Das Schicksal der Prophetie in der (tschecho)slowakischen und in der niederländischen Kirche II (Kurzversion)

„Im Totalitarismus das Leben meistern“

1. Aufbruch nach dem 2. Vatikanischen Konzil

Für alle Kirchen Europas bedeutete das 2. Vatikanische Konzil einen epochalen Aufbruch; jetzt verstanden wir uns als aktiv partizipierendes Volk Gottes. Das galt auch für die (tschecho)slowakische Kirche. Doch hatte diese Wende unterschiedliche Auswirkungen; zum Vergleich mit der (tschechoslo)slowakischen beziehe ich mich im Folgenden auch auf die niederländische Kirche. In ihr führte dieser Aufbruch zu einer geradezu explosiven Kreativität in Liturgie und Gemeindeleben, Katechese und Theologie. Sie wurden von der ersten Generation der Bischöfe unterstützt. Ähnlich wie in den deutschsprachigen Kirchen entstand eine oft explosive Situation. Zum Markstein wurde die Pastoralsynode von Noordwijkerhout (1968-1970). Mit ihren Forderungen zur Abschaffung des Zölibats, ihrer offenen Kritik an Humanae Vitae und ihren gesellschaftskritischen sowie befreiungstheologischen Ideen trat sie offen in Konflikt mit Rom. Dabei war das Gefühl der inneren Befreiung ungeheuer. Jetzt konnte man den protestantischen Kirchen auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten. Die Bibel wurde neu entdeckt, eine eigenständige Exegese und ein eigener Katechismus wurden entwickelt. Für diesen neuen Aufbruch bot die demokratische Gesellschaftsstruktur enorme Vorteile. Die katholische Kirche war eine der drei unverzichtbaren „Säulen“ der niederländischen Gesellschaft; sie hatte ihr eigenes Bildungs-, Gesundheits- und Freizeitsystem entwickelt und es gab in den katholischen Teilen des Landes ein dichtes katholisches Milieu. Man kannte sich und hatte sich in zahlreichen Vereinen vernetzt. Durch alle strömte jetzt ein Geist der Erneuerung.

Diese Entwicklung ging mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen Hand in Hand; die großen Stichworte lauteten Emanzipation, Gleichberechtigung, gesellschaftliche Gerechtigkeit und Solidarität mit den Opfern der Gesellschaft. Viele dieser Einflüsse sind heute rezipiert, aber säkularisiert, massiv verbürgerlicht und in Interessengruppen aufgespalten. Heute kann man diese Entwicklungen kritisch sehen, denn innerkirchlich und gesellschaftlich leiteten sie massive Prozesse der Säkularisierung und Zersplitterung ein. Dennoch bleibt unbestritten, dass sie unsere Gemeinden zum Guten hin veränderten. Was später auch immer passierte, die katholische Kirche wurde jetzt nicht mehr als eine von Rom gegängelte Institution wahrgenommen.

Ganz anders verlief die Entwicklung in der tschechoslowakischen Kirche. Bei allen inneren Erneuerungen überwog hier doch die kritische Auseinandersetzung mit dem atheistischen staatlichen Regime. Zwei Spannungsfelder waren miteinander auszugleichen: (a) zwischen der von Rom abhängigen Hierarchie und den reformorientierten innerkirchlichen Kräften und (b) zwischen der tschechoslowakischen Amtskirche und dem repressiven staatlichen Regime. Für beide Spannungsfelder bildete das Konzil eine enorme Quelle der Inspiration. Doch schon aus Gründen der Selbsterhaltung konnte man nach außen keine Distanz zu Rom zur Geltung bringen. Schließlich fühlte man sich von Rom geschützt und benötigte diesen Schutz. Alle innerkirchlichen Spannungen mussten deshalb domestiziert, innerhalb dieses römischen Schutzraums ausgetragen werden.

Zwar nahmen einige Prälaten aus der Tschechoslowakei am 2. Vaticanum teil, doch sie konnten mit ihrem Heimatland nicht unkontrolliert kommunizieren. Bekannt ist das Schicksal von Kardinal Josef Beran (1888-1969), dem Häftling von Theresienstadt und Dachau, der 1949 als Erzbischof von Prag verhaftet wurde und von 1965 bis zu seinem Tod im römischen Exil lebte; erst im April 2018 wurde sein Leichnam nach Prag überführt. So wurde das 2. Vatikanische Konzil als eine Leistung Roms und der Kirchen Westeuropas rezipiert; seine Impulse wurden eher passiv übernommen. Zwar wurde der universale Charakter der Weltkirche neu entdeckt, doch man verstand sie als geschlossene Front, nicht als ein vitales und flexibles Netzwerk. Wichtig war das Interesse an Freiräumen gegenüber dem totalitären staatlichen Regime. So hoffte man auf eine Humanisierung der Staatsraison und unterstützte den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der im August 1968 brutal beendet wurde. Diese Zeit wurde für Öffnungen nach außen benutzt; zumal über Polen konnten die Konzilsdokumente und theologische Bücher ins Land geschmuggelt werden.

2. Kirchen in der Krise

Die Krise der niederländischen Kirche beginnt mit einer massiven Entfremdung von der römischen Zentrale. Bischöfe und Theologen werden offiziell gemaßregelt, der Holländische Katechismus wird verboten, die Polarisierung zwischen konservativen und progressiven Kräften bricht offen auf. Im Jahr 1979 münden die Spannungen in einen offenen Konflikt. Die niederländischen Bischöfe werden im Herbst 1979 zu einer außerordentlichen Synode nach Rom zitiert, E. Schillebeeckx mit einem Prozess überzogen. Das „niederländische Experiment“ gilt als beendet. Es ist der Beginn des offenen Widerstands. Viele enttäuschte Gemeindemitglieder emigrieren nach innen oder nach außen; es bilden sich unabhängige Gruppen. Eine wichtige, geradezu symbolhafte Rolle spielt bis heute die Ekklesia von Huub Oosterhuis in Amsterdam.

Diese Entwicklungen blieben auf die tschechoslowakische Kirche nicht ohne Einfluss; man denke an den Holländischen Katechismus oder an die Bücher von Hans Küng. Doch die Unterschiede waren eklatant. Humane Vitae (1968) bedeutete für viele einen Schock, den man eher resigniert hinnahm. So geriet die Kirche unter einen gewaltigen Leidensdruck, dem sie kaum Ausdruck verschaffen konnte. Das Gefühl der Isolation war enorm. Sie wurde vom staatlichen Regime aufrechterhalten, aber die Kirchenleitungen setzten dem kaum Widerstand entgegen. Im Gegenteil, auch für die tschechoslowakische Hierarchie galten die Kirchen und Theologien Westeuropas als gefährlich. So standen die reformorientierten Kräfte unter doppeltem Druck. Das staatliche Regime betrachtete sie als Feinde der Gesellschaft und die Kirchenleitungen als Bedrohung des kirchlichen Glaubens. Notfalls war ihre Kooperation mit staatlichen Organen stärker als mit progressiven Kräften.

In dieser enorm verhärteten Situation entstand die Verborgene Kirche mit drei charakteristischen Merkmalen: (a) Methodisch gesehen arbeitete sie mit den traditionellen Mitteln der Pastoral. Es ging ihr um Verkündigung und Sakramente; deshalb war die Mitarbeit von Priestern unverzichtbar. (b) Angesichts der drohenden Gefahren für Leib und Leben musste die Kooperation mit der Hierarchie geheim bleiben; deshalb wurde sie nie schriftlich dokumentiert und bewegte sich in einem nur inoffiziell legalisierten Raum. Genau dieses Wagnis sollte ihr später zur Falle werden. (c) Mit der Ordination von verheirateten Männern und von Frauen wurde eine für Rom höchst sensible Grenze überschritten, innerhalb ihrer waren die Möglichkeiten äußerst eng geworden.

3. Die große Asymmetrie nach 1989

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes kommt es zwischen den Kirchen der Niederlande und der Tschechoslowakei zu einer großen Asymmetrie. In der niederländischen Kirche ändert sich wenig, vielmehr setzt die Hierarchie ihre destruktive Arbeit fort. Durch die voranschreitende Säkularisierung fühlt sie sich in ihrem Misstrauen bestätigt. Dagegen organisieren sich progressive Katholiken in kleinen Gruppen oder unabhängigen Gemeinden. Der Relevanzverlust der Kirche nimmt zu, was zumal die reformorientierten Gruppen in eine schwere Krise führt.

Dagegen erfährt die tschechoslowakische Kirche den Zusammenbruch der Regime als eine große Befreiung. Der staatliche Druck löst sich auf und die Kirche wird wieder zu einer öffentlich anerkannten Größe. Aber sie reagiert restaurativ und ist unfähig, alte Wunden zu heilen. Ihre Hauptziele sind: Wiederherstellung alter Macht, Rückgabe alter Besitztümer, Wiederherstellung der alten (vorkonziliaren) bischöflichen Autorität. Jetzt erst wird deutlich, wie sehr sich die Hierarchie den totalitären Methoden ihrer staatlichen Gegenspieler angeglichen hatte; sie ist unfähig, zu ihren alten prophetischen Entscheidungen zu stehen. Rom sieht seinen streng restaurativen Kurs bestätigt; Johannes Paul II. gilt als der geistige Zermalmer des Ostblocks mit den Mitteln eines streng geregelten Glaubens. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen: Die Existenz von verheirateten Priestern und Bischöfen sowie von offiziell ordinierten Priesterinnen bedroht die universale Identität des römisch-katholischen Systems. Die faktische Verleugnung ihrer prophetischen Existenz zeigt: Das dogmatisch und rechtlich fixierte System duldet keine Ausnahme. Sie rechtfertigt sogar die existentielle Demütigung von Menschen, die sich unter Lebensgefahr der Sache des Glaubens verschrieben haben.

4. Verrat an der Prophetie und die Folgen für die Reformarbeit

Der Vergleich mit der niederländischen Kirche führt zu einer genaueren Profilierung dessen, was hier „Verrat an der Prophetie“ genannt wird. Propheten und Prophetinnen tragen eine Wahrheit oder eine Forderung vor, die traditionelle kirchliche Grenzen (Regelungen, Kompetenzen, Strukturen, Gewohnheiten) durchbricht oder verlegt. Als Christ kann ich von einer Prophetie sprechen, wenn der Geist Christi aus einer Neuerung spricht. Als großes Vorbild kann die Kritik Jesu an der Thora gelten. Er hebt sie nicht auf, aber er kritisiert ihren Missbrauch: „Der Sabbat ist um des Menschen willen da.“ (Mk 2,27) Als großer Inspirator gilt der Hl. Geist: „Wasche, was beflecket ist; Heile, was verwundet ist; Tränke, was da dürre steht; Beuge, was verhärtet ist; Wärme, was erkaltet ist; Lenke, was da irre geht!“

Mit dem 2. Vatikanischen Konzil erhalten Prophetie und prophetisches Handeln einen neuen Stellenwert, weil die Erneuerung der Kirche ins Zentrum des Interesses rückt. Verbunden war damit ein neues geschichtliches Bewusstsein. Das Bild von einer unveränderlichen Kirche hat sich als Irrtum erwiesen. Nach biblischer Überzeugung haben alle Getauften dazu den Heiligen Geist empfangen. Ihre neue gesellschaftliche Aufgabe ist an Hand der Frage zu beurteilen: Wie können wir eine Gesellschaft in Frieden und Gerechtigkeit gestalten? Daraus ergeben sich kontextuelle und interkulturelle Konzepte: Es gibt weder einen christlichen Glauben noch eine christliche Ethik an sich, sie leben immer in der Symbiose mit Kulturen, Kontexten und Biographien.

Erforderlich ist deshalb „ein eigenständiges Reflektieren der historischen Situation der Kirche und ein unabhängiges Weiterdenken im Geist des Evangeliums“.[1] Das gilt zumal in hochkomplizierten und existentiell bedrohlichen Situationen. Dieser Aspekt ist für unsere Erinnerung an die Verborgene Kirche umso wichtiger, denn man hatte nicht nur das individuelle „Seelenheil“ der Menschen im Auge, sondern die Zukunft einer zutiefst veränderten Kultur. So kümmerte sich z. B. Felix Maria Davídek, der große kirchenpolitische Visionär, auch intensiv um neue Einblicke in Medizin, Biologie und Kybernetik, um Psychologie, Geschichte, Musik und Literatur. Vor allem interessierten ihn die großen Perspektiven von Teilhard de Chardin.[2] So gesehen hat Prophetie immer auch mit einem zutiefst menschlichen Interesse an der Zukunft von Mensch und Gesellschaft zu tun.

So erweist sich das damalige Handeln der Verborgenen Kirche als ein hervorragendes Beispiel für ein prophetisches Handeln und eine prophetische Leidensbereitschaft zum Wohle der Menschen. Sie hat gängige Regeln des amtlichen Handelns durchbrochen, obwohl sie im real existierenden Katholizismus als unverrückbar galten und immer noch gelten. Sie handelte zweifellos um der Menschen willen, aber ihr Heroismus und ihr zutiefst christliches Wagnis wurden später von der eigenen Kirche verleugnet.

Begriff und Metapher „Verrat an der Prophetie“ finden sich im schon genannten Sammelband, den die Herbert Haag-Stiftung zur Erinnerung an die beschämenden Vorgänge um die Verborgene Kirche publizierte. Hans Jorissen hat die desaströsen Normen von 1992 kurz charakterisiert, mit denen Rom einen Schlussstrich ziehen wollte.[3] Sie sind eine besonders krasse Art dieses Verrats. Trotz vorhergehender offizieller Absprachen wurden alle geheim vollzogenen Weihen prinzipiell angezweifelt und waren bedingungsweise zu wiederholen. Verheiratete Priester konnten allenfalls als Diakone weiterarbeiten; wie unerfahrene Anfänger wurden sie einer pastoralen Prüfung unterzogen. Von den betroffenen Bischöfen, verheiratet oder nicht, wurde eine Verzichtserklärung verlangt, der frühere Geheimstatus wurde offengelegt. Gegebenenfalls konnten sie als Priester oder Diakone weiterarbeiten. Die schlimmste Demütigung erfuhren die todesmutigen Priesterinnen, die mit keinem Wort erwähnt wurden. Für Rom und die Hierarchie waren/sind sie schlicht inexistent. Die römische Zentrale wickelte dieses Modell in Kooperation mit der tschechoslowakischen Hierarchie unter ebenso beschämenden Umständen ab.

Dies war ein hervorragendes Beispiel für einen Verrat an einem zeitgenössischen prophetischen Handeln. Die an sich zuständigen Behörden entzogen ihm in zynischer Weise seine christliche Legitimation. Der todesmutige Gewissensernst der Betroffenen wurde verleugnet. Sie waren bereit, bekennend zu handeln, ihre Freiheit zu opfern, die Zerstörung ihrer Lebensführung in Kauf zu nehmen und ihre Familien mit auf diesen Weg zu nehmen. Damit wurde vor aller Augen ein Kernelement christlicher Existenz desavouiert, nämlich die selbstlose Identifikation mit dem prophetischen Geist Christi, ohne die eine Nachfolge Christi überhaupt nicht zu denken ist. Als zentrales Motiv dieser Leugnung vermute ich einen geradezu neurotischen, theologisch initiierten und rationalisierten Narzissmus. Dieser theologische Narzissmus entsteht durch ein sakramentalistisches Bild von der Kirche, kombiniert mit einem sakramentalistischen Bild des kirchlichen Amtes sowie einer undifferenzierten Identifikation der Kirche mit diesem sakramental agierenden Amt.

Die Hierarchie warf der Verborgenen Kirche vor, sie spalte die Kirche; es sei nicht möglich, dass es „zweierlei Priestertum, zweierlei Gottesdienste, zweierlei Sakramentenspendung, zweierlei Evangeliumsverkündigung“[4] Dieser Vorwurf zeigt auffallende Parallelen mit den Ängsten, unter denen auch reformorientierte Gruppen in den Niederlanden bis heute zu leiden haben. Auch dort spiegelt der Vorwurf der Kirchenspaltung nur die monokratische Kirchenstruktur, an der man eifersüchtig festhält. Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hat sich das römische Kirchenregime sakramentalistisch verengt und verhärtet. Rom und die Hierarchie wurden unfähig, auf spezielle Kontexte, auf pastorale Situationen und auf das persönliche Engagement zu achten. Die Demütigung von Personen, die Zerstörung ganzer Gemeinden, Gruppen, theologischen Fakultäten wurden Teil des Systems.

Dieser Verrat wirft massive Fragen auf: Warum ist dieses hierarchische Handeln immer mit einer strengen Geheimhaltung verbunden? Warum blockiert man einen jeden Diskurs über die Fragen der Kirchenerneuerung, die uns seit dreißig, wenn nicht gar fünfzig Jahren bedrängen? Welches Anrecht hat eine solche Hierarchie noch auf die Loyalität von Kirchenmitgliedern? Sind aus christlichen Gründen nicht offener Widerspruch und massiver Widerstand geboten? Ich möchte dieses verwerfliche Handeln nicht der Hierarchie als persönliche Schuld anlasten. Wichtig ist jedoch der menschenverachtende, geistfeindliche und destruktive Charakter dieses Verhaltens, das dem jesuanischen Grundimpuls einer solidarischen Nachfolge widerspricht. Warum ruft ein solches Verhalten keine moralischen Bedenken hervor? Warum wird der Narzissmus dieser Theologie nicht durchschaut? Die Wurzeln dieses Narzissmus sind bis heute theologischer Art.

In biblisch-theologischen Worten ausdrückt: Eine jede Hierarchie, die sich von autoritär sakramentalistischen Motiven leiten lässt, ist verblendet, Opfer einer Ideologie, die sich im Verlauf von Jahrhunderten entwickelt hat. Dieser Verrat am prophetischen Geist Christi kennzeichnet nahezu alle Länder und Gruppen, die in der kirchlichen Reformarbeit heute zur Debatte stehen. Deshalb ist das Schicksal der Verborgenen Kirche ein hervorragendes Paradigma für das nachkonziliare Schicksal kirchlicher Reformarbeit. Es geht nicht darum, sich auf diese Erinnerung zu fixieren, aber wir sollten sie wegen ihres abschreckenden Zeichencharakters nicht vergessen. Umso wichtiger ist es, alle Reformanliegen in der Kirche offen zu diskutieren, statt die Handlungsträger zu schonen. Wer ein öffentliches Amt hat, muss sein Handeln öffentlich begründen. Gegebenenfalls ist ihm zwar aggressionsfrei, aber konfliktfähig zu begegnen.

5. Grundätze einer prophetisch orientierten Reformarbeit

Heute reagieren alle aktuellen Reformthemen auf die kontinuierliche Missachtung prophetischer Elemente in Kirchenverfassung und Kirchenpraxis. Eine prophetisch kompatible Kirchenverfassung leugnet feste Strukturelemente der Kirche nicht, aber sie setzt sie dem Maßstab einer konsequenten Menschenfreundlichkeit, der göttlichen Philanthropie (Tit 3,4) aus. Der Verrat an kirchlicher Prophetie hat Tradition, deshalb lässt er sich nur mit Mühe überwinden. Er setzt ein mit der Gregorianischen Reform (11. Jh.), die die ganze Welt dem päpstlichen Gerichtsspruch unterwirft und kirchliche Vorgänge massiv verrechtlicht. Er vertieft sich mit der Ablehnung der Reformation im 16. Jh. Das Konzil von Trient (1545-1563) unterwirft die Seelsorge einer strengen Kontrolle. Ein bis heute umstrittener Höhepunkt dieser Entwicklung wird mit dem 1. Vatikanischen Konzil (1870) erreicht. In antimodernistischer Frontstellung werden der päpstliche Rechtsprimat und seine Lehrvollmacht verabsolutiert. Nach dem 2. Vatikanischen Konzil werden diese Prozesse vertieft.

Heute stehen wir einer undifferenzierten sakramentalen Verschränkung von drei Größen gegenüber: Christus gilt als unmittelbar in der (hierarchischen) Kirche gegenwärtig und das Amt verwirklicht diese Gegenwart gegenüber den Gläubigen. Diese Identifikationslinie (von christlichem Heil, kirchlichem Heilsanspruch und sakralisierter Repräsentation) führt faktisch zu einem vorbehaltlosen Identifikationszwang der Gläubigen mit der kirchlichen Amtskirche. Christus, Kirche und kirchliches Amt verschmelzen ineinander im Rahmen eines autoritär monarchischen Gesellschaftsbildes. Das 2. Vatikanische Konzil konnte diese unkritische Erfahrungs- und Glaubenseinheit nicht wirksam überwinden. Es hat Tendenzen zur Entflechtung vorgegeben, aber nicht konsequent ausgeführt. Die spätere reaktionäre Wende geschah unter dem Einfluss von Theologen (z. B. Henri de Lubac, Hans Urs von Balthasar, Joseph Ratzinger), die erneut auf eine vorkritische Theologie zurückgriffen.

Die Grundstruktur ihrer Erneuerungsphobie lässt sich am Fall der Verborgenen Kirche leicht ablesen. Wir müssen uns klarmachen, wie sehr sich im römischen Katholizismus die anti-prophetischen Elemente verselbständigt haben. Mit pragmatischen Zwischenlösungen kommen wir nicht weiter, weil die reformfeindlichen Prinzipien (Traditionalismus, Sakramentalismus, Autoritarismus, Monokratie, bis hin zur Frauenphobie) dogmatisch verankert sind.

Es reicht in unserer Reformarbeit also nicht, nur funktional, kontextuell oder menschenrechtlich zu argumentieren, denn diese Argumente stoßen in der Regel auf taube Ohren. Vielmehr sollte immer der prophetische Charakter unserer Anliegen in Anspruch genommen werden. Das prophetische Argument ist das schärfste Schwert, weil es sich unmittelbar auf den Geist Christi beruft. Dieses Selbstbewusstsein ist angemessen, solange sich die Reformverweigerer mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit auf den Willen Christi und auf ihre christliche Sendung berufen. Dabei sind mehrspurige Argumentationen natürlich nicht auszuschließen. Doch sie alle sollten in den Verweis auf die jesuanische Botschaft münden, genauer gesagt: auf die Jesuserinnerung, die davon ausgeht, dass Gottes Reich hier und jetzt beginnen kann. Allzu gern verstehen wir die Nachfolge Jesu noch immer als eine Nachahmung seiner Worte und seines Handelns. Ich begreife sie viel lieber als den Eintritt in den Strom der Begeisterung, den Pfingsten ausgelöst hat und der allen kirchlichen Strukturen vorausgeht. Nicht dass die Apostel ihren Nachfolgern die Hände auflegten, löste die Jesusbewegung aus, sondern dass die Frauen und Männer der ersten Stunde von Feuerzungen gepackt wurden und brannten.

Reformarbeit repariert keine missglückten Zustände, sondern geht neuer Gemeindebildung voraus. Wichtig ist deshalb, dass wir ‑ die Kirchen Ost- und Westeuropas ‑ gemeinsame neue Visionen entwickeln, die aus dem Clinch mit den alten Kirchenverhältnissen heraustreten. Wir wissen uns vom prophetischen Geist Christi beseelt, und wenn die traditionelle Hierarchie sie nicht teilt, ist es nicht unser, sondern deren Problem. Jetzt ist die Stunde, ein neues Projekt zu entwickeln. Nennen wir es: Ein solidarisches, vom Geist der Gerechtigkeit und Versöhnung getragenes Europa.

(Diese Kurzversion ist erschienen in: imprimatur 3.2018, 183-188; vgl. die ungekürzte Version: Das Schicksal der Prophetie in der (tschecho)slowakischen und in der niederländischen Kirche I)

Anmerkungen

[1] Erwin Koller, Hans Küng, Peter Križan (Hg.), Die verratene Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus, Edition Exodus, Luzern 2011. Weitere Literatur zur Verborgenen Kirche: Wolfgang Bergmann, Geheim geweiht. Roman, Klagenfurt 2016; Johannes Brosseder (Hg.), Verborgener Gott ‑ verborgene Kirche? Die kenotische Theologie und ihre ekklesiologischen Implikationen, Stuttgart 2001; Petr Fiala, Jiří Hanuš, Die Verborgene Kirche: Felix M. Davídek und die Gemeinschaft der Koinótes, Paderborn 2004; Petra Preunkert-Skávolá, „Die ganze Welt schaut zu, wie sie uns um Gott betrügen“. Ekklesiologie und Pastoral der tschechischen Untergrundkirche, Ostfildern 2016.

[2] Erwin Koller, Die verborgene Kirche ‑ Ein Stein des Anstoßes, in: E. Koller, ebd. 17-30; zit. 27; ferner Hans Jorissen, Die Tragik des Propheten. Felix Maria Davídek, insprierender Geist und treibende Kraft, ebd. 47-56.

[3] Hans Jorissen, Das ausgeschlagene Erbe. Die römischen <Normen> im Umgang mit der Verborgenen Kirche, in: Koller, 127-132.

[4] Zitiert in: Jorissen, ebd. 127.