gesamtschnitt ca. 9%) zu den sonntäglichen Gottesdiensten. Spricht das gegen die kirchendistanzierten Christen oder gegen die Gestaltung der Gottesdienste? Bislang hat sich der Trend zu weiterer Abnahme nicht umgekehrt, aber niemand gibt verlässlich über Umstände und Motive dieser Entwicklung Auskunft. Zwar hat sich das Ausmaß der Abwendung verringert, aber der Trend hat sich nicht umgekehrt. In der katholischen Kirche bricht die Seelsorge im Augenblick zusammen.

Die neue Offenheit für Religion und Religiosität bedeutet also keine neue Verkirchlichung, auch keine Rückkehr zu einer Religiosität, wie wir sie von früher kennen. Deshalb wird die aktuelle Entwicklung oft als oberflächlich, in keiner Weise als nachhaltig eingestuft. Der hohe Einfluss der visuellen Medien, die grundsätzlich an der Oberfläche haften, spricht dafür. Doch sollte man sich vor einem vorschnellen Urteil hüten.

1.3 Erinnern und Vergessen

In den Kirchen wird im Augenblick viel über die Weitergabe des Glaubens nachgedacht. Oft ist von Vorbild und Zeugnis, von Katechese und Verkündigung die Rede. Im ‚November 2000 schrieben die deutschen Bischöfe unter dem Titel „Zeit der Aussaat“ einen gemeinsamen Brief. In sich ist er gut erarbeitet und bietet viele wertvolle Gedanken. Es geht um Zeugnis und Vorbild, um solidarische Weggemeinschaft mit den Suchenden und Bedürftigen sowie um Möglichkeiten, wir Kirchen (als Gebäude und als Gemeinden verstanden) wieder zu Orten der Begegnung, auch des Kontaktes mit Kunst und Kultur werden können. Die Broschüre, durch einen bewegenden Brief von Bischof Warnke (Erfurt) ergänzt, sollte nicht nur zum Zeichen einer neuen gemeinsamen Sprache der deutschen katholischen Kirche, sondern auch zum Signal eines neuen Aufbruchs in das beginnende Jahrhundert werden. Die Signalwirkung blieb jedoch aus. Warum wieder einmal diese beschwörende Sprache, der alle Zukunft zu gehören scheint, und warum wieder einmal ein Feuerwerk, das nach einem halben Jahr verpufft und vergessen ist?

Das Problem solcher Appelle liegt in der Fehleinschätzung, genauer in der Missachtung der aktuellen kulturellen Situation und der spiegelbildlichen Veränderungen, die in Glaube, Christentum und Religiosität der Gegenwart schon lange wirksam sind. Zu Recht schreib dazu J. Warnke: „Vermutlich verliert in unserer Generation eine Gestalt des Christwerdens ihre Dominanz: die vornehmlich pädagogisch vermittelte Gestalt der Weitergabe des christlichen Glaubens, die seit dem Beginn der Reformationszeit bzw. der Gegenreformation bestimmend gewesen ist, ähnlich wie seit frühmittelalterlichen Zeiten die ‚soziale’ Gestalt der Glaubensvermittlung vorherrschend gewesen war“. Es ist die auf Bildung konzentrierte Form von Christentum, damit auch die bildungsorientierte Form von Religion, die Warnke hier „pädagogisch vermittelte Gestalt“ nennt. Christentum (und Religion!) war in die Watte von Wissen und Erinnerung, von Bildung und intellektuell anspruchsvoller Weltdeutung gepackt. Man achtete den Kultursektor „Religion“, weil er ästhetisch und intellektuell anspruchsvolle Inhalte vermittelt. Oft ist man sich dieses Zusammenhangs nicht bewusst, weil man immer wieder und mit großem Nachdruck die damit verbundenen „höheren“ Werte durchbuchstabiert. Sobald das Bildungsgehäuse aber abgeschwächt wird oder wegfällt, verliert das Christentum genau wie bei all denen seine Attraktivität, die zu den traditionellen Bildungsgütern keinen Zugang mehr haben.

Deshalb ist auch Wankes Folgerung zuzustimmen: „Wir treten jetzt in eine Zeit ein, in der christlicher Glaube missionarisch-evangelisierend in der Generationenabfolge weitergegeben werden muss. Damit nähern wir uns – freilich in einem völlig anderen gesellschaftlichen Umfeld – in bemerkenswerter Weise wieder der Situation des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens an.“ Dabei hebt er auf drei Gesichtspunkte ab:
(1) Die Entscheidung zur Nachfolge erfolgte „eigenständig“.
(2) Die Spätantike was „religionsgesättigt“ und dem „Religionsboom“ einer nachchristlichen Gesellschaft vergleichbar.
(3) Das Christliche war in dieser Umgebung „fremd“.

Der erste Punkt („Entscheidung) trifft sicher zu; religiöse Entscheidungen werden zunehmend auf persönliche Verantwortung hin gefällt. Doch sind Differenzierungen angebracht, denn oft haben die Einflüsse der Umgebung (Familie, Freunde, biographische Bezüge, soziales Umfeld) ein enormes Gewicht. Man sollte also nicht meinen, dass wir einer Zukunft christlicher Heroen und Einzelkämpfer entgegengehen. Nach wie vor werden sie Außenseiter bleiben.

Der zweite Punkt („Religionsboom“) mahnt zu noch mehr Vorsicht, denn der gegenwärtige, sehr nüchtern anzusetzende „Religionsboom“ ist mit der Selbstverständlichkeit und ganz anderen Art spätantiker Religionssättigung kaum zu vergleichen. Trotz möglicher Religionsfreundlichkeit gehen wir nach wie vor von einer säkularisierten Öffentlichkeit aus, die mit Religionsferne nicht nur schlechte Erfahrungen hat. Die „Fremdheit“ liegt also nicht im Christentum, sondern in der Religiosität an sich. Zunächst geht es also nicht darum, das Christentum als eine gute Religion zu erweisen, sondern darum, Religion und Religiosität (welcher Art auch immer) als eine gute Form des Menschseins abzuklären. Genau aus diesem Grund kommt es heute darauf an, zwei Denk- und Handlungsprojekte zusammen zu bringen, also mit zwei Unbekannten zu arbeiten, die sich erst im Laufe der Zeit klären können.
(1) Lebensüberzeugungen und -formen religiöser Art sind als Lebensformen darzustellen, die zutiefst human, von sozialen Impulsen und tragfähigen Zukunftsvisionen getragen sind.
(2) Religion und Religiosität sind als eine Lebensform zu begreifen, deren konkrete Gestalt im Augenblick in Bewegung ist. Elemente wie Transzendenzbezug, Welt- und Werteorientierung, kulturelle Gestaltung und persönliche Freiheit und Autonomie gleichen eher einem kaum definierbaren Fließgleichgewicht als einer wohldefinierten und mit Prioritäten versehenen Gesamtstruktur.

Der dritte Punkt („Fremdheit“ des Christlichen) hat heute, nach nahezu 2000 Jahren Christentumsgeschichte, auch in säkularisierten westlichen Gesellschaften nicht mehr den Charakter des Fremden. Schon Begriffe wie Christentum, christliche Kirche(n) oder christlicher Glaube weckt im kollektiven Gedächtnis Europas zahllose Assoziation, sei es in Kunst oder Politik, in Philosophie und Weltanschauung, in der Gewalt- oder Friedensgeschichte des Kontinents, in ihrer Potenz der Schuldzuweisung oder Versöhnung, im Kontakt mit entschiedenen oder Gewohnheitschristen. So viele christliche (oder als christlich charakterisierte) Werte und Überzeugungen sind in unsere Kultur eingegangen, dass manche überhaupt keine Kontrastmöglichkeiten des gelebten Christentums zur sonstigen Alltagsgestaltung mehr sehen. Güte und Solidarität, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Gewaltverzicht und die Verschränkung von Menschlichkeit und Transzendenz sind so in unser Kulturgut eingegangen, dass kaum mehr eine Kontrasterfahrung zu benennen ist, in die uns die Begegnung mit dem Projekt des Christlichen bringt. Damit sei dem Christentum seine Kontrastfähigkeit und sein „Mehrwert“ (Wanke) in keiner Weise abgesprochen, aber es fällt schwer, diese auf eine allgemein überzeugende Weise und so zu umschreiben, dass man allgemein sagen wird: „Seht, das ist etwas Neues“.

„Viele Menschen“, stand vor einiger Zeit in Publik-Forum, „haben der Kirche den Rücken gekehrt, bleiben aber religiös“[4] Ein weiterer Faktor gehört zum Spiel; es geht nicht nur um Christsein und Religion, sondern um Religion, Christsein und um eine Kirche, die sich in den genannten Texten zu schnell mit Christsein identifiziert. Auch bei denjenigen, die der Kirche den Rücken kehren, aber religiös bleiben, wäre ja zu fragen, ob sie Christen bleiben oder nicht, vielleicht Muslime oder Buddhisten werden, sich einer anderen Religionsgemeinschaft anschließen. In der Regel setzen sich die Kirchen mit dieser Unterscheidungen zu wenig auseinander, wie sie überhaupt zu wenig auf die kulturellen Bedingungen achten, die eine Weitergabe des christlichen Glaubens im kirchlichen Raum erschweren, möglichen oder begünstigen. Wie kommt es, dass viele Menschen gerade aus christlichen Gründen Schwierigkeiten mit der Kirche haben? Seit Herbst 2005 kennen die katholischen Bischöfe Deutschland eine Sinusstudie[5] über religiöse und kirchliche Orientierungen, die sie in Auftrag gegeben hatten. Das Ergebnis sind differenziert und ernüchternd. Von den zehn Milieus, die das Institut in Deutschland ausgemacht hat, lassen sich drei, höchstens vier Milieus von den Kirchen noch ansprechen. Das sind die „Traditionsverwurzelten“ (Mittel- und Unterschicht), die »Konservativen« (Ober- und obere Mittelschicht) und die »Postmateriellen«, (obere Mittel- und Oberschicht). Die vorgetragene Deutung lautet so: „Die Kirche ist damit vor allem für Menschen ein Bezugspunkt, die sich an traditionellen Werten orientieren wie Pflichterfüllung, Ordnung und Familie. … Weder bei Jugendlichen noch bei der Unterschicht, wohl aber bei der gebildeten Mittelschicht hat die Weitergabe des Glaubens eine Chance. Das heißt, dass die Kirche viele Zielgruppen nicht mehr erreicht.“[6] Interessant ist, dass sich viele der „Postmodernen“ (großenteils die gut gebildete Generation der 1968er im Westen [mittlere bis obere Oberschicht]) ausgesprochen als Christen sehen, der real existierenden Kirche, insbesondere deren Repräsentanten und Organisation, kritisch gegenüberstehen, da sie sich deutlich an ursprungsorientierten und an politisch reflektierten Konzepten ausrichten.

Insgesamt lässt sich aus dieser Studie folgendes lernen: In Westeuropa ist das, was man unter Religion versteht, noch stark an die Institution Kirche und an europäische Bildungsbestände gebunden; die Institution Kirche tut sich schwer, selbstkritisch darüber und über den Sinn ihre Machtverlustes nachzudenken. So wird die Frage nach dem Christentum zwischen den Größen „Kirche“ und „Religion“ nahezu erdrückt. Der Grund scheint darin zu liegen, dass die Kirche die normativen christlichen Erinnerungen (Schrift, insbesondere Neues Testament, die Worte, Taten und Geschick Jesu) kaum als kritische Impulse akzeptiert; sie will nicht sehen, dass man sich außerhalb der Kirchen oder gegenüber ihrer gegenwärtigen Gestalt an Jesus orientieren kann.

Im allgemeinen Verständnis erweist sich Religion (als Einzahl verwendet) aber als eine gespaltene Größe:
Einerseits meint Religion einen großräumigen Kulturbestand – von Wissen und Weltdeutung, von Geschichte und Philosophie, von Selbstsorge[7] und Sitten[8], von Zeitrhythmen[9] und Brauchtum[10] – der oft unbewusst oder unkritisch mit einem kirchlichen Christentum identifiziert wird.[11] Reden wir von Religion als kultureller Erscheinung. Solcherart Religion kann sich wie ein schützender, stabilisierender und belebender Raum um das Bedürfnis nach einer allgemeinen Orientierung legen. Deshalb hat Religion immer auch eine reinigende, orientierende Wirkung; in ihrem Raum können moralische Überzeugungen wachsen und Werte entstehen. Es kann das Vertrauen in das Leben enorm erhöhen.

Andererseits nähert sich Religion (als individualisierte Haltung verstanden) immer mehr dem Begriff der Religiosität; reden wir von Religion als einer je persönlichen Haltung, die von religiösen Erfahrungen geprägt ist oder auf eine Beziehung zu transzendenten Instanzen (Gott, Lebenssinn, Geschick, Engel) setzt. Interessant ist, dass sich dieser Gedanke individueller Religiosität erst in der Neuzeit (genauer: in der Aufklärung) entwickelt hat und in der Romantik vertieft wurde. Ganz im Gegensatz zum klassischen kirchlichen Verständnis setzt sich jetzt der Gedanke durch, dass Religion auch eine individuelle, sozusagen unverbindliche Form annehmen, dass der Begriff also in der Einzahl verwendet werden kann, obwohl wir auf der Welt nirgendwo die eine Religion, sondern prinzipiell nur Religionen haben.

Schließlich wird es vor diesem Hintergrund möglich, Religion noch in einem dritten Sinn zu verwenden. Ich meine Religion als übergreifende Grundhaltung und Grundstruktur, die subjektive und objektive Elemente aufnimmt, auf der alle Religionen aufbauen und die sie untereinander verbindet. Vom Standpunkt konkreter Religionen aus lässt sich eine so verstandene Religion als reine Abstraktion interpretieren, die es als solche nicht gibt; so verstanden ist dieser Begriff mit Vorsicht zu verwenden. Doch viele Menschen unseres Kulturkreises finden darin ihre eigene Wirklichkeit wieder. Sie können sich mit einer bestimmten Religion höchstens unter Vorbehalt identifizieren, sie leben buchstäblich zwischen konkreten Religionen oder sie suchen Wege, die das bewusst säkulare Konzept wissenschaftlicher oder anderer Weltanschauungen überschreiten.

Wer also von Religion(en) redet, sollte also konkret sagen, welche der genannten Bedeutungen gemeint ist. Konkret gesprochen geht es immer um den zentralen Aspekt einer umfassenderen Wirklichkeit; keiner von ihnen ist getrennt zu haben. Aber sobald Spannungen und Dissoziationen auftreten, kommt es zu sprachlichen Ausschlüssen. Konkrete Religionen sind dann von persönlicher Religiosität, bei von dem Gemeinsamen, das Religionen und Religiosität auszeichnet. Aber die Notwendigkeit zu dieser Klärung zwischen den drei zusammenhängenden Aspekten wird nur selten erkannt, weil das Gespür für die tiefgreifenden Wandlungen und Differenzierungen unter gegenwärtigen Epoche noch kaum vorhanden ist. Dies scheint auch der Grund für die oft hilflose Klage über das große Vergessen zu sein, dem wir ausgesetzt sind. Glaubensinhalte, heißt es dann, würden nicht mehr weitergegeben. In der Tat führt das Vergessen einer christlich oder kirchlich genannten Kultur zu enormen Kulturverlusten. Die Bibliotheken der vergangenen Jahrhunderte werden allmählich geschlossen. Für ganze Zweige der Wissenschaft fallen Texte 20 Jahre nach ihrem Erscheinen in die Nichtexistenz zurück. Zu klären bleibt aber, ob solches Vergessen automatisch zum Religionsverlust führt, oder ob es nicht ein Symptom für die Tatsache ist, dass Religion im dritten Wortsinn in einem tiefen Wandel begriffen ist. Wenn sich aber der dritte Wortsinn ändert, dann führt das auch zur Umformung von Religionen und Religiosität. Wenn wir im Augenblick so vieles vergessen und aufgeben müssen, wofür gewinnen wir dann freien Raum,  – für die unverstellte Bibel vielleicht oder die Gestalt Jesu Christi? Für die humanen Werte, derer wir in unserer Epoche besonders bedürfen? Für ein neues Verständnis für das, was die Religionen, was vielleicht Religionen und andere Weltanschauungen miteinander verbindet? Wir müssen uns auf solche Fragen konzentrieren, wenn sich das neue Interesse an Religion nicht im schönen, im Grunde hohlen Schein medialer Inszenierungen erschöpfen soll. Wir müssen zugleich bedenken, dass da keine natürlichen, quasinaturgesetzlichen Prozesse ablaufen. Je mehr wir die Hintergründe kennen, umso mehr erkennen wir auch, inwiefern diese Prozesse gesteuert sind, inwiefern wir also auch uns selbst und kulturelle zur Religion und Religiosität steuern können.

Vor dem Hintergrund dieser Fragen sei im folgenden Kapitel versucht, dem Stellenwert und den Umformungen nachzugehen, die Religion und Religiosität seit Beginn der Säkularisierung erfahren hat.

II. Transformationen von Religiosität und Religion (9 Thesen)

Wie also lassen sich Zusammenhänge genauer nachvollziehen und was folgt daraus für die aktuelle Rückkehr der Religion? Was ist der Anteil der Medien, was ist der Anteil der (christlichen) Religion und anderer Bedürfnisse, die von ihr missachtet wurden? Wie genau hat sich „Religion“ im schon angedeuteten Sinn verändert? Die Prozesse, die spätestens seit den 1980er Jahren in Gang und immer noch nicht zur Ruhe gekommen sind, sind hochkomplex und vor dem Hintergrund eine ebenso komplexen Prozesses zu begreifen, den wir „Säkularisierung der Gesellschaft“ nennen. Nur Soziologen und Kulturwissenschaftler vom Fach könnten ihn angemessen darstellen. Ich versuche, meine Sicht der Dinge in einigen Thesen zusammenzufassen. Es gilt zu zeigen, wie sich das gegenseitige Verhältnis von Kultur, Religion, Religiosität und Christentum in einem Augenblick verschoben und neu ausdifferenziert hat, da andere Religionen beginnen, mitzureden. So greife ich auf das Phänomen der Säkularisierung zurück.

2.1. Säkularisierung als kultureller Exodus

Lange hat man Säkularisierung als einen Prozess verstanden, der Religion(en) in ihren institutionellen Formen und individuellen Verhaltensweisen in Gesellschaft und Individuen verschwinden lässt. Gleich, ob wir von Gott selbst, von religiöser Erfahrung oder von Kirchlichkeit reden, Säkularisierung schien lange Zeit ein unerbittliches Gesetz zu sein, das in den betroffenen Ländern mit verschiedener Geschwindigkeit zuschlägt, sich aber nie umkehren lässt und erst dann endet, wenn es sein Ziel erreicht hat. Beispielsweise war Habermas noch 1981 dieser Meinung. Bezeichnend ist die Formulierung seiner Begründung: der „sakrale Handlungsbereich“ habe sich mit der Entfaltung „modernere Gesellschaften“ weitgehend aufgelöst, wenigstens seine strukturbildende Kraft eingebüßt.[12] Der Säkularisierungsbegriff wird also rein soziologisch, wenn nicht gar institutionssoziologisch gedacht, nämlich auf einen „sakralen Handlungsbereich“ bezogen.  und auf einfache Messinstrumente der Oberfläche bezogen und gleich mit „ideologischen Funktionen“ identifiziert.

Dieser quantifizierende Ansatz ist verführerisch, denn der Prozess verläuft einfach und zielgerichtet. Das Glaubensgebäude von Dogma, Bekenntnis und moralischen Sonderregeln wurden zusehends zur leeren Hülse. Messbare und als religiös anerkannte Handlungen (Gebet, Gottesdienstbesuch, Ausübung religiöser Rituale, Kirchenmitgliedschaft) verschwanden von der Bildfläche der Statistiken. So war es nicht schwer, den Ausdünnungsprozess bis zu dem Augenblick zu extrapolieren, da außer verfallenden Kirchengebäuden nichts mehr übrig bleiben würde. Vertreter der Kirchen konnten ihr Schicksal einem bösen Geschick oder der bösen Welt zur Last legen. Die Soziologie hatte ja nur den traditionellen, die komplizierten Innenverhältnisse vereinfachenden Anspruch der Kirchen anerkannt und übernommen, dass Religiosität und Glaube sich als Kirchlichkeit erweisen müssten. Ohne letztere gab es weder Religion noch Religiosität. Differenzierungen etwa von Seiten qualitativer Forschung waren kaum zugelassen und wurden als apologetische Versuche beurteilt, vor der Wirklichkeit die Augen zu schließen.[13]

Sobald wir die Breite und Mehrschichtigkeit des Religionsbegriffs aber in Anschlag bringen, lässt sich auch der Prozess der Säkularisierung anders beurteilen. Angesichts der inneren Vernetzung des Kulturcharakters, des Strukturcharakters sowie der subjektiven Anteile von Religion verlaufen Veränderungsprozesse nie einschichtig ab. Eine Entwicklung, in der die drei Aspekte gleichzeitig in gleicher Weise Schaden leiden, ist eher unwahrscheinlich. Wenn sich der Kulturcharakter einer Religion (konkret: von Christentum oder Kirche) verändert, verändert sich gewiss auch deren Strukturcharakter sowie eine damit vernetzte Religiosität. Warum aber sollten sie alle zugleich und miteinander verschwinden?

Wenn nicht alles täuscht, betrifft Säkularisierung (wenigstens in erster Linie) die kulturelle Verfassung einer Religion, auf deren Veränderung die anderen Aspekte reagieren, weil sie das unverzichtbare Umfeld bilden. Es geht also nicht einfach um das Verschwinden religiöser Grundhaltungen oder religiöser Interessen aus den Menschen. Vielmehr meint Säkularisierung, nüchtern betrachtet, den Auszug bestimmter Handlungen, Motivationen und Ziele, bestimmter Deute- und Redeweisen sowie einer bestimmten Sprach- und Vorstellungswelt aus ihrem überlieft religiösen Gewand. Sie wandern in einen Kosmos des Handelns, Streben und Sprechens aus, der nicht mehr als religiös erkannt wird und sich selbst nicht mehr als religiös erkennt. Die von den christlichen Kirchen angebotenen Kulturcodes überzeugen nicht mehr, ihre Sprache wird nicht mehr verstanden. Menschen und Gemeinschaften distanzieren sich von bestimmten Formen und konkreten Bedingungen. Ob deren Inhalt ersatzlos gestrichen wird, bleibt offen.

Dass diese Entwicklung mit schwerwiegenden Verlusten einhergeht, sei hier nicht bestritten. Wie nämlich soll man noch mit Gott reden, wenn das traditionelle Wort „Gott“ aus dem Wörterbuch verschwindet? Wie soll man einer letzten Instanz sein Vertrauen schenken, wenn „Glaube“ als irrationales Handeln verscheint? Die Frage ist nur, was an „Gottes“ Stelle tritt: ein anderes Wort, eine erfahrbare Lücke (Nietzsche: „wohin stürzen wir?“ oder einfach nichts, das nicht einmal einen Mangel hinterlässt? Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Prozess die Kirchen nicht von außen her überfällt, sondern zugleich von innen her vorbereitet wird, denn auch Kirchen sind Teil einer Kultur und kirchentreue Menschen sind zugleich Kinder einer umfassenden Kultur. So wird verständlich: Säkularisierung bewirkt nicht nur eine (kulturelle) Entfremdung der Kirchen von der sie umgebenden Gesellschaft, sondern es kommt auch zur Selbstentfremdung innerhalb der Kirchen selbst. Die einen sagen den anderen, die eine oder andere Neuerung sei nicht mehr akzeptabel; die anderen antworten, ohne diese Neuerung gebe die Kirche ihr wahres Ziel auf. So führt Säkularisierung nicht einfach zum Verschwinden, sondern zur Verunsicherung und Selbstverkrampfung der bedrohten Institution, die bald selbst nicht mehr weiß, wohin sie ihr Schiff lenken soll. Solcherart Säkularisierungsprozesse sind nicht nur von außen initiiert, sondern auch von innen herbeigeredet. Man vermisst einen Anker, auf den sich Kirchen und eine säkularisierte Kultur gemeinsam verlassen können. Diese Mangelerfahrung verbirgt sich hinter dem Ruf nach Werten und Normen, der überall beschworen wird.

2.2. Flucht aus der Definitionshoheit

Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Säkularisierung in verschiedenen Ländern unterschiedlich verläuft, in bestimmten modernisierten Ländern überhaupt nicht stattfindet. Wovon hängen also Faktizität und Intensität des Prozesses ab? Natürlich bieten die hohe Industrialisierung, die wachsende Differenzierung, der Einfluss von Wissenschaft und Technik sowie eine wachsende Mobilität der Bevölkerung für die Säkularisieerung einen günstigen Nährboden. Aber es kommt eine wichtige ( wenn auch nicht hinreichende) Bedingung hinzu: Gemäß neueren Beobachtungen trat die Säkularisierung überall dort ihren Siegeszug an, wo eine Kirche eine starke (finanziell und politisch unterstützte) kulturelle Macht sowie ein Definitionsmonopol für religiöse Fragen besaß, wo man die christliche Religion also nur als eine monologische, in vielem gesprächsunfähige, als eine autoritäre Doktrin und Lebenspraxis erfuhr. Das 19. Jahrhundert gilt ganz besonders als eine Epoche von höchsten kirchlichen Forderungen. Nie waren Kirchenbesuch und kirchliche Ansprüche so hoch, nie empfang sich der Papst so ausdrücklich als der endgültige Lehrer aller Völker. Nie war man so sehr davon überzeugt, dass es außerhalb der christlichen Kirchen keine zu respektierenden Religionen und wahre Religiosität gebe. Wenn bei schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten also Christen sich dem religiös umfassenden Definitionsanspruch dieser Instanz entziehen wollten oder entzogen, dann blieb ihnen keine andere Möglichkeit übrig, als den traditionellen Raum religiöser Sprache und Praxis, religiös artikulierter Kultur überhaupt zu verlassen. Mangels Alternativen verstanden sie sich nicht mehr als Christen oder als religiös. So hatten sie es ja gelernt. Nur aus diesem Grund bliebt Ungezählten (von K.Marx bis zu E. Bloch) nichts anderes mehr übrig, als sich Atheist zu nennen. Säkularisierung kam also auf kultureller Ebene sowie als Distanzierung von den offiziellen Großkirchen in Gang.

Beispiele für solche Entwicklungen sind, Frankreich, Deutschland, die skandinavischen Länder sowie die Niederlande. In Frankreich wird heute noch ein unnachgiebiger Laizismus praktiziert. Obwohl sich die Kirche grundlegend geändert hat, bleibt die Rolle der Kirche im ancien régime dem kollektiven Gedächtnis verhaftet. In Westdeutschland nehmen die Großkirchen, durch staatlich eingetriebene Kirchensteuer gestützt, immer noch eine dominante Stellung ein; auch sie fühlten sich immer als das Sprachrohr der Obrigkeit oder ihm zu strengem Gehorsam verpflichtet. Die geringe Zahl von Christen in Ostdeutschland lässt sich nicht allein durch die Kirchenpolitik der DDR erklären, obwohl sie die säkularisierten Verhältnisse intensiv vorangetrieben hat. In den Niederlande zeichneten sich alle drei staatstragenden „Säulen“ (katholische, reformierte und pietistische Kirche) bis weit in 20. Jh. hinein durch eine umfassende Steuerungskompetenz ihrer Gesellschaftsteile, sowie durch strenge Kirchenregimente aus.

Noch wichtiger sind die Gegenbeispiele. Trotz weit fortgeschrittener Industrialisierung und Kapitalisierung lässt sich in den USA nicht von Säkularisierung sprechen; der politische Einfluss christlicher Gruppierungen nimmt im Augenblick zu. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass die Vielzahl der christlichen Denominationen enorm und großenteils von einem freiheitlichen Geist getragen ist. Eingebettet ist diese Kirchlichkeit in das Phänomen der civil religion (Bellah), also einer starken bürgerlichen, in Sprache und Riten offen bezeugten Frömmigkeit des öffentlichen, zumal des politischen Lebens. Auch in Japan scheinen Industrialisierung und Differenzierung die religiösen Verhältnisse nicht zu berühren.

Diese Tatsachen stärken die Vermutung, dass Säkularisierung keine Folge von Religionsverlust, sondern eine Folge der Schwächung von Religionsgemeinschaften ist, deren Definitionsmonopol nicht mehr akzeptiert wird. Dass dabei gesellschaftspolitische Anschauungen und ein wachsender demokratischer Geist einflussreich sind, lässt sich kaum bestreiten. So haben gerade in säkularisierten Ländern haben autoritäre Religionsgemeinschaften ihre eigene Schwächung vorangetrieben.

2.3 Aus Religionslehre wird „Weltanschauung“

Im Gegenzug zu dieser Definitionsflucht ist außerhalb der Kirchen eine Denkform entstanden, die sich mit „Weltanschauung“ umschreiben lässt. Diese Denkform bewegt sich im Bezugsfeld von Religiosität, Weisheit, Philosophie und neuen Wissenschaften.

Weltanschauungen übernehmen von den Religionen die wichtige Aufgabe der Weltinterpretation, Der Bearbeitung der großen Menschheitsfragen (wo kommen ich und die Welt her, wo gehen ich und die Welt hin, was muss für mich und die Welt tun, was darf ich für mich und die Welt hoffen? Es fällt auf, dass in allen anspruchsvollen Weltanschauungen die Frage der Verantwortung eine Rolle spielt (Schönherr-Mann). Religiöse Fragen werden dabei nicht ausgeschlossen, aber entpersonalisiert und verfremdet.

Ich nenne einige Beispiele:
– die Frage nach Gottes Bestimmung erscheint als Sinnfrage,
– die Frage nach Gottes Wille als Frage nach dem Geschicks,
– die Frage nach dem Glauben als Frage des Vertrauens auf Mitmenschen und Welt,
– Die Frage nach Gottes Geboten als Frage ethischer Verantwortung,
– die Frage des letzten Gericht als Frage der Gerechtigkeit,
– die Frage der Liebe als Frage der Solidarität,
– die Zusage der Rechtfertigung als Geschenk gegenseitiger Annahme, als Kritik an der Leistungsgesellschaft.

Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Deshalb hatte Feuerbach recht, wenn wir seine Religionskritik nicht einfach als simple Forderung, sondern als emphatische Diagnose verstehen. Er forderte ja, Subjekt und Prädikat einfach zu vertauschen: nicht Gott sei die Liebe, sondern die Liebe sei göttlich; nicht Gott sei allwissend, sondern unser Weltwissen sei göttlich. Ich beurteile hier diese Entwicklung nicht und leugne nicht, dass diese Umkehrungen zu einem qualitativen Vernunft einer religiösen Botschaft führte. Aber sie ist zu konstatieren.

Daraus sind zwei Folgerungen zu ziehen, denn in diesem Verfremdungsprozess liegt in der Tat ein gefährliches Moment.

Folge 1 lautet: Neue Weltanschauungen können zu Systemen werden, die grundlegende Elemente humanen Verhaltens mit Füßen treten. Beispiele: der Darwinismus in seine ideologischen Depravation, der Nationalsozialismus, sowie der Marxismus (zumal in seiner leninistischen, dann stalinistischen Form). Diese Systeme werden zu Antireligionen.
Folge 2 lautet: Durch die Konkurrenz von Weltanschauungen verengen sich Religionen aus spezifisch Religiöses. Sie werden zum Besonderen, lieben das Kontrafaktische, die besondere Leistung, auf eine Wissen, das ihnen allein gehört.

2.4 Konzentration auf Innerlichkeit

In Reaktion auf den Begin der Säkularisierung haben Kirchen und Theologie den christlichen Glauben einseitig als existentielle, als je persönliche Entscheidung des Individuums interpretiert. Gläubigkeit und Religiosität wurden zunehmend verinnerlicht.

Tendenzen der Säkularisierung sind schon im 18. Jh. deutlich. Die Reaktion der Verinnerlichung ist der evangelischen Tradition in die Wiege gelegt (Luther – Pietismus) und der katholischen nicht fremd (Augustinus – ignatianische Spiritualität). Zwischen Kirche und „Welt“ entstand eine wachsende Kluft. Dass Religion im kirchlichen wie im allgemeinen Bewusstsein zur Privatsache wurde (vgl. kommunistische Ideologie), konnte nicht ausbleiben. Diese Verinnerlichung wurde dadurch verschärft, dass die Kirchen auf Heilsangst und Selbsterniedrigung setzten und der Offenbarung vor der Vernunft einen Vorrang einräumten. Die Frage, was Welt und Menschheit insgesamt bedeuten, wurde verdrängt. Die Religionen wurden zu Gemeinschaften, die den Anschluss an ihre Zeit verloren haben.

2.5 Aufklärung als Argumentationshilfe

Allerdings sind die Entwicklungen weder eindeutig noch monokausal. Man kann sich z.B. fragen, warum weder südeuropäische noch viele osteuropäischen Länder eine Säkularisierung kennen, warum die Säkularisierung nicht monokausal als Folge der industriellen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Differenzierung gesehen werden kann. Der Grund scheint in Folgendem zu liegen:
Die Aufklärung hat außerhalb von Glaube und Kirche eine intellektuelle und kulturelle Plattform geschaffen, die Kritik am Zustand von Kirchen und Theologie ermöglichte.

Lange Zeit wurde diese Plattform undifferenziert als Religionskritik und als Äußerung des Unglaubens (Atheismus) wahrgenommen. Inzwischen besteht an der Kritik an Goot/Kirche/Religion um eines besseren Gottesbildes, einer menschlicheren Kirchengestalt, eine angemesseneren Theologie willen kein Zweifel (Beispiele: Voltaire, Lessing, Kant, Bibelkritik).

Erstaunlich, dass der gegenwärtige Papst die Frage nach der Vernunft in den Mittelpunkt rückt. …

2.6 Krisenhermeneutik der Kirchen

Statt diese ungeklärte Situation zugunsten des Glaubens aufzulösen, haben die Kirchen ihren Monopolverlust zum Glaubensverlust der Menschen umgedeutet. Bei vielen Zeitgenossen haben sie so bewirkt, was sie durch neue Strenge zu verhindern behaupteten.

Diese Krisenhermeneutik ist heute noch gang und gäbe. Man prangert Relativismus ebenso an wie Pluralismus und Positivismus. Man misst die Glaubenssubstanz von Menschen faktisch an den eigenen, rational fixierten Glaubensinterpretationen, die faktisch oft kulturkonservativ sind, bisweilen der politischen Rechte zuneigen. Man arbeitet den eigenen Doppelsinn nicht an der inneren Gespaltenheit ab, indem man Selbstkritik mit Antikritik und Disziplinierung bestraft.

Die Theologie Benedikts XVI. bietet ein Musterbeispiel für eine solche Krisenhermeneutik. Auch hier gilt, dass die Krisenhermeneutik nach außen  ist ein Krisensituationen nach innern heraufbeschwört. Allerdings gibt es Indizien dafür, dass sich diese Situation zu einer prinzipiellen Erneuerung führt, dies unter dem Druck einer neuen Gesamtlage.

 

2.7 De-konstruktion von Religion und Glaube

Die Jahrzehnte fortschreitender Säkularisierung haben zur Destruktion des traditionellen Glaubensgehäuses geführt. Langfristig hat diese Entwicklung aber ihr Gutes. Sie bereitet eine kulturelle Rekonstruktion von elementaren Sinnfragen, von „Religion“ und christlichem Glauben vor.

Hier ist im Sinne des französischen Philosophen Jacques Derrida von „De-konstruktion“ die Rede. Die Dekonstruktion geht von einer Grunderfahrung des alltäglichen Redens aus: Bei allem, was wir behaupten und negieren, setzen wir Kontexte, Erfahrungen, vielleicht Absichten voraus, die wir in diesem Augenblick nicht nennen, sehen beachten können oder wollen. Zwar müssen wir deshalb das Behauptete zur Kenntnis nehmen, zugleich müssen wir uns auch fragen, was eine Behauptung alles nicht behauptet, auslässt und verneint. Nur wenn wir zugleich das Nichtgesagte zur Kenntnis nehmen, kann auch der „Fußabdruck“ einer Aussage deutlich werden.

Doch brauchen wir hier keiner komplizierten Theorie zu folgen, sonder nur ernstzunehmen, was auch sie schon ernstgenommen hat. Es geht nämlich um folgende Entdeckung: seit dem 19. Jh. ist die europäische Kultur, genauer: sind ihre verbindenden und normativen, orientierenden Elemente dabei, in Bruchstücke auseinander zu fallen. Der sogenannte Postmodernismus will ja nicht die Errungenschaften der Moderne aufgeben. Sie konstatiert vielmehr, dass die Errungenschaften der Moderne zusammengebrochen sind. Wir brauchen nur die Katastrophen des 1. und des 2. Weltkriegs zu nennen.

Hinzuweisen ist nur auf die Frage, wie Auschwitz denn möglich war. Natürlich trifft diese Frage auch den christlichen Glauben: Wie ist es möglich, dass in einer christlichen Kultur die immer stolz war auf ihre nahezu 2000 Jahre Christentumsgeschichte, wie ist es möglich, dass eine durch und durch christlich gefärbte Kultur zum Zentrum systematischer Judenvernichtung, systematischer Vernichtung von Sinti und Roma, von Behinderten wird? Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet eine christliche Kultur systematisch ganze Völker kolonisiert, unterdrückt, ausbeutet? Wie konnte es kommen, dass ausgerechnet die christlichen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zum Beispiel gnadenloser Selbstzerstörung werden?

Mit diesen Schändungen von Menschen und Menschlichkeit hat die Moderne ihre Glaubwürdigkeit selbst zerstört. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust trifft in erster Linie die christlichen Kirchen, umso mehr als sie sich immer als eine geschlossene, offiziell handelnde Phalanx präsentierte, und gerade deshalb, weil sie sich immer als Hüterinnen der Moral, der Wahrheit und der Menschlichkeit verstand. Diesem enormen Glaubwürdigkeitsverlust folgte die Wirklichkeit auf dem Fuße. Auf weite Strecken haben sich die klassischen, kirchlich verfassten Formen des europäischen Christentums destruiert. Sie haben ihre allgemein bindende Kraft eingebüßt.

Was aber geschieht? Verfällt das Christentum? Verfallen damit Religion und Religiosität schlechthin? Oder fällt eine altehrwürdige Religionspraxis (katholisch oder evangelisch) einfach in Einzelelemente auseinander? Was verschwindet in diesem Fall mit dem einheitlichen Element? Was sind die Ansätze der Erneuerung?

2.8. Religion und Religiosität in neuer Gestalt

Das neue Interesse an Religion und Religiosität setzt Bedingungen voraus, die Religion und Religiosität tiefgreifend modifiziert haben. Zu diesen Modifikationen gehören Traditionsabbruch und Marktsituation, Funktionalisierung und Erlebnissuche, Medialisierung und tiefgreifender Orientierungsverlust.

Es würde den Rahmen dieser Darstellung überschreiten, die genannten Einzelthemen ausführlich zu analysieren. Klar ist, dass wir die stattfindende Umformung nicht unterschätzen sollten, weil sie an die Wurzeln dessen greift, was wir bislang unter Religion verstanden haben. Klar ist deshalb auch, dass sich allen Aspekten Gefahren und Chancen zusammenkommen. Das eine können wir nicht ohne das andere haben. Das bedeutet Mut zum Risiko, aber auch Klärung dessen was genau wir in einer neuen Epoche erwarten.

* Wo die Tradition abbricht, verschwinden manche Traditionen, die nicht mehr hilfreich sind., z.B. hellenistische, patriarchalische, autoritäre und selbstherrliche Interpretationen. Was aber die neuen Interpretationen sind, ist damit noch nicht geklärt.

* Wo eine Religion in eine Marktsituation gerät, zerbrechen alte autoritäre und elitäre Wahrheitsansprüche; wird damit die Wahrheit aber einer allgemeinen Beliebigkeit ausgesetzt?

* Wo auch Religionen endlich an ihren Funktionen gemessen werden, zeigt sich schnell das Maß ihrer Menschlichkeit, ihrer Realitätsnähe und ihrer Fähigkeit, Wirklichkeit zu verändern oder wenigstens kraftvoll zu interpretieren. Dürfen wir Religion aber schlechthin funktionalisieren?

* Wenn Religion an ihrer Fähigkeit gemessen, wird, dass sie zum Erlebnis wird, dann erscheint jedenfalls eine allgemeine Abwehr gegen eine erlebnisferne Praxis, die die konkreten Interessen, die emotionalen Seiten von Menschen nicht mehr ernstnimmt. Wie weit tragen aber Erlebnisse, wie tief reichen sie, können noch verbindliche Wirkungen von ihr ausgehen?

* Völlig unerwartet trifft die Kirchen die Allgegenwart der Medien und ihrer Möglichkeiten. Die Medien haben in unserer Gesellschaft nicht nur politische, ökonomische und kulturelle Prozesse verändert, sondern verändern auch das Leben und das Selbstverständnis zumal junger Menschen. Wenn Medien und Kirchen/Religionen eine Kooperation eingehen, dann nützt dies auf den ersten Blick den Kirchen/Religionen. Es sind aber dieselben Medien, die bestimmen, was an Kirchen/Religionen/Religiosität interessant ist. Die katholische Kirche, die im Augenblick auf einer Welle medialer Umarmung schwimmt, scheint überhaupt nicht zu ermessen, was mit ihr geschieht. Im Augenblick wird sie zu Lieferantin grandioser Events reduziert.

* Genau zu achten ist auch auf die Folgen des allgemeinen Orientierungsverlusts, unter dem wir leiden. Er kann zu kurzsichtigen nostalgischen Reaktionen führen, wie wir es oft bei Politikern erleben. Er kann aber auch die grundsätzliche Frage wachrufen, woran wir uns (woran sich die Kirchen, woran sich Religionen) in einer globalisierten Welt nun eigentlich zu halten haben.

2.9 Offene Zukunft

Die neue Gestalt von Religion und Kirchen in Europa ist noch völlig offen. Unbestreitbar ist, dass den Religionen im Blick auf eine globale Zukunft eine unverzichtbare Aufgabe zukommt. Sie haben ihre universalen Horizonte zur Wahrnehmung universaler Interessen auszuweiten und sich in den Dienst einer weltweiten Solidarität zu stellen.

Ich brauche diese These hier nicht weiter auszuführen. Wenn die Religionen und Kirchen eine neue Gestalt erhalten, dann können nicht der Erhalt von Macht, Stabilität oder Identität ihre maßgebenden Elemente sein, sondern nur eine gemeinsame Zukunftsvision, die mit Werten wie Menschlichkeit, Frieden und Gerechtigkeit zu umschreiben sind. Der Vision einer versöhnten Menschheit kommt es zu, die Bruchstücke des Religiösen einzusammeln und zu einer neuen Religion zusammenzufügen.

III. Zukunft der Religion(en) in Europa

3.1 Frieden – das einigende Band

Wie geht es mit den Religionen in Europa weiter, wie werden sie sich ändern? Die Frage sollte mit großer Vorsicht angegangen werden; vielleicht ist sie überhaut nicht zu beantworten, denn in die Antworten mischen sich zu viele Vorverständnisse, Voraussetzungen, persönliche Erwartungen, Menschenbilder, Modelle von Wissenschaft und Gesellschaft ein.

Unwahrscheinlich ist nach wie vor die These, Religion und Religiosität würden mit wachsender Industrialisierung, Verwissenschaftlichung oder Differenzierung der Gesellschaft verschwinden.

Unwahrscheinlich ist die These umso mehr, als die „Säkularisierung“ nicht einen Sonderweg der westlichen Welt, sondern wahrscheinlich einen Sonderweg West- und Nordeuropas bedeutet, der Religion zudem nicht einfach verschwinden ließ, sondern deren Rückzug aus einer wissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit bewirkte. Signalisiert wird also eher ein Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft als ein Gegensatz zwischen Religion und Gesellschaft. In moderner Wirtschaft und Finanzwelt war Religion übrigens nie zu Hause, also brauchte sie daraus auch nicht zu verschwinden.

Unwahrscheinlich ist die These vom Verschwinden der Religion auch deshalb, weil Westeuropa im 19. Jahrhundert eine ungeheuren Grad an Verkirchlichung erlebt hatte, sodass die sogenannten Säkularisierung eher einer Welle gleicht, die von ihrem Höhepunkt wieder in normale Verhältnisse zurückschwingt (ein Prozess den wir – unter anderen Umständen, aber doch vergleichbar – im Augenblick in muslimischen Ländern erleben –  vgl. Peters).

Aber sehr wahrscheinlich ist, dass sich die europäische, in erster Linie christlich geprägte Religiosität unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen regenerieren wird. Die Rede war von der neuen Rolle der Medien in Religion und Gesellschaft.

Die Rede müsste sein von einer entschiedeneren Trennung von Kirche und Staat, vom Konkurrenzdruck, der auf jede einzelne Religion fallen wird. Die Rede müsste schließlich davon sein, dass sich Religion und Religiosität endlich in konstruktiver Weise zu den Wissenschaften verhalten müssen und ihren Wahrheitsanspruch nicht mehr kraft höherer Autorität geltend machen können.

Aber wie ist darauf zu reagieren? Ein kleiner Teil engagierter Christen hat die Zeichen der Zeit nur einseitig begriffen. Er ist über die neuen Entwicklungen hocherfreut. Er wiegt sich in der Hoffnung, dass alte Machtpositionen und kulturelle Definitionskompetenzen zurückkehren. Dazu gehören viele (katholische) Kirchenführer. Mutig ziehen sie die Daumenschrauben wieder an, verabschieden demokratische Elemente und halten neue theologische Impulse für widerlegt. Diese seien ohnehin für den zwischenzeitlichen Niedergang verantwortlich gewesen. Ein besonders fundamentalistischer Reaktionär jubelt, auf dem Weltjugendtag (2005) sei endlich wieder ein Katechismus erschienen, der keine Texte des Vatikanischen Konzils mehr zitiere.

Vorsichtiger reagiert der evangelische Bischof Huber (Berlin). Den neuen gesellschaftlichen Entwicklungen steht er durchaus offen gegenüber. Seine Formel lautet: „ein neues Profil“. Das heißt für ihn gewiss auch, dass alte Zöpfe abzuschneiden sind. Die Frage ist aber: Ist er sich des tiefen Umbruchs bewusst ist und schwebt ihm eine mitreißen Vision vor, die das künftige Christentum gestalten kann?

Was aber ist diese neue Vision? Wir brauchen sie uns nicht zu erarbeiten. Als Frage liegt sie auf der Straße, wurde und wird sie – beinahe täglich – neu formuliert, drängt sie sich in der Politik, in der Wirtschaft, in der Lebensgestaltung ungezählter junger Menschen auf: Wie bekommen wir weltweit Frieden, wie finden wir Gerechtigkeit, wie können wir unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft sichern? Wie können wir endlich die endlosen Zirkel der Gewalt zwischen Menschen, Gemeinschaften und Staaten, zwischen Klassen und Rassen überwinden? Bedarf es dazu nicht eines neuen Bewusstseins? Allerdings bedeuten diese Frage und diese Vision für Europa auch das Ende eines jeden religiösen Provinzialismus. Deshalb ist zugleich auf andere Religionen, ohne die diese Weltvision nicht zu erreichen ist. Gemeint sind in erster Linie die „Weltreligionen“. Weltreligionen ist aber ein komplizierter Begriff. Fragen wir uns zunächst, was Religion ist.

3.2 Religion – ein kulturelles Phänomen

(a) Empirischer Zugang – chaotisches System?
Vor 20 Jahren schien noch klar zu sein, was Religion bedeutet. Man unterschiede zwischen substantiellen und funktionalen Definitionen. Die substantiellen Definitionen lautet, vereinfacht gesagt: Eine Religion meint „Bezogenheit auf eine andere entscheidende Wirklichkeit”. Es geht also um Verhaltensweisen, Institutionen und Weltdeutungen die sich auf ein Jenseits beziehen, nennen wir die Gott oder Göttliches, eine transzendente Instanz. Einer solchen Definition werden alle diejenigen zustimmen, die Anhänger eine Religion sind, die sich auf „Gott“ als letzte Instanz richten. Schon Buddhisten könnten Bedenken anmelden.

Religionswissenschaftler, insbesondere die Religionssoziologen unter ihnen, haben sich angewöhnt, Religion von ihrer gesellschaftlichen Funktion her zu definieren. Dabei wird anerkannt, dass Religionen innerhalb einer Gesellschaft eine wichtige Funktion haben (können).

Nach H. Lübbe übernommen Religion die Aufgabe, die Kontingenzerfahrungen einer Gesellschaft zu verarbeiten, zu „reduzieren“. Er nannte Religion eine „Kontingenzreduktionspraxis“. Damit kommt er dem bekannten Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927-1998) der das Problem „Religion“ von der Sinnfrage her angeht. Kontingenz ist der Indikator für Sinnmangel.

Thomas Luckmann (* 14. Oktober 1927 in Jesenice, Slowenien) leitete mit seinen Werken, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1966, zusammen mit Peter L. Berger), Die unsichtbare Religion (1967) und Strukturen der Lebenswelt (1982, zusammen mit Alfred Schütz) eine Wende ein. Religiosität wurde nun nicht mehr ausschließlich an ihrer institutionalisierten Form („Kirchlichkeit“) festgemacht, sondern auch nach individueller Religiosität gefragt. Diese Veränderung des Blickwinkels führte im Anschluss an Luckmann auch zu verstärkten Bemühungen, Religiosität empirisch zu erforschen. Luckmanns Werke wurden und werden in der Fachwelt äußerst breit und kontrovers rezipiert.

Nach Clifford Geertz (1973) ist Religion ein kulturell-geschaffenes Symbolsystem, das versucht, dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu schaffen, indem es eine allgemeine Seinsordnung formuliert. Diese geschaffenen Vorstellungen werden mit einer solch überzeugenden Wirkung („Aura von Faktizität“) umgeben, dass diese Stimmungen und Motivationen real erscheinen. Solche „heiligen“ Symbolsysteme haben die Funktion, das Ethos – das heißt das moralische Selbstbewusstsein einer Kultur – mit dem Bild, das diese Kultur von der Realität hat, mit ihren Ordnungsvorstellungen zu verbinden.

Wenn wir der Spur von Cl. Geertz folgen, dann ergeben sich für eine Zeit, in der die klassische westliche Form von Religion , wie es scheint, in Einzelfragmente auseinander fällt, interessante Aspekte.

Ich möchte mit einer vielleicht abstrakten, aber doch sehr wichtigen Frage beginnen: Was ist eigentlich eine Religion? Sie wissen, dass der Begriff der Religion, wie wir ihn kennen, sehr spät entstanden ist und sich erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat. Der Grund dafür ist sehr einfach. Religionen, wie wir sie verstehen, sind und waren immer ganz eng verwachsen mit bestimmten Kulturen, mit politischen und sozialen Situationen, mit Sprachen und philosophischen Systemen. Wir können alle Religionen als kulturelle (Sub-)Systeme begreifen. Sie existieren nie in sich oder für sich, sondern in bestimmten Kulturen und Gesellschaften haben sie immer eine bestimmte Funktion. Sie stehen für eine bestimmt Art der Erfahrung, oder um es mit eine Metapher zu benennen: Religionen sind immer Teile von umfassenden Ökosystemen, in denen es – oft chaotisch und unberechenbar – blüht und gedeiht. Altes vergeht und Neues kommt; immer bleibt ein unübersichtlicher Rest. Ich rede dann von einem Wald, einer Wiese oder einer Savanne. Nie aber wird es gelingen, dieses Gesamt exakt und berechenbar darzulegen. Das gilt auch für die christliche Religion, obwohl wir immer meinen, in der christlichen Tradition seien Glaubenslehre und Glaubenspraxis genau vorgelegt, von der Bibel her exakt umrissen und dogmatisch bis in die Details festgeschrieben. Nein, Religionen sind immer ein Aspekt gemeinsamen Lebens, der dieses Leben in Höhen und Tiefen durchdringt.

(b) Vier steuernde Merkmale
Die Vielfalt gerade von Vorformen des Religiösen, von entstehender Religiosität wird in der Regel übersehen oder zu gering eingeschätzt. Zu den Vorformen gehören – grob gesagt – zwecklose, rituelle Stimmungen, Handlungen, Fest und Feiern. Dazu gehören Handlungen, die den Tag, die Beziehungen und Legensübergänge stilisieren, mit einem Rhythmus versehen. Als solche wird man sie nicht unbedingt religiöse oder Elemente einer Religion nennen. Aber in der Rückschau lassen sie sich in den Deutungszusammenhang „Religion“ einfügen. Ich nenne vier Merkmale.

aa. Umfassende Wirklichkeitserfahrung
Ein erstes Merkmal lautet: Religionen bringen umfassende Erfahrungen der Wirklichkeit zur Sprache. Sie grenzen nie einen bestimmten Teil der Wirklichkeit aus, sondern vergegenwärtigen immer das Ganze, das uns umgibt, uns selbst eingeschlossen, also auch die Erfahrungen des Unrechts, der Gewalt und all unserer Wut, die uns zum Kampf gegen die Gewalt bewegt. Weil es um umfassende Erfahrungen geht, gibt es keinen Bereich menschlichen Lebens und menschlicher Kultur, aus dem die Größe „Religion“ ausgeschlossen ist. Sie ist wie eine Feuchtigkeit oder ein Geruch, die oft kaum greifbar, aber überall anwesend sind. Religionen sind wie Eisberge, die nur zu 1/9 in Erscheinung treten. Der Rest ist ununterscheidbar ins menschliche Leben eingetaucht. Deshalb werden religiöse Haltungen und Aussagen oft so schwer zu greifen. Sie können sich zurückziehen und überall präsent sein. Das Kopftuch wird plötzlich zum Symbol für den Islam, war kulturgeschichtlich ziemlicher Unsinn ist, umgekehrt wird das Kreuz wird zum Symbol einer Kultur, was ebenso fragwürdig ist. In beiden Fällen wird die Interpretation für bestimmte Meinungen und Zeile benutzt, wenn nicht gar missbraucht Ich weiß auch nicht wie viel vom Islam, wie wir ihn wahrnehmen, einer Wüsten- und Beduinenkultur gleichkommt, wie viel vom sogenannten Christentum für uns die Erscheinung einer ausgesprochenen Stadtkultur ist. (Warnung: bestimmte Aussagen, Erscheinungen, zeitgenössische Entwicklungen als Zeichen für eine bestimmte Kultur auszugeben)

bb. Konzentration auf Grenzerfahrungen

Ein zweites Merkmal lautet: Religionen bearbeiten in erster Linie Grenzerfahrungen. Es geht um Krankheit und Tod, um Unglück, um Unrecht und Frustration, um unser Scheitern, um Schuld, aber auch um das unverdiente Geschenk des Glücks, der Geburt und der Erfüllung. Erfahrungen der Gewalt und Situationen, die zur Gewalt Anlass geben, erfahren also eine besondere Aufmerksamkeit (Hannah Arendt: Natalität und Mortalität). An diesen Grenzerfahrung wird religiöses Verhalten, werden religiöse Gefühle und Erfahrungen dann bewusst.

Je mehr sich eine Religion kulturell entwickelt hat, umso mehr bemächtigt sie sich der Haupt- und der Vorfelder, in denen Grenzerfahrungen präsent sind. Das sind: Machtverhältnisse in der Gesellschaft, Präsentation politischer Macht, Sexualität, Bild und Rolle der Frau, das Begehen von Schicksalsschlägen und Tod, das Eingehen stabiler Bindungen und das Bewusstwerden von Verantwortung. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für Judentum und Christentum. Also: nicht nur die Grenzerfahrungen an sich, sondern Religionen entwickeln auch eine Hermeneutik, in denen man Grenzerfahrungen sucht, sichtet, ortet, zu behüten sucht.

cc. Vergegenwärtigung im Sakralen

Ein drittes, vielleicht das auffälligste Merkmal kommt hinzu. Religionen heben alle ihre Themen in eine sakralen Raum. Es gibt etwas, das alle Grenzen überschreitet, das schweigt oder uns anspricht, dem wir in Respekt, in Konzentration, im Gebet oder in Ergebung, aber auch im Schrei oder im Protest gegenübertreten. Ganz offensichtlich machen Sakrales und Sakralität es möglich, auch Widersprüchliches oder Unlösbares in einen einzigen Erfahrungs- und Akzeptanzraum zusammenzubinden. Sakralität mit ihren zwecklosen, oft ekstatischen, oft einfach schönen Riten ist selbst im Buddhismus zu finden, der ansonsten die Nennung von Gott konsequent ablehnt. Diese Erfahrungen des Heiligen und Unberührbaren, die Ritualisierungen und Riten, der Wechsel von Arbeit und Fest, von Zweck und Spiel, in ihnen kommen Religionen dann zu sich. Aber ihr Material, also das, womit sie sich auseinandersetzen, bleiben die Erfahrungen, die Probleme, die Grenzereignisse des Alltags. Religion lebt nur dann, wenn die Auseinandersetzung damit lebendig bleibt.

Das bedeutet: alle Religionen kennen Tabuzonen und Tabuisierungen: Tempel, Zeiten, Wege, Riten, Erinnerungen, Personen und Verhaltensregeln. Bei ihnen hört der Spaß auf. Kaaba und Grabeskirche, die Westmauer und der Petersdom, Nacktheit und Blutvergießen. Jede Religionen, die sich durchsetzen will, hat Grenzen, an denen das Lachen aufhört: (U. Eco, Name der Rose) Felsendom – ein ökumenischer Ort? Das Endgültige wird gesucht!

(-> Folgerungen)
Die ersten Folgerungen für die Frage der Gewalt liegt auf der Hand: (1) Den Religionen geht es immer ums Ganze. Religionen suchen und entwickeln, präsentieren Gesamtlösungen. Deshalb gerät der Umgang mit Gewalt immer ein eine kritische Mittellage. Begeisterung und Fanatismus liegen nahe beieinander, ebenso die Solidarität mit dem Nächsten und die gnadenlose Ausrottung des Bösen. (2) Den Religionen geht es vorrangig um Grenzen (um Erfahrungen der „Kontingenz“), also werden Erfahrungen z.B. von Unrecht und Gewalt, immer eine besondere Aufmerksamkeit erhalten. Sie werden wie in einem Vergrößerungsglas betrachtet und bearbeitet. (3) Und schließlich bringt jene Atmosphäre des Sakralen immer auch eine Atmosphäre des Unberührbaren, des Ekstatischen und – wiederum – des Alles oder Nichts mit sich. Im sakralen Raum werden die Gesetze des normalen Handelns oft außer Kraft gesetzt. Die monotheistischen Religionen sind mit dieser Gefahr wahrscheinlich vielleicht besonders konfrontiert, denn sie wollen die Wirklichkeit verändern. Mit Gottes Wille und Hilfe wollen sie das Reich Gottes herbeiführen. Ist dafür nicht jedes Mittel recht?

Wenn man diese Gefahren kennt, warum kann man sie dann nicht bannen? Ich gebe auch hier eine erste Antwort, indem ich schon Gesagtes wiederhole: die Religion an sich gibt es nicht. Die Rede von „dem“ Islam ist ebenso eine Fiktion wie die Rede von „dem“ Buddhismus oder von „der“ christlichen Religion, erst recht wie die Rede von „dem“ Hinduismus. Zwar kennen die Weltreligionen jeweils eine zentrale Botschaft, aber sie wird in immer andere Kulturen, in andere Zeiten und in andere Individuen eingebettet. Aus der zentralen Botschaft schöpfen sie ihre Identität, aber in der jeweiligen Kultur finden sie ihre konkrete Gestalt. In Epochen des kulturellen Umbruchs oder „Paradigmenwechsels“ (H. Küng) geraten Religionen sozusagen in Atemnot, ich erinnere nur an die „Säkularisierung“, in der wir heute leben. Sie bedeutet ja nicht nur, dass die christliche Religion als Institution schwächer wird, sondern auch, dass sich jeder und jede viel einfach auf diese Tradition berufen kann. So verschwindet eine Religion sozusagen hinter einem Schleier unklarer Vermutungen; sie kann ihre Sache nicht mehr mit einem deutlichen Führungsanspruch darstellen.

dd. Streben nach Gemeinschaft

Dies bringt mich zu einem vierten und letzten Merkmal, das hier von Bedeutung ist. Jede Religion strebt – trotz ihrer Einbettung und Allgegenwart in einer Kultur – nach einer Gemeinschaft. Der eine Grund liegt darin, dass Menschen – primär und von ihrem Ursprung her – ohnehin keine Individuen, sondern Gemeinschaftswesen sind. Sie stammen aus Beziehungen und streben auf Beziehungen hin. Wo es also um umfassende und um Grenzerfahrungen geht, muss Gemeinschaft zu Wort, zur Darstellung und zum Austrag kommen und in ihren Grenzsituationen darstellt werden. Gewalt ist aber immer ein Beziehungsproblem des Grenzfalls, in diesem Sinn also ein Gemeinschaftsproblem in seiner äußersten Gefährdung. Der andere, daraus abgeleitete Grund liegt darin, dass das Religionen sich in sich selbst als Gemeinschaften darstellen, also ihre je eigene Identität entwickeln. Es fällt auf, welche wichtige Rolle in de christlichen Tradition zum Beispiel die Metapher von Leib spielt. Wir sind „Leib Christi“; wir bilden Gemeinschaft mit dem um den „Leib Christi“ in unserer Mitte; das ist übrigens ein Leib der – als Opfer – äußerste Gewalt symbolisiert. Je mehr sich aber die Gemeinschaft einer Religion darin identifiziert (wir reden z.B. von einer „Kirche“), umso schwerer wird es für sie, zwischen sich selbst und ihrem Ursprung, ihrer Botschaft, ihren ureigenen Werten zu unterscheiden. So verfremdet sie ihre Sache ständig, wird diese Sache von Sachinteressen und eigenen Zwecken durchkreuzt. Dieses Problem wiegt für das Christentum besonders schwer, als gerade das Christentum eine hochinstitutionalisierte und differenziert organisierte Religion ist. Sie versteht sich als zielstrebig handelnde Gegenwart des Erlösers; sie handelt nicht anonym, etwa als „Masse“, sondern in ihren Repräsentanten. Der Priester handelt – nach offiziell katholischer Auffassung – „in der Person Christi“. Das ist ein ungeheurer und von der ursprünglichen Botschaft her nicht gedeckter Anspruch, aber er hat sich durchgesetzt und ist immer noch äußerst effektiv. Dies Frage bleibt so immer neu akut: Kommen einerseits die entwickelten religiösen Gemeinschaften mit ihren internen Führungssystemen und andererseits die religiösen Inspirationen des Anfangs zur Deckung?

Ich kürze hier ab: Weil die Funktionen von Religion so vielfältig ist, weil Religion in alle Dimensionen der Wirklichkeit hineinreicht, weil sie Sprache und Kunst, Motivationen und Normen, weil sie Weltdeutungen und Sinnfragen befragt und zugleich definiert, weil sie von Menschheit, Welt und Kosmos, von Beginn und Ende zugleich spricht, deshalb entwickelt sie immer auch eine ungeheure Macht. Zugleich sind Religionen anfällig. Sie sind keine harten Systeme, sie sind eher dem vergleichbar, was die Biologie als „Fließgleichgewichte“ definiert. Wie ein Organismus, so verändern sich auch Religionen ständig; sie nehmen immer auf und scheiden zugleich aus, werden auch immer älter. Sie sind und bleiben immer auf der Suche, fehlbar, ambivalent. Wie Kulturen können sie „kohärente Deformationen“ (M. Merleau-Ponty) und eine kollektive Gedankenlosigkeit ausbilden, die erst nach tiefgreifenden Konflikten oder Katastrophen wieder zu heilen sind[14].

Dabei geht es ihnen immer um das Ganze, deshalb können sie – auch in ihrem konkreten Verhalten – die Probleme von Konflikt und Gewalt überhaupt nicht ausklammern. Sie definieren Konflikt und Gewalt und sie werden selbst zur Ursache von Konflikt und Gewalt. Darüber sie im folgenden einiges gesagt.

(c) Religion als Baustelle:
Was heute passiert ist ein Prozess umfassender Destruktion der klassischen Religionsform. Es wäre hier der Mühe wert, in unserer beruflichen und alltäglichen Erfahrung die Elemente wieder einzusammeln, die wir vom Religiösen finden: Umgehen mit Grenzerfahrungen, Fest und Feiern, Rituale der Geborgenheit und der Gemeinschaft, zweckfreie Handlungen die – gerade als zweckfreie – unerlässlich sind. Verhaltens-, Redeweisen und Deutungen, die den Überschusses von Enttäuschung, Ich suche, Frustration oder Freude, von schlichtem Lebensübermut zum Ausdruck bringen.

Es ist aber auch der Mühe wert, zu sehen, dass und wie die Sache der Religion so gerade nicht verloren geht. Die gegenwärtige Metamorphose kann auch als Heilungsprozess begriffen werden. Wir lernen, dass Religion auch ganz anders aussehen kann, dass sie nicht der hochorganisierten westlichen Form bedarf. …

Allerdings sei damit auf ein Problem hingewiesen, das grundsätzlich mit Widersprüchen behaftet bleibt. Eine Wirklichkeitsdeutung, die (a) die ganze Wirklichkeit umfasst, (b) sich auf Alltags- und Grenzerfahrungen zugleich stützt, die (c) in integrativer Teil einer jeden Kultur ist und zugleich (d) auf individuelle, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Probleme zugleich bezogen ist, kann im objektiven Sinn der Wortes nicht schlüssig und eindeutig sein. Sie umfasst einen Kinderglauben ebenso wie den Glauben des weltabgewandten Asketen, einen animistischen Ahnenkult ebenso wie die die transzendentale Versenkung eines buddhistischen Mönchs. Wenn wir die schlichte Marienverehrung von Lourdes ebenso ernstnehmen wollen wie die hochspekulativen Reflexionen eines Meister Eckhardt, dann bleiben Unverträglichkeiten. Man kann sich nicht mit beidem zugleich identifizieren. Wenn Benedikt XVI. sich als Rosenkranzbeter abfilmen lässt, dann will er signalisieren, dass ihm eine aufgeklärten Frömmigkeit nicht ins System passt. Mit welchem Recht ist sie also auszuschließen?

3.3 Weltreligion/en – ein Blick dahinter

1993 hat das Parlament der Weltreligionen ihre berühmte Erklärung zum Weltethos verabschiedet. Nicht unumstritten ist die Frage, was „Welt“ in diesen Zusammenhängen bedeutet. Auf „Weltethos“ wird später eingegangen. „Weltreligion“ hat eine quantitative und eine qualitative Bedeutung.

(a) Quantitativer Aspekt
Quantitativ gesehen kann sich Weltreligion nennen, was eine hohe Anzahl von Mitgliedern hat, so dass sie auf Weltebene ernstzunehmen ist

Statistik A – Religionen der Welt – Zugehörige (Quelle: adherents.com)
Christentum (2,1 Milliarden)
Islam
(1,3 Milliarden)
Atheismus
, Nichtreligiöse (1,1 Milliarden)
Hinduismus
(900 Millionen)
Traditionelle Chinesische Religionen
(394 Millionen)
Buddhismus
(376 Millionen)
Nichtafrikanische Indigene Religionen
(300 Millionen)
Traditionell Afrikanische Religionen
(100 Millionen)
Sikhismus
(23 Millionen)
Judentum
(15 Millionen)
Spiritismus
(15 Millionen)
Baha’i
(7 Millionen)
Jainismus
(4,2 Millionen)

Der quantitative Aspekt bringt aber Unklarheiten. Deshalb ist die Hinzufügung eines qualitativen Kriteriums wichtig. Qualitativ gesehen sind alle Religionen „Weltreligionen“, deren Kernaussagen und Grundwerte nicht an ethnische Voraussetzungen gebunden sind. Es ist die Frage nach den Grundbedingungen menschlicher Existenz, dem „Wesen“ des Menschen (atman, Seele) und der Welt an sich, nach Herkunft und Zukunft an sich.

(b) Qualitativer Aspekt
Faktisch sind Weltreligionen diejenigen Religionen, die (nach einer Wortprägung von K. Jaspers [Ursprung und Ziel der Geschichte]) in der Achsenzeit, zwischen 800 und 200 v. Chr. entstanden sind. Dazu gehören sicher der Hinduismus – jedenfalls in seiner klassischen Form, die 500 beginnt und den „Brahmanismus“ ablöst) der Buddhismus, die monotheistischen Religionen die im Judentum ihre Wurzeln haben und – nicht zu vergessen – die griechische Philosophie, die später mit dem Christentum eine Symbiose eingeht. Die Prozesse der Achsenzeit liefen unabhängig voneinander ab.

Der entscheidende neue Grundbegriff, der für uns selbstverständlich ist und in einer jeden Definition von Religion vorausgesetzt wird, vorher aber nicht selbstverständlich war) lautet jetzt Transzendenz. Im Mythos waren Göttliches und Weltliches miteinander vermischt. Jetzt sind Gott oder das Göttliche unersetzbar. ER/Es ist das Eigentliche, das Eine und rührt an die Grenze des Denkbaren und Erfahrbaren.

Für die gesellschaftlichen Strukturen hat das seine Folgen: Prinzipiell kommt es zu einer Entgöttlichung von Herrschern und Macht, der Tendenz nach zu einer Entflechtung von Religion aus den kulturell-politischen Verhältnissen. „Theologie“ und Priesterschaft verselbständigen sich. Wie man an der Geschichte des Judentums sieht, wird auch der Tempelkult relativiert (à Synagoge). Gesellschaftliche Ordnung ist jetzt gemäß den göttlichen Vorgaben verändern. Diese Religion bilden ausdrückliche Werte heraus, über die jetzt nachgedacht wird, die in sich und aus Gottes Wesen oder Willen heraus geändert werden. Jetzt kann so etwas wie eine transzendente Weltvision entstehen. Nachgedacht wird über das Ende der Welt, über ein Jenseits im eigentlichen Sinne. Für das Entstehen sozialer Strukturen ist das von höchster Bedeutung.

Über die Frage, warum und unter welchen Bedingungen dieser ungeheure Durchbruch an verschiedenen Orten erzielt wurde, mag man sich streiten. Unstreitbar ist aber, dass die Weltgeschichte aus diesem Erbe kaum mehr zurückfallen kann. Unstreitbar ist auch, dass Werte, die in der Goldenen Regel, in der Forderung nach Gerechtigkeit, nach Wahrheit/Wahrhaftigkeit und nach menschlicher Treue und Loyalität enthalten sind, aus diesem Durchbruch leben.

Doch bleibt mit dem Begriff des Transzendenten ein Problem verbunden. Es sprengt den Raum menschlichen Denkens und Erfahrens. Drei Charakteristika sind dem Transzendenten eigen, die sich nur „dialektisch“ denken lassen.

* Das Transzendente ist streng überweltlich, der Welt zu gleich aber immanent. Zu seinen zentralen Bestimmungen gehört die Liebe.
* Das Transzendente ist streng überzeitlich, aber der Geschichte zutiefst eingesenkt. Zu seinen zentralen Bestimmungen gehört die Vollendung.
* Das Transzendente ist transhuman (räumlich, zeitlich, ethnisch, sexuell gesehen) und bleibt doch an menschliche Erfahrungen rückgebunden
* Das Transzendente ist überfunktional, als über jede Funktionalisierung erhaben; nie und nimmer kann es von Menschen verzweckt werden (wie auch der Mensch nicht zu verzwecken ist). Zugleich aber schließt es Zweck- und Vorteilsrelationen immer wieder ein. Zu seinen zentralen Bestimmungen gehören Erlösung und Heil.

Diese Spannungen führen zu unvermeidlichen Überforderung; denn auch jeder Weltreligion behält „vorachsenzeitliche“ Züge. Anders könnte sie gar nicht leben. Deshalb zwingt dieser Typ von Religion zu ständiger Reflexion, Reform, Selbstkorrektur. Zur Geschichte der Weltreligionen gehören deshalb laufende ausdrückliche Reformen. (Buddhismus, Christentum, Protestantismus, (Islam)). Es drückt sich oft aus in der „negativen Theologie“.

(c) Pluraler Aspekt
Damit berühren wir den entscheidenden Punkt dieser Überforderung. Das Stichwort der „Weltreligionen“ fasst ja einige Religionen zusammen, die sich jeweils für unvergleichbar halten. In dem Augenblick, in dem man die eine Wahrheit entdeckt (die Welt, die Wirklichkeit, das Menschsein) als im Wesen eines) entdeckt, kann man keine zweite Wahrheit mehr neben sich dulden. Zugleich wissen wir, dass wir die Wahrheit des Unaussprechlichen nie umfassend formulieren können. Es bleibt ganz wesentlich nur bei der Auswahl von Aspekten, Symbolen, Formulierungen.

Dieses Problem wurde nie umfassend bewältigt. Die Weltreligionen sind diesem Problem ausgewichen, weil die Weltreligionen sich bis heute nie wirklich als Weltreligionen etabliert haben. Sie haben sich
((a)) ihre eigenen Kulturräume geschaffen und sich
((b)) ihre eigenen Norm-systeme gebildet (Jesus Christus, Koran, …)
[siehe Jan Assmann, Moses, der Ägypter].
An  diesem Punkt setzt das Projekt Weltethos an.

3.4 Zukunft: Konfessionell – (inter)religiös – zivil

Wie also wird zukünftige religiöse Landschaft in Europa aussehen? Ich persönlich habe für Religionen und Religiosität in Europa keine Angst. Der Grund liegt in der Tatsache, dass die menschlichen Grundfragen, Grenz-, Transzendenz- und Werterfahrungen bleiben. Auch sind die großen Religionen so verschieden und zugleich in sich so geschlossen, dass sie ihre Eigenart behalten werden.
Konfessionell: So wird die neue Konkurrenzsituation zu einem neuen Identitätsbewusstsein führen, das sich in der Praxis zeigen muss, weil die intellektuelle Präsentation an Stellenwert verliert.
Religiös: Der Begriff „religiös“ wird sich ändern. Er wird sich auf Dauer nicht mehr auf eine religiöse Innerlichkeit und Spiritualität beschränken, sondern genau das angeben, worin sie Religionen und Nicht-religionen unterscheiden. Vielleicht müssen wir das heue noch „interreligiös“ nennen.
Zivil: „Säkularisierung“ bedeutet, wenn ich recht sehe, ein Dreifaches:
* eine Religion verliert ihre kulturelle Dominanz. Sie muss sich also der Konkurrenz von Religionen und Weltanschauungen stellen.
* eine Religion verliert ihre gesellschaftspolitische Dominanz sie ordnet sich also auf der Ebene der Zivilgesellschaft ins Spiel der gesellschaftlichen und kulturellen Kräfte ein.
* eine Religion tauscht sich mit anderen Religionen, Weltanschauungen und kulturellen Kräften im Diskurs über die gemeinsamen Werte aus.

 

 

 

IV. Die Schwelle überwinden

1. Krise als Chance begreifen

2. Provinzialismus überwinden

3. Menschheitsvisionen entdecken

 

 

 

Literatur:

  • Die einschlägigen Bücher zu den Weltreligionen von Hans Küng, ferner
  • Thomas Gensicke: Jugend und Religiosität. In: Deutsche Shell (Hrsg.) Jugend 2006. Die 15. Shell Jugendstudie. Fischer Taschenbuch Verlag 2006.
  • Betz, H. D. u. a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart : Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaften, 4. Auflage, Bde. 1 und 8, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1998/2005.
  • Cancik, Hubert (Hrsg.), Die Religionen der Menschheit, 36 Bd.e, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, wird seit 1979 fortlaufend überarbeitet.
  • Deppert, Wolfgang, Michael Rahnfeld (Hg.), Klarheit in Religionsdingen, Aktuelle Beiträge zur Religionsphilosophie, Band III der Reihe: Grundlagenprobleme unserer Zeit, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2003, ISBN 3-936522-44-8, ISSN 1619-3490.
  • Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen, 4 Bd.e., Freiburg (Herder) 2002, ISBN 3-451-05274-1
  • Fahlbusch, Erwin (Hrsg.): Taschenlexikon Religion und Theologie, 5 Bd.e, Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, ISBN 3-525-50123-4
  • Geertz, Clifford (1987) Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp
  • Haußig, Hans-Michael: Der Religionsbegriff in den Religionen, Studien zum Selbst- und Religionsverständis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Berlin, Philo 1999, ISBN 3825701298
  • Klöcker, Michael und Tworuschka, Udo: Handbuch der Religionen, Olzog Verlag, 1997 ff. (Loseblattwerk mit jährlich 3 Ergänzungslieferungen), ISBN 3-7892-9900-6
  • Klöcker, Michael und Tworuschka, Udo (Hg.): Ethik der Weltreligionen. Ein Handbuch, Darmstadt 2004
  • Luckmann, Thomas: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963
  • Meth, Wulf (Hrsg.): Handbuch Weltreligionen: eine umfassende Einführung in Gedanken und Riten der Weltreligionen, R. Brockhaus, 2003, ISBN 3-417-24779-9
  • Tworuschka, Udo: Religionswissenschaft, Stuttgart 2006
  • Tworuschka, Monika und Tworuschka, Udo: Die Welt der Religionen, Gütersloh/München 2006.
  • Weber, Hartwig: Lexikon Religion, Reinbek, 2001, ISBN 3499606291
  • Wagner, Falk: Was ist Religion? Gütersloher Verlagshaus, 1991, ISBN 3579002678

Anmerkungen

 

[1] Ich schließe mich einem Sprachgebrauch ab, der sich inzwischen auch in den neuen Bundesländern eingebürgert hat, wohl wissend, dass es sich gemäß geografischer Terminologie immer noch um „Mitteldeutschland“ handelt. Doch sollte man nicht so tun und der revanchistischen Meinung Vorschub leisten, als gebe es noch ein geografisch-fiktives Ostdeutschland.

[2] H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997, 10, 25, 255.

[3] Es gehört zu den abgründigen Projektionsmechanismen westlicher Publizistik, dass ausgerechnet dieser Begriff heute für militante muslimische Gruppierungen verwendet wird.

[4] A. Denecke, Sie beten und lassen ihre Kinder taufen, in: Publik-Forum, 14. Juli 2006

[5] Gemeint ist die Studie über religiöse und kirchliche Orientierungen, die das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut Sinus Sociovision G.m.b.H. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet hat.

[6] H. Meesmann, Redet die Kirche in den Wind?, Publik-Forum, Nr. 5 2006, 29f.

[7] Gemeint sind Riten der Ruhe und inneren Einkehr, der individuellen und gemeinschaftlichen Frage nach sich selbst (von Gottesdiensten bis zu persönlichen Gebetsübungen, von persönliche meditativen bis zu gestalterisch orientierten Praktiken, von Selbsterfahrungsgruppen bis zu „Stammtischen“, die das Niveau reinen Alkoholkonsums überschreiben).

[8] Wichtig sind die Passageriten zu Geburt, Eintritt ins Erwachsenenalter, Hochzeit, die Tagesriten zu Aufstehen, gemeinsamem Mahl und Schlafengehen, die Familien- und Gemeinschaftsriten zu persnlichen Fest- und Gedenktagen.

[9] In einer „funktionierenden“ Kultur ist vor allem der Jahresablauf von regelmäßig wiederkehrenden Riten durchzogen: von Weihnachten über Ostern zum Erntedank, vom Totensonntag über Motorradwallfahrten zu örtlichen Gedenktagen, von den Marienfesten über Heiligenfeste zu Adventskonzerten. Kennzeichnend ist die oft ununterscheidbare Symbiose von anthropologischer, religiöser und spezifisch christlicher Deutung. So gesehen haben diese Riten in unserer Gesellschaft zugleich eine ausgleichende und versöhnende Wirkung. Während einer gelungenen Weihnachtsfeier werden weder religions- noch christentumskritische Fragen gestellt.

[10] Viele Sitten und Gebräuche des sog. Brauchtums zeigen eine enorm intensive Mischung von religiösen (volkskirchlichen), heimatgebundenen und pädagogischen Motivationen, von unbewussten Erinnerungen und einer Symbolwelt, deren religiöse, mythische, weltliche und heimatgebundene Bedeutung unauflösbar ist. Sie können wie in einem Schlaglicht zeigen, wie eng religiöse Bezüge in ihrer Mischung mit Volksbrauch und heimatlichen Sitten die Identität von Menschen und Gemeinschaften bestimmen können. Bisweilen kann sich religiöse und politische Symbolik bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen. Vor kurzem hat man darauf aufmerksam, dass das Symbol Europas, ein Kranz mit 12 Sternen, von den zuständigen politischen Gremien am 8. Dezember 1955 angenommen wurde. Damals wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Zwölfzahl der Sterne nicht die Zahl der Mitglieder benennt (es würden also nie Sterne hinzukommen wie auf der Flagge der USA), sondern auf Vollkommenheit hindeutet. Den damaligen katholischen Mitgliedern der EU konnte nicht verborgen bleiben, dass dieses Mariensymbol am 8. Dezember (Tag der Unbefleckten Empfängnis) eine besondere Rolle spielt.

[11] Es fällt auf, das Benedikt XVI. auf seine Bayernreise öfters von Christen sprach und dabei Katholiken meinte; Ministerpräsident Stoiber vermischte die Begriffe gläubig und katholisch.

[12] Habermas fährt fort: „auf dem Niveau einer vollständig ausdifferenzierten Geltungssphäre streift die Kunst ebenso ihre kultische Herkunft ab, wie sich Moral und Recht von ihrem religiösen und metaphysischen Hintergrund lösen. Mit der Profanisierung der bürgerlichen Kultur treten die kulturellen Wertsphären scharf auseinander und entwickeln sich nach Maßgabe eines geltungsspezifischen Eigensinns. Damit büßt aber die Kultur gerade die formalen Eigenschaften ein, die sie instand gesetzt hatten, ideologische Funktionen zu übernehmen.“ (Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt 1981, S 292 (vgl. dazu das Schema auf S. 286).

[13] Natürlich bleibt unbestritten, die wissenschaftliche Reflexion schon zeitig begann, differenzierend zu denken und den Begriff der Säkularisierung allmählich aufzulösen. Aber Säkularisierung war inzwischen zu einer allgemeinen Orientierungskategorie geworden, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit entfaltete.

[14] So hat die große Katastrophe unserer eigenen Geschichte (und damit des westlichen Christentums) zur langfristigen Therapie eine „kohärenten Deformation“ geführt, die wir umschreiben könnten mit: Eine Superioritätsidee, die zu Antisemitismus und Imperialismus führte, Anbetung der Gewalt im „allmächtigen Gott“, Verdrängung der Feindesliebe, Verliebtheit in eine Rationalität, die Gottes Probleme zu lösen vermag.

Anhang

Statistik A – Religionen der Welt – Zugehörige (Quelle: adherents.com)

  • Christentum                                                    2,1 Milliarden
  • Islam                                                              1,3 Milliarden
  • Atheismus, Nichtreligiöse                                1,1 Milliarden
  • Hinduismus                                                    900 Millionen
  • Traditionelle Chinesische Religionen    394 Millionen
  • Buddhismus                                                    376 Millionen
  • Nichtafrikanische Indigene Religionen 300 Millionen
  • Traditionell Afrikanische Religionen    100 Millionen
  • Sikhismus                                                       23 Millionen
  • Judentum                                                        15 Millionen
  • Spiritismus                                                      15 Millionen
  • Baha’i                                                             7 Millionen
  • Jainismus                                                        4,2 Millionen

 

Statistik B – Religionen der Welt – Zugehörige (Quelle: David B. Barrett)

  • Islam                                                              1,313 Milliarden
  • Römisch-Katholische Kirche                           1,119 Milliarden
  • Hinduismus                                                    870 Millionen
  • Nichtreligiös                                                   769 Millionen
  • Unabhängige Christliche Kirchen                    427 Millionen
  • Traditionelle Chinesische Religionen    405 Millionen
  • Protestantische Kirchen                                   376 Millionen
  • Orthodoxe Kirchen                                          220 Millionen
  • Anglikanische Christen                                   80 Millionen
  • Buddhismus                                                    379 Millionen
  • Sikhismus                                                       25 Millionen
  • Judentum                                                        (15 Millionen
  • Ethnoreligionen                                              256 Millionen
  • Atheismus                                                      152 Millionen
  • Afrikanische Religionen                                  100 Millionen
  • Neue Religionen                                              108 Millionen

Stand Mitte 2005, Weltbevölkerung: 6,454 Milliarden.

Statistik C – Religionen in Deutschland – Zugehörige (Quelle: REMID)

  • Römisch-Katholische Kirche    25,90 Millionen [31,4 %]          (12/2005)
  • Evangelische Landeskirchen     25,63 Millionen [31,1%,]          (12/2004)
  • Atheismus, Nichtreligiöse        23,4 Millionen             (12/2004)
  • Islam                                       ges. 3,3 Millionen                    (12/2004)
  • Neuapostolische Kirche            0,38 Millionen             (12/2004)
  • Judentum                                ges. 0,21 Millionen,                 (12/2004)
  • Buddhismus                            ges. 0,21 Millionen,                 (12/2004)
  • Jehovas Zeugen                       ges. 0,163 Millionen,                (2005)
  • Hinduismus                             ges. 0,092 Millionen                 (12/2004)

Letzte Änderung: 13. Juli 2017